Kapitel vier

Bevor sie einen weiteren Laut von sich geben konnte, legte Falcon warnend eine Hand auf ihren Mund. Aber Sara brauchte die Warnung nicht, um zu wissen, was geschehen war. Ihr Feind hatte sie wieder mal gefunden. »Du musst von hier verschwinden«, zischte sie hinter Falcons Fingern.

Er senkte den Kopf, bis sein Mund ihr Ohr berührte. »Ich jage die Untoten, Sara. Ich laufe nicht vor ihnen weg.« Ihr Geschmack war noch in seinem Mund; sie war jetzt ein Teil von ihm, für immer untrennbar mit ihm verbunden.

Sara legte den Kopf zurück, um zu Falcon aufzuschauen, und fuhr zusammen, als der Wind sich heulend und kreischend zu einer solchen Naturgewalt steigerte, dass er kleine Wirbelstürme auf der Straße verursachte und in einem Anfall wilder Wut Papier, Laub und Zweige in die Höhe schleuderte. »Bist du gut darin, diese Scheusale zu töten?« Sie fragte es ein wenig ungläubig, aber es lag auch etwas Herausforderndes in ihrer Stimme. »Ich muss die Wahrheit wissen.«

Zum ersten Mal, soweit Falcon sich erinnern konnte, war ihm nach Lachen zumute. Es war vielleicht ein wenig unpassend, unmittelbar vor der Ankunft des Vampirs zu grinsen, doch der Zweifel in Saras Stimme amüsierte ihn. »Er schickt seine Drohungen voraus. Du hast ihn verärgert, wahrscheinlich, weil du inzwischen eine Art eingebauten Schutzschild hast, was etwas sehr Seltenes ist. Er kann dich nicht finden, wenn er die Gegend durchleuchtet. Deshalb sucht er nach einer Wahrnehmung, einem Aufflackern von Furcht, das ihm verraten wird, dass du weißt, wer er ist. Ich werde ihm antworten, um ihm deutlich zu machen, dass du von nun an unter meinem Schutz stehst.«

»Nein!« Plötzlich sehr angespannt, umklammerte sie Falcons Arm. »Das ist sie, unsere Chance! Wenn er nichts von dir weiß, wird er kommen, um mich zu töten, und wir können ihm eine Falle stellen.«

»Ich brauche dich nicht als Köder zu benutzen.« Falcons Ton war mild, aber es lag auch ein Anflug einer namenlosen Emotion darin, bei der es ihr kalt über den Rücken lief. Falcon war nie unfreundlich zu ihr, seine Stimme war immer sanft und leise und seine Berührung zärtlich, doch tief in seinem Innersten war etwas, das überaus gefährlich und sehr finster war.

Sara merkte, dass sie fröstelte, aber sie umklammerte seinen Arm noch fester, aus Angst, ihn zu verlieren, falls er in den tobenden Sturm hinausging. »Es ist der beste Weg. Der Vampir wird kommen, um mich zu holen, wie er es immer tut.« Schon jetzt war ihre Verbindung zu Falcon so stark, dass sie den Gedanken, es könnte ihm etwas zustoßen, nicht ertragen konnte. Sie musste ihn vor der Bestie beschützen, die ihre Familie zerstört hatte.

»Nicht heute. Heute Nacht werde ich ihn mir holen.« Falcon schob Sara sanft, aber entschieden von sich weg. Er konnte deutlich ihre Ängste fühlen, ebenso wie ihre grimmige Entschlossenheit, dafür zu sorgen, dass ihm nichts geschah. Sie hatte jedoch keine Vorstellung von dem, was er war, oder von den Tausenden von Kämpfen, die er gerade gegen diese Monster ausgefochten hatte: gegen karpatianische Männer, die zu lange gewartet oder sich entschieden hatten, ihre Seelen für den flüchtigen Rausch des Tötens aufzugeben. Männer, die einmal seine Brüder waren.

Sara griff erneut nach seinem Arm. »Nein, geh bitte nicht!«, sagte sie mit seltsam heiserer Stimme. »Ich möchte, dass du heute Nacht bei mir bleibst. Ich weiß, dass er hier ist, und zum ersten Mal bin ich nicht allein.«

Falcon senkte den Kopf und bedeckte ihren weichen Mund mit seinem. Sofort war da wieder diese prickelnde Erwartung, die ihn jedes Mal durchströmte, das Versprechen seidiger Wärme und rauschhafter Ekstase, von der er sich nie hätte träumen lassen, dass er sie einmal erfahren würde. »Du bist besorgt um meine Sicherheit und versuchst, mich dazu zu verführen, bei dir zu bleiben«, flüsterte er an ihren Lippen. »Aber ich bin jetzt in dir, Sara, und wir können uns auf telepathische Weise miteinander verständigen. Vampire zu jagen ist meine Aufgabe, Sara, meine Lebensweise. Ich habe keine andere Wahl, als auf die Jagd nach diesem hier zu gehen. Ich bin einer der Karpatianer, die von dem Prinzen meines Volkes in die Welt ausgesandt wurden, um andere vor diesen Bestien zu beschützen. Ich bin ein Jäger. Es ist das einzig Ehrenvolle, das mir noch geblieben ist.«

Wieder hörte sie die schmerzliche Einsamkeit in seiner Stimme. Sie selbst war fünfzehn Jahre allein gewesen und konnte sich trotzdem nicht einmal vorstellen, wie es wäre, so lange allein zu sein, wie Falcon es gewesen war. Die nicht enden wollende Zeit verstreichen zu sehen und die Veränderungen auf der Welt zu erleben, ohne jede Hoffnung oder Zuflucht zu haben. Dazu verurteilt, seine eigene Spezies, ja vielleicht sogar einstige Freunde töten zu müssen. Ehre. Dieses Wort war immer wieder in Falcons Tagebuch vorgekommen. Sie sah die unerschütterliche Entschlossenheit in ihm und die immense Härte, die gefährlich nahe unter seiner äußerlichen Ruhe schwelte. Nichts, was sie sagen konnte, würde ihn aufhalten.

Schließlich gab Sara seufzend nach und nickte. »Ich glaube, du hast noch sehr viel mehr in dir, das Anerkennung verdient, als deine Fähigkeiten als Jäger, aber ich verstehe, was du meinst. Auch ich muss Dinge tun, vor denen es mir graut, doch ich weiß, dass ich mir im Spiegel nicht mehr ins Gesicht schauen könnte, wenn ich kneifen würde.« Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich eng an ihn. Für einen Moment war sie nicht mehr allein auf der Welt, sondern geborgen in Falcons starken Armen, die ihr Sicherheit vermittelten. »Lass nicht zu, dass dieser verdamme Vampir dir etwas antut! Er hat es geschafft, mir jeden zu nehmen, der mir etwas bedeutete.«

Falcon hielt sie ganz fest. Jede Faser seines Herzens – und Körpers – schrie nach ihr und brauchte sie. Es war Wahnsinn, auf die Jagd zu gehen, solange er so nahe daran war, der Finsternis anheimzufallen und das Ritual zwischen ihm und Sara noch nicht vollendet war, aber er hatte keine andere Wahl. Der Wind peitschte die Fenster, und die Äste der Bäume schlugen mit unbeherrschter Wut gegen das Haus. »Ich werde bald wieder zurück sein, Sara«, versuchte er, sie zu beruhigen.

»Lass mich mit dir gehen«, schlug sie plötzlich vor. »Ich habe ihm schon des Öfteren gegenübergestanden.«

Falcon lächelte, wenn auch nur im Geiste. Sara war schön, nahezu unglaublich schön, und bereit, sich dem Vampir gemeinsam mit ihm zu stellen. Wieder beugte er sich vor, bedeckte ihren Mund mit seinem und machte den Kuss zu einem Versprechen, einer Verheißung von Glück und Leben. Und dann ging er. Er riss die Tür auf, solange er noch konnte und sein Ehrgefühl noch stark genug war, um die Bedürfnisse seines Körpers zu bezwingen. Draußen löste er sich in Nebel auf, vermischte sich zur Tarnung mit dem Regen und entfernte sich mit der Nachtluft von Sara und der Verlockung ihres Körpers und ihres Herzens.

Verwirrt von seinem plötzlichen Verschwinden, folgte Sara ihm auf die Veranda und blickte sich verwundert blinzelnd um. Ein gequälter Aufschrei entrang sich ihrer Seele: »Falcon!« Der Wind zerzauste und verhedderte ihr Haar, und der Regen durchnässte ihre Kleider, bis die Seide schon fast durchsichtig war. Wieder war sie vollkommen allein.

Du wirst nie wieder allein sein, Sara. Ich bin in dir, wie du in mir bist. Sprich mit mir im Geiste, und ich werde dich hören.

Sara stockte der Atem. Das war doch nicht möglich! Aber eine solch heftige Erleichterung durchströmte sie, dass sie sich Halt suchend an den Verandapfosten lehnte. Sie fragte sich nicht, wie seine liebevolle Stimme so klar verständlich in ihrem Kopf sein konnte, sondern akzeptierte es schlicht und einfach, weil sie sie so dringend brauchte. Sara presste nur die Faust an ihre Lippen, um nicht dem Impuls zu erliegen, Falcon zurückzurufen, und vergaß für einen Moment, dass er ihre Gedanken lesen konnte.

Falcon lachte leise, und seine Stimme war zärtlich wie ein Streicheln. Du bist eine erstaunliche Frau, Sara, und sogar imstande, meine Briefe an dich zu übersetzen. Ich hatte sie in verschiedenen Sprachen geschrieben. In Griechisch, Hebräisch und der alten Sprache meines Volkes. Wie hast du eine so schwere Aufgabe gemeistert? Mit großer Schnelligkeit bewegte er sich über den Nachthimmel, tastete ihn dabei sorgfältig ab und suchte nach Störungen, die ihm die Ankunft des Untoten signalisieren würden. Manchmal verrieten leere Stellen den Schlupfwinkel eines Vampirs, doch es konnte auch ein plötzliches Aufwallen von Macht oder ein unerwarteter Auszug von Fledermäusen aus einer Höhle sein. Die kleinste Einzelheit konnte ein Hinweis sein für jemanden, der wusste, wonach er suchen musste.

Sara schwieg einen Moment und dachte über Falcons Frage nach. Sie war wie besessen davon gewesen, die seltsamen, so sorgfältig in Leder eingeschlagenen Schriftstücke zu übersetzen. Sie hatte sich buchstäblich festgebissen in diesen Dokumenten, weil sie die uralten Worte einfach übersetzen musste. Sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl, das sie erfasst hatte, wann immer sie die Pergamentrollen berührt hatte. Ihr Herz hatte schneller geschlagen, ihr Körper war lebendiger geworden, und ihre Finger waren öfter über die Buchstaben geglitten, als sie zählen mochte. Irgendwie hatte sie von Anfang an gewusst, dass diese Worte für sie bestimmt waren. Und sie hatte Falcons Gesicht beim Lesen und Übersetzen gesehen. Seine Augen, das markante Kinn und das lange, seidig schwarze Haar. Selbst die schmerzliche Einsamkeit in ihm hatte sie gespürt und gewusst, dass nur sie die richtige Übersetzung für die alten Worte finden würde.

Meine Eltern haben mich Griechisch, Hebräisch und die meisten alten Sprachen gelehrt, aber einige der Buchstaben und Symbole in deinen Briefen hatte ich noch nie gesehen. Ich bin damit zu verschiedenen Museen und allen Universitäten gegangen, aber das Tagebuch wollte ich niemand anderem zeigen, weil ich sicher war, dass es nur für mich bestimmt war. Sie hatte irgendwie gewusst, dass der Inhalt der Briefe sehr intim war und sich nur an sie richtete. Sie waren ihr schon poetisch erschienen, bevor sie sie übersetzt hatte. Sara spürte, wie ihr die Tränen kamen. Falcon. Heute kannte sie seinen Namen, hatte ihm in die Augen gesehen und wusste, dass er sie brauchte. Niemanden sonst, nur sie. Ich habe mich monatelang mit dem Tagebuch beschäftigt und übersetzt, so viel ich konnte, Wort für Wort, doch ich wusste, dass irgendetwas nicht ganz stimmig war. Und dann hatte ich so etwas wie eine Eingebung und konnte spüren, ob die Übersetzung richtig war. Ich kann dir nicht erklären, wieso, aber ich wusste es sofort, als ich den Schlüssel fand.

Falcon verspürte wieder das eigenartige Ziehen in seinem Herzen. Sara konnte seine Seele mit Wärme und solch intensiven Empfindungen durchfluten, dass er nicht mehr das mächtige Raubtier war, sondern ein Mann, der bereit war, alles für seine Seelengefährtin zu tun. Sie beschämte ihn geradezu mit ihrer Großzügigkeit und widerspruchslosen Anerkennung dessen, was er war. Er hatte diese Worte für sie geschrieben und Gefühle mit ihnen ausgedrückt, die er damals schon nicht mehr hatte empfinden können. Das Tagebuch zu schreiben war wie ein Zwang gewesen, den er nicht hatte ignorieren können. Er hatte nicht erwartet, dass irgendjemand es einmal lesen würde, und trotzdem hatte er sich nie dazu überwinden können, es zu vernichten.

Da die Morgendämmerung erst in zwei Stunden einsetzen würde, war der Vampir noch immer brandgefährlich. Mit ziemlicher Sicherheit befand er sich auf der Suche nach einem Unterschlupf und nach Fluchtwegen oder sammelte Informationen. Falcon hatte jahrhundertelang Vampire gejagt und mit Erfolg bekämpft, und dennoch wurde ihm immer unbehaglicher zumute. Er hätte längst eine Spur aufnehmen müssen, aber er fand keine der üblichen Anzeichen, die darauf hinwiesen, dass der Untote in der Stadt gewesen war. Nur wenige dieser Kreaturen waren zu einer solchen Leistung fähig; allein ein sehr mächtiger und uralter Gegner konnte solche Fähigkeiten haben.

Du bist mein Herz und meine Seele, Sara. Die Worte, die ich für dich hinterlassen hatte, sind alle wahr, und nur meine Seelengefährtin konnte den Schlüssel zu dem Code finden, um die alte Sprache zu übersetzen. Die Bewunderung und tiefe Liebe, die in seiner Stimme mitklangen, legten sich um Saras Herz und hüllten sie in Wärme ein. Aber jetzt muss ich mich auf die Jagd konzentrieren. Dieser Vampir ist kein unerfahrener Anfänger, sondern einer von großer Macht und Stärke. Ich muss ihm meine volle Aufmerksamkeit widmen. Solltest du mich brauchen, such den geistigen Kontakt zu mir, und ich werde dich hören.

Sara verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete die silbrig schimmernden Regenschleier. Sie spürte Falcons Unbehagen mehr, als sie es in seiner Stimme wahrnahm. Falls du mich brauchst, werde ich zu dir kommen, antwortete sie, und ihr Angebot war völlig ernst gemeint, weil es ihr falsch erschien, ihn allein losziehen zu lassen, um ihre ganz persönlichen Kämpfe auszufechten.

Falcon wurde es ein wenig leichter ums Herz. Sara würde ihm zu Hilfe kommen, wenn er sie rief. Die Verbindung zwischen ihnen war schon stark und vertiefte sich noch mit jeder Minute, die verstrich. Sara verkörperte das Wunder, das nur seiner Spezies gewährt wurde: eine Seelengefährtin.

Er war vorsichtig, als er über den Himmel flog und den Wind zur Tarnung nutzte. Zum Glück war er sehr geübt darin und konnte seine Gegenwart mühelos verschleiern. Nachdem er bisher nichts entdeckt hatte, sah er sich die Bereiche an, die Untoten am ehesten als Unterschlupf dienen würden. Innerhalb der Stadt würden es die leer stehenden älteren Häuser mit Kellern sein; außerhalb könnte es jede Höhle, jedes Loch im Boden sein, die der alte Vampir mit Schutzzaubern versehen konnte.

Falcon fand keine Spur des Feindes, doch das Unbehagen in ihm verstärkte sich. Der Vampir hätte Sara schon längst angegriffen, wenn er mit Sicherheit gewusst hätte, wo sie war. Offensichtlich hatte er seiner Wut darüber Luft gemacht, dass er sie nicht gefunden hatte, und gehofft, sie so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass sie ihm ihre Gegenwart verriet. Das ließ Falcon noch eine andere Möglichkeit offen: Er würde die letzte Beute des Vampirs finden und ihn von dort aus aufspüren. Da ein solches Vorgehen allerdings solch mühevolle Kleinarbeit erfordern würde, dass er Sara für einige Zeit allein lassen musste, suchte er den telepathischen Kontakt zu ihr. Falls du dich unwohl fühlst, Sara, setz dich sofort mit mir in Verbindung. Egal, was es ist, ruf mich, wenn du mich brauchst.

Er spürte ihr Lächeln. Ich bin mir dieses Feindes mein Leben lang bewusst gewesen. Ich weiß, wann er in der Nähe ist, und ich habe es noch jedes Mal geschafft, ihm zu entkommen. Pass du auf dich selbst auf, Falcon, und mach dir keine Sorgen um mich. Sara war lange Zeit allein gewesen und eine unabhängige, selbstständige Frau, die viel besorgter um Falcon war als um sich selbst.

Noch immer regnete es heftig, und der Wind blies das Wasser in dichten, düsteren Schleiern vor sich her. Aber Falcon spürte keine Kälte in der Gestalt, die er angenommen hatte, und wäre er in Menschengestalt gewesen, hätte er seine Körpertemperatur problemlos regulieren können. Der Sturm hinderte ihn daran, den Feind mit seinem Geruchssinn aufzuspüren, doch da er die Verhaltensweise von Vampiren kannte, fand er zielsicher die Beute.

Der Leichnam lag in einer Gasse, nicht weit entfernt von der Stelle, wo Falcon Saras Kanalkindern begegnet war. Sein Unbehagen wuchs. Der Untote war offenbar schon sehr geübt darin geworden, Sara aufzuspüren. Egal, wie sehr sie sich bemühte, es zu vermeiden, hatte auch ihr Verhalten ein gewisses Muster, das der Vampir sich zunutze machte. Sowie er das Land und die Stadt fand, in der sie sich niedergelassen hatte, begab er sich zu den Orten, an denen Sara irgendwann erscheinen musste. Zu den Zufluchtsorten der Verlorenen, der Obdachlosen, der unerwünschten Kinder und misshandelten Frauen. Sara arbeitete in diesen Gegenden, um zu helfen, wo sie konnte, und zog dann irgendwann weiter. Geld bedeutete ihr nichts; für sie war es nur ein Mittel, um weiterreisen und die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, erfüllen zu können, so gut sie konnte. Sie lebte sparsam und gab für sich nur wenig aus. Genauso gründlich, wie Falcon sich mit Vampiren befasst hatte, um ihre Verhaltensweise kennenzulernen, hatte dieser spezielle Vampir sich mit Sara beschäftigt. Aber sie hatte es immer noch geschafft, ihm zu entkommen. Die meisten Vampire waren nicht gerade für ihre Geduld bekannt, doch dieser hatte Sara unerbittlich fünfzehn Jahre lang verfolgt.

Es war ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, seinen Fängen zu entgehen, und ein Beweis für ihre mutige und findige Natur. Falcon nahm im trostlosen Regen neben dem toten Mann Gestalt an. Das Opfer des Vampirs war einen langsamen, qualvollen Tod gestorben. Falcon betrachtete die Leiche eingehend, ohne irgendetwas zu berühren. Er wollte nur den Geruch des Untoten kennenlernen und ein Gefühl für ihn bekommen. Das Opfer war jung, ein Punk. Auf der Straße neben ihm lag ein Messer mit blutbefleckter Klinge. Falcon konnte sehen, dass das Metall schon rostete. Der junge Mann war gefoltert worden, wahrscheinlich, um Informationen über Sara aus ihm herauszuholen. Der Vampir hatte offenbar wissen wollen, ob sie in der Gegend gesehen worden war. Überall um Falcon herum war noch das Echo der Gewalt zu spüren.

Da er die Beweise jedoch nicht zurücklassen konnte, damit die Polizei sie fand, begann er seufzend, Energie vom Himmel über sich herabzurufen. Sofort zuckten Blitze auf und tauchten die Gasse in ihr grelles Licht. Falcon lenkte die zischende und knisternde Energie der Blitze auf den Toten und das Messer. Sie verbrannten das Opfer des Vampirs zu feinster Asche und reinigten das Messer, bevor ihre Hitze es zerschmolz.

Die Luft knisterte von der Macht um Falcon herum, als der Blitz wie eine orangefarbene Flamme vom Boden wieder zu den unheilvollen dunklen Wolken hinaufschoss, wo er sich zu leuchtenden glühend heißen Punkten spaltete. Falcon hob den Kopf und sah sich um. Plötzlich merkte er, dass die in der Luft vibrierende Macht nicht mehr nur die seine war. Er sprang zurück, weg von der Asche. In diesem Moment kamen die geschwärzten Überreste auf einmal in Bewegung. Eine grauenvolle Erscheinung mit einem missgebildeten Kopf und Löchern statt Augen erhob sich aus der Asche.

Für den Bruchteil einer Sekunde zu spät wirbelte Falcon herum, um dem wahren Angriff zu begegnen. Eine Kralle verfehlte sein Auge und zerkratzte ihm die Schläfe. Rasiermesserscharfe Fingerspitzen rissen vier lange Furchen in seine Brust, die fast unerträglich schmerzten. Heißer, übel riechender Atem schlug ihm ins Gesicht, und er nahm den Gestank verfaulenden Fleisches wahr. Aber die Kreatur selbst war nur verschwommen zu erkennen und verschwand sogleich, als Falcon instinktiv die Faust nach ihrem Herzen stieß.

Seine Hand streifte dichtes Fell und dann nur Luft. Augenblicklich stieg das Tier in Falcon wild und mächtig auf und erschütterte selbst ihn mit seiner Kraft. Roter Dunst vernebelte ihm die Sicht. In seinem Kopf herrschte Chaos. Falcon fuhr herum, als er sich in die Luft erhob, und entging gerade noch den herabschießenden Blitzen, die die Gasse schwärzten und die Seiten eines zerfallenden Gebäudes endgültig zum Einsturz brachten. Der Lärm war ohrenbetäubend, aber das Tier in ihm begrüßte die Gewalt und nahm sie freudig an. Falcon kämpfte ebenso sehr mit sich selbst wie mit dem Vampir, und wehrte sich gegen den durch nichts zu stillenden Hunger, der ihn packte.

Falcon? Saras Stimme war wie ein frischer Luftzug, der den Geruch des Todes vertrieb. Sag mir, wo du bist. Ich spüre die Gefahr für dich. Es war die unverhohlene Sorge in ihrer Stimme, die ihm die Kraft gab, den tobenden Dämon unter Kontrolle zu bringen und ihn trotz seiner Gewaltbereitschaft zu bezwingen.

Falcon ging ein kalkuliertes Risiko ein, als er blitzschnell angriff und sich mit ausgestreckter Faust auf die bizarre Aschengestalt stürzte. Die Asche zerstreute sich in einem jähen Wirbelwind und schoss dann wie ein grotesker Turm aus Kohleteilchen in die Luft hinauf. Für einen Moment war eine flimmernde Gestalt zu sehen, als der Vampir versuchte, eine Barriere zwischen ihnen zu errichten. Falcon warf sich durch die kümmerliche Struktur, wobei er wieder etwas streifte, das diesmal aus Fleisch und nicht aus Fell bestand. Doch die Kreatur schaffte es erneut, sich aufzulösen. Der Vampir war fort, ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Keine Spur von dem Monster, nicht einmal die unvermeidliche leere Stelle war zurückgeblieben. Falcon suchte den Bereich sehr sorgfältig und gründlich ab, um wenigstens einen kleinen Hinweis zu entdecken. Je länger er jedoch suchte, desto sicherer war er, dass Sara von einem wahrhaft uralten Untoten gejagt wurde, einem Meistervampir, der es geschafft hatte, im Laufe der Jahrhunderte allen Jägern zu entkommen.

Vorsichtig bewegte Falcon sich über den Himmel, obwohl er sicher war, dass der Vampir ihn nicht noch einmal angreifen würde. Falcon war auf die Probe gestellt worden, und der uralte Vampir konnte sich das Überraschungsmoment nicht mehr zunutze machen. Der Feind wusste jetzt, dass er es mit einem erfahrenen, kampferprobten Jäger zu tun hatte. Er würde sich nun unter die Erde begeben und in der Hoffnung, dass Falcon an ihm vorbeiziehen würde, jeden weiteren Kontakt vermeiden.

Ein Donnerschlag erschallte am Himmel, der eine eindeutige Warnung war. Eine finstere Drohung des Vampirs, der seinen Anspruch anmeldete, obwohl er wusste, dass ein Jäger in der Gegend war. Der Untote würde Sara nicht aufgeben; sie war seine Beute, wollte er Falcon zu verstehen geben.

Sara erwartete ihn schon auf der kleinen Veranda und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Ihr Blick glitt ängstlich über ihn und suchte nach Verletzungen. Falcon drückte sie an sein Herz. Niemand hatte ihn jemals so empfangen, sich so um ihn gesorgt oder ihn mit solch liebevollen, besorgten Augen angesehen. Sie war sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Ihre Kleider waren durchnässt vom Regen, ihre Haare zerzaust und feucht und ihre Augen riesig. Er hätte in der Wärme ihres liebevollen Empfangs zerschmelzen können.

»Komm rein«, sagte sie, berührte vorsichtig seine Schläfe und ließ die Hände über seinen Körper gleiten, weil sie ihn einfach spüren musste. Dann zog sie ihn in ihr Haus, aus der Nacht und aus dem Regen. »Erzähl mir alles«, forderte sie ihn auf.

Falcon blickte sich in dem ordentlichen kleinen Zimmer um, das wohltuend, anheimelnd und tröstlich auf ihn wirkte. Dieser wunderbare Empfang war ein fast schockierend schönes Erlebnis. Saras Lächeln, ihre Berührung, die Sorge in ihren Augen – diese Dinge würde Falcon gegen keinen Schatz eintauschen, dem er in all den Jahrhunderten seiner Existenz begegnet war.

»Was ist mit dir passiert, Falcon? Und ich rede nicht von deinen Verletzungen.« Die Furcht um ihn, die sie tief in ihrem Innersten verspürt hatte, war schier unerträglich gewesen.

Falcon fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er musste ihr die Wahrheit sagen. Der Dämon in ihm war stärker denn je. Falcon hatte zu lange abgewartet, war in zu viele Kämpfe verstrickt gewesen und hatte viel zu oft getötet. »Sara«, begann er leise, »wir haben ein paar Möglichkeiten, aber wir müssen uns sehr schnell entscheiden. Wir haben keine Zeit zu warten, bis du voll und ganz verstehst, was vorgeht. Ich möchte, dass du still bist und dir anhörst, was ich zu sagen habe, und dann werden wir unsere Entscheidung treffen müssen.«

Sara erwiderte seinen Blick und nickte ernst. Er rang mit sich, das konnte sie nur allzu deutlich sehen. Sie wusste, dass er um ihr Leben fürchtete. Wie gern hätte sie die Linien geglättet, die sich so tief in sein Gesicht gegraben hatten. An seiner Schläfe war Blut, ein dünnes Rinnsal, das die extreme Übermüdung, die seine Gesichtszüge verrieten, noch unterstrich. Sein Hemd war blutig und von vier langen Rissen vollkommen zerfetzt. Alles in ihr drängte sie, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten, aber sie blieb nur ruhig sitzen und wartete auf das, was er zu sagen hatte.

»Ich habe uns für immer aneinander gebunden, im Leben wie im Tod. Wenn mir etwas zustieße, würde es dir sehr schwer fallen, ohne mich weiterzuleben. Wir müssen schnellstens in die Berge und zu meinen Leuten. Dein Feind ist ein sehr alter und äußerst mächtiger Vampir. Er hat beschlossen, dass du ihm gehörst, und nichts wird ihn davon abbringen, dich zu jagen. Ich glaube, dass du sowohl bei Nacht als auch bei Tageslicht gefährdet bist, Sara.«

Sie nickte nur, weil sie seinen Worten nichts entgegenzusetzen hatte. Der Vampir war jahrelang unerbittlich hinter ihr her gewesen. Bisher war ihr die Flucht immer gelungen, weil sie stets darauf vorbereitet gewesen war, beim kleinsten Anzeichen, dass er in der Nähe war, zu flüchten. Hätte der Vampir sich leise und unauffällig an sie herangepirscht, wäre sie ihm in die Hände gefallen, dessen war sie sich ganz sicher. Doch er schien ihr nicht zuzutrauen, dass sie die Fähigkeit besaß, seinen Ruf zu ignorieren. »Es wäre nicht das erste Mal, dass er tagsüber irgendwelche Kreaturen für seine Schmutzarbeit benutzt.« Sie senkte den Blick auf ihre Hände. »Ich habe eine von ihnen sogar verbrannt«, gab sie mit leiser Stimme und beschämt zu.

Falcon, der ihr Schuldbewusstsein wie einen Schlag empfand, nahm ihre Hände, drehte sie um und küsste ihre Innenflächen. »Die Ghule, die Lakaien der Vampire, sind schon tot. Sie sind seelenlose Geschöpfe, die von Fleisch und dem vergifteten Blut der Untoten leben. Du hast Glück gehabt, ihnen entkommen zu sein. Sie zu töten ist ein Akt der Gnade. Glaub mir, Sara, diese Wesen können nicht gerettet werden.«

»Sag mir, welche Möglichkeiten wir haben, Falcon. Es ist fast Morgen, und ich bin sehr besorgt um dich. Du hast beträchtliche Verletzungen, die versorgt werden müssen.« Sie konnte seinen Anblick kaum ertragen. Er war blutverschmiert und so müde, dass ihm fast die Augen zufielen. Mit sanften Fingern strich sie ihm ein paar Strähnen seines langen Haares zurück.

»Meine Verletzungen sind nichts Ernstes«, sagte er und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wenn ich mich in die Erde begebe, wird ihre Heilkraft mich gesunden lassen. Aber solange ich dort ruhe, wirst du hier oben allein und angreifbar sein. Im Laufe bestimmter Tagesstunden bin ich am schwächsten und kann dir dann nicht zu Hilfe kommen. Oder jedenfalls nicht körperlich. Deshalb würde ich vorziehen, dass du jederzeit an meiner Seite bleibst, damit ich sicher sein kann, dass dir nichts zustößt.«

Sara machte große Augen. »Du willst, dass ich mit dir in die Erde gehe? Wie stellst du dir das vor?« Sie hatte noch sehr viel zu erledigen, alles Tätigkeiten, die sie nur tagsüber, während der Geschäftszeit, verrichten konnte. Die Welt war nun einmal nicht auf die Zeitpläne der karpatianischen Spezies eingestellt.

»Du müsstest voll und ganz wie ich werden«, antwortete er sanft, jedoch entschieden. »Du würdest alle Fähigkeiten meines Volkes haben, aber auch die Schwächen. Du wärst während der Tagesstunden verwundbar, und du würdest Blut benötigen, um dich am Leben zu erhalten.«

Sie schwieg einen Moment und ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. »Vermutlich wäre mir das nicht so zuwider, wenn ich so wie du wäre. Würde es mich nach Blut gelüsten?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das gehört zu unserer Lebensweise. Wir töten aber nicht, sondern sorgen dafür, dass unsere Beute ruhig bleibt und nichts von alldem mitbekommt. Ich würde dir Blut geben, und zwar auf eine Art und Weise, die dir nicht unangenehm wäre.«

Sara nickte zustimmend zu seinen letzten Worten, obwohl ihre Gedanken noch um seine Verwendung des Wortes Beute kreisten. Seltsamerweise waren Falcons Worte kein Schock für sie. Besorgt um seine Wunden, nahm sie seinen Arm und zog ihn auf das kleine Badezimmer zu, wo sie einen Erste-Hilfe-Kasten verwahrte. Falcon ging mit ihr, weil er spüren konnte, wie sehr ihr daran lag, ihn zu versorgen. Und weil er es liebte, wenn sie ihn berührte.

»Ich kann eine solch schwerwiegende Entscheidung nicht übers Knie brechen, Falcon«, sagte sie und hielt einen sauberen Waschlappen unter das heiße Wasser. »Ich habe hier noch einiges zu erledigen und muss mir meine Entscheidung in Ruhe überlegen.« Im Grunde brauchte sie jedoch nicht allzu lange oder angestrengt darüber nachzudenken. Sie begehrte diesen Mann mit jeder Faser ihres Körpers, und schon während seiner kurzen Abwesenheit, als er ihren Feind gejagt hatte, war ihr bewusst geworden, wie das Leben ohne ihn sein würde.

Sara beugte sich zu ihm vor und küsste ihn auf den Nacken. »Was hast mir noch zu sagen?«, fragte sie. Ihre vollen Brüste streiften weich und verführerisch seinen Arm, als sie sehr behutsam die Kratzwunden an seiner Schläfe abtupfte und das Blut entfernte. Die Verletzungen an seiner Brust waren tiefer. Sie sahen aus, als wäre ein Tier mit seinen Krallen über Falcons Oberkörper gefahren, hätte sein Hemd zerrissen und vier lange Furchen in der Haut darunter hinterlassen.

»Ich war heute Nacht sehr nahe daran, die Kontrolle zu verlieren. Ich muss das Ritual vollenden, damit wir eins werden und du mein Halt und Anker bist, Sara. Du hast es gefühlt; du hast die Gefahr für mich gespürt und mich zu dir zurückgerufen. Sobald das Ritual vollzogen ist, wird diese Gefahr nicht mehr bestehen.« Er machte das Geständnis mit leiser, heiserer Stimme, die verriet, wie sehr er Sara brauchte. Er konnte nicht klar denken, wenn sie ihm so nahe war. Das Dröhnen in seinem Kopf löschte alles außer den Bedürfnissen seines Körpers aus.

Sara nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Das war’s? Das war die große Beichte?« Das sanfte Lächeln, das über ihre Lippen huschte, war hinreißend und brachte ein Funkeln in ihre veilchenfarbenen Augen. »Ich will dich mehr als irgendetwas anderes auf dieser Erde, Falcon«, sagte sie und senkte den Mund zu einem leidenschaftlichen Kuss auf seinen. Ihre weichen Lippen, ihr geschmeidiger Körper, der sich an seinen schmiegte, ihre Brüste unter dem regennassen, durchsichtigen Seidentop, die sich verlangend an ihn pressten, waren die verkörperte Versuchung. Eine süße, unwiderstehliche Verlockung. Sara küsste ihn hungrig, mit sinnlichen, berauschenden Küssen, die Erregung, aber auch liebevolle Akzeptanz verrieten. Ihr Mund war heiß von ihrem eigenen Verlangen, das seinem in nichts nachstand. Es war ein tief empfundenes und urwüchsiges Bedürfnis.

Sie hob den Kopf, und ihr Blick brannte sich in seinen. »Ich bin seit fünfzehn Jahren schon die deine, Falcon. Wenn du mich willst, werde ich keine Angst haben. Ich habe nie wirklich Angst vor dir gehabt.« Während sie sprach, streifte sie ihm das zerrissene Hemd ab, um seine Brust und die vier langen Schnittwunden freizulegen.

»Du musst verstehen, was für eine Art Verbindung du eingehen wirst, Sara«, warnte er sie. Er brauchte sie, begehrte sie, verzehrte sich nach ihr – aber er würde nicht bei der wichtigsten Person in seinem Leben ehrlos handeln. »Wenn das Ritual erst einmal vollzogen ist und du nicht bei mir in der heilkräftigen Erde bist, während ich schlafe, wirst du einen schweren Kampf um deinen Verstand austragen müssen. Und das wünsche ich dir wirklich nicht, Sara.«