Kapitel zehn

Sara saß auf einem Felsen, tauchte eine Hand in den kleinen Teich und blickte zum nächtlichen Himmel auf. Schwere, dunkle Wolken verdeckten die Sterne, aber der Mond versuchte noch immer tapfer, sein fahles Licht zu verbreiten. Weiße Nebelfetzen waberten hier und da am Waldboden entlang und verliehen der Nacht etwas Unheimliches. Eine Eule, die auf einem der hohen Äste des Baumes links von Sara hockte, verhielt sich völlig still und achtete auf jede Bewegung in dem dunklen Wald. Mehrere Fledermäuse flogen mal in diese, mal in jene Richtung und schnappten nach den Unmengen von Insekten in der Luft. Ein Nagetier auf Futtersuche huschte durch das Laub am Boden und zog die Aufmerksamkeit der Eule auf sich.

Sara hatte schon eine ganze Weile hier draußen gesessen und die frische Nachtluft genossen. Ihr Lieblingsparfum vermischte sich mit ihrem natürlichen, femininen Duft und wurde von der leichten Brise durch den Wald getragen, sodass die Tierwelt sich Saras Gegenwart nur allzu gut bewusst war. Irgendwann stand sie langsam auf und machte sich auf den Rückweg zu dem großen Haus. Ein paar seltene, nur bei Nacht blühende Pflanzen erregten ihr Interesse, und sie blieb stehen, um sich eine anzusehen. Ein Fuchs hob witternd den Kopf und zog sich in das dichte Unterholz um den Felsbrocken zurück, auf dem Sara zuvor gesessen hatte.

Sie vernahm ein leises Geräusch in der Nähe ihrer Füße und erstarrte, als sie die große Ratte sah, die in einem Gebüsch nicht weit von ihr auf Futtersuche war. Das Nagetier war ihr nicht nur viel zu nahe, sondern befand sich auch noch zwischen ihr und dem Weg zum Haus. Sara wich vor der Ratte zurück ins Innere des Waldes und blickte sich nach dem Felsen um, um seine Höhe abzuschätzen. Vampire waren eine Sache, Ratten eine völlig andere. Wenn es um die gefräßigen Nager ging, war sie ein bisschen zimperlich.

Als sie sich wieder zum Weg umdrehte, stand dort ein Mann und beobachtete sie. Er war groß und hager und hatte graue Haut und langes weißes Haar – der Vampir. Er starrte sie aus rot geränderten Augen an, Augen voller Hass und Wut, in denen nicht einmal ein Anflug falscher Freundlichkeit lag. Seine erbitterte Feindschaft zeigte sich in jeder Linie seines verwüsteten Gesichts. »Nach all diesen vergeudeten Jahren habe ich dich endlich. Du hast mich mehr gekostet, als du auch nur ahnst, du dummes, jämmerliches Frauenzimmer. Wie lächerlich, dass ein Nichts wie du ein Dorn in meinem Fleisch sein soll. Es erfüllt mich nahezu mit Abscheu vor mir selbst, dass es so ist.«

Sara wich vor ihm zurück und ging rückwärts auf dem Weg zurück, den sie gekommen war, bis sie mit den Kniekehlen an einen Felsen stieß. Mit großer Würde ließ sie sich einfach darauf nieder und beobachtete schweigend den Vampir; ihre nervös verschränkten Finger waren das einzige Anzeichen von Furcht. Dies war die Bestie, die ihre Familie ermordet und ihr alle genommen hatte, die sie je geliebt hatte, und die auch ihr praktisch das Leben genommen hatte. Diese hochgewachsene, hagere Gestalt mit den eingesunkenen Wangen und den Gift sprühenden Augen.

»Ich habe nahezu unbegrenzte Fähigkeiten, aber ich brauche einen Wurm wie dich, um meine Studien zu vollenden. Und jetzt haftet dir auch noch Falcons Gestank an. Du ahnst gar nicht, wie ekelhaft das für mich ist.« Der Vampir stieß ein leises spöttisches Lachen aus, das seinen Speichel in der Luft versprühte und sie mit seinem Gestank verpestete. »Ich dachte zunächst, ich wüsste nicht, wer er ist, doch in den alten Zeiten kannte ich ihn gut. Er war ein Handlanger des Prinzen. Vladimir lebte lange mit Sarantha, aber uns schickte er in die Welt hinaus, um allein zu leben. Seine Söhne blieben, unter seinem Schutz natürlich, wir jedoch wurden fortgeschickt, um allein zu sterben. Ich wählte aber nicht den Tod, sondern das Leben, und habe viel studiert. Es gibt noch andere wie mich, doch ich bin es, der herrschen wird. Jetzt, da ich dich habe, werde ich ein Gott sein, und nichts wird mir etwas anhaben können. Prinz Mikhail wird sich mir unterwerfen, und alle Jäger werden vor mir zittern.«

Sara hob den Kopf. »Jetzt verstehe ich. Obwohl du dich für allmächtig hältst, für einen Gott, brauchst du trotzdem jemanden wie mich. Du hast mich fünfzehn Jahre lang verfolgt, eine schwache menschliche Frau, ein Kind noch, als du mich gefunden hast, und dennoch hast du es nie geschafft, mich in deine Gewalt zu bekommen.«

Er stieß ein Zischen aus, einen hässlichen, beängstigenden Laut, der grausame Vergeltung zu verheißen schien.

Sara runzelte die Stirn, als ihr plötzlich eine Erkenntnis kam. »Du brauchst mich, um etwas für dich zu finden. Für etwas, das du selbst nicht vermagst. Du hast alle ermordet, die ich liebte, und trotzdem glaubst du, ich würde dir behilflich sein. Aber da irrst du dich gewaltig. Statt dir zu helfen, werde ich dich vernichten.«

»Du hast keine Vorstellung von den Schmerzen, die ich dir zufügen kann. Oder von den Dingen, zu denen ich dich bringen kann. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, dich mir gefügig zu machen. Du hast ja keine Ahnung von der Macht, die ich besitze.« Das höhnische Lächeln des Vampirs gab den Blick auf fleckige, gezackte Zähne frei. »Ich werde es genießen, dich leiden zu sehen, nachdem du so lange eine echte Plage für mich warst. Doch keine Bange, meine Liebe, ich werde dich noch sehr lange am Leben lassen. Du wirst das Grab des Meistermagiers und das Buch des Wissens finden, das mir unsägliche Macht verleihen wird. Einige seiner Besitztümer habe ich mir schon beschafft, und du wirst wissen, wo das Buch ist, wenn du diese Gegenstände in den Händen hältst. Menschen erkennen wahre Schätze nie als das, was sie tatsächlich sind. Sie schließen sie in Museen ein, die nur wenige Leute je besuchen, und keiner sieht, was wirklich wertvoll ist. Sie glauben, Magier und Magie gäbe es nur in Märchen, und leben in bedauernswerter Ignoranz. Menschen verdienen es, mit eiserner Hand regiert zu werden. Sie sind Vieh, mehr nicht. Nur Beute und Futter für die Götter.«

»Vielleicht ist das dein Eindruck von den Menschen, doch er ist falsch, denn wie hätte ich dir sonst fünfzehn Jahre lang entkommen können?«, entgegnete Sara milde. »Ich bin nicht ganz so unbedeutend, wie du mich gern glauben machen würdest.«

»Wie kannst du es wagen, mich zu verhöhnen!«, zischte der Vampir, und sein Gesicht verzerrte sich vor Hass, als er sich plötzlich wachsam umsah. »Wieso bist du allein hier? Sind deine Bewacher so dumm und unerfahren, dass sie dich schutzlos hier allein herumspazieren lassen?«

»Wie kommst du darauf, dass sie mich nicht beschützen? Sie sind überall um mich herum.« Sara bemühte sich, ernst und aufrichtig zu klingen.

Die Augen des Vampirs verengten sich, und er zeigte mit einem dolchähnlichen Fingernagel auf sie. Hätte sie behauptet, allein zu sein, wäre er noch viel misstrauischer geworden, aber auch die Tatsache, dass sie so schnell bereit gewesen war, die Präsenz der Jäger zu verraten, erweckte seinen Argwohn. »Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Frau. Kein Karpatianer würde seine Seelengefährtin als Köder für eine Falle benutzen. Feige wie er ist, würde er dich tief in der Erde verstecken, weil er weiß, dass ich zu mächtig bin, um aufgehalten zu werden.« Er lachte leise, doch es klang nur wie ein jämmerliches Krächzen. »Es ist dein eigener Hochmut, der deinen Niedergang herbeigeführt hat. Du hast die Anweisungen deines Karpatianers missachtet und bist ohne sein Wissen oder seine Erlaubnis mitten in der Nacht herausgekommen. Das ist eine Schwäche der Frauen. Sie denken nicht logisch, sondern jammern immer nur herum und wollen ihren Willen durchsetzen.« Er winkte mit seinem knochigen Finger. »Komm jetzt her zu mir.« Der Vampir wandte einen starken psychischen Zwang an, der schmerzen und einen ungeheuren Druck auf ihr Gehirn ausüben sollte, um sie zum Gehorsam zu bewegen.

Aber Sara blieb ruhig sitzen, verzog nur leicht den hübschen Mund und seufzte. »Das hat bei mir noch nie gewirkt«, informierte sie ihn kopfschüttelnd. »Warum sollte es jetzt auf einmal anders sein?«

Fluchend hob der Vampir einen Arm, bevor er sich eines Besseren besann. Die Schwingungen der Macht würden den karpatianischen Jägern sofort seine Anwesenheit verraten. Verärgert setzte er sich in Bewegung. Entschlossenen Schrittes und mit einem Gesicht, das eine Maske der Empörung über Saras Unverschämtheit war, schickte er sich an, die kurze Entfernung zwischen ihnen zu überwinden.

Sara verharrte jedoch völlig ruhig und beobachtete, wie er sich ihr näherte. Kurz vor ihr beugte der hochgewachsene Vampir sich vor und streckte die messerscharfen Krallen nach ihr aus. Im selben Moment handelte Sara – nur war es Falcons Faust, die mit aller Kraft gegen die Brusthöhle des Untoten prallte, da er blitzschnell wieder seine wahre Gestalt angenommen hatte. Mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens schwankte der Vampir und taumelte zurück. Deshalb durchdrang Falcons Faust nur knapp den Brustkorb. Über ihnen stürzte sich Jacques in Gestalt der Eule aus den Ästen und flog mit ausgestreckten Krallen auf den Untoten zu. Der kleine Fuchs wurde größer und länger und verwandelte sich in die hochgewachsene, elegante Gestalt eines Jägers, und Mikhails Hände woben schon einen Fesselzauber, der den Vampir daran hindern sollte, sich zu verwandeln oder zu verschwinden.

Unter dem Druck des Zaubers in der Luft, gefangen zwischen den Jägern und außerstande zu fliehen, startete der Vampir einen Gegenangriff und riskierte alles, um den einen Karpatianer zu besiegen, dessen Tod die beiden anderen zwingen würde einzuhalten. Unter Aufbietung seiner ganzen Kraft und Erfahrung rammte er die Faust so hart gegen Falcons Ellbogen, dass der Knochen brach. Dann wirbelte er herum und vervielfältige sich wieder und wieder, bis plötzlich hundert Vampir-Klone die Karpatianer umringten. Die Hälfte der Klone griffen mit spitzen Pfählen oder scharfen Speeren an, die anderen flohen in verschiedene Richtungen.

Jacques, in Gestalt der Eule, trieb seine Krallen in den Kopf eines Klons, wo er aber nur auf Leere stieß, sodass er gezwungen war, sich blitzschnell wieder aufzuschwingen, bevor er durch die Wucht seines Angriffs auf dem Boden landete. Die Atmosphäre vibrierte von Macht, von Aggression und Hass.

Jeder der angreifenden Klone wob einen anderen Zauber, und dichte Sprühnebel von Blut verfärbten die Luft zu einem giftigen Rot. Falcons Geist verschloss sich vor dem Schmerz seines gebrochenen Ellbogens, als er für die Dauer eines Herzschlags die Situation einschätzte. Denn dieser kurze Moment war alles, was er hatte, um über sein weiteres Vorgehen zu entscheiden. In diesem Bruchteil einer Sekunde zogen die Jahrhunderte seines Lebens an ihm vorbei, all die öden, leeren, sich endlos hinziehenden Jahre vor seiner Begegnung mit Sara. Dies ist mein Geschenk an dich. Sara war sein Leben. Seine Seele. Seine Zukunft. Aber er durfte auch seine Ehre nicht vergessen, musste bedenken, was und wer er war und wofür er stand. Er war der Hüter seines Volkes.

Sie war bei ihm, seine Sara, und verstand, dass er keine andere Wahl hatte. Seine Ehre war alles, was ihn ausmachte. Ohne Bedauern warf er sich zwischen seinen Prinzen und den Vampir, der zum entscheidenden Schlag ausholte. Eine Vielzahl rasiermesserscharfer Speere durchbohrten Falcons Körper, raubten ihm den Atem und sandten seine Lebenskraft in dunklen Strömen auf den Boden. Im Zusammenbrechen streckte er noch die Hände aus und drückte sie in die scharlachrote Fontäne an der Brust des Vampirs, um seine Spuren zu hinterlassen, die wie ein Leuchtfeuer für die anderen Jäger sein würden.

Sara, die in Falcons Bewusstsein war, reagierte ruhig und wusste bereits, was zu tun war. Sie hatte sich Falcons Wissen zunutze gemacht und stellte sofort die Tätigkeit seiner Lunge und seines Herzens ein, sodass er still wie der Tod auf dem Schlachtfeld liegen blieb. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, ihn bei sich zu behalten, ein flackerndes, schwaches Licht, das sich nur noch vor dem grauenhaften Schmerz zurückziehen wollte. Aber Sara hatte keine Zeit für Kummer oder andere Emotionen. Sara hielt Falcon mit grimmiger Entschlossenheit bei sich, während der Kampf um sie herum seinen Fortgang nahm.

Mikhail sah den alten Krieger fallen, dessen Körper übersät mit Löchern war. Der Prinz war schon in Bewegung und zerbrach die Speere wie Zündhölzer, während er kämpfte wie ein Wilder und Jacques im Geiste lenkte. Die Klone versuchten, sich neu zu formieren, um die Jäger von dem Geruch des Vampirs abzubringen, aber es war zu spät. Der Vampir hatte sich im Kampf gezeigt, und Mikhail hängte sich an Falcons Fingerspuren an der Brust des Untoten.

Der Vampir fauchte und kreischte vor Wut und Hass, doch der Fesselzauber wirkte. Der Vampir konnte nicht seine Gestalt verändern, und ihm blieb auch keine Zeit mehr dafür. Der Prinz trieb ihm seine Faust tief in die Brust. Jacques schnitt dem Monster sauber die Kehle durch. Das war jedoch nur eine Verzögerungstaktik, um seinem Bruder Zeit zu verschaffen, das schwarze, noch immer pochende Herz aus der Brust des Untoten herauszureißen. Vom Himmel hagelte es Insekten, große Stechmücken, Eiskügelchen und Regen.

Ruhig bereitete Mikhail die Energieentladung in den aufgewühlten dunklen Wolken vor. Die ganze Zeit über kroch und hüpfte das schwarze Herz blind herum und suchte seinen Herrn. Blasen schlugen aus der Erde und bildeten sich an den Armen der Karpatianer, als der scharlachrote Sprühnebel in ihre Haut eindrang. Der immer stärker werdende Wind peitschte sie, stöhnte und zischte rachsüchtig. Mikhail fuhr grimmig fort, die Natur zu Hilfe zu rufen, und lenkte einen feurigen orangefarbenen Ball vom Himmel auf das pulsierende Herz am Boden herab. Das Ding ging mit einem abscheulichen Geruch und in einer Wolke schwarzen Rauchs in Flammen auf.

Der Körper des Vampirs zuckte, der Kopf fiel herab und rollte über den Boden, doch die Augen starrten Falcons reglose Gestalt noch immer mit einem Hass an, wie ihn die erfahrenen Jäger noch nie gesehen hatten. Eine Hand des Untoten bewegte sich, die messerscharfen Krallen streckten sich nach dem gefallenen Krieger aus, wie um ihn auf den Weg zum Tode mitzunehmen. Der orangefarbene Energieball schlug in den Körper ein, setzte ihn in Flammen und sprang dann zu dem Kopf über, um auch ihn in Asche zu verwandeln.

Jacques übernahm das Reinigen der Erde und säuberte dann die Haut der Karpatianer, um alle Spuren der Bestie zu vernichten, die wider die Natur verstoßen hatte. Dann brachte er Falcon in eine sichere Höhle, wo seine Verletzungen behandelt werden konnten.

Raven empfing ihren Seelengefährten an der Tür, wo sie seinen Arm berührte und ihm Trost und Wärme bot. »Shea ist schon zu der Höhle vorausgegangen, in der wir die Kranken heilen, um die Erde zu öffnen und die Kerzen anzuzünden. Jacques hat Falcon bereits dorthin gebracht. Ich habe unsere Leute aufgerufen, sich unseren heilenden Gesängen anzuschließen.« Sie drehte sich um und schaute Sara an.

Falcons Seelengefährtin kam langsam näher. Sie konnte Mitgefühl, ja sogar Kummer in Ravens Gesicht erkennen. Tränen strömten über ihre Wangen, und Raven streckte Sara beide Hände hin. »Falcon befindet sich an dem bestmöglichen Ort, einem Ort der Macht, Sara. Die Erde ist dort sehr heilkräftig und wird Shea bei ihrer Arbeit unterstützen. Sie sagt …« Sie unterdrückte ein Aufschluchzen. »Du musst schnell mit uns zu dieser Höhle gehen.«

Mikhail trat zurück und vermied es, Falcons Seelengefährtin anzusehen. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, aber Sara wusste, was er dachte. Sie berührte kurz seinen Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Ich war in seinem Geist, als er den Entschluss fasste. Es war eine ganz bewusste Entscheidung, die er ohne das geringste Zögern traf. Schmälere sein Opfer nicht durch Schuldgefühle. Falcon hält dich für einen großartigen Mann und ist überzeugt davon, dass der Verlust deines Lebens für ihn und dein Volk eine Katastrophe wäre. Er wusste ganz genau, was er tat und was der Preis dafür sein könnte. Ich bin stolz auf ihn und weiß zu schätzen, was und wer er ist. Er ist ein ehrenwerter Mann, ist es immer schon gewesen. Ich habe seine Entscheidung voll und ganz befürwortet.«

Mikhail nickte. »Du bist wahrhaft die Seelengefährtin eines noblen alten Kriegers wie Falcon. Danke für dein Verständnis in einem solch trostlosen Moment. Es ist eine Ehre, dich zu unserem Volk zählen zu dürfen, Sara. Aber jetzt müssen wir schnell zu ihm. Da du noch keine Zeit gehabt hast, dich an unsere Lebensweise zu gewöhnen, muss ich dich um Erlaubnis bitten, dein Blut zu nehmen. Ich habe Falcons Blut in den Adern und muss dir helfen, deine Gestalt zu verändern, damit du zu der Heilstätte gelangen kannst.«

Sara schaute Mikhail ruhig in die schwarzen Augen. »Es wird mir eine Ehre sein, mein Prinz.«

Ravens Griff um Saras Hand verstärkte sich, um ihr Kraft zu geben, doch Sara spürte die Berührung kaum. Durch ihre enge geistige Verbundenheit mit Falcon hielt sie ihn unerbittlich fest und ließ ihn trotz der Schwere seiner Verletzungen nicht entschlüpfen. Wie aus weiter Ferne nur spürte sie den stechenden Schmerz von Mikhails Zähnen an ihrem Handgelenk und den beruhigenden Druck von Ravens Hand. Nichts anderes zählte mehr für Sara als dieses flackernde, so schwache und so weit entfernte Licht.

Mikhail vermittelte ihr das Bild einer Eule, und Sara konnte spüren, wie ihre Knochen sich verbogen, ihr Körper sich verdrehte und verwandelte, ihre Schwingen sich in Bewegung setzten und sie sich mit einem jähen Luftzug in die Höhe schwang. Doch das einzig Wichtige für sie war Falcon, und sie wagte nicht, dieses verblassende Licht loszulassen, um einen Blick auf die Welt zu riskieren, die immer weiter fortrückte, als sie in Gestalt einer Eule zu der heilenden Höhle flog.

Tief unter der Erde war die Luft zum Schneiden dick von dem Geruch von Hunderten von Duftkerzen. Sara ging zu Falcon und war entsetzt über seine grauenvollen Wunden und seine leichenblasse, schon fast durchsichtige Haut. Sheas physischer Körper war nur noch eine leere Hülle, da sie ihn abgelegt hatte, um in Falcons einzudringen, wo sie stoisch und besonnen die beträchtlichen Verletzungen des alten Kriegers heilte. Ein vielstimmiger Gesang in der uralten Sprache der Karpatianer – wunderschöne Worte, die Sara leider noch nicht verstehen konnte –, erfüllte die Höhle. Die nicht Anwesenden waren trotzdem da, stimmten im Geiste in den Gesang ein und übermittelten ihrem gefallenen Krieger ihre Heilkräfte und Energie.

Sara sah, wie der Prinz Falcon Blut gab, viel mehr, als er sich leisten konnte, und dennoch winkte er die anderen fort und stärkte Falcon mit seiner mächtigen Lebensessenz, bis er selbst so schwach und blass war, dass sein eigener Bruder ihn zwang, sich von ihm ablösen zu lassen. Sara beobachtete, wie großzügig jeder der anderen Karpatianer, die alle Fremde für sie waren, ihren Seelengefährten mit Blut versorgte und wie respektvoll sie ihm ihre Ehrerbietung erwiesen. Als alles vorbei war, nahm Sara Falcons Hand in ihre und sah zu, wie Shea in ihren eigenen Körper zurückkehrte.

Die Ärztin, die vor Erschöpfung schwankte, gab den anderen ein Zeichen, Falcons offene Wunden mit einer Mischung aus Speichel und der heilkräftigen schwarzen Erde zu bedecken. Nachdem sie sich mit dem Blut ihres Lebensgefährten gestärkt hatte, machte sie sich wieder an die kolossale Aufgabe, Falcons Wunden von innen heraus zu schließen und zu heilen.

Es dauerte Stunden. Draußen vor der Höhle stieg die Sonne schon am Himmel auf, aber nicht einer der Karpatianer stockte auch nur vorübergehend in seiner Aufgabe. Sara hielt Falcon durch pure Willenskraft bei sich, und als Shea zum letzten Mal in ihren eigenen Körper zurückkehrte, starrten die beiden Frauen sich über seine reglose Gestalt hinweg an. Sara und Shea waren beide zum Umfallen müde und hatten Tränen in den Augen.

»Wir müssen ihn in die Erde bringen und hoffen, dass sie ihre Wirkung entfaltet. Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Shea leise. »Alles andere liegt bei dir.«

Sara nickte. »Danke, Shea. Wir stehen tief in deiner Schuld. Deine Bemühungen werden nicht umsonst gewesen sein. Er wird leben. Etwas anderes lasse ich nicht zu.« Sara beugte sich über ihren Seelengefährten. »Du wirst nicht sterben, Falcon, hörst du?«, erklärte sie, während die Tränen ungehindert über ihre Wangen rannen. »Du wirst durchhalten und für mich leben. Für uns. Für unsere Kinder. Das verlange ich von dir, hörst du?«, fügte sie mit grimmiger Entschlossenheit hinzu, die aus ihrem Herzen, ihrem Geist und ihrer Seele kam. Sanft berührte sie Falcons geliebtes Gesicht und strich seine abgespannten, müden Züge nach. Hörst du mich, Liebster?

Sie verspürte eine kaum merkliche Regung in ihrem Geist. Eine Wärme und ein leises, müdes Lachen. Wer könnte dich nicht hören, mein Geliebte? Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

Das Haus war riesig, ein massives, weitläufiges Gebäude aus Naturstein mit einer Veranda, die das ganze Erdgeschoss umgab. Mächtige Säulen trugen einen ebenso breiten, um den gesamten ersten Stock verlaufenden Balkon, und große Buntglasfenster, die von einzigartiger Schönheit waren, ließen den Schein des Mondes herein. Sara liebte alles an dem Anwesen: die verwilderten Sträucher und die dichten Baumgruppen, das bunte Durcheinander wilder Blumen, die überall aus dem Boden zu schießen schienen. Sie würde nie müde werden, auf ihrer Schaukel auf der Veranda zu sitzen und zu dem umliegenden Wald hinauszuschauen.

Selbst nach den letzten Monaten war es noch immer schwer zu glauben, dass der Vampir wirklich und wahrhaftig aus ihrem Leben verschwunden war. Sie war in Falcons Bewusstsein gewesen, als er ihre Gestalt angenommen hatte, um den Vampir anzulocken und ihn zu stellen, und ihre Gedanken und Gefühle hatten Falcons als Sara Marten getarnten Körper gelenkt. Er war so tief in ihr verborgen gewesen, dass der Vampir ihn nicht hatte entdecken können. Der Plan hatte funktioniert, der Vampir war vernichtet, doch es würde bestimmt noch eine ganze Weile dauern, bis sie endlich wieder ohne Furcht erwachen würde. Sie konnte nur hoffen, dass das Buch, das der Vampir gesucht hatte, für immer verborgen und verloren bleiben würde, für Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen. Die Tatsache, dass der Untote sich so sehr bemüht hatte, das Buch zu finden, konnte nur bedeuten, dass es enorme Macht enthielt und in den falschen Händen sowohl für Sterbliche als auch für Unsterbliche eine Katastrophe sein könnte.

Falcon hatte Sara erzählt, dass er den Vampir als junger Mann gekannt hatte. Vladimir hatte ihn nach Ägypten geschickt, während Falcon nach Italien gegangen war. Irgendwann hatte Falcon sich für ein Leben in Ehre entschieden, sein Jugendfreund hingegen hatte nach absoluter Macht gestrebt. Sara schaukelte versonnen hin und her und ließ den abendlichen Frieden die unerfreulichen Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben.

Sie konnte die Hausangestellten, deren leise Stimmen sie als beruhigend empfand, in der Küche miteinander reden hören. Sara vernahm auch das Lachen und Geflüster der Kinder, die sich oben in ihren Schlafzimmern zum Zubettgehen bereitmachten, und Falcons sanfte Stimme, als er mit den Kleinen scherzte. Wie fast jeden Abend entbrannte eine Kissenschlacht.

Du bist selbst noch ein kleiner Junge, hörte Falcon Sara sagen, und wie immer waren ihre Worte von einer tiefen Zuneigung begleitet, die ihm schier den Atem raubte. Sara liebte es, ihn zum Lachen zu bringen und ihm all die kleinen Freuden zu schenken, die er in seinem langen Leben nie gekannt hatte. Und natürlich wusste sie, dass Falcon sie nicht nur dafür, sondern auch für die Art und Weise liebte, wie sie jeden Moment ihrer Existenz mir ihm genoss, als wäre jede Stunde etwas Neues und ungeheuer Kostbares für sie.

Sie haben mich angegriffen, die kleinen Racker. Sara konnte sehen, wie er lachte und die Kissen ebenso schnell zurückwarf, wie sie ihn von allen Seiten trafen.

Nun ja, aber wenn ihr fertig seid mit eurem Krieg, hat deine Seelengefährtin andere Aufgaben für dich, antwortete Sara ihm, lehnte sich auf ihrer Schaukel zurück und tippte ungeduldig mit den Schuhen auf den Boden. Ein kleines Lächeln erschien um ihre Mundwinkel. Sie hatte ganz bewusst an ihre neueste Fantasie gedacht: Darin stand sie vor dem Teich unter dem Wasserfall, den sie an dem geschützten kleinen Strand zwischen den Klippen entdeckt hatte, streifte die Kleider ab und stieg nackt auf einen Felsbrocken, um die Arme einladend zum Mond am Himmel auszustrecken. Lächelnd wandte sie sich Falcon zu, als er zu ihr kam, und beugte sich vor, um mit der Zunge einem Wassertröpfchen auf seiner Brust zu folgen, zu seinem Bauch hinunter und noch tiefer …

Einen Moment lang flimmerte die Luft, dann stand Falcon leibhaftig vor ihr, mit ausgestreckter Hand und einem Grinsen im Gesicht. Sara starrte ihn an und nahm den Anblick seines langen, seidigen Haares und seiner faszinierenden dunklen Augen in sich auf. Er sah fit und gut aus, obwohl die Narben an seinem Körper immer noch nicht ganz verheilt waren. Aber sie wusste, dass sie tiefere Spuren in ihrem eigenen Bewusstsein hinterlassen hatten als in seiner Haut. Sie sprang auf, warf sich in seine Arme und erhob ihr Gesicht zu einem seiner wundervollen, berauschenden Küsse, mit denen er die Erde für sie in Bewegung setzen konnte.

»Ich möchte mir diesen Teich ansehen, den du entdeckt hast«, flüsterte er verheißungsvoll an ihren Lippen und ließ die Hände sanft, aber besitzergreifend über ihren Körper gleiten.

Sara lachte leise. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«