13. Kapitel
Grenzüberschreitungen

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»Du brauchst in Budapest keine Leibwächter«, versicherte ihm Benko. »Hier laufen nur russische Mafiosi mit Leibwächtern herum.« Benko warnte, die zwei serbischen Muskelprotze mit ihren dicken Hälsen und automatischen Pistolen würden nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Doch Bobby mochte sich noch nicht von ihnen trennen (zumal nicht er sie bezahlte, sondern Vasiljevic). Sie beschützten ihn nicht nur, sie machten für ihn Botengänge, chauffierten ihn herum, leisteten ihm bei Bedarf Gesellschaft und standen einfach jederzeit für ihn bereit. Aber in allererster Linie glaubte er, ihren Schutz zu benötigen. Er fürchtete, die US-Regierung könnte planen, ihn lautlos zu ermorden. Auch vor den Israelis fürchtete er sich. Nach seinen antisemitischen Tiraden hielt er es durchaus für möglich, dass der Mossad oder ein durchgeknallter Zionist versuchen könnten ihn zu ermorden. Und die Sowjets wollten ihn ja ohnehin tot sehen, wegen der Schmach von 1972 und Bobbys Vorwürfen, die Russen betrögen beim Schach. Bobby kaufte sich extra einen über 15 Kilo schweren Mantel aus Pferdeleder, um sich vor Messerattacken zu schützen. Vermutlich trug er auch eine kugelsichere Weste.

Bobby fürchtete tatsächlich um sein Leben. Handelte es sich dabei noch um berechtigte Angst oder schon um krankhaften Verfolgungswahn? Sein Umfeld glaubte mehrheitlich, er sehe die Bedrohung maßlos übertrieben. Doch Bobby reagierte auf die (von ihm als solche wahrgenommene) Bedrohung seines Lebens wie am Schachbrett: Er bereitete sich auf jede Eventualität vor, auf einen Angriff aus jeder denkbaren Richtung. Er befand sich in dauernder Angst, belästigt, beleidigt, verhaftet oder gar ermordet zu werden. Das ermüdete natürlich; vielleicht brauchte er auch deswegen zehn bis zwölf Stunden Schlaf am Tag. Er fürchtete sich vor allem Unvorhersehbaren, und diese ewige Anspannung, kombiniert mit seinen endlosen Kämpfen gegen Windmühlen, laugte ihn aus.

Kaum hatte er sich im Gellért eingerichtet, luden die Polgárs ihn ein, einen Teil des Sommers in ihrem Landhaus zu verbringen. Freudig sagte Bobby zu. Auf der Fahrt ins 50 Kilometer nördlich gelegene Nagymaros bemerkte Bobby, dass die Donau überhaupt nicht schön blau war, sondern schlammbraun.

Bei den Polgárs bezogen Bobby und seine Leibwächter eine kleine Hütte im Garten, doch den Großteil seiner Zeit verbrachte Bobby im Haupthaus. Dort aß er und spielte mit allen Schwestern Schach, allerdings auf seinen Wunsch hin immer Chess960 (oder »Fischer Random Chess«). Dabei handelt es sich um eine Variante, bei der die Bauern wie gewohnt aufgestellt werden, die Figuren dahinter aber in beinahe beliebiger Reihenfolge. Das Spiel beginnt also nicht aus der einen, immer­gleichen Ausgangsposition, sondern aus einer von 960 verschiedenen (daher der Name Chess960). Der Grund, warum Bobby diese Variante bevorzugte: Bei ihr hatten erfahrene Spieler, die jahrelang Schacheröffnungen studiert haben, keinen Startvorteil mehr; bei Chess960 spielten Fantasie und Einfallsreichtum eine größere Rolle als beim herkömmlichen Schach, Bücherwissen und Erfahrung wogen nicht mehr so viel. Die 18-jährige Zsófia schlug Bobby sage und schreibe dreimal hintereinander in dem Spiel, das er selbst erfunden hatte. Zsuzsa spielte »unzählige Partien« gegen ihn, verriet über den Ausgang aber nur, dass sie sich »okay« geschlagen habe. Sie fand Bobbys Fähigkeit, ein Spiel zu analysieren, noch immer ehrfurchtgebietend.

László Polgár war ein Mann, der sein Herz auf der Zunge trug. Als Bobby leugnete, dass es Auschwitz je gegeben hatte, und einzugestehen weigerte, dass dort über eine Million Menschen ermordet worden waren, erzählte László ihm von einigen Verwandten, die in Konzentrationslagern umgekommen waren. »Bobby«, fragte er stirnrunzelnd, »glaubst du wirklich, meine Familie hat sich in Luft aufgelöst?« Auf so handfeste Tatsachen konnte Bobby kaum etwas erwidern. Etwas dümmlich zitierte er aus ein paar rechtsradikalen Schriften, die den Holocaust abstritten.

Aber das war typisch für Bobby: Selbst als Gast in einem jüdischen Haushalt hielt er mit seinen antisemitischen Ansichten nicht hinterm Berg. Zsuzsa erinnerte sich: »Anfangs widersprach ich ihm noch, aber man konnte überhaupt nicht mit ihm diskutieren. Er war völlig verbohrt. Später versuchte ich, das Thema zu vermeiden.« Judit formulierte es undiplomatischer: »Er war ein extrem großartiger Spieler, aber verrückt. Ein durchgeknallter Irrer.« Ihr Vater pflichtete ihr bei: »Er war schizophren.«

Auch wenn Bobby sich taktlos und starrsinnig verhielt, kümmerte sich die Familie Polgár trotzdem weiter um ihn, bekochte und unterhielt ihn. Und irgendwann hörte Bobby mit seinen antisemitischen Tiraden auf und wandte sich wieder dem Schach zu. Doch als László ihm ein Buch von 1910 zeigte, ging er an die Decke. Darin beschrieb der Kroate Izidor Gross bereits eine Schachvariante mit exakt den gleichen Regeln wie »Fischer Random Chess«. Bobby murmelte etwas von »Gross« und »Jude« und änderte dann die Regeln seiner Variante, nur um sich von Gross abzugrenzen.

In jenem Sommer machte die Familie einmal einen Ausflug ins Heilbad Visegrád am anderen Ufer der Donau. Man lud Bobby und seine Leibwächter ein mitzukommen. Die Gruppe nahm die Fähre über den Fluss, und im Heilbad fühlte sich Bobby ganz in seinem Element: Er schwamm und räkelte sich in den Heißwasserbecken. Er nahm sogar die riesige Wasserrutsche, immer und immer wieder. »Er tollte herum wie ein kleines Kind«, erinnerte Zsuzsa sich wehmütig.

László passte genau auf, dass Bobby sich den drei Schwestern gegenüber schicklich benahm. Er hatte nämlich längst mitbekommen, dass Bobby seinen Töchtern, besonders, Zsuzsa, schöne Augen machte, und missbilligte das entschieden.

Nach dreieinhalb Wochen erfuhr das ungarische Fernsehen irgendwie von Bobbys Sommerfrische in Nagymaros und schickte ein Kamerateam. Es schlich sich ans Haus an und filmte Bobby aus 50 Metern Entfernung mit einem Teleobjektiv. Als jemand das Team entdeckte, brach Panik aus. Bobby wurde noch immer polizeilich gesucht und wollte natürlich nicht, dass die Welt von seinem Versteck erfuhr. Er hetzte seine Leibwächter auf die Reporter, und die rissen die Kassetten aus den Kameras. Die Kameraleute leisteten keinen Widerstand – mit den zwei Kolossen wollte sich keiner anlegen. Dann lieh sich Bobby einen Hammer von Polgár, setzte sich auf den Steinboden des Wohnzimmers und zertrümmerte die Kassetten feierlich und gründlich.

Aber natürlich musste Bobby trotzdem sofort abreisen. In Budapest packte er seine Koffer und verließ überstürzt das Gellért. Mit den Leibwächtern im Schlepptau, die jetzt als Kofferträger herhalten mussten, zog er ins Hotel Rege am Fuß der Budaer Berge. Das Hotel lag 15 Busminuten vom Stadtzentrum entfernt, Benko wohnte direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Jetzt endlich folgte Bobby dem Rat seines Freundes und entließ die Leibwächter. Sie waren einfach zu auffällig und deshalb potenziell gefährlich.

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In jener Zeit veränderte Budapest sich rasant. 1989 hatten die Ungarn das Joch der Sowjets abgeschüttelt und die Grenze zu Österreich geöffnet. Zahlreiche Unternehmen waren privatisiert worden, die Wirtschaft brummte. Die Menschen fühlten sich endlich wieder frei, es herrschte eine fast mit Händen greifbare Aufbruchstimmung. In der Váci Utca, der wichtigsten Einkaufsmeile der Stadt, bogen sich die Regale, die Menschen lächelten und amüsierten sich bis spät in die Nacht.

Nachdem Bobby sich vergewissert hatte, dass ihn niemand mehr verfolgte, begann er, ziellos durch die Stadt zu streifen. Er nahm wahllos Trambahnen und Busse und fuhr herum. Zwar erkannten ihn bestimmt viele Ungarn, doch kaum einer sprach ihn je an. Bobby fühlte sich in der Stadt allerdings immer fremd. Selbst nach Jahren nannte er sich noch »einen Touristen« in Budapest.

Als die Polgárs im Herbst nach Budapest zurückkehrten, kam Bobby wieder zu Besuch und spielte mit ihnen Tischtennis oder Schach. Auch beim 82-jährigen Andrei Lilienthal und dessen 30 Jahre jüngerer Frau Olga war er gern zu Gast.

Die Lilienthals waren hervorragende Gastgeber, und sie verehrten Bobby, der wiederum größten Respekt für Lilienthal hatte. Der Großmeister, der einmal sogar den Exweltmeister Michail Botwinnik besiegt hatte, wusste zahllose Geschichten zu erzählen. Ihm zuzuhören war, als schmökere man in einem Buch über Schachgeschichte.

Obwohl Olga kaum älter war als Bobby, behandelte sie ihn mütterlich. Beispielsweise kochte sie ihm seine Leibgerichte. Mit ihr sprach Bobby Russisch; später erzählte sie, er habe die Sprache »recht gut« beherrscht. In all den Jahren, die Bobby in Budapest lebte, lernte er fast jeden Tag Russisch, und Olga half ihm, Grammatik und Aussprache zu verbessern. In Bobbys Bücherregalen standen mehrere Russisch-Englische Wörterbücher, außerdem Grammatik- und Konversationsbücher. Mit Lilienthal unterhielt Bobby sich auf Deutsch.

Einmal, als Bobby wieder einmal über Juden herzog, unterbrach Lilienthal ihn: »Bobby, weißt du, dass ich Jude bin?« Bobby lächelte und antwortete: »Du bist ein guter Mann, ein guter Mensch, also bist du kein Jude.« Für Bobby war »schlecht« und »jüdisch« gleichbedeutend; ein schlechter Mensch war für ihn ein »Jude«, egal welchem Glauben er zufällig angehörte. Ein »guter« Mensch wie Lilienthal hingegen war in seinen Augen kein Jude. »Natürlich verallgemeinere ich; dieses Recht nehme ich mir heraus«, schrieb Bobby über seine Neigung zur Stereotypisierung.

Wenn Bobby bei den Lilienthals zu Abend aß, sah er danach mit ihnen fern, und zwar russische Programme. Die waren ihm lieber als das ungarische Fernsehen und die empfangbaren amerikanischen Programme. Die russischen Sendungen halfen ihm auch, seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Später zogen Bobby und Lilienthal sich ins Arbeitszimmer zurück und analysierten bis spät in die Nacht Partien. Doch sie spielten nie miteinander.

Bobby revanchierte sich für die Freundlichkeit der Lilienthals mit Geschenken: einer Satellitenschüssel, einem Staubsauger, Lederwaren, die er auf Reisen nach Wien kaufte, und Geburtstagspräsenten. Im Ehepaar Lilienthal hatte er wieder Ersatzeltern gefunden wie früher in Jack und Ethel Collins. Bei ihnen fand er Wärme, bedingungslose Unterstützung – und Leidenschaft fürs Schach.

Doch ebenso wie die Beziehung zu den Geschwistern Collins ging auch diese Freundschaft nach ein paar Jahren in die Brüche. Zwei Vorfälle führten zum Bruch: Erstens hatte Andrei Lilienthal bei einer Silvesterparty ein Foto von Bobby geschossen und an die russische Schachzeitschrift Schachmatnij Bulletin geschickt. Die veröffentlichte das Bild und schickte Lilienthal 200 Dollar Honorar. Bobby ärgerte sich, als er das Heft sah, und wurde richtig wütend, als er erfuhr, dass Lilienthal Geld für das Foto bekommen hatte.

Weil Bobby ständig von dem ausstehenden Honorar für die russischsprachige Ausgabe von Meine 60 denkwürdigen Partien redete, wandte Lilienthal sich in dieser Angelegenheit brieflich an den FIDE-Präsidenten Kirsan Iljumschinow. Lilienthal unterschrieb dabei mit Bobbys Namen, ohne dass der jedoch davon wusste. Bei einer seiner Pressekonferenzen in Jugoslawien hatte Bobby gesagt, bevor Verhandlungen über die ausstehenden Tantiemen überhaupt losgehen könnten, verlange er 100 000 Dollar. Vermutlich schulde man ihm aber »Millionen«. Als das Oberhaupt der Republik Kalmückien war Iljumschinow ein außerordentlich reicher Mann. Er erklärte sich bereit, Bobby einen Teil des ausstehenden Geldes aus eigener Tasche zu bezahlen, 100 000 Dollar in bar.

Die Übergabe sollte bei einem Abendessen im Haus der Lilienthals stattfinden. 18 Jahre zuvor hatte Bobby nach dem geplatzten Weltmeisterschaftskampf gegen Karpow seine Beziehungen zur FIDE abgebrochen. Er war dem Weltschachbund auch noch immer böse – betrachtete Iljumschinow allerdings als unschuldig, weil er damals unbeteiligt gewesen war. Iljumschinow begrüßte Bobby in ausgezeichnetem Englisch und überreichte ihm einen Koffer voll Geld. Erst nachdem Bobby den Inhalt bis zum letzten Dollar gezählt hatte, setzte man sich zu Tisch und aß in angeregter und herzlicher Atmosphäre zu Abend. Bobby stellte Iljum­schinow sein Fischer Random Chess vor und befragte ihn zur russischen Politik. Iljumschinow erinnerte sich später: »Ich war erstaunt, wie gut Bobby über unsere Innenpolitik Bescheid wusste. Er kannte unsere Politiker und Parlamentsabgeordneten beim Namen und erkundigte sich, wer meiner Meinung nach die Wahl gewinnen würde.«

An jenem Abend schien eine Versöhnung zwischen FIDE und Bobby Fischer zum Greifen nahe. So lud Iljumschinow Bobby gar nach Kalmückien ein. Er versprach ihm ein Haus, gebaut nach Bobbys Vorstellungen, und schenkte ihm ein mehrere Tausend Quadratmeter großes Grundstück in der Hauptstadt Elista. Bobby dankte dem Staatsoberhaupt und erkundigte sich nach der medizinischen Versorgung im Land. Die Einladung, dort zu leben, lehnte er aber mit freundlichen Worten ab. Als Iljumschinow versprach, Millionen für einen weiteren Wettkampf Fischer–Spasski aufzutreiben, beschied Bobby ihm knapp: »Mich interessiert nur Fischer Random.« Im Laufe des Gesprächs erfuhr Fischer irgendwie, dass der Brief an Iljumschinow seine (gefälschte) Unterschrift getragen hatte. Gegen Ende des Abends bat Iljumschinow Bobby noch um ein gemeinsames Foto. Doch der weigerte sich grob; er war wütend über den in seinen Augen nunmehr zweiten Verrat Lilienthals (nach dem Silvesterfoto). »Für die 100 000 Dollar, die Sie mir gegeben haben, bekommen Sie noch kein Foto.« Iljumschinow rauschte daraufhin beleidigt ab. Ihm direkt hinterher folgte Bobby (samt Geld), stinkwütend auf Lilienthal. Bobbys lebenslange Überzeugung war, dass man einem Feind leichter vergeben könne als einem Freund. Er sah die Lilienthals nie wieder.

Als Bobby schließlich ein wild antisemitisches Traktat darüber schrieb, wie mehrere Verleger ihn betrogen hätten, widmete er es »Dem alten Judengauner Andrei Lilienthal, dessen Fälschung meiner Unterschrift auf einem Brief an die FIDE der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«

Später überwarf sich Bobby auch mit der Familie Polgár, denn Zsófia Polgár war zu einem Simultanschaukampf in der amerikanischen Botschaft in Budapest eingeladen worden. Doch Bobbys Ansicht nach mussten die Polgárs seine Feinde – die amerikanische Regierung – auch als ihre Feinde betrachten, und er konnte einfach nicht verstehen, wie man das Angebot überhaupt erwägen konnte. In dieser Frage legte sich Bobby mit der ganzen Familie an. Ungläubig fragte er Zsófia: »Wie kannst du nur mit diesen Leuten reden?« Sie trat trotzdem an und schlug sich gut. Die Freundschaft überlebte den Vorfall jedoch nicht; Bobby meldete sich nie wieder.

Während Bobby versuchte, ein neues Leben in Budapest aufzubauen, und doch nur alle verprellte, die ihn mochten, warb er weiter um Zita. Doch er scheiterte grandios. In den acht Jahren, die er in Ungarn lebte, sah er sie nur ganz wenige Male. Sie kam allerdings zu seinem 50. Geburtstag, den er in Bulgarien feierte. Bei der Gelegenheit bat er sie erneut, ihn zu heiraten – obwohl sie mit ihrem Freund glücklich war und ein Kind hatte. »Kommt nicht infrage«, beschied sie ihm. »Und wie sieht’s mit deiner Schwester Lilla aus?«, fragte er. Als Zita ihrer Mutter davon erzählte, war Frau Rajcsanyi entsetzt. Offenbar suchte Bobby nur nach einer Gebärmaschine.

Zita glaubt, dass Bobby von der Idee besessen war, sich fortzupflanzen (vergleichbar der Versessenheit König Heinrichs VIII., einen Sohn zu zeugen). Ihrer Ansicht nach trieb ihn die fixe Idee: Ich muss heiraten und ein Kind zeugen, ich darf nicht kinderlos sterben, sonst stirbt mein Genie mit mir. Fischer sah sich indes auch anderweitig um. Als Kuppler musste sein neuer Freund und Helfer János Rigó herhalten, ein Internationaler Meister und Schachorganisator. Fischer war dabei äußerst anspruchsvoll; Kandidatinnen mussten sein: blond, blauäugig, jung, schön – und gute Schachspielerinnen. Rigo legte ihm zwar ein paar Fotos vor, doch Bobby fand fast immer etwas auszusetzen. Schließlich setzte er folgende Anzeige in mehrere ungarische Zeitungen:

Ungebundener, großer, reicher, gut aussehender Amerikaner mittleren Alters mit gutem Charakter sucht schöne junge Ungarin für ernsthafte Beziehung. Antwort bitte mit Foto(s).

(Sehr aufschlussreich, wie Bobby sich selbst beschreibt.) Ein paar Inte­ressentinnen meldeten sich, doch keine entsprach seinem Idealbild, und so lehnte er alle ab.

Bobby las unterdessen weiter antisemitische und rechtsradikale Hetzschriften und schwadronierte unablässig über die Heimtücke der Juden. Einmal ließ er sich spät nachts von einer Veranstaltung heimfahren (Rigó diente als Fahrer). Ein jüdischer Schachspieler, der ebenfalls mitfahren wollte, durfte erst einsteigen, nachdem er erklärt hatte, dass der Holocaust nie stattgefunden hatte.

Während seiner Zeit in Budapest las Bobby Hetzschriften wie The Myth of the Six Million (»Die Lüge von den sechs Millionen«) von David Hoggan, Von den Juden und ihren Lügen (verfasst 1543) von Martin Luther und Jewish Ritual Murder (»Jüdischer Ritualmord«) von Arnold S. Leese. Er las auch einen Bericht des hochrangigen SS-Funktionärs Ernst Kaltenbrunner, der bei den Nürnberger Prozessen für schuldig befunden und zum Tod durch den Strang verurteilt worden war. Kaltenbrunners Brief aus dem Gefängnis an seine Familie hatte Bobby berührt.

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Als Bobby erfuhr, dass Kaltenbrunners Sohn noch lebte, besuchte er ihn in Wien, um zu erfahren, ob es wirklich Konzentrationslager gegeben habe und ob wirklich Millionen Menschen darin umgekommen seien. In dieser Hinsicht verlief der Besuch beim Sohn der hingerichteten Nazigröße jedoch enttäuschend. Kaltenbrunner junior war überzeugter Demokrat und mochte nicht über seinen Vater, Konzentrationslager, Nazis oder Antisemitismus reden. Aber er spielte Schach! Kaltenbrunner empfing Bobby Fischer daher ehrfürchtig wie einen Staatspräsidenten. Einige Tage später schraubte Kaltenbrunner ein graviertes Schild an Bobbys Stuhl: AUF DIESEM STUHL SASS DER SCHACH-WELTMEISTER ROBERT J. FISCHER.

Im Sommer 1993 kam ein von der Kritik hochgelobter Film in die Kinos, Searching for Bobby Fischer (dt. Titel: Das Königsspiel). Der Film sollte ursprünglich Innocent Moves heißen (»Unschuldige Züge«), bekam aber in letzter Sekunde doch den gleichen Titel wie das Buch, auf dem er basierte. Die Produzenten hofften, mit dem Namen Bobby Fischer mehr Zuschauer in die Kinos zu locken. Das Buch Das Königsspiel. Ein Meister wird geboren erzählt die wahre Geschichte des Schachwunderkinds Josh Waitzkin. Seine Eltern – das Buch ist vom Vater verfasst – zögerten zunächst, den Jungen zum Schach zu ermutigen, unterstützten ihn später aber doch. Josh lernte bei einem außergewöhnlichen Schachlehrer, Bruce Pandolfini, im Film dargestellt von Ben Kingsley. Nur selten war Schach im Film derart einfühlsam und respektvoll behandelt worden. Die Person Bobby tritt im Film nicht auf, man sieht aber den echten Bobby auf eingeschnittenen Dokumentaraufnahmen jener Zeit. Inspiriert wurde der Film von Bobbys Erfolg in Island und dem darauf folgenden Schachboom. Der Film wurde für einen Oscar nominiert. Als er von dem Filmtitel hörte, war Bobby empört. Er sah seinen Namen missbraucht und seine Privatsphäre verletzt. Leider erwies sich die Marke »Fischer« zudem nicht als Publikumsmagnet; der Film spielte in den USA gerade einmal sieben Millionen Dollar ein. Hinterher bereuten die Produzenten, Bobbys Namen verwendet zu haben.

Trotzdem wütete Bobby, der Film habe »über hundert Millionen Dollar« eingespielt, eine groteske Übertreibung. Er faselte von »einem Betrug monumentalen Ausmaßes«. Sein Anwalt beschied ihm aber, als Person des öffentlichen Interesses müsse Bobby dulden, dass jemand – hier der Filmproduzent Paramount Pictures – seinen Namen verwendete. Zähneknirschend verzichtete Bobby also auf eine Klage. Obwohl man ihm erzählte, dass der Film eine hervorragende Beschreibung dessen sei, wie ein Kind in die Schachwelt einsteigt, meckerte er unablässig über ihn. Gesehen hat er ihn indes nie.

Inzwischen fühlte sich Bobby so sicher, dass er wieder zu reisen begann. Oft begleitete er Benko nach Deutschland, wo dieser in einer Mannschaft spielte. Mit Rigó fuhr er zum Einkaufen nach Österreich. In die Schweiz reiste er, um seine Banker zu treffen, nach Argentinien, um Werbung für Fischer Random Chess zu machen, auf die Philippinen, nach China und Japan flog er aus privaten und geschäftlichen Gründen. Skurrilerweise besuchte er auch Italien, um sich mit einem Mafiamitglied zu treffen. Bobby bewunderte die Familienstruktur der Mafia und ihren Ehrenkodex und wollte mehr darüber erfahren. Allerdings weiß man nicht, ob das der wahre Grund für seinen Italienbesuch war.

Anfang 1997 lief Fischers Pass ab. Er hätte zwar in der amerikanischen Botschaft in Budapest einen neuen beantragen können, doch das traute sich Bobby nicht. Was, wenn sein Pass konfisziert würde? Dann säße er in Ungarn fest. Keine Auslandsreisen mehr, vielleicht auch kein Zugang mehr zu seinem Bankkonto. Oder, schlimmer noch: Was, wenn man ihn verhaftete? Er ging alle Möglichkeiten durch, wie bei einem kniffligen Schachproblem. Schließlich beschloss er, seinen Pass in der Schweiz verlängern zu lassen. Hier wäre er vor Auslieferung sicher, und auch an sein Geld käme er noch, selbst wenn er in der Schweiz festsitzen sollte. Daher bat er Rigó, ihn nach Bern zu fahren. Beklommen, aber nach außen gefasst, betrat er die amerikanische Botschaft. Rigó wartete draußen im Auto, ausgestattet mit einer Liste von Telefonnummern für den Notfall. Außerdem hatte er Schlüssel für Bobbys Schließfächer. Nach 40 Minuten kam Bobby wieder heraus, mit einem breiten Grinsen im Gesicht: Er hatte einen neuen amerikanischen Pass, gültig bis 2007. Jetzt konnte er beruhigt nach Budapest zurück.

Heimfliegen konnte er natürlich trotzdem nicht mehr. In den USA würde man ihn bei der Einreise fast garantiert verhaften. Zum Problem wurde das, als im Juli 1997 seine Mutter starb. Natürlich wäre Bobby gern bei ihrer Beerdigung dabei gewesen. Einige Schachspieler aus dem Bundesstaat Washington mutmaßten, Bobby sei ins kanadische Vancouver geflogen, habe dort ein Auto gemietet und sich über die kanadisch-amerikanische Grenze geschlichen. Dann sei er die ganze Strecke nach Kalifornien hinunter gefahren und inkognito auf das Begräbnis gegangen. Dem Gerücht zufolge verfolgte er die Zeremonie unerkannt aus der Ferne und sprach mit niemandem.

Kein Jahr später starb Bobbys Schwester Joan überraschend an einem Schlaganfall. Sie war gerade einmal 60 Jahre alt geworden. Wieder schmerzte es Bobby, dass er einem Familienmitglied nicht die letzte Ehre erweisen konnte. Die erzwungene Trennung von seiner Familie nährte allerdings den Hass, den er seit 1976 gegenüber Amerika empfand. Warum Joan Bobby im Exil nie besuchte, ist indes unbekannt. Regina jedenfalls besuchte ihn einmal in Budapest.

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Nachdem Bobby sich mit den Lilienthals und den Polgárs überworfen hatte, wurde es in Budapest einsam um ihn. Doch nach außen ließ er sich nicht anmerken, ob ihm die Zuneigung der zwei Familien fehlte. Auch wenn er seine Einsamkeit selbst herbeigeführt hatte, muss sie ihn doch geschmerzt haben.

Er schlief nach wie vor regelmäßig bis zum Nachmittag und frühstückte dann im Hotel, normalerweise auf dem Zimmer, gelegentlich aber auch im Speisesaal. Später badete er im Pool oder in einem der vielen Thermalbäder der Stadt. Danach ging er in eine Bibliothek oder einen Buchladen. Nur gelegentlich durchbrach er seine Routine, machte lange Spaziergänge und hing beispielsweise bei den Höhlen in den Budaer Bergen seinen Erinnerungen nach. Manchmal trank er auf der Terrasse des Hilton im historischen Burgviertel einen Espresso. Rigó holte ihn meist gegen 19 Uhr vom Hotel ab, dann gingen sie zum Abendessen. Mal japanisch, mal chinesisch, indisch, ungarisch, oder auch koscher – Bobby gestaltete seine Ernährung bewusst abwechslungsreich. Gelegentlich kamen Pal Benko, Lajos Portisch, Peter Leko (ein junger ungarischer Großmeister) oder ein, zwei andere mit. Dabei saß Bobby immer mit dem Rücken zur Wand, am liebsten in einer Ecke und weitab von Fenstern. So hoffte er, unerkannt zu bleiben. Im Gegensatz zu früher zahlte er nun immer für alle seine Begleiter.

Er brachte übrigens stets seine eigene Wasserflasche mit und trank nur gelegentlich Alkohol. Einmal erwischte er allerdings zu viel palinka, ungarischen Pflaumenschnaps, und hatte hinterher drei Tage lang einen Kater.

Viel ist darüber spekuliert worden, wie gut Bobby während seiner fast acht Jahre im Land Ungarisch lernte. Zsuzsa Polgár meinte, er könne fast gar nichts. Auch Zita behauptete, er kenne vielleicht sieben Wörter, darunter das für seine Lieblingsnachspeise, gymulcsriz. Rigó schätzte sein Vokabular hingegen auf 200 Wörter, genug um Essen zu bestellen, nach dem Weg zu fragen, sich in Geschäften verständlich zu machen usw. Vereinfacht wurde die Verständigung durch die Tatsache, dass die meisten älteren Ungarn Russisch oder Deutsch konnten, während die jüngeren Leute Englisch beherrschten.

Ein, zwei Mal die Woche ging Bobby ins Kino, wobei er sich meist Hollywoodfilme ansah. Einmal erzählte Bobby, er habe sich mit der von Jim Carrey gespielten Hauptfigur der Truman Show identifiziert. Wie Truman glaubte er sich oft in einer kafkaesken Welt, in der er, Bobby, der einzig authentische Mensch sei, während alle anderen nur schauspielerten.

Etwa gegen 23 Uhr kehrte Bobby üblicherweise in sein Hotelzimmer zurück, wo er las und auf BBC Musik und Nachrichten hörte. Dann sprach er seine Gedanken auf Tonbänder: endlose Tiraden gegen Amerika und die Juden. Die Bänder sollten ihm als Materialsammlung für ein geplantes Buch dienen: eine Abrechnung mit Amerika und den Juden. Der Auslöser für diesen aktuellen Wutausbruch: Seine persönlichen Gegenstände, die er jahrelang in Kalifornien eingelagert hatte, waren versteigert worden. Wenn die Morgendämmerung nahte, nahm Bobby sich schließlich Partien aus aktuellen Turnieren vor. Unter seinem geistigen Mikroskop suchte er nach Fehlern, Fehlinterpretationen und falschen Schlüssen – insbesondere »unerklärlichen«, an denen man seiner Ansicht nach Absprachen zwischen den Spielern erkennen konnte. Ihnen, den Dieben und Schummlern der Schachwelt, wollte er immer noch das Handwerk legen. Er las jede Partie wie einen Krimi, nur wollte er keine Mörder überführen, sondern Verschwörungen aufdecken.

Inzwischen hinkte Bobby übrigens so deutlich, dass einige Kollegen ihn ermahnten, zum Arzt zu gehen. Doch er misstraute den Doktoren immer noch so sehr, dass er damit wartete, bis die Qualen unerträglich geworden waren. Die Untersuchung ergab schließlich, dass Bobby an Orchitis litt, einer äußerst schmerzhaften Hodenentzündung. Beim Gehen versuchte er, die Hoden zu schonen, daher sein Hinken. Die Sache hätte sich mit Antibiotika schnell kurieren, der Schmerz sofort mit einem kleinen Schnitt lindern lassen. Doch Bobby verweigerte beides. Stattdessen machte er allen weis, sein Hinken sei auf eine alte Verletzung zurückzuführen (er hatte sich viel früher einmal das Bein gebrochen). Stoisch erduldete er den Schmerz einfach, bis die Entzündung von selbst wieder abklang. Das leichte Hinken allerdings behielt er bis zum Ende seines Lebens.

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»Wie Adolf Hitler in Mein Kampf schrieb, sind die Juden nicht die Opfer, sondern die Täter!«, schwadronierte Bobby Fischer einmal live im Radio. Wie viele der zehn Millionen Ungarn an diesem 13. Januar 1999 Bobbys Hasstirade auf Calypso Radio hörten, ist unbekannt. Der Interviewer, Thomas Monath, wusste zudem nicht recht, was er tun sollte. Bobby das Mikrofon abdrehen? Ihn niederbrüllen? Er ließ ihn reden.

Pal Benko hatte auf Bobbys Wunsch hin beim Sender angefragt, ob man an einem Interview mit Bobby Fischer interessiert sei. Natürlich war man – schließlich wäre das Bobbys erstes Interview seit seinem Wettkampf 1992 gegen Spasski. Das Gespräch begann ganz harmlos, die Frage, warum Bobby in Budapest lebe, wurde höflich beantwortet (»Ich mag die Mineralbäder und die Leute; ihr habt hier eine tolle Stadt.«). Doch bald beschwerte sich Bobby über das seichte Geplänkel und verlangte, über wichtigere Dinge zu reden. Sollte die Welt seine antisemitischen Kommentare bei den Pressekonferenzen1992 überhört haben, jetzt hörte sie sie. Denn Livemitschnitte der Sendung fanden ihren Weg ins Internet und damit in die große weite Welt.

Auslöser für Bobbys fast schon hysterische Tiraden war diesmal die Versteigerung seiner persönlichen Gegenstände, die er in Kalifornien eingelagert hatte. Sein Agent Robert Ellsworth hatte nämlich versäumt, die 480 Dollar Miete für den Lagerraum in Pasadena zu bezahlen. »Der Inhalt war Zigmillionen oder gar Hunderte Millionen Dollar wert und wurde gestohlen«, schäumte Bobby. Dahinter stecke eine Verschwörung der Juden, wütete er. Monath versuchte das Interview noch zu retten und bat ihn: »Erlauben Sie mir ein paar freundliche Fragen über Schach?« »Nein, tu ich nicht!«, brüllte Bobby ihn an und polterte weiter. Die »Juden verfolgten« ihn, »der Holocaust ist nie passiert« und so weiter, das Ganze im übelsten Gassenjargon. Bobby brüllte das Unrecht in die Welt hinaus, das ihm seiner Ansicht nach widerfahren war. Schließlich platzte Monath der Kragen: »Mr. Fischer, Ihr Verstand ist völlig zerstört«, schloss er und drehte ihm das Mikrofon ab.

Dabei gab es an der ganzen Angelegenheit mit der Lagerräumung nichts Geheimnisvolles. Zehn Jahre lang hatte Bobby die Miete für ein Abteil mit Safe bezahlt, in dem Hunderte Erinnerungsstücke lagerten: der Gratulationsbrief von Präsident Nixon zum Gewinn der Schachweltmeisterschaft, die von der FIDE überreichte Weltmeistermedaille, Briefe, Partieformulare, Bilder, Trophäen, Statuen, Notizbücher, Fotos, Bücher, Krimskrams. Der vielleicht größte Verlust für die Schachwelt waren die Original-Partieformulare einer Reihe interessanter Simultanschaukämpfe, die Bobby in Südamerika bestritten hatte und über die er gerne ein Buch geschrieben hätte. Im Paket oder einzeln an Sammler verkauft, hätten allein die Partieformulare (laut Bobby waren es Tausende) etwa 100 000 Dollar gebracht.

Etwa 5000 Dollar im Jahr hatte Bobby seinem Agenten Ellsworth überwiesen, von denen dieser die Miete für den Lagerraum und minimale Grundsteuern auf fünf Grundstücke in Clearwater und Tarpon Springs (Florida) bestritt. (Die Grundstücke hatten ursprünglich seinem Großvater gehört, Bobby hatte sie 1992 seiner Mutter abgekauft.) Die Ausgaben beliefen sich auf etwa 4000 Dollar im Jahr, den Rest bekam Ellsworth für seine Dienste. Der Lagerraum war unter den Namen »Claudia Mokarow und Robert D. James« angemietet, und da die Miete von Ellsworth bezahlt wurde, konnte die Lagerfirma nicht wissen, dass die Dinge in dem Abteil Bobby Fischer gehörten. Dann unterlief Ellsworth ein Fehler, er vergaß, die Miete zu überweisen, und vertragsgemäß versteigerte die Lagerfirma den Inhalt des Abteils. Als Ellsworth seinen Fehler entdeckte, wäre er am liebsten im Boden versunken. Man kann sich vorstellen, wie hart der Verlust Bobby getroffen haben muss: »Mein ganzes Leben!«, jammerte er.

Tatsächlich bemerkte Ellsworth seinen Fehler noch früh genug, um auf die Auktion zu gehen und Gegenstände im Wert von 8000 Dollar zurückzuerwerben. Er bot allerdings nicht auf Comichefte und andere Erinnerungsstücke, von denen er – fälschlicherweise, wie sich herausstellte – glaubte, sie würden Fischer nicht mehr interessieren. Harry Sneider, Fischers ehemaliger Fitnesstrainer, begleitete Ellsworth auf die Auktion, und Sneiders Sohn reiste danach mit zwölf Kartons voller Dinge nach Budapest. Als er sie Bobby übergab, fragte der: »Wo ist der Rest?« Er behauptete, mindestens 100 Kartons eingelagert gehabt zu haben, man habe gerade einmal ein Prozent seines Eigentums gerettet.

Die Angelegenheit regte ihn maßlos auf. In insgesamt 35 Radiointerviews wütete er darüber, die meisten wurden von einem kleinen Sender auf den Philippinen ausgestrahlt. In einigen Sendungen ließ man Bobby fast zwei Stunden lang schwadronieren: Er sei Opfer einer Verschwörung von Judentum, US-Regierung, Russen, Robert Ellsworth und der Lagerhausfirma Bekins Storage.

Bobby hatte ja schon lang zu Verfolgungswahn geneigt, aber jetzt brach er ungehemmt aus. Fast schien es, als litte Bobby phasenweise an einer Art Tourette-Syndrom, das ihn geradezu zwang, Obszönitäten um sich zu schleudern. Sein Hass platzte einfach aus ihm heraus, und er konnte (oder wollte) ihn nicht im Zaum halten. Bobby hatte, nach allem, was man weiß, weder Wahnvorstellungen noch Halluzinationen, litt also nicht unter einer Psychose. (Der Psychiater Dr. Magnus Skulason, der Bobby in dessen letzten Jahren kannte, bestätigte das: Bobby sei keineswegs psychotisch gewesen.) Tatsächlich war Bobby durchaus geerdet und konnte gelegentlich charmant, freundlich und sogar (von gewissen Themen abgesehen) vernünftig sein – wenn er nicht unter Stress stand. Dr. Anthony Saidy, einer der ältesten und engsten Freunde Bobbys, schrieb nach dessen Rundfunkauftritten einen Brief an Chess Life. Darin erklärte er: »Sein Verfolgungswahn hat sich über die Jahre verschlimmert, er ist in einer fremden Kultur isolierter denn je.« Saidy fuhr fort, die Presse verhalte sich schamlos, wenn sie die üblen Entgleisungen eines Kranken veröffentliche, anstatt ihn in Ruhe zu lassen.

Als er Saidys Bemerkungen las, war Bobby stinksauer. Er schalt Saidy unter anderem dafür, dass er in den USA lebte, in einer Bobbys Ansicht nach wahrhaft fremden Kultur, und nannte ihn einen »Juden«.

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Der Geruch der Kampferbäume in Kamata, einem grünen Wohnbezirk Tokios, faszinierte Bobby. Viele Japaner sammelten oder pflückten die aromatischen Blätter, kochten sie und inhalierten den Dampf, der angeblich gegen Erkältungen half. Andere hielten Kampferdampf für ungesund. Doch egal, wer nun recht hatte: Die Bäume waren faszinierend. Wenn man ein paar Blätter sammelte und in der Hand zerdrückte, entströmte ihnen ein fast schon betäubender Duft. Bobby litt inzwischen unter einer ganzen Reihe Zipperlein, die er mit homöopathischen Mittelchen bekämpfte. Ständig war er auf der Suche nach neuen natürlichen Heilmethoden – was ihm vielleicht einmal Riesenärger eingebrockt hat.

Anfang 2000 verabschiedete Bobby sich von seinen Freunden in Budapest, lagerte seine Sachen in Benkos Wohnung ein und kündigte an, er gehe für »ein paar Monate« auf Reisen. Er sollte nie zurückkehren. Am 28. Januar landete er in Tokio. Dort wollte er Miyoko Watai besuchen, die Präsidentin des japanischen Schachbunds. Die zwei kannten sich seit Bobbys erstem Japanbesuch 1973. (Damals kam er auf der Suche nach einem Austragungsort für den später abgesagten Kampf gegen Karpow nach Japan.) Watai hatte Bobby in Los Angeles und Budapest besucht, dazwischen waren sie brieflich in Kontakt geblieben. Miyoko, eine der stärksten Schachspielerinnen ihres Landes, himmelte Bobby als Schach­idol an. Vor der ersten Begegnung hatte sie alles über ihn gelesen, was sie auftreiben konnte, und jede seiner Partien nachgespielt. Sie war in ihn verliebt.

Seinen Freunden gegenüber stritt Bobby allerdings stets ab, dass er eine romantische Beziehung zu der zwei Jahre jüngeren Miyoko unterhielt.

Und eigentlich fahndete er ja noch immer nach einer Gebärmaschine für das nächste Schachwunderkind. Vielleicht ließe sich ja auf den Phi­lippinen die Richtige finden? So begann Bobbys Pendelverkehr zwischen Tokio und den Philippinen. Er blieb jeweils knapp drei Monate in Japan, bis sein Visum ablief, dann flog er auf die Philippinen, wo er ebenfalls drei Monate blieb. In gewisser Weise führte er ein Leben wie der Kapitän in Der Schlüssel zum Paradies. Der ist in zwei Häfen verheiratet und pendelt zwischen seinen beiden Frauen hin und her. Bobby war zwar nicht verheiratet, schlief aber in Tokio mit Miyoko und auf den Philippinen mit verschiedenen Frauen. Dieses erotische Hin und Her ging mehrere Jahre lang.

Bobby und Miyoko, beide Ende 50, führten ein beschauliches Leben in Ikegami, einem ruhigen Vorort Tokios. Sie gingen in verschiedenen onsen – heißen Quellen – baden, besuchten Kinos, machten lange Spaziergänge, saßen im Park. Niemand schien Bobby hier wiederzuerkennen, und so führten die beiden ein ganz unaufgeregtes, romantisches Mittelklasseleben. Bobby benahm sich nur selten daneben. Einmal klatschte er (als einziger) im Kino, als im amerikanischen Film Pearl Harbor japanische Zeros die Schiffe in der Battleship Row bombardierten und die USS Arizona versenkten. Die anwesenden Japaner wären vor Scham am liebsten im Boden versunken. Bobby meinte hinterher allerdings, er sei schockiert gewesen, dass niemand mitklatschte.

Und dann waren seine drei Monate in Japan wieder um, sodass Bobby auf die Philippinen jettete.

Das Leben in Baguio, einer Stadt gut 200 Kilometer nördlich von Manila, war etwas exotischer als das in Tokio. Die Bevölkerung bestand zur Hälfte aus Unistudenten (etwa 150 000), was die Chance für Bobby erhöhte, junge und schöne Frauen zu treffen. (Während seiner Aufenthalte in Japan blieb er Miyoko treu.)

In Baguio lebte er die ersten drei Monate im Country Club (ein Bewunderer hatte ihm diese Möglichkeit vermittelt). Dort spielte er täglich Tennis und traf sich mit Eugenio Torre zum Essen. Gelegentlich speiste er sogar mit dem ehrwürdigen Florencio Campomanes, dem ehemaligen FIDE-Präsidenten. Später mietete Bobby ein Haus in Torres Nachbarschaft. Regelmäßig aß er beim Ehepaar Torre zu Abend.

Auf einer Party, die Torre im Country Club gab, traf Bobby eine attraktive junge Frau namens Justine Ong, eine chinesischstämmige Filipina. (Sie nannte sich später Marilyn Young.) Eine Romanze begann. Einige Monate später wurde sie schwanger. Eine Abtreibung kam für Bobby überhaupt nicht infrage. Und so trug Marilyn das Kind aus. Auf der Geburtsurkunde des Mädchens, Jinky, stand Bobby als Vater. Er versprach, Mutter und Kind zu unterstützen. Und das tat er auch: Er kaufte ihr ein Haus, schickte gelegentlich Geschenke und Geld. Allerdings wusste Bobby nicht sicher, ob das Kind wirklich von ihm stammte. Doch genau wie Paul Nemenyi ihn unterstützt hatte, ohne sich seiner Vaterschaft sicher zu sein, war Bobby nun für Jinky da, auch als offizieller Vater. Dieses Arrangement funktionierte sieben Jahre lang gut; Bobby schickte dem Mädchen Grußkarten, die er mit »Daddy« unterschrieb, später lud er die beiden einmal zu sich ein. Einer seiner Freunde, der Bobby und Jinky zusammen beobachtet hatte, meinte, Bobby sei zwar liebevoll mit ihr umgegangen, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung, als glaube er nicht wirklich an seine Vaterschaft.

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In einem Radiointerview für Radio Baguio behauptete Bobby am 9. August 2000, er sei kurz zuvor in Japan unter dem abstrusen Vorwurf, er schmuggle Drogen, verhaftet worden. Er ging nicht weiter ins Detail, sagte aber, er sei erst nach 18 Tagen wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Besonders absurd finde er die Sache, weil er selbst keinerlei Medikamente nehme, nicht einmal Aspirin. Der Autor dieses Buches fand für diese Verhaftung, die im Frühling oder Sommer 2000 stattgefunden haben soll, keinerlei Beleg. Aber man kann sich gut vorstellen, wie Bobby japanischen Zöllnern mit seinem Rucksack voller Kräuter verdächtig vorkam. Bei der anschließenden Befragung wird er ungehalten und unkooperativ gewesen sein, man kennt ihn ja. Gut möglich, dass man ihn wegen seines Umgangstons eingesperrt hat – wenn es denn jemals zu einem solchen Zwischenfall kam.

Am 11. September 2001 ließ Bobby seine vielleicht schrecklichsten Sätze los. Radio Baguio rief bei ihm an (er befand sich gerade in Tokio) und bat ihn um einen Kommentar zu den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon. Mit seiner zwölfminütigen Antwort brachte Bobby ganz Amerika gegen sich auf. Seine Polemik war eine Breitseite gegen eine trauernde Nation – und in voller Länge im Internet abrufbar.

Es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass Bobbys Worte die hasserfülltesten waren, die je ein Amerikaner für sein Land im Radio gefunden hat. Und sie sollten ihm zum Verhängnis werden. Hier ein Auszug:

Fischer: Ja, nun, das sind tolle Nachrichten. Wurde auch Zeit, dass jemand den verdammten Amerikanern eins auf die Mütze gibt. Höchste Zeit, ein für alle Mal mit den Vereinigten Staaten aufzuräumen.

Interviewer: Sie sind glücklich über die Ereignisse?

Fischer: Ja, ich applaudiere der Tat. Scheiß-Amerika. Ich möchte das Land ausgelöscht sehen … Die Vereinigten Staaten beruhen auf Lügen. Auf Diebstahl. Schauen Sie sich an, was ich für das Land getan habe. Niemand sonst hat im Alleingang so viel für die Vereinigten Staaten getan wie ich. Das glaube ich wirklich. Wissen Sie, als ich 1972 die Weltmeisterschaft gewann, hatte Amerika das Image, ein Football-Land zu sein, ein Baseball-Land, aber niemand hielt es für ein intellektuelles Land. Ich habe das ganz allein verändert … Aber ich hoffe, dass es etwa so läuft wie in Sieben Tage im Mai und ein paar Vernünftige sich zur Macht putschen.

Interviewer: »Vernünftige«?

Fischer: Vernünftige Generäle, ja. Die werden die Juden verhaften und mindestens ein paar Hunderttausend von ihnen hinrichten … Ich sage: Tod für Präsident Bush! Tod für die Vereinigten Staaten. Verdammte Staaten! Verdammte Juden! Die Juden sind ein Volk von Gaunern. Sie verstümmeln ihre Kinder. Sie sind mordende, kriminelle, diebische, verlogene Bastarde! Sie haben den Holocaust erfunden. Nicht ein Wort davon ist wahr … Das ist ein wunderbarer Tag. Verdammte Vereinigte Staaten. Weint, ihr Heulsusen. Winselt, ihr Bastarde. Eure Zeit ist abgelaufen.