15. Kapitel
Leben und Tod in Island

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Zuerst waren da die vertrauten braunen Augen. Der missbilligende, verstohlene Blick. Augen, die jeden Blickkontakt mieden und untersagten. Bobby Fischers Augen tanzten von der teilweise mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Klappirstigur-Straße, in der er lebte, die sanfte Steigung hinauf zum belebten Laugavegur mit seinen kleinen Geschäften, dann wieder zurück zu den geparkten BMWs und Volvos, und weiter in die Gesichter der blauäugigen, apfelbäckigen Isländer, die nach dem Mittagessen zu ihren Arbeitsplätzen zurückeilten. Die Passanten erkannten Bobby: Er war der berühmteste Mann Islands, nicht wegen seiner öffentlichen Ausfälle gegen Amerika, sondern weil er das Land 1972 weltweit bekannt gemacht hatte. Doch sein eiskalter Blick schloss alle anderen aus, und die Menschen huschten mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, als versuchten sie, ihr Gesicht vor dem bitterkalten Wind vom Esja herunter zu schützen. Knirschend drang der Schnee seitlich in Bobbys schwarze Birkenstock-Clogs.

Wie immer trug er die gleiche – wirkungslose – Verkleidung: Arbeitshemd und -hose aus blauem Jeansstoff, einen blauen Fleecepullover, einen halblangen schwarzen Ledermantel und eine dazu passende lederne Baseballkappe. Alles so ausgewählt, damit er unter seinen neuen Landsleuten nicht auffiel.

Die eleganten maßgeschneiderten Anzüge und sorgfältig gebundenen Krawatten gehörten der Vergangenheit an. Der Mann, der als Teenager stolz auf seine 18 Anzüge war und danach strebte, hundert weitere zu besitzen, trug nun jeden Tag das Gleiche. Selbst seine Freunde glaubten schon, er besitze nur einen einzigen Satz Kleidung. Dabei hatte er mehrere identische Sätze Hosen und Hemden, die er selbst wusch und bügelte, oft täglich, normalerweise spät nachts. Beim Bügeln sang er und achtete auf perfekte Bügelfalten. Als man ihn fragte, was die Leute wohl von seiner Garderobe hielten, antwortete er knapp: »Das ist ihr Problem.«

Im Zentrum von Reykjavik, einer bezaubernden Stadt von fast 120 000 Einwohnern, herrschte eine Atmosphäre wie in einem skandinavischen Klischeedorf. Der Besucher sah gewundene Straßen, gepflegte Häuschen mit Schindelfassaden und farbigen Dächern, kleine Läden und Souvenirshops sowie dick vermummte Passanten. Reykjavik ist zwar nicht direkt Aspen oder Gstaad, aber im Winter liegt genug Schnee, dass man auf den nahe gelegenen Bergen Ski fahren kann.

Eines seiner Lieblingsrestaurants, das Bobby oft besuchte, lag keine zwei Straßen weiter. Der kürbisfarbene Speisesaal des Anestu Grösum (»Der Erste Vegetarier«) lag im ersten Stock, man wählte das Essen an einer Theke; Bobby musste nur auf die gewünschten Speisen deuten. Die Serviererin hinter dem Tresen, die ein wenig der Schauspielerin Shelley Duvall ähnelte, reichte ihm lächelnd seine Mahlzeiten. Die Portionen waren riesig.

Wenn Bobby gewöhnlich nach 14 Uhr eintraf, saßen kaum mehr Leute im Restaurant. Vielleicht noch ein dänischer Hippie, ein amerikanisches Touristenpaar oder ein Trio tratschender Freundinnen. Bobby, das Gewohnheitstier, setzte sich immer an den gleichen Tisch, am Fenster zur Querstraße. Draußen würden bald Birken und Wacholder blühen. Zum Essen trank er eine Flasche Bio-Bier der Marke Oxford Gold. Nebenher las er. Besonders hatte es ihm der Artikel »Der Mythos vom Fortschritt« des finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright angetan. Der pessimistische Autor war seinem Freund Ludwig Wittgenstein auf dessen Lehrstuhl in Cambridge nachgefolgt. Seine zentrale Frage lautete, ob all die materiellen und technologischen Fortschritte der modernen Gesellschaft tatsächlich Fortschritt darstellten. Der Text entsprach genau Bobbys Philosophie; ganz begeistert schenkte er seinem Freund Gardar Sverrisson eine isländische Übersetzung des Textes.

War das der gleiche Bobby Fischer, der angeblich nur Schach kannte, der mürrische Schulabbrecher aus Brooklyn? Er sah dem alten Bobby zwar körperlich ähnlich – die intelligenten Augen, der kleine Höcker am rechten Nasenflügel, die breiten Schultern, der mühelose Gang –, doch dieser Bobby Fischer war härter; ein älterer, dicklicher, kahl werdender Mann, der vom Leben gebeutelt wirkte. Irgendetwas an seinem Auftreten erinnerte den Beobachter an einen misshandelten Hund. Über seiner rechten Augenbraue ragte ein fingerkuppengroßer Höcker heraus. Bobby lächelte äußerst selten, vielleicht weil er sich seiner Zahnlücken schämte. Er sah auch nicht mehr in den Spiegel, weil ihm nicht gefiel, was aus ihm geworden war. Doch wirklich neu war, dass Bobby Fischer, der große Schachspieler, den viele für einen ungebildeten Klotz hielten, für einen, der außer einem Spiel nichts vom Leben kannte, eine philosophische Abhandlung las. (Der hoch angesehene Journalist Martin Gardner behauptete im Scientific American allen Ernstes einmal: »Fischer war fast schon ein Idiot.«)

In vielen Menschen ohne vernünftige Schulbildung erwacht später im Leben das Bedürfnis, ihren Horizont zu erweitern. Dann gehen sie auf eine Abendschule oder lernen aus Büchern. Auch Bobby begann sich aus einer gewissen Selbsterkenntnis heraus weiterzubilden. »Larry Evans sagte mal, ich wüsste nichts vom Leben, und er hatte recht«, erklärte Bobby. In anderer Stimmung gestand Bobby auch einmal, dass er Schach manchmal satthatte. Dennoch spielte er weiter: »Was hätte ich sonst tun sollen?«

Bobbys Mangel an traditioneller Schulbildung war allgemein bekannt und wurde von der Presse oft wiedergekäut. Weniger bekannt war aber, dass Bobby sich seit dem Gewinn der Schachweltmeisterschaft im Alter von 29 Jahren systematisch fortbildete: Er verschlang Bücher der Gebiete Geschichte, Politik, Religion und Zeitgeschichte. Den Großteil der 33 Jahre zwischen seinen zwei Aufenthalten in Reykjavik hatte Bobby in seiner Freizeit gelesen. Da war eine Menge Wissen zusammengekommen.

Mehrere Isländer staunten deshalb, wie tiefgründig man sich mit Bobby über verschiedenste Themen unterhalten konnte. Er kannte sich mit der Französischen Revolution aus und mit sibirischen Gulags, in der Philosophie Nietzsches und den Reden Disraelis.

Im Anestu Grösum blieb er ungefähr zwei Stunden und las; nach der Hauptmahlzeit verputzte er normalerweise noch zwei Schüsseln skyr mit einem Berg Schlagsahne. Danach ging Bobby zu seiner Stamm-Buchhandlung, Bókin. Der leicht exzentrische Laden war der Traum aller Bücherwürmer: Vor dem Laden saß ein bebrillter Stoffaffe mit einem Buch im Schoß, im Laden stapelten sich Tausende Bücher, die meisten auf Isländisch, aber auch etliche auf Englisch, Deutsch und Dänisch. Viele Titel behandelten obskure Themen, für die sich nur wenige Leser begeistern konnten: die Brutgewohnheiten des Papageientauchers oder die Inschriften auf den Kirchen Heidelbergs. Die Buchregale zogen sich durch den gesamten Laden, in der Mitte des Raumes türmte sich ein fast mannshoher Bücherberg, von dem immer wieder Lawinen abgingen. Schachbücher führte der Laden aber nur wenige.

Jeden Tag holte Bobby im Laden seine Post ab, die man hinter der Theke für ihn aufbewahrte. Er wechselte stets einige Worte mit dem Eigentümer, Bragi Kristjonsson, und zog sich an sein Plätzchen zurück, ganz hinten im Laden, am Ende eines schmalen Gangs, der seitlich noch mit Bücherstapeln und alten National Geographic-Heften zugestellt war. Vielleicht aus Respekt für seinen berühmten Kunden hatte Bragi einen gammligen Stuhl am Ende des Ganges platziert. Dort saß Bobby an einem kleinen Fenster zur Straße.

Stundenlang, oft bis Ladenschluss, las und sinnierte er dort, manchmal nickte er ein. Hier war er zu Hause. »Es ist toll, frei zu sein«, schrieb er einem Freund.

Am liebsten mochte Bobby Geschichtsbücher; er las alles von Aufstieg und Fall des Römischen Reiches bis zu Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Er verschlang Kriegsberichte aus dem antiken Griechenland wie aus dem Zweiten Weltkrieg, Verschwörungstheorien wie Hitler’s Secret Bankers: The Myth of Swiss Neutrality During the Holocaust (Hitlers heimliche Banker: Der Mythos Schweizer Neutralität während des Holocaust) und antisemitische Hetze wie Jewish Ritual Murder. War Bobby auf der Suche nach seinem Platz in der Geschichte? Vermutlich trieb ihn eher der Wunsch, den eigenen Charakter in all seiner Komplexität zu verstehen, »die ganze Katastrophe«, wie die Romanfigur Alexis Sorbas so treffend sagte.

Kaum war Fischer in Island angekommen – er hatte noch kaum eine Chance gehabt, seine Koffer auszupacken; allerdings enthielten sie auch nur die wenigen Bücher und Kleidungsstücke, die er in Japan besessen hatte –, da kündigte Janos Kubat überraschend ein bevorstehendes Match zwischen Bobby und seinem Freund Pal Benko an. Kubat, der schon 1992 den Kampf Fischer–Spasski mitorganisiert hatte, erklärte gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA, das Duell werde in Magyarkanizsa nahe der ungarisch-serbischen Grenze stattfinden, wo Bobby 1992 einige Monate lang gelebt hatte. Ein Sponsor sei bereits gefunden, behauptete Kubat. Es gab nur ein Problem: Bobby wusste nichts von diesem Kampf. Er und Kubat hatten sich 1993 im Streit getrennt und redeten seither nicht mehr miteinander. Vor allem aber hatte Bobby keinerlei Absicht, Island zu verlassen. Er fürchtete noch immer eine Auslieferung in die USA.

Zur gleichen Zeit, zwei Wochen, nachdem man ihn in Island wie einen Helden empfangen hatte, bekam Bobby schon wieder Ärger. In einem auf den 7. April 2005 datierten Brief teilte ihm die UBS mit, dass sie sein Konto auflösen würde. Auf welches isländische Bankkonto man die Summe von etwa drei Millionen Dollar denn überweisen dürfe?

Bobby plante jedoch nicht im Geringsten, sein Geld einer isländischen Bank anzuvertrauen (auch wenn er dort höhere Zinsen bekommen hätte), und verlangte zu erfahren, was da vor sich ging. In einem Interview für Morgunbladid spekulierte Bobby: »Dahinter steckt vielleicht eine dritte Partei, die mich weiter angreifen will. Ich weiß ja nicht, was die Direktoren der UBS denken, aber es scheint offenkundig, dass die Bank sich fürchtet, mich als Kunden zu behalten. Das Vorgehen der UBS ist absolut bösartig, illegal und unfair.« Er drohte mit einer Klage. Mit »dritter Partei« meinte Bobby natürlich die Regierung der Vereinigten Staaten.

Ratsuchend wandte sich Bobby an Einar Einarsson. Der hatte sich nicht nur als Mitglied des RJF-Komitees verdient gemacht, sondern war früher auch ein Spitzenbanker gewesen. Sorgfältig und methodisch begleitete Einarsson Bobby durch einen Austausch langer, vertrackter E-Mails mit der UBS. Doch Bobby war ungeduldig. Da er seine Kampflust gerade nicht auf einem Schachturnier ausleben konnte, legte er sich eben mit der UBS an, die er ohnehin in jüdischen Händen glaubte. Doch der Schweizer Bankkonzern erwies sich als eine Nummer zu groß für Bobby: Die UBS blieb bei ihrer Position, löste sein Konto auf und überwies den Saldo an die Landesbanki Reykjavik. Bobby jammerte, er habe bei dieser Transaktion kräftig draufgezahlt.

Nach einem Motiv für das Handeln der UBS muss man nicht lange suchen: Etliche Amerikaner unterhielten bei der UBS anonyme Nummernkonten, auf denen sie ihr Schwarzgeld vor dem Fiskus versteckten. Aus Imagegründen konnten die Bankmanager da einen Kunden wie Bobby, der öffentlich damit protzte, seit Jahrzehnten keine Steuern zu zahlen, überhaupt nicht gebrauchen. Steuerhinterziehung gerne, aber bitte diskret. Man wollte ja keinen Ärger mit der amerikanischen Regierung.

Nun kann man sich fragen, warum Bobby sich so gegen den Transfer sträubte, schließlich lagen die Zinsen in Island höher als in der Schweiz. Einige spekulierten, Bobby habe Vorahnungen oder Insiderwissen gehabt und schon gewusst, dass die isländischen Banken zusammenbrechen würden (was 2008 geschah). Wahrscheinlicher ist aber, dass Bobby sich schlicht nicht vorstellen konnte, ewig in Island zu bleiben. Vielleicht hoffte er, zu gegebener Zeit von einem anderen Land aufgenommen zu werden.

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Der Kleinkrieg mit der Bank war zwar ein ärgerliches Intermezzo, hielt Bobby aber kaum vom Lesen ab. Er vergrub sich in Geschichts-, Philosophie- und andere Sachbücher, wie er sich früher in Schachliteratur versenkt hatte. Manchmal, wenn er ein Buch bei Bókin nicht fand, ließ er es sich bestellen. Bobby kaufte jeden Tag zwei, drei Bücher. Die meisten behielt er; einige warf er allerdings auch weg, andere verschenkte er an Freunde.

Von der Atmosphäre her erinnerte Bókin an die Schachbuchhandlung von Dr. Albrecht Buschke in Greenwich Village, wo Bobby als Junge und Heranwachsender ein- und ausgegangen war. Auch bei Buschke hatten sich die Bücher ungeordnet gestapelt, doch das Durcheinander war nichts im Vergleich zum Chaos bei Bókin. Eines Tages ging die Unordnung Bobby jedoch derart auf den Geist, dass er dem Eigentümer anbot, gratis aufzuräumen. Bragi lehnte ab: »Wo täten wir die Bücher denn hin?«

In »seinem« Gang fühlte Bobby sich geborgen. Er saß, im Gangster-Stil, mit dem Rücken zur Wand und sah jeden Eindringling schon von Weitem kommen. Dann sah er entweder finster auf oder tat, als wäre er völlig in seine Lektüre vertieft. Er antwortete nicht einmal, wenn man ihn direkt ansprach. Geradeso gut hätte er sich ein »Bitte nicht stören«-Schild um den Hals hängen können.

Manchmal sprang er um kurz vor 18 Uhr auf und eilte zum Bioladen Yggdrasil. (Yggdrasil ist in der nordischen Mythologie der Weltenbaum.) Dort schlüpfte er unmittelbar vor Ladenschluss durch die Tür – und kaufte dann in aller Seelenruhe ein. Die Angestellten waren genervt, weil sie endlich heimgehen wollten, doch Bobby kam absichtlich so spät, um vor den Blicken anderer Kunden ungestört zu sein.

Einmal fielen ihm an der Kasse Rapunzel-Schokoriegel auf. Es gab zwei Sorten: Halva und Kokosnuss. »Kommen die aus Israel?«, fragte er misstrauisch. »Nein, aus Deutschland, Sie wissen schon, Grimm’sche Märchen und so«, antwortete die Kassenkraft. Darauf war der Antisemit in Bobby beruhigt, und er kaufte ein paar Riegel.

Viele Isländer erkannten Bobby zwar auf der Straße, doch fast niemand sprach ihn an. Fremde allerdings kannten da weniger Zurückhaltung. Normalerweise bürstete Bobby alle ab, die ihn anzusprechen wagten. Eine bemerkenswerte Ausnahme gab es allerdings: Einmal sprach ihn ein amerikanischer Tourist – ein Schachspieler – auf der Straße an und lud ihn zum Abendessen ein. Bobby verlangte daraufhin, den Pass des Amerikaners zu sehen, um sich zu vergewissern, dass der angebliche Tourist kein Reporter war. Danach erklärte Bobby sich überraschend bereit, mit dem Fremden zu essen. Sie gingen in eines der elegantesten und teuersten Restaurants der Stadt und plauderten lange, vornehmlich über Politik.

Die ersten zwölf Monate Bobbys in Island verliefen äußerst ruhig. Als der Großmeister Helgi Olafsson ihn einmal fragte, wie es ihm hier gefalle, antwortete Bobby gewohnt lakonisch: »Gut.« Doch irgendwann sickerte durch, dass er oft in Bókins Buchladen zu finden war. Die Presse berichtete davon und interviewte den Inhaber. Ein russisches Fernsehteam kreuzte auf und wollte Bobby filmen. Die Störungen nervten Bobby so sehr, dass er sich eine neue Zuflucht suchte: die Reykjaviker Stadtbibliothek. Sie lag nur ein paar Straßen von seiner Wohnung entfernt und wurde zu seinem neuen Lebensmittelpunkt.

Im fünften Stock des Gebäudes saß er stundenlang an einem Fensterplatz, neben sich die hohen Regale mit Büchern über Geschichte und Politik. Und was für ein Blick sich da aus dem Fenster bot! Nicht auf eine hässliche Seitenstraße, wie bei Bókin, sondern auf die Bucht von Reykjavik mit ankernden Fischtrawlern, dahinter die Berge. Von dieser neuen Zuflucht bekam die Presse nie Wind. Die Bibliothekare hatten ihn natürlich erkannt, hielten aber dicht.

In unmittelbarer Nähe der Bibliothek befand sich ein günstiges Thairestaurant, Krua Thai. Dort aß Bobby nun zwei, drei Mal die Woche zu Abend. Das Restaurant lag abseits der Touristenpfade, war sauber und gemütlich, hatte dunkel gestrichene Wände, einen paillettenbesetzten Elefanten und weiteres Dekor aus Thailand. Das Licht war gedämpft, was ihm entgegenkam. Besonders schmeckten Bobby die Fischgerichte mit Gemüse und Reis. Er mochte auch die Eigentümerin, eine intelligente, quirlige Thailänderin namens Sonja. Nur sie durfte ihn bedienen. »Wo ist die Chefin?«, fragte er stets schon beim Hereinkommen. Sie wusste, was ihm schmeckte, und brachte es ihm, ohne dass er bestellen musste. Isländisches Mineralwasser fand Bobby aus unerfindlichen Gründen ekelerregend, er trank nur Bier oder Tee. Nachdem er etwa ein Jahr lang ins Krua Thai gekommen war, fragte Sonja vorsichtig an, ob er für ein Foto mit ihr posieren würde. Er verweigerte ihr jedoch die Bitte.

Selbst seine engsten Freunde wussten nichts vom Krua Thai, denn obwohl Bobby sich oft einsam fühlte, aß er in der Regel lieber allein. Wie Thomas Jefferson im Weißen Haus genoss er seine eigene Gesellschaft, die Gelegenheit, zu schmökern, nachzudenken oder Erinnerungen nachzuhängen. Einsam fühlte er sich paradoxerweise meist ausgerechnet dann, wenn er sich in Gesellschaft befand.

Bobby brauchte seine Privatsphäre, lechzte aber gleichzeitig – schon seit Kindesbeinen – nach Anerkennung von außen. Dieser Konflikt zerriss ihn regelrecht. Er sehnte sich danach, wahrgenommen, gepriesen, geliebt zu werden. Einmal fragten ihn Touristen nach dem Weg. Hinterher beklagte er sich bei Einarsson: »Mann, die haben mich nicht erkannt. Dabei waren sie Amerikaner!« Einmal nahm er den Bus nach Grindavík. Das Fischerdorf nahe der berühmten Blauen Lagune hat eine Thermalquelle, in der Bobby liebend gerne badete. Nach ein paar Tagen erkundigte sich die Kellnerin seines dortigen Stammrestaurants: »Sind Sie berühmt?« Spürte sie Bobbys Ruhm, oder hatte sie sein Bild in einer Zeitung gesehen? »Vielleicht«, antwortete er kokett. »Wofür denn?«, fragte sie. »Ein Brettspiel.« Die junge Frau dachte einen Augenblick nach, dann fiel es ihr ein: »Sie sind Mr. Bingo!« Bobby war erschüttert.

Bobby aß weiter auch im Anestu Grösum, ging neuerdings aber danach auf lange Spaziergänge um den Stadtteich, wo er Kindern zusah, wie sie Enten, Gänse und verliebt schnatternde Schwäne mit ineinander verschlungenen Hälsen fütterten. Erst dann machte er sich allmählich auf Richtung Bibliothek. Seine Spaziergänge waren meist ziellos und stellten für Bobby eine Art Meditation dar, eine Chance, die Gedanken treiben zu lassen. Selbst im bitterkalten Winter ging er lange spazieren. Da die meisten Parks Bänke hatten, setzte er sich bei schönem Wetter hin, las, dachte nach und war einfach, nicht untypisch für einen Mann an der Schwelle zum Alter.

Manche Isländer behaupteten, sie hätten Bobby spät nachts gesehen; geistgleich habe er die verlassenen, windgepeitschten Straßen am Alten Hafen durchstreift (wie Charles Dickens die Londoner Docks), tief in Gedanken versunken, leicht humpelnd, aber schnellen Schrittes, einsam und allein, als wandele er durch die öden Lavafelder im Inneren der Insel. Bobbys nächtliche Wanderungen waren das Echo der Nachtspaziergänge, wie er sie in New York und Pasadena gemacht hatte, und Folge seines Tagesrhythmus seit Kindesbeinen: Aufbleiben bis zur Morgendämmerung, danach Schlafen bis zum Nachmittag.

Gut möglich, dass Bobby eineinhalb Jahre nach seiner Ankunft in Keflavík begann, Island als seine private Teufelsinsel zu empfinden, von der es kein Entrinnen gab. David Oddsson glaubte, dass Fischer sich in Island und speziell in Reykjavik »eingesperrt« fühlte. »Ich bin Stadtmensch«, erklärte Oddsson, »und verbringe den Großteil meiner Zeit in Reykjavik. Aber wenn ich nie aufs Land hinaus könnte, würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Fischer geht es mit Island wahrscheinlich genauso.« Gardar Sverrisson bestätigte, Bobby habe Island als »Gefängnis« empfunden.

Nach zwei Jahren im Land meckerte Bobby daher immer lauter über die Insel und ihre Bürger. Er vermisste seine Freunde auf dem europäischen Festland und in Asien, traute sich aber aus Angst vor einer Auslieferung nicht außer Landes. Interpol hatte ihn an 368 Flughäfen in aller Welt zur Fahndung ausgeschrieben.

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Es fiel Bobby schwer, eine dauerhafte Bleibe in Reykjavik zu finden. Die erste Wohnung, möbliert untervermietet, konnte er nur für ein halbes Jahr haben. Ansonsten war sie ideal: Sie lag zentral, hatte ein wenig Aussicht und eine Terrasse, vor allem aber ließen sich Läden und Restaurants gut zu Fuß erreichen. Da Bobby nie selbst kochte, war es für ihn wichtig, in der Nähe von Restaurants zu wohnen. »Essen bedeutete ihm sehr viel«, erzählte Zsuzsa Polgár von seiner Zeit in Ungarn. Ruhige Mahlzeiten und gutes Essen waren ihm immer wichtig gewesen.

Als die Eigentümerin der Wohnung wie geplant nach einem halben Jahr wiederkam, sträubte Bobby sich, die Wohnung zu räumen. Er wusste zwar, dass er ausziehen musste, wollte sein gemütliches Heim aber nicht aufgeben. Einarsson schaffte es tatsächlich, die Eigentümerin zu überreden, Bobby weitere sechs Monate bleiben zu lassen. Doch danach brauchte er definitiv etwas Neues. Einarsson und Sverrisson begleiteten Bobby diesmal auf Wohnungssuche. Die gestaltete sich nicht ganz einfach, weil Bobby sich nur mit einer perfekten Wohnung zufriedengeben wollte. Und so fand er überall etwas auszusetzen: Eine Wohnung lag zu nah an einer Kirche; da fürchtete er, von den Glocken geweckt zu werden. Die nächste hatte zu viele Fenster zur Straße; da sorgte er sich um seine Privatsphäre. Eine dritte war »zu hoch« droben, im neunten Stock; auf einen Lift wollte er nicht angewiesen sein. Die vierte schien auf den ersten Blick zwar ideal, doch Bobby beanstandete, »irgendetwas stimmt mit der Luft nicht«. Er behauptete, es schmerze ihn in den Lungen, hier zu atmen. Bei der Besichtigung einer fünften Wohnung überflog gerade ein Jet das Haus – sie wurde als »zu laut« abgelehnt. Dann gefiel ihm endlich einmal eine Wohnung. Bobby erklärte, sie habe »Möglichkeiten«. Doch seine beiden Freunde waren entsetzt: Sie lag direkt unterhalb eines Sexshops. Bobby indes störte das nicht; schließlich würde der Laden erst nachmittags öffnen, morgens wäre es also ruhig. Erst als Einarsson und Sverrisson ihn warnten, dass die Wohnung sich in sehr schlechtem Zustand befinde und für Zigtausende Dollar renoviert werden müsse, gab Bobby die Idee schließlich auf.

Letztlich entschied er sich für eine Wohnung in der Espergerdi-Straße. Gardar Sverrisson wohnte im gleichen Haus; vielleicht gab das den Ausschlag. Denn ansonsten entsprach die Wohnung nicht Bobbys Ideal: Um ins Stadtzentrum zu kommen, musste man den Bus nehmen. Außerdem befand sich die Wohnung im neunten Stock (was ihm früher »zu hoch« gewesen war), und die Luft war, wie er bei einem früheren Besuch festgestellt hatte, »schlecht«. Die Luft in der Espergardi-Straße war übrigens einwandfrei – Bobbys Atemprobleme waren krankheitsbedingt.

Bobby lebte zwar Zigtausend Kilometer von Miyoko entfernt, doch die zwei blieben über E-Mail und Telefon in Kontakt. Sie kam nach Reykjavik, sooft es ihr Job in einer Arzneimittelfirma – und ihre Tätigkeit als Herausgeberin einer Schachzeitschrift – zuließ. Meistens blieb sie zwei Wochen; Gardar zufolge verstanden die beiden sich weiterhin prächtig. Die Sverrissons und die Fischers machten Wochenendausflüge aufs Land, übernachteten in sympathischen Herbergen und genossen die majestätische Mondlandschaft Islands. Gemeinsame Abendessen waren freudige Ereignisse. »Die zwei gaben ein liebevolles Paar ab und verhielten sich wie Eheleute, die sich ihre Zuneigung in tausend kleinen Gesten zeigen«, sagte Gardar. Vielleicht hoffte Bobby ja, Island eines Tages verlassen und Miyoko überreden zu können, dauerhaft mit ihm in einem fremden Land zu leben.

Die Wohnung, für die Bobby sich schließlich entschied, war ausgesprochen schlicht. Er hätte sich etwas viel Größeres leisten können, doch sie genügte seinen Ansprüchen vollauf. Sie verfügte über ein kleines Schlafzimmer, eine mittelgroße Wohnküche und einen französischen Balkon mit Blick aufs Meer. Bobby richtete sie einfach, aber komfortabel ein. Matisse-Poster zierten die Wände.

Gut möglich, dass Bobby sich für die 14 Millionen Kronen (etwa 160 000 Euro) teure Wohnung entschied, weil sein Freund Gardar im gleichen Haus wohnte. Einarsson zufolge war Bobby zu jenem Zeitpunkt schon krank, auch wenn er das anderen – und sich selbst – nicht eingestand. Da konnte es nicht schaden, Freunde um sich zu haben. Besonders praktisch: Gardars Frau war Krankenschwester.

In seiner neuen Wohnung fand Bobby schnell in eine leicht veränderte Routine. Wie bisher stand er zwischen Mittag und 14 Uhr auf, trank seinen Karottensaft und ging frühstücken. Wenn es ihm gut ging, wanderte er oft die sehr lange Strecke zum Anestu Grösum. Bobby fuhr nie selbst Auto, und wenn er zu einem weiter entfernten Ziel musste, nahm er den Bus. Ein Freund erzählte: »Er war zwar Millionär, fand es aber idiotisch, für ein Taxi zu bezahlen. Es machte ihm nichts aus, in Wind und Wetter draußen zu stehen und auf einen Bus zu warten. Die meisten Isländer waren da zimperlicher. Im Bus machte er sich immer einen Spaß daraus, die Leute zu beobachten.« Autofahrten machten ihn hingegen nervös. Er bestand darauf, dass der Fahrer immer beide Hände am Lenkrad hatte, nie zu schnell fuhr und alle Verkehrsregeln beachtete. Im Bus setzte er sich immer in die Mitte, den seiner Ansicht nach sichersten Ort.

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Fischer entkam dem Schach nicht, sosehr er sich das vielleicht auch gewünscht haben mag. »Ich hasse das alte Schach [im Gegensatz zu seinem Fischer Random Chess] und die alte Schachszene«, schrieb er einmal einem Freund. Trotzdem kamen immer wieder Organisatoren aus Russland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern nach Reykjavik und versuchten, ihn zum Spielen zu überreden. Egal, was für ein Schach, Hauptsache, er trat wieder öffentlich an. Seit dem zweiten Match Fischer–Spasski waren schon wieder mehr als 13 Jahre vergangen, und man munkelte, fürchtete, er werde nie wieder spielen. Würde er seine Brillanz noch einmal öffentlich zeigen?

Einmal wurde kurz die Möglichkeit eines weiteren Aufeinandertreffens von Fischer und Spasski (der auch bereit war, Fischer Random Chess zu spielen) erwogen, doch die Gespräche verliefen schon nach wenigen Tagen im Sand. Der Möchtegern-Organisator des Matches, Dr. Alex Titomirow, lud Spasski zu Gesprächen nach Reykjavik ein. Verstärkt wurde das Duo durch den kanadischstämmigen Joel Lautier, den Topspieler Frankreichs. Bei dem Treffen mit Bobby stellte sich jedoch heraus, dass Titomirow gar nicht an einem weiteren Duell Fischer–Spasski interessiert war, sondern an einer Begegnung Fischer–Kramnik. Spasski sollte lediglich mithelfen, Fischer zu überreden, »zum Schach zurückzukehren«. Als Spasski herausbekam, dass gar nicht er gegen Fischer antreten sollte, beschimpfte er Titomirow wütend. Bobby pflichtete ihm aus vollem Herzen bei und bezeichnete Titomirows Verrat als typisch russische Intrige.

Auch andere Angebote lehnte Bobby als uninteressant oder unseriös ab. Etliche Freunde Bobbys bekamen dabei den Eindruck, dass der eine oder andere angebliche »Schach-Organisator« gar nicht ernsthaft verhandeln, sondern nur den mysteriösen Bobby Fischer kennenlernen wollte. Bobby war zu einem der großen Unsichtbaren der Geschichte geworden, in einer Reihe mit J. D. Salinger und Greta Garbo.

Einer der Organisatoren schlug vor, Fischer solle zwölf Partien Gothic Chess gegen Karpow spielen. Und eine Zeit lang sah es sogar aus, als könnte dieses Duell von historischer Bedeutung tatsächlich zustande kommen. (Gothic Chess wird auf einem erweiterten Brett von 10 x 8 Feldern gespielt, mit zwei Extrabauern in der zweiten Reihe und zwei neuen Figuren auf der Grundlinie: dem Kanzler, der wie ein Turm oder ein Springer zieht, und dem Erzbischof, der zieht wie ein Springer oder Läufer.) Das Preisgeld sollte 14 Millionen Dollar betragen, zehn Millionen für den Sieger, vier für den Verlierer. Karpow hatte den Vertrag bereits unterschrieben, doch als die Organisatoren in Reykjavik ankamen, verlangte Bobby, schon für die Verhandlungen bezahlt zu werden: 10 000 Dollar für das erste Treffen, 50 000 für das zweite und 100 000 für das dritte. Außerdem forderte Bobby einen Nachweis, dass das Preisgeld tatsächlich auf einem Bankkonto lag. Als der ausblieb, versandete das Ganze.

Auch der Vorschlag, in Island ein Bobby-Fischer-Museum aufzubauen, wurde kurz diskutiert. Oder doch in Brooklyn? Wie auch immer, aus beidem wurde nichts.

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Grübelnd betrachtete Bobby das Schachbrett. Er wusste, die Züge der Partie, die er da nachspielte, waren abgesprochen, Teil einer russischen Verschwörung. Aber wie sollte er das beweisen? Er lehnte zwar das »alte Schach« verächtlich ab, konnte sich aber dennoch nicht von ihm lösen. In seiner Wohnung stand eine Schachgarnitur, die Figuren in herkömmlicher Ausgangsstellung, immer für eine Analysesitzung bereit. An jenem Tag ging Bobby wieder einmal, vielleicht zum hundertsten Mal, die vierte Partie des Titelkampfs von 1985 zwischen den sowjetischen Großmeistern Garry Kasparow und Anatoli Karpow durch. Bobby war überzeugt, dass die beiden sich abgesprochen hatten. Das nachzuweisen, hatte er zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Felsenfest behauptete er der Weltpresse gegenüber, jede einzelne Partie des Titelkampfs sei damals Zug für Zug abgesprochen gewesen. »Selbst [Zsuzsa] Polgár und Spasski, beide Weltmeister, verstehen, wovon ich rede«, erklärte er. Lauter werdend, fuhr er fort: »Die Partien sind gefaked! Kasparow muss sich erklären! Er sollte einem Lügendetektortest unterzogen werden. Dann erfährt die ganze Welt, was für ein Lügner er ist!«

Der Schwindel bei den 1985er Titelkämpfen sei offensichtlich, wütete er. In der vierten Partie zog Karpow seinen Springer im 21. Zug. Danach, so erzählte Bobby es jedem, der zuhörte, habe der offenkundige Betrug angefangen. »Karpow machte in Folge nicht weniger als 18 Züge hintereinander auf weißen Feldern. Unglaublich!« Nun war dieser Umstand zwar ziemlich ungewöhnlich, doch statistisch nicht völlig ausgeschlossen und gewiss kein unwiderlegbarer Beweis für eine Verschwörung.

Dennoch konnte niemand Bobby von seiner Überzeugung abbringen, dass Kasparow und Karpow »Gauner« waren. Er blieb bei seinem Standpunkt, auch wenn die Schachwelt fast einhellig erklärte, die Idee sei völlig absurd. Mark Segal, ein Wissenschaftler am Zentrum für Bioinformatik und molekulare Biostatistik an der Universität Kalifornien, wies mathematisch nach, dass der »Beweis« für den Schwindel fadenscheinig war: 18 Züge auf weißen Feldern hintereinander sind statistisch wahrscheinlicher als Fischers historische Siegesserie gegen Taimanow, Larsen und Petrosjan. Süffisant schloss Segal sein Forschungspapier mit der Unterstellung: »Vielleicht war Fischers Aufstieg zum Weltmeister ja Teil einer Verschwörung.«

Viele Schachfreunde waren überzeugt, dass Bobby noch immer bereute, 1975 nicht gegen Karpow angetreten zu sein. Aus diesem Grund habe er versucht, den folgenden Titelkampf Karpow gegen Kasparow schlecht zu machen. Andere meinten, mit seinen Ausfällen versuche Bobby nur, auf sich und sein Random Chess aufmerksam zu machen. Und wieder andere schrieben Bobbys Theorien schlicht seiner Paranoia zu. Bobby erklärte ja auch nie, was Karpow und Kasparow denn von einer Absprache gehabt hätten. Der Titel wäre ja ohnehin in sowjetischen Händen geblieben.

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Wenn Dankbarkeit das Gedächtnis des Herzens ist, so krankte Bobby an Herz-Alzheimer. Die treuen Mitglieder des RJF-Komitees hatten ihn aus japanischer Haft befreit, ihn vor einer drohenden zehnjährigen Haftstrafe bewahrt und auch nach seiner Ankunft alles getan, damit er sich wohlfühlte: Sie besorgten ihm eine Wohnung, schützten ihn vor windigen Geschäftsleuten und Journalisten, berieten ihn in Sachen Finanzen, fuhren ihn zu Thermalquellen, luden ihn zu Abendessen und Festen ein, gingen mit ihm fischen oder auf Ausflüge. Sie taten alles, damit er sich zu Hause fühlte.

Tatsächlich scharte sich um Bobby so etwas wie eine Sekte, die ihn hofierte wie einen absolutistischen König. Alle taten ihr Bestes, um dem Monarchen alle Wünsche zu erfüllen. Doch wenn man es ihm nicht hundertprozentig recht machte, reagierte der König mit einem unwirschen »Rübe ab!«. Schon in seinen Teenagerjahren hatte sich Bobby so verhalten: Wenn einer seiner jungen Apostel ihn enttäuschte, brach er gnadenlos den Kontakt ab. Nun wurde Bobby mit Freundlichkeit und Großherzigkeit nur so überschüttet, und trotzdem krittelte er an allen herum und blaffte seine treuesten Helfer an.

Als Erstes überwarf er sich mit seinem ergebenen Leibwächter Saemi Palsson. Monatelang hatte Palsson für Bobby 1972 in Reykjavik und danach in den USA den Bodyguard gemacht und dafür nie Geld gesehen (»keinen Cent«, beschwerte er sich; anderen Quellen zufolge gab Bobby ihm vor seiner Rückkehr nach Island ein Trinkgeld von 300 Dollar). Palsson war auch Bobbys erster Verbündeter in Island gewesen, er war auf eigene Kosten nach Japan geflogen und Bobby auch nach dessen Einbürgerung eine große Hilfe gewesen. Palsson konnte also mit gutem Grund Dankbarkeit von Bobby erwarten. Doch der Grundstein für ihr Zerwürfnis wurde noch vor Bobbys Abreise aus Japan gelegt: Der isländische Dokumentarfilmer Fridrik Gudmundsson fragte bei Palsson an, ob er bei einer Doku über Bobbys Verhaftung, Kampf um die Freilassung und Flucht in die Freiheit mitzumachen bereit sei. Sollte das Projekt einen Gewinn abwerfen – bei einem Dokumentarfilm hochgradig unwahrscheinlich –, könnte für Palsson und Bobby ein wenig Geld rausspringen.

Bobby erklärte sich anfangs selbst zur Mitarbeit bereit, allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, dass der Film das von den USA begangene Unrecht thematisieren sollte, nicht Bobbys Privat- oder Schachleben. Er stellte sich den Film als Abrechnung mit den USA vor.

Die Aufnahmen begannen sofort nach Bobbys Landung in Kopenhagen, im Sportwagen, der ihn, Miyoko und Saemi nach Schweden brachte. Der mit verschiedenen Techniken des Cinema verité gemachte Film kostete insgesamt 30 Millionen Kronen, etwa 400 000 Euro. Das fertige Werk war zwar schlampig geschnitten und thematisch konfus, doch das Bildmaterial von Bobby war hochinteressant, mehr oder weniger die ersten Aufnahmen seit dem Match gegen Spasski 1992. Mit klaren Augen und festem Blick dröhnte er: »Ich hasse Amerika, es ist ein illegitimer Staat. Das Land wurde den indianischen Ureinwohnern geraubt und von schwarzen Sklaven aufgebaut. Die USA haben kein Existenzrecht.« Seltsam ausgelassen, als wäre ihm gerade erst klar geworden, dass er frei war, hetzte er gegen Juden, die japanische Regierung und die Vereinigten Staaten. Gemeinsam mit Saemi sang er »That’s Amore« und andere wohlvertraute Lieder, wie Freunde – was sie damals auch waren – auf einer Landpartie. Gelegentlich wurde sogar gelacht. Miyoko saß still da, sah Bobby liebevoll an und lächelte unergründlich.

In den folgenden Monaten drehte Gudmundsson in Reykjavik und versuchte, Bobby für weitere Aufnahmen zu gewinnen. »Wie soll der Titel lauten?«, erkundigte sich Bobby dabei. »My Friend Bobby« (Mein Freund Bobby), lautete die Antwort, worauf Bobby das ganze Projekt zu stoppen drohte. »Dieser Film soll von meiner Verschleppung handeln, nicht von Saemi«, beschwerte er sich. (Der Titel wurde schließlich in Me and Bobby Fischer [Ich und Bobby Fischer] geändert.) Doch dann gab es Streit ums Geld. Bobby ärgerte sich, dass er keinen Vorschuss bekommen hatte. Gudmundsson bot ihm 15 Prozent des Gewinns, ebenso viel wie Saemi, der Produzent Steinthor Birgisson und Gudmundsson selbst bekommen würden (der Rest ging an die Koproduzenten). Da wurde Fischer fuchsteufelswild. Warum bekam Saemi überhaupt etwas? Außerdem drehe sich der Film um Bobby, deshalb müsse er mehr bekommen als die anderen. »Ich verdiene mindestens 30 Prozent«, forderte er nachdrücklich. »Mehr als sonst jemand. Denn ich bin Bobby Fischer.« Diesen Refrain wiederholte er mehrfach: »Ich bin Bobby Fischer! Ich bin Bobby Fischer! Ich bin Bobby Fischer!«

Gudmundsson versuchte Bobby sein Projekt zu erklären. Der Film habe das Potenzial, ein Meisterwerk zu werden: »Das wird ein postmodernistischer Dokumentarfilm mit Spielfilmszenen.«

»Ist mir wurst!«, brüllte Bobby. »Sag, worum geht es in dem Film?«

Gudmundsson fasste den Inhalt im Stil einer Presseerklärung zusammen:

Das ist ein Film über die Atombombe.

Das ist ein Film über einen Expolizisten.

Das ist ein Film über unbedingte Liebe.

Das ist ein Film über einen Schachweltmeister.

Das ist ein Film über unbedingten Hass.

Das ist ein Film über eine Ikone.

Das ist ein Film über Sieg.

Das ist ein Film über den Krieg gegen den Terror.

Das ist ein Film über einen internationalen Flüchtling.

Das ist ein Film über Irrsinn.

Das ist ein Film über Rock ’n’ Roll.

Je weiter er las, desto finsterer wurde Bobbys Miene. Dieses blödsinnige Projekt musste gestoppt werden! Hilfe suchend wandte er sich ans RJF-Komitee, das tatsächlich auch einen öffentlichen Protestbrief aufsetzte. Bevor der Brief an die Presse, das isländische Fernsehen, die Produzenten und Verleiher des Films herausging, änderte Bobby jedoch einige Formulierungen. Wenig überraschend wurde der Text dadurch deutlich harscher, undiplomatischer:

Mr. Fischer möchte die Adressaten darauf hinweisen, dass Manuskript und Struktur des oben erwähnten »Dokumentarfilms«, in dem er die Hauptrolle spielt, so keineswegs abgesprochen waren. Das Filmmaterial ist daher auf betrügerische Weise erlangt worden.

Das Hauptthema des Films mit dem Arbeitstitel »My Friend Bobby« steht seiner Ansicht nach in scharfem Kontrast zur ursprünglichen Konzeption aus dem Jahr 2005, eine Reportage zu drehen über die von den USA organisierte Verschleppung und Verhaftung von Mr. Fischer in Japan, seinen Kampf gegen die Auslieferung und seine Freilassung aus dem Gefängnis.

Daher spricht er sich strikt gegen eine finanzielle Förderung des Films oder seine Ausstrahlung aus.

Mit Saemi redete Bobby bereits nicht mehr; Anrufe von Gudmundsson nahm er nicht mehr an. Er nannte seinen Ex-Leibwächter einen »Judas«, weil er versucht habe, »seinen« Film zu kapern. Nach Bobbys Auffassung hätte der Film eine Abrechnung werden sollen, keine kuschelige Biografie – und ganz bestimmt kein Rührstück über einen treuen Leibwächter. Bobby zog die Mitglieder des RJF-Komitees auf seine Seite; fast alle brachen danach den Kontakt zu Saemi ab. Der Streit ums Geld erwies sich übrigens als müßig: Der Film floppte finanziell, an den Kinokassen spielte er gerade mal 32 000 Euro ein, außerdem kam noch etwas Geld über DVD-Verkäufe und Fernsehlizenzen herein.

Wenig später erregte ein anderer Bobbys königliches Missfallen: Guðmundur Thorarinsson. Auf einer Party in Thorarinssons Haus klagte Bobby aus heiterem Himmel: »Ich habe 1972 nie meinen vollen Anteil an den Eintrittsgeldern bekommen. Ich will die Rechnungsbücher sehen. Wo sind die Bücher?«

Der schwer gekränkte Thorarinsson erklärte Bobby geduldig, dass er seinerzeit seinen vollen Anteil an den Ticketverkäufen erhalten habe. Zum Beweis wolle er ihm gern die Rechnungsbücher zeigen, die beim isländischen Schachbund verblieben waren. Allerdings, fürchtete Thorarinsson, seien die Bücher nach über 30 Jahren vermutlich längst entsorgt. Tatsächlich blieben die Bücher unauffindbar, und Bobby redete nie wieder mit Thorarinsson – dem Mann, der als Mitglied des RJF-Komitees seine Rettung organisiert und der als Präsident des isländischen Schachbunds 1972 maßgeblich dazu beigetragen hatte, den Titelkampf nach Reykjavik zu holen.

Nach der gleichen krausen Logik, die ihn dazu brachte, ganze Völker zu verdammen, wie etwa die Juden, wandte sich Bobby nun von allen Isländern ab, egal wie wohlmeinend sie waren. Sein absurder Syllogismus ging ungefähr so:

Saemi hat mich hintergangen und betrogen.

Saemi ist Isländer.

Folglich sind alle Isländer Verräter und Betrüger.

Nach dem Saemi-Vorfall begann Bobby eine Litanei von Ausfällen, Verdächtigungen und an den Haaren herbeigezogenen Beleidigungen gegen das RJF-Komitee. Kaum einer entging seinem Zorn, selbst die Treuesten der Treuen bekamen ihr Fett ab: Helgi Olafsson zum Beispiel, weil er Bobbys antisemitische Äußerungen nicht duldete und zu viele Fragen über »altes Schach« stellte (»Er schreibt bestimmt ein Buch«). Mit David Oddsson überwarf Bobby sich aus unerfindlichen Gründen. Erstaunlicherweise stritt er sich sogar mit Gardar Sverrisson, seinem engsten Freund, Sprecher und Nachbarn. Der Grund: Gardar hatte Bobby nicht über ein läppisches und harmloses Foto von dessen Schuhen informiert, das in Morgunbladid erschienen war. Gardar kam allerdings noch glimpflich davon – er fiel nur 24 Stunden lang in Ungnade. Den ganzen Rest des Komitees verbannte Bobby jedoch aus seinem Leben.

Im Herbst 2007 hatte Bobby den absoluten Island-Blues und sprach von einem »gottverlassenen Land«, Isländer fand er »speziell, aber nur im negativen Sinn«. Sollten seine isländischen Wohltäter von seinen undankbaren Äußerungen erfahren haben – einmal verkündete er gehässig: »Ich schulde [diesen Leuten] nichts« –, so redeten sie zumindest nicht öffentlich darüber. Diejenigen, die seinen Undank am eigenen Leib zu spüren bekamen, nahmen das zwar betrübt, aber stoisch hin. »Na ja, so ist er halt«, bemerkte einer. »Wir müssen ihn nehmen, wie er ist.« Als wäre er ein Wechselbalg, ein gestörtes Kind, das die Isländer liebevoll adoptiert hatten.

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»Du bist Wahrheit. Du bist Liebe. Du bist Freiheit.«

Bobby las The Rajneesh Bible, ein Buch des charismatischen und umstrittenen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh. Wie Bobby hatte auch Bhagwan Ärger mit der US-Einwanderungsbehörde; er war verhaftet und ausgewiesen worden. Schon von daher war er Bobby sympathisch. Einen Spruch des Bhagwan schätzte Bobby besonders: »Befolge nie einen Befehl, außer er kommt aus dir selbst.«

Auf Bhagwans Philosophie war Bobby acht Jahre zuvor in Ungarn gestoßen, und sie brachte in ihm eine Saite zum Schwingen. Bobby meditierte zwar nie, was eigentlich essenziell zum Glaubenssystem des Bhagwan gehörte, interessierte sich aber stark für die Eigenschaften des idealen oder »realisierten« Selbst, wie es Bhagwan beschrieb. Wenn Bhagwan Liebe, ausgelassenes Feiern und Humor pries, überlas Bobby das. Ihn faszinierte vielmehr die Vorstellung, dass ein Individuum auf eine höhere Bewusstseinsebene gelangen konnte. Fischer betrachtete sich als Krieger, nicht nur im Schach, sondern überall. »Ich befinde mich immer im Angriff«, verkündete er im friedlichen Island einmal stolz – und dabei redete er nicht über ein Brettspiel. Und in Kriegszeiten war bekanntlich kein Platz für Ausgelassenheit und Humor. Bobby war jederzeit zum Kampf bereit: gegen das Schach-Establishment, gegen die UBS, die Juden, die Vereinigten Staaten, Japan, die Isländer, die Medien, industriell verarbeitete Lebensmittel, Coca-Cola, Lärm, Umweltverschmutzung, Kernenergie und Beschneidung.

Bobby betrachtete sich als seiner selbst völlig bewusst und hielt sich für einen Übermenschen im Bhagwan’schen Sinn, für jemanden, der die Eingrenzung durch die Gesellschaft überwindet. »Ich bin ein Genie«, erklärte er kurz nach seiner Ankunft in Island gelassen. »Nicht nur am Schachbrett, sondern ganz allgemein.«

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Auf seiner Suche nach einem tieferen Sinn im Leben beschritt Bobby seltsame, krumme Wege. Zuerst war da in seiner Kindheit der jüdische Glaube, dem er sich aber nie zugehörig fühlte. Es folgte seine Begeisterung für die Weltweite Kirche Gottes, eine fundamentalistisch evangelikalische Sekte. Später wurde ihm der Antisemitismus zur Ersatzreligion, bei der er bis zum Ende blieb. Zwischendrin flirtete er kurz mit dem Atheismus, später faszinierte ihn Bhagwan, allerdings mehr die Person als die Lehre. Schließlich, gegen Ende seines Lebens, wandte er sich dem Katholizismus zu.

Ganz offenkundig empfand Bobby eine riesige Leere in seinem Leben, die er verzweifelt zu füllen versuchte. Fasziniert las er sich in die katholische Theologie ein. Gardar Sverrisson, einer der wenigen katholischen Isländer (95 Prozent der Bevölkerung sind protestantisch), beantwortete geduldig Bobbys Fragen zu Liturgie, Heiligenverehrung, Mysterien des Glaubens und anderen Aspekten nach bestem Wissen, doch er war natürlich kein Theologe. Schließlich drückte Bobby ihm ein Buch in die Hand, Basic Catechism: Creed, Sacraments, Morality, Prayer (Grundkurs Katechismus: Glaube, Sakramente, Moral, Gebet), damit Gardar seine Wissenslücken schloss.

Einarsson und Skulason sagten übereinstimmend, Bobby habe sich zwar gegen Ende seines Lebens mit dem Thema beschäftigt, aber keinen tiefen katholischen Glauben entwickelt und sei nicht zum Katholizismus übergetreten. Gardar Sverrisson zufolge habe Bobby davon geträumt, die Gesellschaft zu verändern, indem man Harmonie zwischen den Menschen schuf. Einmal soll Bobby gesagt haben: »Der Katholizismus ist die einzige Hoffnung der Welt.«

Auch wenn Bobby am Ende seines Lebens mit einer Religion liebäugelte, die großen Wert auf Nächstenliebe, Demut und Reue für die eigenen Sünden legt, hinderte ihn das nicht an Aussagen wie diesen: »Leider sind wir momentan nicht stark genug, alle Juden auszurotten. Deshalb glaube ich, wir sollten wahllos Juden erschlagen. Ich will Leute bis zur Gewalttätigkeit gegen sie aufhetzen! Juden sind Kriminelle. Sie verdienen es, den Schädel eingeschlagen zu bekommen.«

»Ich bin nicht, was ich war«, schloss Byron in Childe Harolds Pilgerfahrt, und so hätte Bobby seinen spirituellen Sinneswandel im Alter rechtfertigen können. Vielleicht sah er aber, so zynisch das klingen mag, seine Hinwendung zum Katholizismus als einen guten Schachzug, der ihn mit ein wenig Glück direkt ins Paradies befördern würde. Doch allein seine Aussagen über Juden zeigen schon, wie himmelweit Bobby von christlichen Idealen entfernt war.

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Ein Foto aus dem Sommer 2005 zeigt Bobby schon als kranken Mann. Es war nur wenige Monate nach Bobbys Ankunft in Island entstanden. Einar Einarsson hatte es gemacht, als die beiden im Restaurant 3 Frakkar (»Drei Jacken«) zu Abend aßen. Normalerweise posierte Bobby ja nie für Fotos, doch an jenem Abend war er vom Chefkoch begrüßt worden, den er noch von 1972 kannte. Der Maestro bat um ein Foto mit Bobby – und bekam es überraschenderweise. Einarsson schoss ein Bild der zwei Männer, wandte die Kamera dann leicht nach links und schoss ein Porträt Bobbys. Man sieht darauf einen seelisch und vermutlich auch körperlich leidenden Mann. David Surratt, ein Schach-Verleger, befand: »Der Ausdruck in seinen Augen! Himmel, seine Traurigkeit lässt sich fast mit Händen greifen! Vielleicht auch sein Bedauern. Bedauern über verpasste Chancen in der zweiten Hälfte seines Lebens.«

Bobby bekam immer mehr Schwierigkeiten beim Wasserlassen, führte das aber auf die üblichen Prostataprobleme alter Männer zurück. Den Gedanken, dass ihm ernsthaft etwas fehlen könnte, ließ er nicht zu. Auch die Lunge spielte nicht mehr voll mit, er tat sich mit dem Atmen schwer. Wegen seines lebenslangen Misstrauens gegenüber Ärzten ertrug er die Beschwerden bis Oktober 2007, als der Schmerz beim Wasserlassen unerträglich wurde. Er ging dann zwar zum Arzt, wollte aber nur eine oberflächliche Untersuchung zulassen. Doch der Arzt erklärte, er brauche einen Bluttest, um Bobbys Nierenfunktion überprüfen zu können. Widerstrebend willigte Bobby ein. Der Test zeigte einen deutlich erhöhten Kreatininwert, der auf eine eingeschränkte Nierenfunktion hinwies. Als Ursache kam ein blockierter Harnleiter infrage; das würde sich mit Medikamenten leicht beheben lassen. Doch Bobby weigerte sich weiterhin kategorisch, Arzneien zu nehmen – obwohl er mit Armstrong und der Weltweiten Kirche Gottes, von denen diese Idee stammte, längst gebrochen hatte. Der Arzt mahnte, Bobby müsse unbedingt regelmäßig zur Dialyse. Keine Chance! Die Vorstellung, dass bis zum Ende seines Lebens eine Maschine alle paar Tage sein Blut waschen würde, war Bobby absolut zuwider. Ohne Dialyse, warnte der Arzt, drohten Bobby allerdings völliges Nierenversagen, Krampfanfälle, Wahnsinn und baldiger Tod, vermutlich innerhalb dreier Monate. Doch hartnäckig lehnte Bobby jede Behandlung ab, selbst Schmerzmittel wollte er sich nicht geben lassen. Was soll man davon halten? Pal Benko glaubte, dass Bobby vom Leben schlicht genug hatte und durch Verweigerung der Behandlung bewusst langsamen Selbstmord beging.

Bobby ließ jedoch zu, dass man ihn ins Landspitali einwies, wo Dr. Erikur Jónsson die Behandlung überwachte, die sein Patient zuließ. Sieben Wochen lag Bobby dort, was nicht nur ihm, sondern auch dem Pflegepersonal wie Ewigkeiten vorkam. Weil er ablehnte, sich einen Katheter legen zu lassen, musste man ihm jedes Mal beim Urinieren helfen. Er meckerte außerdem ständig über das Essen und schrieb schwarze Listen mit Besuchern, die er nicht empfangen wollte.

Der Großmeister Fridrik Olafsson kam einmal die Woche auf Besuch. Bobby bat ihn, frisch gepressten Karottensaft von Yggdrasil mitzubringen; wenn es dort keinen Saft gab, musste Olafsson aus Deutschland importierten Saft mitbringen. Unter keinen Umständen, lautete die strikte Anweisung, dürfe Olafsson irgendetwas aus Israel kaufen. Wenig überraschend, unterhielten sich die zwei Großmeister des Öfteren über Schach. Bobby bat Fridrik einmal, einen Ausdruck der Partie Karpow–Kasparow mitzubringen, von der er seit Jahren behauptete, sie sei abgesprochen gewesen. Der Plan war, die Partie auf Bobbys Taschengarnitur nachzuspielen. Doch anstatt das ganze Buch zu bringen, in dem die Partie abgedruckt war, kopierte Olafsson nur die einschlägigen Seiten. Bobby war schwer enttäuscht: »Warum hast du nicht das ganze Buch mitgebracht?«

Auf Bobbys Bitte hin schickte Russell Targ, sein Schwager, ihm ein Foto von Regina. Bobby betrachtete es zwar gelegentlich, hatte es aber nicht auf seinem Nachtkästchen stehen, wie einige behaupteten. Er behielt es vielmehr in einer Schublade bei sich, als Talisman.

In vielerlei Hinsicht spendeten die Besuche von Dr. Magnus Skulason Bobby den größten Trost. Skulason war zwar Mitglied des RJF-Komitees gewesen, hatte sich aber im Hintergrund gehalten und Bobby in seinen drei »isländischen« Jahren kaum je gesehen. Skulason war Psychiater und Chefarzt der Sogn-Anstalt für kriminelle Geisteskranke. Außerdem spielte er Schach, empfand höchste Bewunderung für Fischers Leistungen und mochte Bobby als Menschen.

An dieser Stelle sei betont, dass Skulason nicht »Bobbys Psychiater« war, wie die Medien gern unterstellten. Er behandelte ihn zu keinem Zeitpunkt, sondern kam als Freund an Bobbys Krankenbett und versuchte, alles in seiner Macht Stehende für ihn zu tun. Aber natürlich machte er sich so seine Gedanken über Bobbys Seelenlage. »Er war definitiv nicht schizophren«, erklärte er später. »Er hatte Probleme, wahrscheinlich aufgrund prägender Kindheitstraumata. Man verstand ihn falsch. Ich glaube, tief drinnen war er ein liebevoller und sensibler Mensch.«

Skulason ist ein freundlicher, herzlicher, äußerst würdevoller Mann. Im Gespräch wirkt er eher wie ein Philosoph, weniger wie ein Arzt und Psychologe. Er zitiert ebenso gern Hegel wie Freud, Plato wie Jung. Bobby bat Skulason, ihm Essen und Säfte ins Krankenhaus zu bringen, und oft saß Skulason einfach an Bobbys Bett, während beide Männer schwiegen. Als Bobby schlimme Schmerzen in den Beinen bekam, massierte Skulason ihn mit dem Handrücken. Bobby sah ihn an und sagte: »Es gibt nichts Beruhigenderes als eine menschliche Berührung.« Ein andermal wachte Bobby auf und fragte Skulason: »Warum bist du so gut zu mir?« Darauf wusste dieser jedoch keine Antwort.

Die Krankenhausleitung bedrängte Dr. Jónsson, Bobby zu entlassen, da er sich ja ohnehin nicht behandeln lasse. Doch Jónsson wusste, dass eine Entlassung Bobbys einem Todesurteil gleichkam, deswegen fand er immer wieder Vorwände, ihn noch weiter dazubehalten. Der Arzt versuchte, Bobbys Ende so angenehm wie möglich zu gestalten. Beispielsweise klebten die Schwestern Bobby ohne sein Wissen Morphiumpflaster auf die Haut, um seine Schmerzen zu lindern. Schließlich, als es im Dezember 2007 mit ihm zu Ende ging und er sich weiter gegen eine echte Behandlung sträubte, schickte man ihn heim. In seiner Wohnung kümmerten sich Sverrisson, seine Frau Kristin und ihre zwei Kinder um Bobby. Vor allem Kristins Ausbildung als Krankenschwester kam da gelegen.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus lebte Bobby noch einmal kurz auf. Er fühlte sich wieder besser und ging sogar einmal mit Sverrissons 20-jährigem Sohn, einem Fußballprofi, ins Kino. Um Weihnachten, als ganz Reykjavik im Lichterglanz erstrahlte, der Schnee sich kitschig auf den Dächern türmte und die Festtage kein Ende mehr nehmen wollten, kam Miyoko zu Besuch. Zwei Wochen später flog sie nach Tokio zurück. Wenige Tage danach rief Sverrisson sie mit schlechten Nachrichten an: Bobbys Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, er liege jetzt wieder im Krankenhaus. Dort starb er friedlich am 17. Januar 2008. Er wurde so viele Jahre alt, wie das Schachbrett Felder hat: 64.