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2. Kapitel

Wie vom Gesetzgeber geheißen, tuckere ich im Schritttempo durch meinen Wohnort Bad Salzhausen. Höflich grüße ich alle Rollatoren, die von Kurgästen umklammert werden. Ich werde nie zurückgegrüßt, was mich aber nicht stört. Manchmal stelle ich mir vor, es würde hier in diesem stillgelegten Stadtteil von Nidda einmal, ein einziges Mal ein fünftägiges Punkfestival stattfinden, mit obligatorischem Zeltlager im Kurpark.


Auf unsere Doppelhaushälfte zufahrend, sehe ich schon von weitem, dass er wieder da ist. Und es steht wieder sein tiefergelegtes Mazda-Dings vor dem Haus. Ich gebe mir wirklich alle Mühe, ihn zu mögen. Also, nicht das Auto, sondern dessen Fahrer. Aber es gelingt mir einfach nicht. Es ist der Freund meiner fünfzehnjährigen Tochter. Franziska sagt, ich sei nur eifersüchtig. Mag ja sein, aber er ist trotzdem nicht der Richtige für Melina. Das spüre ich, nein, das weiß ich. Objektiv gesehen. Ich kenne sie nämlich. Außerdem ist er viel zu alt für sie. Meine Güte, er ist achtzehn! Acht…zehn, volljährig, er fährt Auto … Meine Tochter ist doch noch ein Kind. Na ja, so fast … ein bisschen wenigstens.


Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich Franziska mit dem Rücken zu mir auf der Terrasse Dehnübungen machen. Den rechten Arm hat sie in die Luft gestreckt, den linken in die Hüfte gestemmt. Drahtig wippt sie hin und her. Sie ist noch schmaler geworden, fast schon dürr, seit sie laufen geht, wie sie es nennt. Man könnte das, was Franziska manchmal sogar zweimal täglich tut, auch Joggen nennen. Mein Vater sagte früher Waldlauf dazu, doch das ist lange her. Franziska aber geht nicht nur laufen, sie trainiert. Sie arbeitet besessen bis fanatisch auf einen Marathon hin. Es täte ihr gut, sagt sie.

«Hallo», rufe ich ihr zu.

«Hi», kommt aus den Tiefen einer Kniebeuge zurück.

«Wollten wir nicht zusammen abendessen?», frage ich mit Blick auf die Uhr und den nicht gedeckten Tisch.

«Du wolltest was kochen, hast du heute Morgen gesagt», ergänze ich und bemühe mich, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen.

«Kann sein», kommt es aus Franziskas Mund, der trotz gestreckter Beine fast den Boden berührt. «Ich habe mich halt anders entschieden.»

Das tut sie derzeit häufig, sich anders entscheiden. Sie möchte nie mehr in diese Mühle von früher geraten, sagt sie immer. Sie müsse einen neuen Rhythmus finden. Es sei alles eine Übergangsphase.

Franziska beendet ihren Dehnfirlefanz, läuft schwungvoll auf mich zu, setzt mir einen Kuss auf die Wange und sagt: «Ich geh noch schnell unter die Dusche, würdest du das Abendbrot machen? Das wäre super. Adrian isst auch mit.»

Schon ist sie im Badezimmer verschwunden, und ein paar Sekunden später höre ich Wasser auf den Duschboden prasseln.

Adrian isst auch mit. Tolle Wurst. Käse decke ich auch noch auf. Dann noch Butter, Radieschen, ein paar Tomaten, fünf Teller, fünf Gläser und fertig.


Es klingelt. Dann hämmert gleich jemand an die Tür und ruft:

«Machen Sie sofort auf! Dann passiert Ihnen nichts.»

«Wer ist da?», frage ich.

«Das tut nichts zu den Dingen!»

«Zur Sache», korrigiere ich.

«Was?», brüllt es von der anderen Seite.

«Zur Sache, heißt es. Das tut nichts zur Sache, nicht zu den Dingen

«Mir doch egal. Machen Sie sofort die Tür auf, sonst muss ich schießen.»

«O.k. …» Ich berühre vorsichtig die Türklinke.

«Und Hände hoch. Sonst kann ich gegen nichts garantieren.»

Ich öffne die Türe, erhebe die Hände und wimmere: «Ich bin unschuldig, ich habe nichts getan.»

Ein ein Meter dreißig großer Polizist hält mir seinen Dienstausweis vor die Nase.

«Versuchen Sie nicht zu fliehen. Sie haben keine Chance. Das ganze Gebiet ist umzingelt. Los, an die Wand.»

Ich stehe breitbeinig vor der Fotowand mit der Nase am vergilbten Busen von Franziskas verstorbener Großmutter, spüre etwas Waffenähnliches an meinem Rücken und werde abgetastet.

«Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun», jammere ich.

«Hah», ruft er. «Was haben wir denn hier?» Er zieht mir eine Plastiktüte aus der Hosentasche.

«Oh, wie, was?», stammele ich panisch. «Das ist nicht von mir. Das muss mir jemand zugesteckt haben.»

Der Mann zeigt sich ungerührt. «Das können Sie Ihrem Richter erzählen. Ich verhafte Sie hier jetzt … sofort, wegen äh … Mord und Drogen und außerdem … Hey!»

Während der seltsame Polizist nach Worten ringt, löse ich mich aus der Umklammerung und fliehe Richtung Küche.

«Halt! Stehen bleiben, sonst habe ich nichts anderes übrig, als zu schießen!», brüllt er durchs Haus.

«Es bleibt, es bleibt Ihnen nichts übrig, muss es heißen …», rufe ich zurück.

Dann werde ich getroffen. Zwei Schüsse. Einer trifft mich am Bein, der andere an der Hüfte. Ich breche zusammen und sterbe.

Über mich gebeugt, legt er mit den Worten «Sie haben es ja nicht anders gewollt» einem toten Mann die Handschellen an.

So oder ähnlich begrüßen mein sechsjähriger Sohn Laurin und ich uns in den letzten Wochen recht häufig.


Wenig später brülle ich ins Kellergeschoss: «Äähssen!»

Eine Weile ist nichts zu hören. Dann rufe ich noch einmal den gleichen Text. Jetzt kommt von meiner Tochter Melina ein eher verhuschtes «Gleich».

Melina wohnt neuerdings unten. Sie wollte das. Hat in ihrem Kellerzimmer zwar kaum Tageslicht, dafür aber ihre Ruhe, genügend Abstand zu den Eltern und vor allem einen eigenen Eingang. Was ich manchmal schwierig finde. Ich verweile immer noch auf der Kellertreppe und höre von unten albernes Gekichere und betriebsames Flüstern.

«Komm, Henning, lass uns doch anfangen», ruft mir Franziska, inzwischen frisch geduscht und mit hässlichen Leggins bekleidet, zu.

«Was machen die denn so lange da unten?», frage ich, ohne meinen Blick von Melinas Zimmertür abzuwenden.

«Mensch ärgere dich nicht spielen, vermute ich mal», antwortet Franziska trocken. Ich finde das nicht witzig.

«Muss der Typ jetzt immer hier mitessen?», zische ich nach oben. «Hat der kein Zuhause? Gehört der jetzt schon zur Familie, oder was?»

«Lass ihn doch. Der ist doch nett. Und Melina macht’s glücklich.»

«Ach was», sage ich und stapfe nun doch die Treppe hinauf. «Ich jedenfalls will noch nicht mit 39 Opa werden. Und schon gar nicht soll mein Enkelkind einen so aufgeblasenen Heini zum Vater haben.»

«Henning», sagt Franziska und berührt mich leicht am Oberarm. «Du bist doch nur eifersüchtig.»

«Blödsinn», lüge ich und setze mich an den Tisch. Auch Laurin und Franziska nehmen Platz. Laurin trinkt in einem Zug sein Glas Apfelschorle leer und rülpst.

«Warst du nicht eben zu dem Gespräch mit der Murnau?», wechselt Franziska das Thema.

«Jaja.»

«Und?»

«Sieht nicht gut aus. Melina müsste nun richtig Gas …»

«Entschuldigen Sie bitte die Verspätung», unterbricht mich in diesem Moment Adrian, der geräuschlos die Treppe hochgekommen ist. «Ich habe Mel beim Geschichtsreferat geholfen, und wir wollten das noch schnell abschließen.»

Melina, die wir Melina nannten und nicht Mel, kommt hinterhergetrottet. Sie grinst und hat verräterisch rote Wangen.

Jaja, Geschichtsreferat, so nennt man das also heute, denke ich und fühle mich wie mein eigener Vater.

«Herzlichen Dank, dass ich wieder mitessen darf», schmiert der Jüngling weiter. «Das sieht aber leggä schmeggä aus.»

Adrian Albrecht ist nun schon drei Monate lang der Freund meiner Tochter. Es ist ihre erste große Liebe, wenn man das so nennen mag. Jedenfalls nach meinem Kenntnisstand. Für Melina gibt es derzeit nur Adrian. Adrian hier, Adrian da. Sie himmelt ihn so heftig an, dass es irgendwann ein böses Ende nehmen wird. Warum nur kann man seine Kinder nicht vor allem Leid beschützen? Ich weiß, sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen, bla bla bla. Liebeskummer ist ja auch schön und gut, aber doch bitte nicht wegen so einem Schnösel.

Adrian trägt seine schwarzen Haare sehr kurz und mit ausrasiertem Nacken. So, als ginge es gleich morgen nach Afghanistan. Tatsächlich will er sich der abgeschafften Wehrpflicht trotzend direkt nach dem Abitur bei der «Truppe», wie er es nennt, melden. Er könne sich auch gut vorstellen, dort zu studieren, hat er kürzlich erzählt.

Adrian plaudert auch heute Abend wieder unbefangen und für einen Achtzehnjährigen zugegebenermaßen ungemein eloquent über das Wetter und den Atomausstieg. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, so wie Robert de Niro in dem Kinofilm «Meine Braut, ihr Vater und ich», in dem er als pensionierter FBI-Agent dem Verlobten seiner Tochter das Leben zur Hölle macht.

Adrian trägt ein enges schwarzes T-Shirt, in dem seine im Fitnessstudio erworbenen Muskeln besonders gut zur Geltung kommen. Er trägt immer enge schwarze T-Shirts. Seine Haut ist zu braun für die Jahreszeit, und mir fällt erstmals auf, dass er sich die Augenbrauen gezupft hat. Ein gepflegter junger Mann, würde meine Mutter sagen. Aber das macht die Sache auch nicht besser.

Melina spricht und isst so gut wie gar nichts und himmelt und himmelt.

In eine kurze Gesprächspause sage ich: «Melina, ich hatte heute ja das Gespräch in der Schule. Wegen deiner Versetzung … ne?»

Ich setze einen väterlich autoritären Gesichtsausdruck auf.

«Ja, und? Was sagt se, die dumme Murnau», blafft sie, erfolgreich von mir aus dem Anhimmelmodus herausgerissen. Das ist sie wieder, meine Melina, wie ich sie kenne und liebe.

«Es sieht so aus, als ob du die 10 wiederholen müsstest. Es sei denn, du änderst dich extrem in deiner Einstellung …»

«Hohh, Mann, ist ja gut jetzt. Können wir vielleicht wann anders drüber reden???»

«Mel», mischt sich Adrian ein. «Ich finde, du solltest deinem Vater ruhig zuhören. Deine Noten sind wirklich …»

«Melina hat recht», unterbreche ich ihn. «Wenn sie das so möchte, werden wir das Thema in der Familie besprechen, im kleinen Kreis.»

Zu dem du, du kleiner Scheißer, nicht dazugehörst.

«Kann ich aufstehen?», fragt Laurin.

Kann er und darf er.

Ich blicke zu Franziska. Sie schaut durch mich hindurch. Sie ist in ihrem eigenen Film. Mal wieder. Irgendwo anders, ganz weit weg, im gedanklichen Exil. Doch es wird wieder, da bin ich sicher. Es braucht Zeit, und die soll sie bekommen. Auch wenn es mit dem Geld immer enger wird, seit sie nicht mehr als Lehrerin arbeitet.

Kurz erwäge ich, von der Steinwurfgeschichte zu erzählen. Doch was bringt das außer Aufregung? Nichts.

Es ist ja auch so nicht leicht. Ich gebe zu, dass Franziska es war, die eine Paartherapie machen wollte. Ich war der, der geblockt hat. Überreden wollte sie mich nicht. Zum Glück. Arbeiten will sie, sagt sie immer, an sich und an unserer Partnerschaft. Mir reicht aber schon die Arbeit bei der Polizei.

Ich glaube daran, dass die Dinge sich irgendwie fügen werden. Man sollte nur einen Fehler nicht machen: die Ansprüche zu hoch zu stellen.


Als Franziska und ich um kurz nach Mitternacht nebeneinander im Bett liegen und ich gerade im Begriff bin, meine Leselampe zu löschen, sagt sie auf einmal: «Henning, ich finde deine Haltung gegenüber Adrian lächerlich. Melina merkt, dass du ihn nicht magst. Dabei ist er so ein netter aufgeschlossener Kerl. Und Melina scheint glücklich zu sein. Das ist doch das Wichtigste, oder nicht? Diese Abneigung hat nur was mit dir selbst zu tun. Niemand anderes kann es dir recht machen.»

Ich will eigentlich schlafen und nicht diskutieren, sage dies auch so und drehe ihr den Rücken zu. Ich ärgere mich über ihre Bemerkung und weiß schon jetzt, dass ich nun alles andere hinbekommen werde, nur nicht einschlafen.

Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder
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