Prolog

Die Nacht war schwarz. Mond und Sterne schienen wie ausgelöscht von unheilvollen dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Dünne schwarze Fetzen, die an glänzenden Obsidian erinnerten, tanzten und wirbelten wie wutentbrannt herum, obwohl sich kein Lüftchen regte. Kleine Tiere kauerten in ihren Schlupfwinkeln unter Felsen und umgestürzten Bäumen, weil sie die unheimliche Stimmung draußen spüren konnten.

Gespenstische Nebelschwaden waberten aus dem Wald heraus, lange, breite Bänder aus schimmerndem Weiß oder glitzernden opaken Farben, die sich um die Stämme wanden, sodass die Bäume aus dem Nebel aufragten, als wären sie losgelöst von den Wurzeln, die sie auf der Erde festhielten. Über den dunklen Himmel und zwischen den Baumkronen hindurch flog eine große Eule und umkreiste das imposante, in die hohen Klippen eingebaute Haus. Eine zweite und noch eine dritte Eule erschienen und zogen dann ebenso still und ruhig wie die erste ihre Kreise über dem Blätterdach und dem weitläufigen Haus. Ein einzelner, ziemlich großer Wolf mit zotteligem schwarzem Fell und glitzernden Augen sprang aus den Bäumen auf die Lichtung.

Aus der Dunkelheit auf dem Balkon des in den Fels gebauten Hauses löste sich eine Gestalt, trat an das Geländer und blickte in die Nacht hinaus. Dann breitete der Mann in einer einladenden Geste die Arme aus, und sofort kam eine sanfte, angenehme Brise auf. Die Insekten nahmen ihren nächtlichen Gesang wieder auf, Zweige schwankten und tanzten in der leichten Brise. Der Nebel verdichtete sich flimmernd und formte nach und nach viele Gestalten in der unheimlichen Nacht. Die Eulen kamen herangeflogen, um zu landen, eine auf dem Boden, zwei auf dem Balkongeländer, und wechselten ihre Gestalt. Ihre Federn verschmolzen zu Haut, die Flügel verlängerten sich zu Armen. Der Wolf verwandelte sich schon im Sprung auf die Veranda, sodass ein großer, kräftiger Mann dort landete.

»Willkommen.« Die Stimme war schön und melodiös wie die Waffe eines Zauberers. Vladimir Dubrinsky, Prinz des karpatianischen Volkes, verfolgte bekümmert, wie seine treuen Anhänger Gestalt annahmen und sich aus Nebel, Raubvögeln und Wölfen in starke, gut aussehende Krieger verwandelten. Alle waren Kämpfer, loyale, aufrichtige, selbstlose Männer. Sie waren seine Freiwilligen, die Männer, die er in den Tod schickte oder zu Jahrhunderten unerträglicher Einsamkeit und nie nachlassender Trostlosigkeit verurteilte. Sie würden ihr langes Leben ertragen, bis das Ende ihres Durchhaltevermögens erreicht war. Sie würden weit entfernt sein von zu Hause, von ihren Angehörigen und der heilkräftigen, verjüngenden Erde ihres Heimatlandes. In den kommenden Jahrhunderten würden sie keine Hoffnung kennen und keine andere Hilfe als ihre Ehre haben.

Vladimir wurde das Herz so schwer, dass er glaubte, es müsse jeden Augenblick zerspringen. Aber dann durchflutete Wärme seinen durchgefrorenen Körper, und er spürte sie in seinem Geist. Sarantha, seine Seelengefährtin. Natürlich ließ sie ihn nicht allein in diesem Moment, in seiner dunkelsten Stunde, in der er diese jungen Männer zu ihrem horrenden Schicksal entsenden würde.

Still und mit ernsten Gesichtern versammelten sie sich um ihn. Es waren gute Gesichter, sinnlich, stark und attraktiv, und alle hatten die unerschrockenen, gelassenen Augen selbstbewusster Männer, die sich in Hunderten von Kämpfen bewährt hatten. So viele seiner besten Männer! Ein pochender, tiefer und gnadenloser Schmerz erwachte in Vladimirs Körper und brannte in seinem Herzen und in seiner Seele. Diese Männer verdienten weitaus mehr als das miserable Leben, zu dem er sie verdammen musste. Tief atmete Vlad ein und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Durch die ebenso großartige wie qualvolle Gabe der Vorausahnung, die er besaß, sah er die verzweifelte Lage seines Volkes und hatte daher keine andere Wahl. Er konnte nur auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen, da er sich selbst kein Mitgefühl erlauben durfte.

»Ich danke euch allen. Ihr, die Hüter unseres Volkes, seid nicht hierher befohlen worden, sondern aus freiem Willen gekommen. Jeder von euch hat sich dazu entschieden, seine Chance auf ein Leben aufzugeben, um für die Sicherheit unseres Volkes und anderer Spezies auf der Welt zu sorgen. Ihr beschämt mich mit eurer Großzügigkeit, und ich fühle mich geehrt, euch meine Brüder und Verwandten nennen zu dürfen.«

Absolute Stille herrschte. Der Kummer des Prinzen lag ihm wie ein Stein im Herzen, und durch ihre geistige Verbindung zu ihm erhielten die Krieger einen Eindruck von dem ungeheuren Ausmaß seiner Qual. Der Wind strich sanft durch die Menge, zauste Haare wie ein liebevoller Vater und strich tröstlich über eine Schulter oder einen Arm.

Vladimirs Stimme war schmerzhaft schön, als er wieder das Wort ergriff. »Ich habe den Niedergang unseres Volkes gesehen. Die Anzahl unserer Frauen nimmt immer mehr ab. Wir wissen nicht, warum unseren Paaren keine weiblichen Kinder geboren werden, aber es werden weniger gezeugt als je zuvor, und sogar noch weniger von ihnen überleben. Es wird zunehmend schwieriger, unsere Kinder am Leben zu erhalten, ob sie nun männlichen oder weiblichen Geschlechts sind. Unser Mangel an Frauen hat einen kritischen Punkt erreicht. Unsere Männer werden zu Vampiren, und das Übel breitet sich schneller aus im Land, als unsere Jäger mithalten können. Früher, in weit entfernten Ländern, waren die Werwolf- und die Jaguarrasse stark genug, um die Vampire unter Kontrolle zu halten, aber die Anzahl der Werwölfe und Jaguarmenschen hat sich stark verringert, und sie können den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Unsere Welt verändert sich, und wir müssen den neuen Problemen entschieden entgegentreten.«

Er hielt inne und ließ den Blick wieder über die Gesichter der Männer gleiten. Loyalität und Ehre waren ihnen angeboren, sie lagen ihnen im Blut. Er kannte jeden Krieger mit Namen, so wie er auch die Stärken und Schwächen eines jeden kannte. Sie hätten die Zukunft seiner Spezies sein sollen, doch stattdessen schickte er sie fort, um sie einen einsamen Weg voller Härten und Entbehrungen beschreiten zu lassen.

»Ihr alle müsst die Dinge wissen, die ich euch jetzt erklären werde. Jeder von euch sollte sich seine Entscheidung noch einmal gut überlegen, bevor euch ein Land zugewiesen wird, das ihr behüten und beschützen werdet. Dort, wo ihr hinreist, wird es keine Frauen unserer Spezies geben. Euer Leben wird daraus bestehen, in den Ländern, in die ich euch entsende, Vampire zu jagen und zu vernichten. Es wird dort auch keine Landsmänner geben, um euch beizustehen, keine Kameraden außer denjenigen, die ich mit euch schicken werde. Ihr werdet keine heilende karpatianische Erde zur Verfügung haben, um eure Wunden aus euren Kämpfen zu behandeln. Jede Tötung wird euch näher an den Rand des schlimmstmöglichen Schicksals bringen. Der Dämon in eurem Inneren wird toben und mit euch um die Kontrolle kämpfen. Ihr werdet gezwungen sein zu bleiben, solange ihr dazu fähig seid, und dann, bevor es zu spät ist, bevor der Dämon die Macht über euch gewinnt, werdet ihr eurem Leben ein Ende setzen müssen. Plagen und Elend werden diese Lande heimsuchen, Kriege sind unvermeidlich, und ich habe meinen eigenen Tod und den unserer Frauen und Kinder vorausgesehen – den Tod von Sterblichen und Unsterblichen gleicherweise.«

Das löste die ersten Regungen unter den Männern aus, einen unausgesprochenen geistigen Protest und kollektiven Einspruch, der durch ihre miteinander verbundenen Gemüter ging.

Vladimir hob eine Hand. »Es wird viel Leid und Kummer geben, bevor unsere Zeit beendet ist. Diejenigen, die nach uns kommen, werden ohne Hoffnung sein, ja nicht einmal wissen, wie unsere Welt einmal gewesen ist und was eine Seelengefährtin für uns bedeutet. Ihr Leben wird ein sehr viel schwierigeres sein. Wir müssen also tun, was wir können, um zu gewährleisten, dass Sterbliche wie auch Unsterbliche so sicher wie nur möglich sind.« Wieder glitt sein Blick über die ernsten Gesichter und blieb auf zweien ruhen, die sich verblüffend ähnlich waren.

Lucian und Gabriel. Die beiden waren Zwillinge und Kinder seines eigenen Stellvertreters. Schon jetzt kämpften sie unermüdlich darum, ihre Welt von allem Bösen und Üblen zu befreien. »Ich wusste, dass ihr euch melden würdet«, wandte sich Vladimir an sie. »Die Gefahr für unser Heimatland und unser Volk ist ebenso groß wie die Gefahr für die Welt dort draußen. Ich muss euch daher bitten hierzubleiben, wo Brüder gegen Brüder und Freunde gegen Freunde kämpfen werden. Ohne euch, um unsere Leute zu beschützen, werden wir scheitern. Ihr müsst so lange hier in unseren Landen bleiben und unser eigenes Territorium bewachen, bis ihr spürt, dass ihr woanders gebraucht werdet.«

Keiner der Zwillinge versuchte auch nur, Einwände zu erheben. Das Wort des Prinzen war Gesetz, und dass beide Männer ihm ohne Widerspruch gehorchten, konnte als Maßstab für den Respekt und die Liebe seines Volkes dienen. Lucian und Gabriel wechselten nur einen langen Blick. Falls sie sich über ihren privaten telepathischen Pfad verständigten, taten sie es, ohne ihre Gedanken mit irgendjemand anderem zu teilen. Sie nickten beide nur, um ihr Einverständnis zu der Entscheidung ihres Prinzen kundzutun.

Vladimir ließ seine schwarzen Augen prüfend über den Rest der Menge gleiten und durchforschte die Herzen und Gemüter seiner Krieger. »In den Dschungeln und Wäldern ferner Länder hat der Niedergang der großartigen Jaguarrasse begonnen. Die Jaguarmenschen sind ein mächtiges Volk mit vielen Befähigungen und großen übernatürlichen Talenten, aber sie sind Einzelgänger. Die Männer suchen sich eine Frau, um sich zu paaren, doch dann überlassen sie sie und ihre Jungen ihrem Schicksal. Die einzelgängerischen Jaguarmänner lehnen es ab, aus ihren Dschungeln herauszukommen, und sie wollen mit Menschen keinen Umgang haben. Sie ziehen es vor, von den Abergläubischen als Gottheiten verehrt zu werden. Verständlicherweise haben sich die Jaguarfrauen nun jenen zugewandt, von denen sie geliebt, umsorgt und als die Kostbarkeit betrachtet werden, die sie sind. Sie haben schon vor geraumer Zeit begonnen, sich mit menschlichen Männern zusammenzutun und auf menschliche Art und Weise mit ihnen zu leben. Ihre Blutlinien wurden allerdings dadurch geschwächt, sodass heute immer weniger Jaguarmenschen in ihrer wahren Form vorkommen. In ein- oder zweihundert Jahren wird es diese Rasse nicht mehr geben. Die Jaguarmenschen verlieren ihre Frauen, weil sie nicht wissen, was kostbar und wichtig für das Überleben ihrer Spezies ist. Wir dagegen haben die unseren durch die Natur an sich verloren.« Vladimirs schwarze Augen glitten über einen hochgewachsenen, gut aussehenden Krieger, dessen Vater jahrhundertelang an der Seite des Prinzen gekämpft hatte und durch die Hand eines Meistervampirs zu Tode gekommen war.

Der Krieger war breitschultrig und hatte glänzendes schwarzes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Er war ein hervorragender und gnadenloser Jäger, einer von so vielen, die Vladimir in dieser Nacht zu einer entbehrungsreichen Existenz verdammen würde. Dieser Mann hatte sich viele Male im Kampf bewährt und ging treu und unbeirrbar seinen Pflichten nach. Er war einer der wenigen, die allein entsandt werden konnten, während die anderen in Gruppen oder paarweise abkommandiert werden würden, um einander gegenseitig beistehen zu können. Vlad seufzte schwer und zwang sich, die nötigen Befehle zu erteilen. Respektvoll beugte er sich zu dem Krieger vor, an den er das Wort richtete. Trotzdem sprach er laut genug, um auch von allen anderen gehört zu werden.

»Du wirst dich in dieses Land begeben und die Welt von den Bestien befreien, zu denen so viele unserer Männer geworden sind. Du musst jede Konfrontation mit den Jaguarmenschen vermeiden. Diese Spezies wird entweder einen Weg finden, Kontakte zu dieser Welt zu knüpfen, wie wir es tun müssen, oder sie wird aussterben wie so viele andere vor uns. Du wirst dir jedoch keine Auseinandersetzungen mit ihnen liefern. Überlass sie sich selbst. Geh dem Werwolf ebenfalls aus dem Weg, so gut du kannst. Wie wir haben auch sie zu kämpfen, um in einer sich verändernden Welt zu überleben. Ich gebe dir meinen Segen, die Liebe und den Dank unseres Volkes, und möge Gott dich in die Nacht und in dein neues Land begleiten. Du musst lernen, dieses Land zu lieben, es dir zu eigen und zu deinem Zuhause machen.

»Wenn ich nicht mehr bin, wird mein Sohn meinen Platz einnehmen. Er wird jedoch noch jung und unerfahren sein und Schwierigkeiten haben, unser Volk in solch schweren Zeiten zu regieren. Ich werde ihm nichts von den Kriegern erzählen, die ich als Hüter in die Welt hinausgesandt habe. Er darf sich nicht auf diejenigen verlassen, die viel älter sind als er. Er muss volles Vertrauen in seine Fähigkeit haben, unser Volk allein zu führen. Vergesst nicht, wer und was ihr seid: die Hüter unserer Spezies. Ihr seid unsere letzte Verteidigungslinie, um das Vergießen unschuldigen Blutes zu verhindern.«

Vladimir schaute dem jungen Krieger in die Augen. »Übernimmst du diese Aufgabe aus freiem Willen? Es ist allein deine Entscheidung. Niemand wird die, die bleiben wollen, geringer schätzen. Auch der Krieg in unserem Land wird sehr lang und schwierig werden.«

Die Augen des Kriegers erwiderten lange ruhig den Blick des Prinzen, bevor der junge Mann zustimmend nickte und sein Schicksal annahm. In diesem Moment wurde sein Leben für alle Zeit verändert. Er würde in einem fremden Land leben ohne Hoffnung auf Liebe oder Familie. Ohne Emotionen oder Farbe, ohne Licht, um das unablässige Dunkel in ihm zu erhellen. Er würde nie eine Seelengefährtin finden, sondern sein ganzes Leben nur der Jagd auf Untote und deren Vernichtung widmen.