4. Kapitel
Das amerikanische Wunderkind

illustration_neu.eps

Nach jedem Schultag, an Samstagen und die ganzen Sommerferien hindurch (ausgenommen die Tage, an denen er Collins besuchte oder auf einem Turnier war) ging Bobby zur U-Bahn-Station Flatbush Avenue und nahm die Subway unter dem East River hindurch nach Manhattan, wo er am Union Square ausstieg. Er wanderte südlich den Broadway hinunter bis zum Greenwich Village. Dort steuerte er die Buchhandlung Four Continents an, ein Warenhaus mit russischen Büchern, Zeitschriften, Tonträgern und handgemachten Geschenken wie Matrjoschka-Puppen. Ein Russen-Nest? Da konnte das FBI nicht weit sein. Und tatsächlich kam später ans Licht, dass das FBI das Four Continents von den 1920ern bis in die 1970er-Jahre überwacht hatte. 15 000 Berichte, Fotos und Dokumente wurden gesammelt auf der unermüdlichen Suche nach Kommunistenfreunden und Sowjetagenten. In den 1950ern, als Bobby dort einkaufte, war das FBI besonders rege und sammelte Material für das Komitee für unamerikanische Umtriebe.

Das Four Continents führte eine kleine, aber gut sortierte Auswahl an Schachbüchern und die jeweils aktuelle Ausgabe des Schachmatnij Bulletin, einer neu gegründeten Schachzeitschrift in russischer Sprache. Fischer erkundigte sich, wann das monatlich erscheinende Magazin im Laden eintreffen würde, und besorgte es sich dann immer so bald wie möglich. Anderen gegenüber verkündete er, das Schachmatnij Bulletin sei »die beste Schachzeitschrift der Welt«.

Beharrlich spielte er die dort abgedruckten Partien nach. Er verfolgte die Heldentaten des 18-jährigen Boris Spasski, der 1955 die Juniorenweltmeisterschaft gewonnen hatte. Außerdem studierte er die Partien Mark Taimanows, der 1956 sowjetischer Meister geworden war. Taimanow, ein Konzertpianist, erfand neue Varianten für Eröffnungen, die Fischer sehr lehrreich fand. Beim Zeitschriftenstudium zählte Bobby mit, mit welchen Eröffnungen mehr Partien gewonnen wurden als mit anderen. Er besah sich Varianten von Eröffnungen, merkte sich die vielversprechenden und verwarf die unsinnigen. Er prägte sich auch Partien ein, die er einer tieferen Erforschung würdig fand. Die im Schachmatnij Bulletin abgedruckten Meisterpartien wurden zu seinen Leitsternen, und einige der Meister, die sie gespielt hatten, sollten später zu seinen Rivalen werden.

Für zwei Dollar kaufte Bobby im Four Continents die Russische Schachschule – auf Russisch. Dieser Klassiker der modernen Schachliteratur war auch auf Englisch herausgegeben worden, als Propagandaschrift, die den »Aufstieg der sowjetischen Schule zum Gipfel des Weltschachs als logische Folge der kulturellen Entwicklung im Sozialismus« darstellte. Obwohl Bobby noch ein Teenager war, konnte er bestimmt zwischen der Holzhammer-Propaganda und den brillanten Schachpartien trennen, von denen er so viel lernen konnte. Er empfand Ehrfurcht für die Klarsicht und das rasche, intuitive Spielverständnis der sowjetischen Spieler, die damals zweifellos die Weltspitze ausmachten. Einmal gab der 14-jährige Bobby einem durchreisenden Journalisten von Schachmatnij w SSSR (Schach in der Sowjetunion) ein Interview. Darin sagte er, er würde gern gegen die besten russischen Meister spielen, und führte aus: »Ich beobachte, was eure Großmeister tun. Ich kenne ihre Partien. Sie sind klug, angriffsfreudig, kampflustig.«

Jahrelang stöberte Bobby im Angebot des Four Continents, und immer hoffte er, ein Buch zu finden, über das man in fast schon ehrfürchtigen Tönen flüsterte: Isaak Lipnitzkys Fragen der modernen Schachtheorie. Obwohl es zunächst nur auf Russisch vorlag, wurde das Buch unter Schachfreunden sofort nach seinem Erscheinen 1956 zum Klassiker, und Exemplare waren rar. Ein Schachfreund, der zehn Jahre ältere Karl Burger (er wurde später Arzt und Internationaler Meister), schwärmte Bobby von dem Buch vor. Bobby brannte darauf, es zu lesen, musste es aber über Four Continents bestellen. Es kam erst Monate später an, schlecht gedruckt auf miesem Papier und voller Schreibfehler.

Doch diese Makel störten Bobby nicht. Er grübelte über den Seiten, als sei er ein Philosophiestudent und versuche, Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft zu verstehen. Er mühte sich am Russischen ab und bat seine Mutter ständig, ihm Textpassagen zu übersetzen, in denen die notierten Züge kommentiert wurden. Regina fühlte sich nicht belästigt, ganz im Gegenteil freute sie sich, dass Bobby Russisch lernte. Bobby seinerseits staunte, wie viel er aus dem Buch lernen konnte.

Lipnitzky betonte den Zusammenhang zwischen der Kontrolle über die zentralen Felder des Bretts und der Fähigkeit, seinen Figuren Freiräume zu verschaffen und die Initiative zu ergreifen. Die Idee ist simpel, fast schon elementar, doch es kann recht schwierig sein, sie in einer Partie auch tatsächlich umzusetzen. Lipnitzky warf dem Leser nicht einfach Ideen an den Kopf, sondern führte einleuchtende Beispiele dafür an, wie man seine Empfehlungen umsetzte. Bobby übernahm einige von Lipnitzkys Ideen in sein Spiel und entwickelte eine Lipnitzky-Angriff genannte Antwort auf die sizilianische Verteidigung. Jahre später zitierte er in seinen eigenen Schriften Lipnitzkys Prinzipien.

Nachdem er etwa eine Stunde im Four Continents nach Perlen der aktuellen Schachliteratur gefahndet hatte, überquerte Bobby die Straße und betrat das Reich des phlegmatischen Dr. Albrecht Buschke. Dieser Laden wie aus einem Dickens-Roman lag tief in den Innereien eines alten, höchst geschichtsträchtigen Gebäudes, das ein Jahrhundert zuvor das Hotel St. Denis gewesen war. Hier hatte Amerikas inoffizieller Weltmeister Paul Morphy geschlafen, während er auf dem ersten amerikanischen Schachkongress spielte. Für Bobby war das Gebäude aber noch aus einem zweiten Grund eine Pilgerstätte: In der ehemaligen Hochzeitssuite des St. Denis residierte nun der amerikanische Schachbund.

Buschkes Höhle bestand aus einem einzigen kleinen Raum und roch nach Schimmel, uraltem Papier, antiken Einbänden und den grauen Schwaden aus Buschkes Zigarre. Überall waren gebrauchte Schachbücher: Sie stapelten sich bis an die Decke, versteckten sich in Nischen und reihten sich auf bedenklich durchgebogenen Regalbrettern. Manche lagen auch wild über den Boden verteilt; nichts schien einer Ordnung zu gehorchen. Wenn ein Kunde sich über den Preis eines Buches beschwerte, entschuldigte sich der Inhaber, radierte den alten Preis aus dem Buch – und schrieb einen höheren hinein!

Stundenlang stöberte Bobby durch Buschkes Besitztümer, immer auf der Suche nach dem einen Buch, der einen Zeitschrift oder Seite, die ihm Erleuchtung bringen würde. Er kaufte einige Bücher, die schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel hatten, etwa Rudolf von Bilguers Handbuch des Schachspiels oder Wilhelm Steinitz’ Modern Chess Instructor. Bobby genoss die Glücksfälle, wenn er Bücher fand, von denen er überhaupt nicht gewusst hatte, oder welche, die er schon lange suchte, weil er sie sich nur antiquarisch leisten konnte.

Bobbys Mittel waren begrenzt, aber der brave Doktor gab ihm oft Rabatt, ein Privileg, das sonst absolut niemandem zuteil wurde. Als Bobby die amerikanische Meisterschaft gewann, schenkte Buschke ihm einen 100-Dollar-Büchergutschein. Bobby brauchte Monate, bis er ihn aufgebraucht hatte, weil nur das Allerbeste gut genug war.

Wenn er dort genug hatte, zog Bobby ums Eck in den nur einen Rösselsprung entfernten Buchladen an der University Place. Der Laden verfügte über eine Schachecke (mit niedrigeren Preisen als Buschke) und spezialisierte sich außerdem auf karibische und radikale Literatur. In dieser Buchhandlung traf Bobby einen kleinen Mann namens Archie Waters, der nicht nur Schachspieler war, sondern auch Weltmeister in einer Variante des Damespiels. Waters spielte in Harlem und anderen Stadtvierteln um Geld, war von Beruf aber Journalist. Er hatte zwei Bücher über seine Variante des Damespiels geschrieben. Er brachte Bobby die Feinheiten des Spiels bei, schenkte ihm die beiden von ihm verfassten Bücher und wurde zu einem lebenslangen Freund. Pflichtbewusst las Bobby Waters’ Geschenke und ein paar weitere Damebücher, nahm aber nie an einem Turnier teil. Ihm gefiel das Spiel, aber es war ihm nicht anspruchsvoll genug. Das Einzige, was Schach und Dame gemein hätten, sagte er, sei das Brett mit seinen schwarzen und weißen Quadraten.

illustration_neu.eps

In der Schachwelt genoss Bobby mit 14 schon eine gewisse Berühmtheit, und die Massenmedien fanden in seinen ungewöhnlichen Lebensumständen gefundenes Fressen für spannende Berichte: ein armes Kind aus Brooklyn, das sich nur für Schach zu interessieren schien, sich nachlässig oder zumindest lässig kleidete, einsilbig antwortete, aber die renommiertesten Meister des Fachs besiegte. Mit jeder Geschichte wuchs sein Bekanntheitsgrad, und Regina, die sich über die Zukunft ihres Sohnes Sorgen machte, versuchte, ihm nach Kräften dabei zu helfen, die öffentliche Aufmerksamkeit in Geld umzumünzen. Ihr oft zitierter Satz, sie hätte alles versucht, ihren Sohn vom Schach abzubringen, »aber es war hoffnungslos«, rutschte ihr einmal heraus, als man ihr vorwarf, sie hätte Bobby zu einseitig erzogen. Die Wahrheit lautete: Sie kannte Bobbys Lebenstraum, der beste Schachspieler der Welt zu werden. Wie jede Mutter hoffte sie, dass ihr Kind sich seinen Traum erfüllte, und unterstützte ihn nach Kräften. Sie wurde zu seiner unbezahlten Presseagentin, Fürsprecherin und Managerin.

Von diesem Zeitpunkt an nahm Bobby an keinem Turnier oder Schaukampf mehr teil, ohne dass Regina das Ganze mit einer Presseerklärung groß ankündigte. Sie sammelte die Adressen und Telefonnummern aller größeren Radio- und Fernsehsender, Zeitungen und Zeitschriften in New York, und wenn ihre Presseerklärung nicht genug Echo erzeugte, rief sie Redakteure an, schrieb persönliche Briefe oder – typisch für Mütter prominenter Kinder – ging sogar direkt in Redaktionen, um ihren Sohn zu promoten. I. A. Horowitz, der Herausgeber der Chess Review, bezeichnete sie als »Landplage«, weil sie ihn ständig löcherte, mehr für Bobby zu trommeln. (Regina versuchte auch, in verschiedene Radio- und Fernsehquizshows zu kommen, um ein bisschen Extra-Geld zu verdienen. Bei einigen Fernsehquizshows wie Top Dollar und Lucky Partners schaffte sie es in eine Vorauswahl, doch trotz ihrer Intelligenz und Bildung wurde sie nie genommen.)

Regina war bereit, aus Liebe ihre eigenen Interessen hintanzustellen und ihr Möglichstes zu tun, um Bobbys Traum wahr werden zu lassen. Während Bobby noch schwankte, ob er beim Weihnachtsturnier in Hastings oder zur amerikanischen Meisterschaft antreten solle, schrieb Regina an Maurice Kasper, den Vorsitzenden der amerikanischen Schachstiftung: »Ich hoffe, Bobby wird eines Tages ein großer Schach-Champion. Denn er liebt Schach mehr als alles andere.«

Während Bobby auf Turnieren im In- oder Ausland spielte, schickte sie ihm oft Briefe und Telegramme, in denen sie ihn anfeuerte und bemutterte. Zum Beispiel: »Ich höre, du hast nach zwei Runden 1½ Punkte. Toll! Mach so weiter, aber verausgabe dich nicht. Schwimme und vergiss dein Mittagsschläfchen nicht.«

Schließlich wurde Bobby dank Reginas Hartnäckigkeit zu einer Vorauswahl für den Quotenschlager The 64 000 Dollar Question eingeladen (dem Urahnen von Wer wird Millionär?). In dem Fernsehquiz würde es um Schachfragen gehen, um die Geschichte des Spiels und die Mythen drumherum. Einige weitere Kandidaten wurden ebenfalls zum Casting eingeladen. Der 14-jährige Bobby kam in seiner unvermeidlichen Cordhose und in einem Flanellhemd mit Button-down-Kragen zum Studio 52 der CBS. Er gab sich selbstbewusst und distanziert.

Das Prinzip der Sendung bestand darin, dass jeder Kandidat ein Wissensgebiet wählte, etwa Film, Oper, Baseball usw., und dann Fragen beantwortete, die exponentiell schwieriger wurden. Die erste richtige Antwort brachte zwei Dollar, die zweite vier, die dritte acht. Der Betrag verdoppelte sich jede Woche, bis zu einem Maximum von 64 000 Dollar. Wenn ein Teilnehmer an der 8000-Dollar-Frage scheiterte, bekam er einen neuen Cadillac im Wert von damals 5000 Dollar als Trostpreis.

The 64 000 Dollar Question war äußerst beliebt; sogar Präsident Eisenhower sah jede Woche zu. Sein Stab hatte strenge Anweisung, ihn zur Sendezeit nicht zu stören. Zum Sendetermin am Dienstagabend ging die Zahl der Verbrechen zurück, aber auch die der Kino- und Restaurantbesuche. Halb Amerika saß gebannt vor dem Schirm, und erfolgreiche Kandidaten wurden zu Berühmtheiten. Würde Schach als Wissensgebiet für die Sendung ausgewählt, bekäme der Sport einen gewaltigen Schub. Die Schachgemeinde, zumindest diejenige New Yorks, fieberte der Entscheidung des Senders entgegen.

Selbst Regina schätzte – ungewohnt optimistisch – Bobbys Chancen hervorragend ein. Bobby selbst freute sich auf eine Gelegenheit, sein immenses Schachwissen zu zeigen und vielleicht sogar 64 000 Dollar abzuräumen. Der Höchstgewinn (in heutiger Kaufkraft über 300 000 Euro) hätte alle Geldsorgen der Familie schlagartig beendet.

Beim Casting lief zunächst alles gut, Bobby beantwortete seine Fragen mühelos. Bis gefragt war, bei welchem Turnier Yates Aljechin besiegt habe. Bobby dachte lange nach und antwortete dann, es müsse sich um eine Fangfrage handeln, denn Yates habe Aljechin niemals besiegt.

Etwas verdutzt, weil Bobby bis dahin so traumhaft sicher geantwortet hatte, entgegnete der Redaktionsassistent, dass Yates Aljechin in zwei Turnieren geschlagen habe: 1922 in Hastings und im Folgejahr in Karlsbad. Bobby war stinksauer und wollte nicht einsehen, dass er falschlag. (Yates hat Aljechin in diesen Turnieren tatsächlich besiegt.)

Letztlich spielte Bobbys Auftreten beim Casting aber keine Rolle: Die Produzenten der Show entschieden sich gegen Schach als Wissenskategorie. Ihrer Ansicht nach interessierten sich einfach zu wenige Zuschauer dafür.

Dennoch gab Bobby sich eine Mitschuld. Sein Traum vom Reichtum hatte sich in Luft aufgelöst. Bescheiden resümierte er: »Ich schätze, keiner von uns war klug genug, um die Musterung zu bestehen. Solange wir hoffen durften, war [die Quizshow] aber ein spannendes Gesprächsthema.«

illustration_neu.eps

Eines Nachmittags, Regina kam gerade von ihrer Schicht im Krankenhaus, sprachen sie vor ihrem Haus zwei konservativ gekleidete Männer mit Sonnenbrillen an. »Mrs. Fischer? Mrs. Regina Fischer?«

»Ja?«, antwortete sie.

Die Männer zogen ihre FBI-Dienstmarken.

»Worum geht’s?«

»Dürfen wir reinkommen? Wir würden uns gerne privat mit Ihnen unterhalten.«

»Sagen Sie zuerst, worum es geht«, beharrte Regina.

»Wir wollen nur ein paar Fragen stellen.«

»Nicht ohne meinen Anwalt.«

»Wovor fürchten Sie sich? Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Ich fürchte nichts, und ich habe nichts zu verbergen«, antwortete Regina. »Ich will nur nicht mit Ihnen reden, ohne dass mein Anwalt dabei ist.«

Mit diesen Worten ließ sie die Ermittler stehen, betrat ihr Haus und stieg mit zittrigen Knien nach oben. Schließlich hatten die zwei Agenten sie ziemlich aggressiv angegangen.

Reginas politische Umtriebe mussten dem FBI subversiv vorkommen, vor allem im fast schon hysterisch antikommunistischen Klima jener Zeit: ihre sechs Jahre in Moskau, ihr ungreifbarer Mann in Chile, ihre Arbeit in Rüstungsbetrieben, ihr Umgang mit Unruhestiftern, ihre Nähe zu linken Organisationen und ihre rege Beteiligung an Protesten. So hatte Regina am Abend vor der Hinrichtung der verurteilten Spione Ethel und Julius Rosenberg an einer Mahnwache teilgenommen. Hatte sie etwas Illegales getan? Gab es unter ihren Freunden Spione? Sie erforschte ihr Gewissen und rief dann ihren Anwalt an. Danach erzählte sie Joanie und Bobby, was passiert war.

Zu ihrer Erleichterung hörte sie nie wieder etwas vom FBI. Regina wusste, dass das Justizministerium sie seit 1942 verdächtigte, Sowjetspionin zu sein. Das FBI unter seinem Direktor J. Edgar Hoover durchleuchtete ihr Leben gründlichst. Die vertrauliche FBI-Akte über Regina Fischer veranschaulicht deutlich, wie sehr der von McCarthy befeuerte Verfolgungswahn Amerika damals im Griff hatte:

GEHEIM

Es sei vermerkt, dass die betreffende Person eine gut ausgebildete, weit gereiste, intelligente Frau ist, die seit Jahren mit Kommunisten und Personen mit kommunistischen Neigungen in Verbindung gebracht wird. Vom Charakter scheint sie bereit, den Russen aus ideologischen Motiven zu helfen. Angesichts obiger Umstände und ihrer kürzlich erfolgten Kontaktaufnahme mit einem Offiziellen der Sowjetbotschaft wird angeregt, weitere Ermittlungen durchzuführen. Es muss festgestellt werden, ob die betreffende Person in Handlungen verstrickt war oder ist, die den Inte­ressen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen. Die Ermittlung gegen Fischer darf sich nicht auf das Sammeln weiterer Informationen bezüglich ihres kürzlich erfolgten Kontakts zu XXXXXXX beschränken. Angeregt wird eine gründliche Untersuchung, welcher Art ihre aktuellen Umtriebe sind und mit wem sie sich umgibt.

Das Telefon der Familie Fischer wurde angezapft. Undercover-Agenten gingen durch Joan Fischers Schülerakte am Brooklyn College. Regina wurde überwacht. Ihre Schwesternkolleginnen und Nachbarn wurden befragt. Ihre Akten an Highschool und Uni wurden durchgesehen, ihre ehemaligen Lehrer und Direktoren befragt. Selbst Reginas Stiefmutter, die zweite Frau Jacob Wenders, geriet ins Fadenkreuz. Insgesamt dauerten die Ermittlungen gegen sie fast ein halbes Jahrhundert an und kosteten den amerikanischen Steuerzahler Hunderttausende, wenn nicht Millionen Dollar. Heraus kam außer einer 750 Seiten starken Akte gar nichts. Von Spionagetätigkeit keine Spur. »Meine Mutter«, sagte Joan Fischer einmal, »ist eine professionelle Protestiererin.« Schließlich kam auch das FBI zu dem Schluss, dass Regina Fischer keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellte.

Eine ironische Wendung bekam die Kommunistenhatz, als ein Informant dem FBI steckte, dass Regina aus der Kommunistischen Partei »rausgeworfen« worden sei – wobei unklar ist, ob sie denn je Mitglied war. Der Informant jedenfalls behauptete, sie sei von 1949 bis 1951 aktiv gewesen, dann aber wegen »mangelnder Parteitreue« ausgeschlossen worden. Wer weiß, sinnierte ein Ermittler, vielleicht wäre sie ja bereit, aus Rache mit dem FBI zu »kooperieren und Informationen zu Parteiaktivisten oder aktuellen Vorgängen in der Partei beizubringen«. Hätte das FBI diese Idee weiter verfolgt, wäre Regina vielleicht wirklich zur Doppelagentin geworden, zur Spionin für die amerikanische Regierung. Regina liebte nämlich Intrigen, Politik und Reisen, wäre also die ideale Spionin gewesen. Doch niemand versuchte, sie anzuwerben.

Bobby löcherte seine Mutter, er wolle unbedingt nach Russland reisen, um sich mit den besten Spielern der Welt zu messen. Von seinen kurzen Ausflügen nach Kanada und Kuba einmal abgesehen, war er noch nie im Ausland gewesen. Regina, eine begeisterte, fast schon zwanghafte Reisende, hätte ihrem Sohn den Wunsch gern erfüllt. Doch woher sollte das nötige Geld kommen?

Dreist wandte Regina sich direkt an Nikita Chruschtschow und bat ihn brieflich, Bobby zum Welt-Jugend-Festival einzuladen. Während er noch auf Antwort wartete, beantragte Bobby bereits einen Pass und ein Visum für die UdSSR. Ein Jahr später bekam er es. Jetzt brauchte er nur noch das nötige Geld für die Reise. Idealerweise hätte Bobby den Sommer gern ganz oder teilweise in Russland verbracht und sich dort auf das Interzonenturnier in Jugoslawien vorbereitet. Agenten und Informanten bespitzelten die Fischers weiterhin, und Regina wurde von der Vorstellung geplagt, Big Brother sehe ihr immer über die Schulter. Ihr ständiges – völlig berechtigtes – Misstrauen färbte stark auf ihre Kinder ab.

Sie fürchtete, das FBI könnte in ihrer Abwesenheit wiederkommen und Bobby aushorchen. Wenn die Behörden versuchten, ihr etwas anzuhängen, könnte jedes Fitzelchen Information, das er ihnen verriet, gegen Regina verwendet werden. Deshalb drillte sie ihn im Abwimmeln von FBI-Leuten: »Bobby, wenn sie kommen und irgendwas fragen, und sei es nur, wie alt du bist oder wo du in die Schule gehst, antwortest du, ›ich habe nichts zu sagen‹. Verwende genau diese Worte, verstanden? ›Ich habe nichts zu sagen.‹«

Sie bläute ihm den Satz so lange ein, bis er ihn im Schlaf beherrschte. Rückblickend meinte Bobby, vermutlich habe Regina von anderen Bespitzelungsopfern erfahren, wie man mit dem FBI am besten umging. »Ich finde den Gedanken schrecklich, dass man damals tatsächlich kleine Jungen ausgehorcht hat. Ich war doch nur zehn oder zwölf«, meinte Bobby. Letztlich wurde er nie befragt, aber die Angst davor war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme kaufte Regina ziemlich teure Lederumschläge für Bobbys russische Schachbücher, damit niemand sah, was er zum Beispiel in der U-Bahn las.

Eines Morgens, eine Woche nach seinem 15. Geburtstag, saß Bobby im Matheunterricht, als eine Nachricht vom Direktor kam. Bobby habe noch am gleichen Tag um 16.30 Uhr einen Auftritt in der Fernsehsendung I’ve Got a Secret. In der Sendung ging es darum, das »Geheimnis« eines Gastes zu erraten. Das Geheimnis bestand allerdings nicht darin, dass Bobby oder seine Mutter mit Kommunisten sympathisierten, sondern dass er Schachmeister der Vereinigten Staaten war. In der Sendung wirkte Bobby verängstigt. Er hielt eine nachgemachte Zeitung hoch, deren Schlagzeile schrie: STRATEGIE EINES TEENAGERS BESIEGT ALLE GEGNER. Als der Moderator verriet, dass »Mister X« aus Brooklyn komme, jubelte jemand im Publikum. Bobby strahlte. Ein Mitglied des Rateteams fragte, ob das, was er da Geheimes tat, Leute glücklich machte. Bobby antwortete scherzend: »Es machte mich glücklich.« Das Publikum – das in das Geheimnis eingeweiht war – lachte anerkennend. Das Rateteam biss sich an ihm die Zähne aus.

Entschlossen, Bobby nach Moskau zu bringen, hatte Regina die Produzenten der Sendung bedrängt, Bobby und seiner Schwester Joan ein Ticket nach Russland zu spendieren. Das FBI wusste von der geplanten Reise, vielleicht durch ein abgehörtes Telefonat. Es schickte daraufhin einen jugendlich wirkenden Undercover-Agenten zur Produktionsfirma von I’ve Got a Secret, der sich als Reporter einer Unizeitung ausgab. Der Beamte blieb während der gesamten Sendung, enthüllte seine wahre Identität aber nicht.

Einer der Sponsoren der Sendung war die belgische Fluglinie Sabena, die sich breitschlagen ließ, Bobby zwei Gratistickets zu spendieren. Bobby, der nichts von dem Coup ahnte, war begeistert, als er am Ende der Sendung zwei Rückflugscheine nach Russland überreicht bekam. So überwältigt war er von der bevorstehenden Reise in das Land seiner Träume, dass er auf dem Weg von der Bühne in jugendlicher Ungeschicklichkeit über ein Mikrofonkabel strauchelte, sich aber gerade noch fing. Nach Ende der Sendung rief das FBI sofort seinen Kontakt in Moskau an, um sicherzustellen, dass Bobbys Umtriebe auch jenseits des Eisernen Vorhangs beobachtet würden.

Im Schachclub Manhattan fragte jemand Bobby, was er denn mache, wenn man ihn in Moskau zu einem Staatsbankett einladen sollte. Ob er zu dem Anlass eine Krawatte anziehen würde? »Wenn ich Krawatte tragen muss, gehe ich nicht hin«, antwortete er ehrlich.

Bobbys erster Flug. In Belgien, der Heimat von Sabena, machten Bobby und Joan drei Tage Zwischenstopp und sahen sich in Brüssel die Expo 58 an, eine der größten Weltausstellungen aller Zeiten. In einem Brief an Jack Collins pries Bobby das 102 Meter hohe Atomium als »achtes Weltwunder«. Während die Belgier im Rahmen der Weltausstellung erstmals mit Coca-Cola Bekanntschaft machten, übertrieb Bobby es (von Joan unbemerkt) mit dem belgischen Bier und hatte am nächsten Morgen den ersten Kater seines Lebens. Trotzdem spielte er ein paar Sieben-Minuten-Partien gegen den hochgewachsenen und soignierten Grafen Albéric O’Kelly de Galway, einen Internationalen Großmeister. Bobby aß außerdem so viel Softeis – eine weitere Neuerung auf der Weltausstellung –, wie nur reinpasste. Nachdem sie sich ein paar Tage in Brüssel amüsiert hatten, waren die Geschwister Fischer bereit, weiterzuziehen. Vorher kam es aber noch zu einer peinlichen Szene: Bei der Ankunft hatte Bobby sich ziemlich rüde beim Hotelpersonal beschwert, weil er mit seiner Schwester das Zimmer teilen musste. Deshalb nahm der Hotelmanager ihn kurz vor der Abreise ins Gebet und tadelte ihn streng. Das Hotel habe das Zimmer freundlicherweise gratis zur Verfügung gestellt, obwohl es während der Weltausstellung bis unters Dach voll war. Doch Bobby ließ den Manager einfach stehen, ohne sich die Rüge fertig anzuhören.

Vor dem Start der Maschine nach Russland stopfte Bobby sich Watte in die Ohren, um den Druck im Innenohr (der ihn auf dem Flug von New York nach Brüssel gestört hatte) zu verringern und den Lärm der Triebwerke zu dämpfen, sodass er in Ruhe Varianten auf seiner Taschengarnitur spielen konnte.

Am Flughafen Moskau warteten Lew Abramow, der Leiter der sowjetischen Schachabteilung, und ein Führer von Intourist auf Joan und Bobby. Man brachte sie ins National, das beste Hotel der Stadt. Eine sehr passende Wahl: Nach der Revolution von 1917 hatte Lenin, der Anführer der Bolschewiken, in diesem Hotel residiert. Lenin war aktiver Schachspieler gewesen, was die Popularität des Spiels im Land noch weiter gefördert hatte.

Die Geschwister Fischer genossen den Luxus einer prächtigen Suite mit zwei Schlafzimmern und freiem Blick auf Kreml, Roten Platz und die prächtigen Türme der Basilius-Kathedrale. Bobby wurde wie ein Star empfangen und bekam eine Dolmetscherin sowie ein Auto mit Chauffeur zur Verfügung gestellt. Drei Monate zuvor hatte Moskau einen weiteren jungen Amerikaner gefeiert: den 23-jährigen Van Cliburn, der hier den ersten Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb im Klavierspiel gewonnen hatte und so den Kalten Krieg zwischen Amerika und der UdSSR für einen Moment vergessen ließ. Bobby erwartete nicht, ebenso bejubelt zu werden oder gar zur diplomatischen Entspannung beitragen zu können. Trotzdem, fand Regina, verdiene er den gleichen Respekt, die gleiche Aufmerksamkeit. Sie forderte das nicht ohne Hintergedanken: Sie hatte gelesen, dass Van Cliburn von Moskau aus jeden Tag seine Mutter in Texas angerufen habe – und ihm die Kosten dafür erlassen worden seien. »Ruf mich an«, schrieb sie Bobby. »Es geht aufs Haus.« Er tat es nicht.

Bobbys Respekt vor den russischen Topspielern, die er nur von ihren Partien her kannte, war immens. Deshalb glaubte Bobby sich anfangs im Schachhimmel. Er wollte sehen, wie das Spiel in den staatlich geförderten Pionierpalästen gelehrt und geübt wurde. Er wollte russische Schachliteratur kaufen und lesen sowie Clubs und Parks besuchen, in denen Schach gespielt wurde. Vor allem aber freute er sich darauf, gegen die besten Spieler der Welt anzutreten. Er hoffte, gegen möglichst viele Meister zu spielen und von den Sowjets zu lernen, wie man sich auf ein Interzonenturnier vorbereitete.

Doch er hatte sich verkalkuliert: Die Russen hatten nicht die geringste Absicht, einen Amerikaner in ihre Trainingsmethoden oder Schachgeheimnisse einzuweihen – erst recht nicht, weil Bobby ja in wenigen Wochen gegen eben jene Leute antreten würde, mit denen er jetzt zu trainieren hoffte. Die Leiter des Sowjetschachs hielten Bobby durchaus für eine Bedrohung. Ganz bestimmt würde man ihm nicht dabei helfen, die Sowjets in ihrem Nationalsport zu besiegen.

Man erstellte ein dichtes Besichtigungsprogramm für die Geschwister Fischer: Stadtrundfahrt, Führung durch den Kreml, Besuch des Bolschoi-Theaters (mit Ballettaufführung), des Moskauer Zirkus’ und verschiedener Museen. Was für eine Gelegenheit, russische Geschichte und Kultur zu erfahren! Doch Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin, Leo Tolstoi oder Alexander Puschkin ließen Bobby völlig kalt. Er war nach Moskau gekommen, um ernsthaftes Schach zu betreiben und sich mit russischen Turnierspielern zu messen. Jede freie Minute wollte er Schach spielen, idealerweise gegen die stärksten Meister des Landes. Moskau war der Austragungsort des großartigen Turniers von 1925 gewesen, bei dem Aljechin zum Großmeister aufstieg. Hier spielten, trainierten und lebten die meisten Topspieler der Welt, hier war nur wenige Monate zuvor die Weltmeisterschaft ausgetragen worden. Für Bobby war Moskau ein Schachparadies, und die Möglichkeiten in dieser Stadt machten ihn ganz schwindelig.

Lew Abramow bot Bobby an, ihm die Stadt zu zeigen, doch Bobby schlug das Angebot aus und bat, direkt zum Zentralnij Schachmatnij Club gebracht zu werden. Der Zentrale Schachclub Moskaus gilt als einer der besten der Welt. Fast die gesamte Elite der Moskauer Schachspieler gehörte dem 1956 gegründeten Club an. Seine Bibliothek umfasste angeblich 10 000 Schachbücher und 100 000 Karteikarten mit Eröffnungsvarianten. Bobby konnte kaum erwarten, all das zu sehen.

Als Bobby im Hauptquartier des Clubs am Gogolewskij Boulevard ankam, wurde er gleich zwei jungen Meisterspielern vorgestellt, Ewgenij Wasukow und Alexander Nikitin. Sofort begann er, gegen beide abwechselnd Schnellschach zu spielen. Er gewann jede Partie. Der spätere Meister Lew Khariton, damals noch Teenager, erinnerte sich, wie sich allmählich eine Traube um das Brett bildete. Alle wollten das amerikanische Wunderkind sehen. »So über das Brett gebeugt, wirkte er irgendwie einsam«, sagte Khariton.

»Und wann spiele ich gegen [den Weltmeister] Botwinnik?«, fragte Bobby fordernd. »Und gegen Smyslow [den letzten Herausforderer Botwinniks]?« Man beschied ihm, beide Männer verbrächten den Sommer in ihren Datschen, fern von Moskau, und ständen nicht zur Verfügung. Vielleicht entsprach das sogar der Wahrheit.

»Na gut, wie steht’s mit Keres?«

»Keres ist nicht im Land.«

Abramow behauptete später, er habe mehrere Großmeister angesprochen, aber keinen Gegner des von Bobby gewünschten Kalibers gefunden. Bobby wurde immer fordernder und übellauniger, was Abramow gewaltig auf die Nerven ging. Missmutig begrüßte Bobby die Gewichtheber und Olympioniken, denen er vorgestellt wurde, doch das gesamte Besuchsprogramm schien ihn zu langweilen. Die Russen begannen, ihn maltschik zu nennen, »kleiner Junge«. Bobby fühlte sich durch den Kosenamen beleidigt; schließlich war er bereits ein Teenager.

Schließlich zitierte man den Internationalen Großmeister Tigran Petrosjan in den Club. Sein Spiel galt als farblos, aber fast schon wissenschaftlich präzise. Petrosjan war einer der größten Defensivspieler aller Zeiten, außerdem grandios im Blitzschach. Bobby wusste natürlich von ihm; er hatte Petrosjans Partien des Amsterdamer Turniers 1956 studiert und ihn bei der Begegnung USA–UdSSR vier Jahre zuvor in New York aus der Ferne gesehen. Bevor der Großmeister eintraf, wollte Bobby wissen, wie viel man ihm, Bobby, für eine Partie gegen Petrosjan bezahlen würde. »Nichts«, kam die frostige Antwort Abramows. »Du bist unser Gast, und Gästen bezahlen wir keine Prämien.«

Die Partien wurden in einem kleinen, hohen Raum am Ende des Flurs gespielt, vielleicht, um die Zahl der Zuschauer klein zu halten. (Während der Partien gegen die zwei jüngeren Männer war die Zahl auf ein paar Dutzend angewachsen.) Petrosjan und Bobby spielten Schnellschach gegenei­nander; die meisten Partien gewann Petrosjan. Viele Jahre später ließ Bobby durchblicken, dass Petrosjans Stil ihn damals »zu Tode gelangweilt« habe, weshalb er durch Flüchtigkeitsfehler unnötig viele Partien verloren habe.

Nach 20 Tagen lief Bobbys Visum aus. Und obwohl Bobby an allem herummäkelte, wäre er doch gerne – gratis versorgt vom Sowjetstaat – noch bis zum Beginn des Interzonenturniers in Moskau geblieben. Regina bemühte sich, Bobbys Visum verlängern zu lassen. Sie wünschte sich, dass er Europa kennenlernte und Fremdsprachen übte, deren Bedeutung für die Bildung sie immer wieder betonte. Außerdem wusste sie, dass er zur Vorbereitung auf das Interzonenturnier noch gegen die stärkeren Sowjetspieler antreten wollte. Doch dazu kam es nicht.

Als Bobby merkte, dass er keine Gegner für ernsthafte Wettkämpfe oder Trainingsspiele fand, bekam er einen Wutanfall. Er fühlte sich nicht angemessen respektiert. War er nicht der aktuelle amerikanische Schach-Champion? Hatte er nicht die »Partie des Jahrhunderts« gespielt, eine der brillantesten Schachpartien aller Zeiten? War er nicht ein Jahr zuvor schon gegen Max Euwe, einen ehemaligen Weltmeister, angetreten? Hatte man nicht vorausgesagt, dass er in zwei Jahren Weltmeister würde?

Er schmollte wie ein beleidigter König. Wie konnten sie ihm, dem Prinzen des Schach, nur etwas ausschlagen? In Bobbys Augen war die Weigerung der großen Meister, gegen ihn zu spielen, viel mehr als nur ein ärgerlicher Rückschlag oder eine Brüskierung, es war ein unerträglicher Affront. Auf den er, seiner Meinung nach, nur angemessen reagierte. Ihm schien es offensichtlich, dass die Spitzenspieler ihm auswichen, weil sie sich vor ihm fürchteten. Bobby sah sich in derselben Lage wie sein Held Paul Morphy genau 100 Jahre zuvor: Während dessen erster Reise nach Europa 1858 weigerte sich der Engländer Paul Staunton, der damals als weltbester Spieler galt, Morphy zu empfangen. Schachhistoriker und -kommentatoren stimmen darin überein, dass der 21-jährige Morphy Staunton locker geschlagen hätte. Und der 15-jährige Fischer glaubte fest, dass er Michail Botwinnik, den Weltmeister, besiegen würde, wenn er nur die Chance dazu bekäme.

Als Bobby dämmerte, dass er die Giganten des russischen Schachs nicht sofort – zumindest nicht innerhalb der nächsten Tage – treffen würde und außerdem keine Prämien zu erwarten hatte, schlug seine Liebe in Hass um: Die Sowjetunion war ihm kein Schachparadies mehr, sondern ein Nest von Verrätern. Er grantelte auf Englisch, etwas in der Art, nun reiche es ihm aber mit den »russischen Schweinen«. Dass die anwesende Dolmetscherin ihn hörte und verstand, kümmerte ihn nicht. Sie meldete die Beleidigung. Jahre später meinte Abramow, die Dolmetscherin habe »pig«, Schwein, mit »pork«, Schweinefleisch, verwechselt, und Bobby habe sich nur über die einseitige Karte eines Restaurants beschwert.

In einer Postkarte an Collins schrieb Bobby: »Ich halte nichts von der russischen Gastfreundschaft, und ich mag die Leute nicht. Sie scheinen mich auch nicht zu mögen.« Unterwegs wurde die Karte von russischen Zensoren gelesen, und Bobbys Grantelei fand ihren Weg in die russische Presse. Bobbys Antrag auf Verlängerung des Visums wurde – verständlicherweise – abgelehnt. Damit begann sein lebenslanger, öffentlich ausgetragener Krieg gegen die Sowjetunion.

Doch ganz unabhängig von Bobbys spezieller Situation wurde die Sowjetunion für alle amerikanischen Staatsbürger ein heißes Pflaster. Mitte Juli belagerte ein Mob von 100 000 durch die staatlich kontrollierte Presse aufgehetzten Sowjets die US-Botschaft in der Tschaikowski-Straße und verlangte den Abzug aller amerikanischen Truppen aus dem Libanon. Fensterscheiben gingen zu Bruch, vor dem Gebäude wurde eine Präsident-Eisenhower-Puppe in Brand gesteckt.

So ernst war die Lage, dass Hans Gerhardt Fischer, Bobbys offizieller Vater, um Joans und Bobbys Leben fürchtete. Unter seinem südamerikanischen Namen Gerardo Fischer schrieb er Regina aus Chile einen besorgten Brief. Er jammerte, vielleicht seien die Kinder ja entführt worden, weil man nichts mehr von ihnen hörte. Er fragte Regina, was sie unternehmen wolle, um Joan und Bobby aus dem Land zu holen. Er fuhr fort, wenn er nicht bald etwas von ihr höre, würde er die Sache in die eigenen Hände nehmen. Allerdings, fügte er etwas mysteriös hinzu, wolle er sich nicht selbst in Schwierigkeiten bringen.

Als Regina nicht mehr ein noch aus wusste, erhielt sie ein rettendes Telegramm vom jugoslawischen Schachbund. Darin hieß es, man werde Bobby und Joan nicht nur gerne empfangen, wenn sie frühzeitig zum Interzonenturnier anreisten, sondern auch Trainingspartien mit Topspielern arrangieren. Joan, die sich mit Bobby wegen seines Verhaltens in Moskau mehrmals gestritten hatte, begleitete ihn noch nach Belgrad, fuhr aber nach zwei Tagen weiter zu Freunden nach England. Der 15-jährige Bobby war ganz auf sich allein gestellt – aber nicht lange. Schachoffizielle, Spieler, Journalisten und Neugierige drängten sich um ihn, und nur wenige Stunden nach der Landung in Jugoslawien saß er an einem Brett und spielte Schach.

In seinem ersten offiziellen Trainingsmatch auf europäischem Boden traf Bobby auf Milan Matulović, einen 23-jährigen Meister. Matulović wurde später in der Schachwelt berüchtigt dafür, gelegentlich eine Figur zu berühren, zu ziehen und dann – wenn er merkte, dass der Zug nichts taugte – wieder an ihren ursprünglichen Platz zu stellen, mit den Worten »j’adoube«, »ich rücke zurecht«. Nach den Regeln muss man diese Worte aber sagen, bevor man eine Figur berührt, die man nicht führen, sondern nur zurechtrücken will. Sagt man es nicht vorher, riskiert man die Disqualifikation. Außer im Fall des Zurechtrückens gilt immer die Regel »berührt-geführt«: Wenn man eine eigene Figur anfasst, muss man auch mit dieser ziehen. Matulović sagte so oft hinterher »j’adoube«, dass man ihm den Spitznamen »J’adoubović« gab. Bobby hingegen hielt sich strikt an die Regel und kündigte immer an, »j’adoube«, bevor er eine Figur berührte, um sie zurechtzurücken. Einmal soll er es sogar im Scherz gesagt haben, als er bei einem Turnier einen Zuschauer sanft zur Seite schieben musste.

Bei seiner ersten Partie gegen Matulović ließ Bobby ihm seine Tricksereien durchgehen – und verlor. Daraufhin erklärte Bobby dem Jugoslawen, bei den restlichen drei Partien würde er keine Schwindel-j’adoubes mehr akzeptieren. Bobby gewann die zweite und die vierte Partie, die dritte endete remis. Das Match ging also mit 2½ zu 1½ an ihn. Beide Siege Bobbys waren hart erkämpft, er brauchte 50 Züge, bis der Gegner aufgab. Auch wenn Matulović es mit den Regeln nicht so genau nahm, war er doch einer der besten Spieler seines Landes. Bobby fand den Sieg sogar so wichtig, dass er Collins davon unterrichtete.

Danach trat Bobby gegen einen der schillerndsten jugoslawischen Meister an, Dragoljub Janošević, einen Trinker, Frauenhelden und Zocker; einen Typen, der eher in die Halbwelt Brooklyns passte als in einen Schachclub. Janošević war ein starker und aggressiver Spieler, doch Bobby konnte in beiden Partien dagegenhalten und jeweils ein Remis erzielen.

Bobby öffnete seinen Koffer mit etwa 25 Kilo Schachbüchern und -magazinen und begann, sich auf das kommende Turnier vorzubereiten. Er studierte Eröffnungen und Varianten und analysierte die Taktik seiner künftigen Gegner. Von den 20 Spielern, gegen die er antrat, hatte er erst gegen drei schon einmal gespielt: Benko, Sherwin und Petrosjan. Dennoch waren ihm die anderen 17 keine Unbekannten. Seit Jahren hatte er die Nuancen ihres Spiels studiert: ihren Stil, ihre bevorzugten Eröffnungen, ihre Stärken und Schwächen. Beispielsweise wusste er, dass Fridrik Olafsson meist in Zeitnot geriet und deswegen im Endspiel möglicherweise nicht so präzise agieren würde. Oder dass Bent Larsen regelmäßig obskure, längst vergessene Eröffnungen spielte, um den Gegner zu überraschen. Dagegen half keine Turniervorbereitung der Welt, doch Bobby war in Schachtheorie derart bewandert, dass er sich zumindest gut gerüstet fühlte. Am Ende hatte Bobby sich auf jeden seiner Gegner im Interzonenturnier auf die eine oder andere Weise vorbereitet.

In der Trainingsphase ackerte er sich durch seinen glückbringenden Lipnitzky und die aktuellste Ausgabe von Modern Chess Openings, die Tausende Partien und Varianten enthielt. Nach dem Abendessen setzte er sich ans Brett und arbeitete mit Radiomusik im Hintergrund bis zur Morgendämmerung. Bei Tagesanbruch ging er gewöhnlich ins Bett und schlief dann meistens bis zum Nachmittag. Das Hotel verließ er nur für die zwei oben erwähnten Begegnungen und für einen langen Spaziergang: Sein Freund Edmar Mednis, eine amerikanische Nachwuchshoffnung, kam auf dem Weg zu einem anderen Turnier durch Belgrad, besuchte Bobby und überredete ihn, einen ausgedehnten Spaziergang durch mehrere Stadtparks zu unternehmen.

Scheinbar völlig unbeteiligt zog Bobby aus dem geschichtsträchtigen und ein wenig düsteren Belgrad an die Küste nach Portorož um, wo das Interzonenturnier ausgetragen wurde. Am Strand direkt vor dem Hotel zeigte er kein Interesse, ebensowenig an den Strandcafés mit ihrem tollen Blick auf den Golf von Triest. Einheimische wie Touristen trafen sich hier, um im Freien zu essen und die grandiosen Sonnenuntergänge zu genießen. Im ganzen Monat des Turniers sah man Bobby kaum je außerhalb des Hotels, die meiste Zeit vergrub er sich im Zimmer und tüftelte an Strategien und Taktiken.

21 Spieler aus einem Dutzend Nationen hatten sich zur Teilnahme an diesem Turnier qualifiziert. Doch nur die sechs Bestplatzierten würden weiterkommen: ins Kandidatenturnier, wo sie zusammen mit zwei gesetzten Topspielern ausfechten mussten, wer gegen Michail Botwinnik antreten durfte, den amtierenden Schachweltmeister. Für Bobby war das Interzonenturnier das erste Turnier fern der Heimat. Dem 22-jährigen Michail Tal aus Riga ging es genauso: Der zweimalige Meister der UdSSR spielte zum ersten Mal im Ausland. Einige Experten, nicht nur sowjetische, sahen Tal schon als Sieger. Amerikanische Topspieler prognostizierten, dass Bobby es diesmal noch nicht ins Kandidatenturnier schaffen würde. Gegen diese ausgebufften Veteranen fehle ihm schlicht noch die Erfahrung in internationalen Turnieren.

Bei der offiziellen Eröffnungszeremonie hieß der Präsident des Weltschachbunds, der Schwede Folke Rogard, die Spieler, Helfer und Trainer willkommen. Er sagte: »Dieses Turnier in Portorož kann von der Stärke des Teilnehmerfelds mit vielen großen Turnieren der Vergangenheit mithalten. Das ist der wachsenden Popularität dieses Sports zu verdanken; in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Schach aufgrund der höheren Anzahl an Spielern gewaltig weiterentwickelt.«

Bobby schien anderer Ansicht. Er plante offenbar, mit seinen Kontrahenten kurzen Prozess zu machen. Er verkündete, er würde einer der Kandidaten werden. Seine Strategie sah vor, alle »Luschen« zu schlagen und gegen die Spitzenspieler remis zu spielen. Der Plan hatte allerdings einen Haken: An dem Turnier nahmen keine schwachen Spieler teil; alle gehörten in ihrer Heimat zu den allerbesten, viele waren international gefürchtete Kontrahenten, und einige standen sogar an der Weltspitze.

Bobbys Helfer oder »Sekundant« während des Turniers war sein enger Freund William Lombardy, der ebenfalls bei Jack Collins gelernt hatte. Der 20-jährige Lombardy, ein angehender Priester, hatte die Juniorenweltmeisterschaft gewonnen, ohne auch nur einmal remis gespielt zu haben. Er war ein grandioser Spieler, so solide in seinen Fähigkeiten, so selbstgewiss am Brett, dass Fischer ihn einmal als »Felsen« bezeichnete. Zum Zeitpunkt des Turniers reichte Lombardys Spielstärke fast an die Bobbys heran.

Ein Sekundant beim Schach ist gleichzeitig Diener, Berater, Anwalt und Haushofmeister. Viele Sekundanten konzentrieren sich vor allem auf die Eröffnungen der nächsten Gegner und suchen nach Schwächen. Dann erstatten sie vor jeder Runde Bericht. Die vielleicht wichtigste Aufgabe des Sekundanten besteht darin, abgebrochene Partien (»Hängepartien« genannt) gemeinsam mit dem Spieler zu analysieren. Diese Sitzungen dauern gelegentlich die ganze Nacht, sodass der Spieler eine ganze Palette von Möglichkeiten durchdacht hat, wenn die Partie am nächsten Tag weitergeht. Sowjetspieler kamen traditionell mit einer ganzen Mannschaft von Sekundanten mit genau umrissenen Aufgabengebieten. So gab es Spezialisten für Endspiele und für Eröffnungen, Fitness- und Motivationstrainer sowie Psychologen.

Der ältere und reifere Lombardy kümmerte sich wie ein Vater um Bobby. An Regina schrieb er aus Portorož: »Bobby putzt sich täglich die Zähne, zum Baden muss man ihn aber nötigen.« Lombardy schilderte auch seine ersten Eindrücke aus Portorož:

Bei einem großen internationalen Turnier wie dem in Portorož passieren auch am Rande außergewöhnliche Dinge. Viele hatten sich spannende Spiele erhofft, schließlich können sich nur sechs Teilnehmer für das Kandidatenturnier qualifizieren. Doch ganz im Gegenteil schienen alle vor Anspannung wie gelähmt. Die Spieler waren nervös, und viele gerieten in extreme Zeitnot. Folglich verliefen die Partien für ein derart hochkarätig besetztes Turnier auf eher niedrigem Niveau.

Regina fürchtete, Lombardy spare vielleicht zu sehr mit Lob. »Bobby braucht Ermunterung«, schrieb sie in einem Brief an Joan. Doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass der für seine spitze Zunge bekannte Lombardy Bobby entmutigt hätte. Ganz im Gegenteil erwies er ihm Zuneigung und Respekt; oft schickte er ihm nette kleine Botschaften und Kommentare. Die jungen Männer verbrachten fast alle längeren Ferien miteinander, normalerweise im Haus von Collins. James T. Sherwin, der zweite Amerikaner bei dem Interzonenturnier, erinnerte sich, dass Lombardy eigentlich auch sein Sekundant sein sollte. »Bobby brauchte Lombardy eigentlich nicht, weil die zwei vom Stil her so verschieden waren. Lombardy war ein enorm begabter, intuitiver Positionsspieler, aber in der Vorbereitung kein Arbeitstier wie Bobby. Bobbys Stärke war sein unerschöpfliches Repertoire an Varianten.«

Einmal fehlte Lombardy für einige Tage, weil er als Vertreter des US-Schachbunds am jährlichen Treffen des Weltschachbunds teilnehmen musste. In diese Zeit fielen zwei Hängepartien, die Bobby nun allein analysieren musste. Er verlor gegen Olafsson und spielte remis gegen Tal.

Lombardy erinnerte sich später an eine Unterhaltung zwischen dem Dänen Bent Larsen und dem Isländer Fridrik Olafsson vor dem Turnier.

Larsen: »Fischer ist ein Baby. Ich werde ihm den Hintern versohlen.«

Olafsson: »Sei dir nicht zu sicher. Pass auf!«

Larsen: »Keine Sorge, ich kann auf mich aufpassen.«

Am ersten Spieltag erschien Bobby dank Lombardy gewaschen, in dunklem Hemd und gebügelter khakifarbener Hose. Sein Gegner an jenem Abend war der massige Bulgare Oleg Neikirch, mit 44 Jahren einer der ältesten Teilnehmer und, in Bobbys Augen, ein »kleiner Fisch«. Lag’s am Lampenfieber oder daran, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte? Auf jeden Fall rettete er aus einer unterlegenen Stellung heraus gerade noch ein Remis. Scherzend meinte Neikirch hinterher, er habe Bobby das Remis angeboten, weil »es irgendwie peinlich ist, einen Buben zu besiegen. Das würde man mir daheim übel nehmen.« Noch peinlicher wäre es aber, gegen einen Buben zu verlieren, antworteten die Spötter. Das New York World-Telegram fand schon, es markiere »eine bemerkenswerte Wende in der Schachgeschichte«, dass Bobby bei seiner ersten Turnierbegegnung in Europa eine Niederlage vermieden habe.

Für Bobby ging es durchwachsen weiter, er suchte noch nach seiner Form. Nach der Neikirch-Partie gewann Bobby eine, verlor eine und spielte einmal remis. FISCHER BEI AUSLANDSDEBÜT AUSSER FORM befand die New York Times. In der sechsten Runde – Bobby hatte zu dem Zeitpunkt gerade einmal ein ausgeglichenes Ergebnis – traf er erstmals auf einen der ganz Großen des Sportes: David Bronstein aus der Sowjetunion.

Bronstein sah aus, wie man sich einen Schachspieler vorstellte: Er hatte eine Glatze und trug Hornbrille, meist schwarze Anzüge und weiße Hemden. Er diente als Vorbild für den Großmeister Kronsteen im James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau (nur dass Kronsteen Haare hatte), und die im Film gezeigte Partie beruhte auf einer realen, die Bronstein gegen Spasski gespielt hatte. Bronstein wirkte zwar ernst und unnahbar, war aber ein freundlicher, fröhlicher, herzlicher Mensch, der von praktisch allen Kollegen gemocht wurde. Er verfügte über ein immenses Schachwissen und eine gewisse intellektuelle Exzentrik. Sein Spiel war von bedingungslosem Angriff geprägt, er selbst wirkte am Brett oft wie in Trance. Einmal starrte er bei einer Partie volle 50 Minuten das Brett an, bis er seinen nächsten Zug machte. Von der Papierform galten Bronstein und Smyslow, die beide schon gegen Botwinnik um den Weltmeistertitel gekämpft hatten, als die Turnierfavoriten. (Manche rechneten auch Tal noch dazu.) Der Weltmeisterschaftskampf Bronstein–Botwinnik 1951 war unentschieden ausgegangen. Dennoch hatte Botwinnik seinen Titel behalten, denn die Regeln des Weltschachbunds verlangten, dass ein Herausforderer den Titelverteidiger besiegen musste, um selbst Weltmeister zu werden.

Da es im Turniersaal keine Klimaanlage gab, erschienen Fischer und Bronstein in kurzärmligen Hemden. Vor dem Turnier hatte Fischer erklärt, nur ein Spieler hier könnte ihn schlagen: Bronstein. Entsprechend gründlich hatte Bobby sich auf dessen Attacken vorbereitet.

Die Plätze der Spieler am Tisch waren mit kleinen Flaggen markiert. Die amerikanische auf Bobbys Seite, die sowjetische gegenüber. Fischer begann die Partie mit seiner bewährten und gründlich analysierten Spanischen Eröffnung, mit der er sofort die Initiative ergriff und in der Brettmitte Druck machte.

Die Partie war hart umkämpft, und während des langen, vertrackten Endspiels geriet Bobby in Zeitnot. Aus verschiedenen Gründen wollte er unbedingt gegen Bronstein gewinnen: um sich selbst zu beweisen, dass er es konnte; um es anderen zu beweisen, insbesondere den anderen Turnierteilnehmern; um der Welt zu zeigen, dass er zu den ganz Großen gehörte. Doch die Zeit, die Zeit, sie verrann.

Um beim Schach die Spieldauer zu begrenzen, verwendet man bei Turnieren Schachuhren. Die Spieler dürfen ihre vorgegebene Bedenkzeit einteilen, wie sie wollen, und für den einen Zug fünf Sekunden brauchen und für den nächsten eine halbe Stunde. Beim Interzonenturnier lag die Bedenkzeit bei zweieinhalb Stunden für die ersten 40 Züge, danach mussten jeweils innerhalb einer weiteren Stunde 16 Züge erfolgen. Sobald ein Spieler gezogen hatte, drückte er den Knopf auf seiner Seite der Schachuhr, womit er seine Uhr anhielt und die seines Gegners startete. Beide Spieler mussten ihre Züge mitschreiben, um gegebenenfalls beweisen zu können, dass sie im Zeitlimit geblieben waren.

Als Bobby seinen 40. Zug machte, waren nur noch Sekunden auf seiner Uhr übrig geblieben. Hätte er nur ein wenig länger gebraucht, wäre die Uhr abgelaufen, sein Fallblättchen wäre gefallen, und er hätte die Partie verloren gehabt. Nach dem 41. Zug wurde die Partie abgebrochen. An jenem Abend grübelten Bobby und Lombardy ewig über der Endspiel-Stellung. Bobby und Bronstein hatten jeweils noch einen Turm, einen Läufer und die gleiche Anzahl Bauern. In solchen Fällen einigt man sich in den meisten Fällen auf ein Remis, aber die beiden jungen Amerikaner suchten stundenlang nach einer Möglichkeit, doch noch einen Sieg herauszuholen.

Am nächsten Tag fochten Fischer und Bronstein noch 20 Züge lang miteinander. Bronstein verlor einen Bauern, setzte dafür aber Fischers König unter Druck. Es ging nichts mehr voran, und schließlich wurde das Spiel nach der Zugwiederholungsregel für beendet erklärt und als Remis gewertet, nachdem dieselbe Stellung zum dritten Mal erreicht wurde.

Ein Zyniker sagte einmal, das Schwierigste am Erfolg sei, jemanden zu finden, der sich für einen freue. Bei Bobbys Remis gegen Bronstein stimmte der Spruch jedenfalls nicht. Im Marshall, wo man das Interzonenturnier per Liveticker verfolgte, flippten die Mitglieder schier aus, als sie von dem Remis erfuhren. »Bronstein?«, fragten sie ungläubig, fast schon jauchzend. Als wäre der Sowjet ein Goliath und Bobby der David, der ihm getrotzt hat, Figur um Figur. »Bronstein? Das Genie des modernen Schachs!« Das schier Unmögliche war eingetreten: Ein 15-Jähriger hatte es geschafft, gegen den vielleicht zweit- oder drittbesten Spieler der Welt remis zu spielen. In ihrer Begeisterung fingen die Mitglieder des Marshall schon an, eine Willkommensfeier für ihren Helden zu planen. Dabei hatte er sich doch noch gar nicht als Kandidat qualifiziert! Im Geiste übten sie schon Trinksprüche. An diesem Tag begann jedenfalls die Legendenbildung um Bobby ernsthaft. Man tauschte Geschichten darüber aus, wie man gegen Bobby gespielt hatte, als der noch ein Kind war. Andere erzählten, wie sie die »Partie des Jahrhunderts« live erlebt hatten. Und wieder andere schwelgten in Erinnerungen, wie sie mit Bobby am Herald Square einen Hotdog gegessen hatten.

Urplötzlich waren die Erwartungen umgeschlagen. Jetzt erträumte man rosige Zeiten, nicht nur für Bobby, sondern auch für das ganze amerikanische Schach. Könnte dieser frühreife Junge aus Brooklyn am Ende das Kandidatenturnier sogar gewinnen? Würde das amerikanische Schach auf den Schwingen von Bobbys Ruhm zu neuen Höhen getragen? »Bronstein!«

Obwohl erst sechs von 22 Partien gespielt waren, hatte das Turnier in Bobbys Augen seinen Höhepunkt bereits überschritten. Er versuchte sich zwar, weiter zu konzentrieren, fand es aber schwierig. Wenn Bobby sich an den wenigen spielfreien Tagen in der Öffentlichkeit zeigte, wurde er von Fans belagert. Anfangs gefiel ihm diese Aufmerksamkeit, doch bald nervte ihn, dass sie gar nicht mehr aufhörte. Schließlich lernte er, sie zu hassen. Mindestens zweimal verschluckte ihn eine Fantraube, und in beiden Fällen wurde er beim Versuch, sich freizukämpfen, fast hysterisch. Er setzte sich übrigens strenge Regeln: Autogramme gab er nur nach Partien (sofern er nicht verloren oder enttäuschend gespielt hatte), nur etwa fünf Minuten lang und nur anwesenden Schachspielern. Manchmal setzte er sich nach einer Partie ins Auditorium, dann reichten ihm buchstäblich Hunderte Menschen ihre Programmhefte. Missmutig kritzelte er Unterschriften.

Weil die Menge sich während der Partien um seinen Tisch drängte und oft stundenlang gaffte, bat Bobby die Turnierleitung schließlich, das Gebiet um sein Brett abzuriegeln. Er klagte, er könne sich nicht konzentrieren. Wurde er auf der Straße um ein Autogramm gebeten, fragte er, ob der Betreffende Schach spielte. Tat er das nicht, verweigerte Bobby seine Unterschrift und ging davon. Ständig wurde er von Reportern, Fotografen und Autogrammjägern bestürmt, bis es ihm schließlich reichte: Ab Mitte des Turniers weigerte er sich rundweg, für Fotos zu posieren, Autogramme zu geben oder Fragen zu beantworten.

Von der Großtat gegen Bronstein einmal abgesehen, lief das Turnier nicht ganz nach Bobbys Plan. Gegen »kleine Fische« aus Argentinien, Ungarn, der Tschechoslowakei und anderen Ländern verlor er, gegen andere spielte er remis. Doch er zeigte auch große Leistungen: beim Remis gegen den Superstar Tal, gegen Tigran Petrosjan (seinen Spielpartner im Moskauer Schachclub) und gegen Svetozar Gligorić aus Jugoslawien. Brillant war auch sein Sieg gegen den Dänen Larsen. Jahre später bezeichnete Bobby diese Partie als eine seiner besten überhaupt. »Fischer gewann mit erstaunlicher Leichtigkeit«, vermerkte die Chess Review.

Gegen Olafsson erging es Bobby indes schlechter. Er versuchte gar nicht, sich diese Niederlage schönzureden (auch wenn er überzeugt war, dass er hätte gewinnen können). In einem Brief an Collins erklärte er: »Ich hätte nie verlieren dürfen … Ich spielte Schwarz in Lipnitzkys Ding [hier gab er die Züge an]. Wie auch immer, meine Eröffnung war gut, ich ging mit einem Bauern in Führung, doch dann patzte ich, und das Spiel war etwa ausgeglichen. Ich geriet in Zeitnot und machte ein paar schwache Züge hintereinander. Bei Abbruch der Partie hatte er zwei verbundene Freibauern, die nicht mehr zu stoppen waren.«

In seiner letzten Partie des Turniers trat Bobby gegen Gligorić an, einen der stärksten Nicht-Sowjets. Solange Bobby nur nicht verlor, war ihm ein Platz im Kandidatenturnier sicher. Gligorić hatte sich mit starken Leistungen bereits qualifiziert. Er hätte Bobby also ein frühes »Großmeister-Remis« anbieten und sich viel Mühe ersparen können. Stattdessen spielte er auf Sieg, opferte einen Springer, erbeutete dafür aber in den nächsten Zügen drei Bauern. Bobby wehrte sich tapfer gegen die unermüdlichen Attacken, bis Gligorić beim 32. Zug aufsah und fragte: »Remis?« Fischer nahm das Angebot sofort an. »Niemand opfert gegen Fischer eine Figur«, erklärte er nassforsch und grinste.

Mit diesem Remis sicherte sich Bobby den sechsten Platz und damit die Teilnahme am Kandidatenturnier. Nie hatte sich ein derart junger Spieler für ein solches Turnier qualifiziert! In Portorož wurde Bobby auch der jüngste Internationale Großmeister aller Zeiten. So mancher nannte ihn danach den Mozart des Schachs. Die New York Times, die sonst eher zurückhaltend über Schach berichtete, überschüttete Bobby auf ihrer Kommentarseite mit Lob:

EIN HURRA AUF BOBBY FISCHER!

Schachfreunde im ganzen Land stoßen auf Bobby Fischer an und jubeln freudig mit. Mit 15 ist dieser Knabe aus Brooklyn der jüngste Internationale Großmeister des Schachs und hat sich für ein Turnier im nächsten Jahr qualifiziert, auf dem der Herausforderer des amtierenden Schachweltmeisters Michail Botwinnik ermittelt wird. Wer die bewegenden Partien Bobbys bei dem soeben in Jugoslawien beendeten Turnier verfolgte, weiß, dass er eine Demonstration von Können, Mut und Entschlossenheit ablieferte, die einem doppelt so alten Meister zur Ehre gereicht hätte. Wir sind zu Recht stolz auf ihn.

Gerade einmal zwei Monate war Bobby im Ausland gewesen, doch er kam spürbar gereift zurück. Als ihn in Portorož ein Reporter fragte, ob er gern gegen den Weltmeister antreten würde, antwortete er: »Klar wäre es toll, gegen Botwinnik zu spielen. Aber noch sind wir nicht so weit. Vergessen Sie nicht, nächstes Jahr muss ich auf das Kandidatenturnier, bevor ich überhaupt daran denken kann, Botwinnik herauszufordern.« Nach einem Augenblick des Nachdenkens fügte er dann hinzu: »Eines jedenfalls steht fest. Ich werde Schach nicht zu meinem Beruf machen.«

Bobby hatte sich in Moskau und Portorož herumgeschubst gefühlt, und 400 Dollar Entlohnung für sechs Wochen Turnierkampf empfand er als läppisch. »Jede Schachpartie schlaucht wie ein fünfstündiges Examen«, befand er. Er freute sich zwar über die Anerkennung als Internationaler Großmeister und über seinen Platz im Kandidatenturnier, aber er fragte sich auch, wie er je vom Schach leben können sollte. Außerhalb der UdSSR, wo Spitzenspieler dank staatlicher Unterstützung komfortabel lebten, kam kein Schachspieler mit seinen Preisgeldern über die Runden. In Amerika gab es zwar einige Schachprofis, aber die gaben nebenher Schachunterricht, spielten Schauturniere, betrieben Schachsalons, verkauften Schachgarnituren und schrieben gegen geringes Honorar Bücher und Zeitschriftenartikel.

Es war ein prekäres Leben.

Am Flughafen Idlewild (dem späteren John F. Kennedy Airport) warteten Regina, Joan und der Lektor Norman Monath auf Bobby. Monath arbeitete für Simon & Schuster und legte gerade letzte Hand an das erste Buch mit kommentierten Partien Bobbys. Als Regina ihren berühmten Sohn sah, stöhnte sie, »er ist ja dürr wie ein Zaunpfahl!«, und brach fast in Tränen aus. Anschließend nahmen die vier eine Limousine nach Brooklyn. Unterwegs besprachen Bobby und Monath das Buchprojekt. Sollte man das Buch später bringen und die 20 Partien des Interzonenturniers mit aufnehmen? In seiner ursprünglichen Konzeption sollte das Buch nur Bobbys Partien bei der amerikanischen Meisterschaft 1957 beschreiben, kommentiert von ihm selbst. Später beschloss man, auch die »Partie des Jahrhunderts« von 1956 noch mit aufzunehmen. Ursprünglich hatte der Arbeitstitel schlicht Dreizehn Partien gelautet. Wenn man nun das Interzonenturnier noch mit dazunahm, würde das Buch dicker (was nicht schaden konnte) und – vermutlich – attraktiver werden. Selbst mit den Partien in Portorož würde der schmale Band auf nicht mehr als 96 Seiten kommen.

Daheim angekommen, sprang Bobby die drei Stockwerke hoch, packte schnell aus, gab seiner Mutter ein Halstuch, das er in Brüssel gekauft hatte (»Sieht kontinental aus«, schmeichelte er, als sie es anprobierte), und sauste wieder nach unten. Monath ließ ihn vor Collins’ Wohnung absetzen, und Sekunden später stürzten Bobby und Jack sich in die Analyse der Turnierpartien. Bobby blieb stundenlang. Stammgäste des Hauses schauten vorbei, um ihre Glückwünsche auszusprechen, etwas zu essen und die Niederlagen gegen Benko und Olafsson zu analysieren. Beschlossen wurde der Abend damit, dass Bobby gegen fast alle Anwesenden nacheinander Fünf-Minuten-Partien spielte, insgesamt Dutzende.

Die ersten Schultage nach den großen Ferien verpasste Bobby. Und da seine fünf Kurse sehr anspruchsvoll waren, fiel er bald zurück. Doch statt Tadel gab es von der Schulleitung Lob: Sie verlieh ihm eine Goldmedaille dafür, dass er der jüngste Internationale Großmeister aller Zeiten geworden war. Außerdem brachte die Schulzeitung, der Dutchman, einen Artikel über ihn, wodurch er in der Schule noch mehr zum Star wurde.

Sechs Tage nach Bobbys Rückkehr veranstaltete der Marshall wie geplant einen Empfang für ihn. Über hundert Mitglieder kamen. Der Clubpräsident, Dr. Edward Lasker, hieß alle Gäste willkommen und begann, Bobbys zahlreiche Erfolge aufzuzählen. Doch der hörte gar nicht zu: Er spielte an einem Seitentisch Blitzschach gegen einige junge Meister, die sich um ihn geschart hatten.

Bobby beim Blitzen zuzusehen, war an sich schon ein Spektakel, von der Tiefe seines Spiels mal ganz abgesehen. Für ihn war Blitzschach so etwas wie Straßenfußball, man durfte ruhig die Klappe aufreißen. Wenn Bobby beim Blitzen am Brett saß, war er ganz in seinem Element, wie Michael Jordan, wenn er Richtung Basketballkorb abhob. Normalerweise ließ er vor Beginn der Partie die Knöchel knacken und hänselte den Gegner scherzhaft.

»Was? Du willst gegen mich antreten?«

Knack! Knirsch!

»So wird es klingen, wenn ich dich zertrete. Zertrete

[Mit aufgesetztem russischem Akzent:] »Du bist Küchenschabe. Ich bin Elefant. Elefant tritt auf Küchenschabe.«

Beim Ziehen warf er seine Figuren fast wie Dartpfeile auf ihre Felder. Sie landeten immer in der Mitte des vorgesehenen Feldes. Wenn er seine schlanken, flinken Finger mit elegantem Schwung von einer Figur nahm, wirkte er wie ein Konzertpianist. Machte er einen schwachen Zug, was selten genug vorkam, setzte er sich kerzengerade auf und sog Luft ein, was wie das Zischen einer Schlange klang. Wenn er eine Blitzpartie verlor, was noch seltener geschah, schob er wie angeekelt die Figuren von sich, zur Mitte des Bretts. Seine Nasenflügel bebten dabei, als rieche er etwas Ekliges. Er behauptete, er könne die Stärke eines Spielers da­ran erkennen, wie dieser die Figuren berührte. Schwache Spieler zogen sie ungeschickt und unsicher, starke Spieler selbstbewusst und elegant. Manchmal stand Bobby mitten in einer Fünf-Minuten-Partie auf, während seine Uhr lief, ging zum Getränkeautomaten, kaufte eine Limo und schlenderte zum Brett zurück. Und gewann noch, obwohl er zwei, drei Minuten verschenkt hatte.

Eine Woche später kam Bobby wieder in den Marshall, um am wöchentlichen Blitzschachturnier teilzunehmen. Er gewann das »Tuesday Night Rapid Transit« (nach dem unterirdischen Schnellbahnsystem der Stadt New York benannt), gleichauf mit Edmar Mednis, der ebenfalls 13 zu 2 Punkte gesammelt hatte. Bobby hatte nur eine einzige Partie verloren: gegen seinen Mentor Jack Collins.

Die Beziehung zwischen Bobby und Collins war komplex. Bobby stellte für Collins eine Art Alter Ego dar, über das Collins in Regionen des Spitzenschachs vordringen konnte, die ihm selbst verwehrt geblieben waren. Collins brachte Bobby aber auch väterliche Liebe entgegen und war stolz auf all dessen Erfolge. Er behauptete, für ihn sei Bobby wie ein Sohn.

Bobby sah ihre Beziehung anders. Er betrachtete Collins nicht als Ersatzvater, sondern als Freund, trotz des Altersunterschieds von 30 Jahren. Er betrachtete auch Jacks Schwester Ethel als Freundin und behandelte sie oft herzlicher als ihn. Bobby fühlte sich jedenfalls bei beiden wohl, und einmal, als Regina wieder mal auf lange Reise gehen wollte, schlug sie vor, Bobby solle doch zu den Geschwistern Collins ziehen. Allerdings lebten die in einer Wohnung, die selbst für zwei Leute klein war. Ein Dritter hätte unmöglich noch dazugepasst, und so blieb Reginas Idee Wunschdenken.

Was Collins nicht wusste: Gelegentlich lästerte Bobby über Collins’ Qualitäten als Schachspieler. Dabei besiegte Collins Bobby gelegentlich im Blitzschach oder in Trainingspartien – in einem offiziellen Turnier trafen sie aber nie aufeinander. Vermutlich ließ Bobby sich in seiner Beurteilung von Collins’ Spielstärke zunehmend von dessen offizieller Wertungszahl beeinflussen. (Umgekehrt ging es vielen Spielern mit Bobby genauso.)

Damals wie heute fragen Schachspieler beim ersten Treffen bald: »Wie hoch ist deine Wertungszahl?« Auf den Spieler mit dem niedrigeren Wert wird dann gerne herabgesehen, manchmal wird er sogar geschnitten, als ob er zu einer niedrigeren Kaste gehörte. Fischers Wertungszahl pendelte lang um 2780, Collins kam nie über 2400 hinaus; zwischen den beiden Werten lagen also Welten. Wäre der nominelle Abstand deutlich kleiner gewesen, hätte Bobby vielleicht nicht so abschätzig von Collins gedacht. Raymond Weinstein, ein starker Internationaler Meister und Schüler Collins’, schrieb, er habe ehrfürchtig zu Collins aufgesehen, bis er Bobbys abschätzige Bemerkungen über ihn gehört habe.

Es fuchste Bobby, dass Collins als sein Lehrer Publicity bekam – und viele neue Schüler, die bei Collins die nächsten Fischers werden wollten. Vielleicht lag es ja an der Armut, die Bobby in seiner Kindheit erlebt hatte, auf jeden Fall hasste er die Vorstellung, dass jemand an ihm Geld verdiente. Der New Yorker Meister Asa Hoffmann drückte es einmal so aus: »Wenn jemand bereit war, für ein Bobby-Fischer-Autogramm 50 Dollar zu zahlen, und ein Vermittler sollte fünf Dollar bekommen, verlangte Fischer auch diese fünf Dollar. Bekam er sie nicht, war er bereit, die 50 Dollar zu opfern.«