6. Kapitel
Der neue Fischer

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Es war peinlich, das Betteln mitanhören zu müssen. Ein junger Schachmeister, ein paar Jahre älter als Bobby, rief vom Büro des Marshall an und versuchte, Bobby zu einem Treffen zu überreden: »Mach schon, Bobby. Ich hol dich ab, okay?« Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wir können einfach rumhängen.« Stille. »Wir spielen ein paar Fünf-Minuten-Partien oder gehen ins Kino.« Keine Antwort. »Nimm doch ein Taxi. Ich zahle.« Es war zwei Uhr nachmittags, und Bobby war gerade aufgewacht. Als er nach endlosem Klingeln endlich antwortete, klang seine Stimme rau und schleppend; er zog die Worte dermaßen in die Länge, dass aus jeder Silbe zwei wurden. Doch er redete laut – laut genug, dass alle im Büro es mithören konnten. »Ich weiß nicht. Nein. Wann? Ich muss was essen.« Der Anrufer schöpfte Hoffnung: »Wir können in der Oyster Bar essen. Komm schon, du magst das.« Geschafft! Eineinhalb Stunden später, um halb vier Uhr nachmittags, nahm der 16-jährige Bobby die erste Mahlzeit des Tages ein: Seezungenfilet und ein großes Glas Orangensaft.

Wahrscheinlich hatte ihn kaum ein Passant erkannt, als er durch das Grand Central Terminal zum Restaurant ging, doch für seinen Gastgeber – wie für fast alle Schachspieler – bedeutete ein Essen mit Fischer so viel wie anderen ein Dinner mit Cary Grant oder Gina Lollobrigida. In der Schachwelt entwickelte sich Bobby zum Superstar, doch je berühmter er wurde, desto ekliger benahm er sich. Durch seine Erfolge am Brett war sein Ego so groß geworden, dass er niemanden mehr als gleichwertig behandelte. Der charmante Bobby mit seinem ansteckenden Lächeln existierte nicht mehr. An seine Stelle war ein schwieriger, herablassender, oft übellauniger Bobby getreten. Außerdem betrachtete er es zunehmend als Gefallen, sich mit jemandem sehen zu lassen.

Und es machte ja nichts aus, wenn er jemanden verprellte, weil dann halt jemand anderes anrief und ihn zu einer Partie Schach, ins Kino oder zum Abendessen einlud. Alle suchten sie seine Nähe, alle wollten Teil der Bobby Fischer Show sein, und das wusste er. Ein Lapsus, ein Streit, eine schlecht getimte Verabredung, und Bobby brach den Kontakt gnadenlos ab. Und zwar endgültig; der nächste Fan stand schließlich schon bereit.

Bobby pflegte bald mit niemandem mehr Umgang, der nicht Schach spielte. Nur eines verachtete er noch mehr als Nicht-Spieler: schwache Spieler. Ersteren konnte man ihre Ignoranz vergeben, aber für schwache Spieler – zu denen per Definition fast jeder gehörte, den Bobby schlagen konnte – galt keine Ausrede. »Also bis zum Meister sollte es wirklich jeder bringen«, sagte er überzeugt. Bobby führte sich auf wie ein König, dabei lief es im Herbst 1959 für ihn gar nicht gut. Vor einem knappen Monat war er vom Kandidatenturnier in Jugoslawien zurückgekehrt, und er war noch immer erschöpft. Vom Schach selbst bekam er nie genug, doch das überaus anstrengende zweimonatige Turnier hatte ihn enorm Kraft gekostet. Er litt darunter, das Turnier nicht gewonnen zu haben, und konnte die vier schmerzlichen Niederlagen gegen Tal (die »geraubten Siege«, wie er es nannte) nicht verwinden.

Dazu kamen, wie immer, Geldsorgen. In Bobbys Umfeld stellte man sich die offensichtliche Frage: Wie kam es, dass einer der besten Spieler der Welt oder zumindest der USA nicht von seinem Beruf leben konnte? Damals betrug das Jahreseinkommen des Durchschnittsamerikaners 5500 Dollar. Warum hatte Bobby, der sich gewiss nicht als durchschnittlich betrachtete, dann in einem Jahr harter Arbeit kaum 1000 Dollar verdient? Für die Teilnahme am Kandidatenturnier hatte er gerade einmal 200 Dollar bekommen. Und wenn sich mit Turnieren kein Geld verdienen ließ, warum half ihm die Amerikanische Schachstiftung nicht? Sie unterstützte doch auch Reshevsky, zahlte ihm sogar ein Studium. Lag es daran, dass Bobby kein strenggläubiger Jude war und Reshevsky orthodox? Fast alle Direktoriumsmitglieder der Stiftung waren Juden. Übten sie sanften Druck auf Bobby aus, sich anzupassen? Wieder zur Schule zu gehen? Sahen sie auf ihn herab, weil er »nur ein Kind« war? Oder lag es an seiner Art, sich zu kleiden?

Noch den ganzen November und die ersten zwei Dezemberwochen wurde Bobby mit Telegrammen und Telefonanrufen bestürmt. Viele erkundigten sich, ob er beim Rosenwald-Turnier antreten und seinen Titel als amerikanischer Schachmeister zu verteidigen versuchen würde? Bobby wusste es selbst noch nicht. Schließlich kam Anfang Dezember ein Brief mit den Turnierdetails. Er listete die zwölf eingeladenen Spieler auf, alle Paarungen, alle Termine und sogar, welche Farbe welcher Spieler in welcher Runde hatte. Bobby schäumte. Normalerweise würden die Paarungen bei allen europäischen und den meisten internationalen Turnieren öffentlich ausgelost, schimpfte er laut.

Die Veranstalter des Rosenwald empfanden Bobbys Protest als Unterstellung, sie hätten bei der Auslosung gemauschelt und bestimmten Spielern einfache Gegner zugeschanzt. Sie reagierten empört. Bobby forderte: »Lost die Paarungen neu aus, aber diesmal öffentlich.« Die Veranstalter weigerten sich jedoch, worauf der 16-jährige Bobby mit einer Klage drohte. Der Streit eskalierte, und man teilte Bobby mit, wenn er sich zu spielen weigere, werde ein Ersatzspieler an seiner Stelle nominiert. Schließlich fand sich doch noch eine Lösung: Wenn Bobby diesmal antrat, würde die Auslosung im folgenden Jahr öffentlich erfolgen. Dieses Entgegenkommen reichte Bobby, er sagte zu. Er hatte die Schlacht gewonnen.

In der Vergangenheit hatte sich Bobby über die anhaltende Kritik an seinem Kleidungsstil geärgert. Ein Artikel in der Sonntagsbeilage Parade, die von Zigmillionen gelesen wurde, hatte ein Foto von ihm auf einem Simultanschaukampf gebracht, mit der Bildunterschrift: »Trotz seines Aufstiegs zum Ruhm kleidet Bobby sich noch immer leger. Man beachte seine Latzhose und sein Karohemd im Kontrast zu den Anzügen und Krawatten seiner Kontrahenten.« Er fühlte sich durch Sticheleien – und seien sie noch so sanft – gekränkt. Er fand, sie lenkten doch nur davon ab, wer er unbestreitbar war – nämlich Großmeister und US-Champion. Kritik empfand er als Majestätsbeleidigung, als Herabwürdigung des weltbesten Schachspielers.

Pal Benko, gegen den Bobby im Kandidatenturnier angetreten war, behauptete später, ihm gebühre der Verdienst, Bobby zu einem gepflegteren Auftreten überredet zu haben. Er brachte Bobby zu seinem Schneider im Klein-Ungarn Manhattans, wo der Teenager sich ein paar Maßanzüge machen ließ. Wie er sich maßgeschneiderte Anzüge leisten konnte, bleibt allerdings ein Rätsel. Vielleicht stammte das Geld aus einem Vorschuss für sein Buch Bobby Fischer’s Games of Chess, das 1959 herauskam.

Als Bobby im Dezember 1959 zur ersten Runde der US-Meisterschaften im Hotel Empire erschien, trug er einen perfekt sitzenden Anzug, ein maßgeschneidertes weißes Hemd, eine weiße Sulka-Krawatte und italienische Schuhe. Außerdem waren seine Haare gekämmt. Sein Auftreten hatte sich derart radikal geändert, dass man ihn kaum wiedererkannte. Verschwunden die Turnschuhe und Skipullover, die ungebändigten Haare, die Karohemden und die angeschmutzten Cordhosen. Erwartungsgemäß schrieb die Presse von einem »neuen Fischer«; sie interpretierte Bobbys neues Auftreten als Zeichen dafür, dass der Junge allmählich erwachsen wurde.

Seine Kontrahenten ließen sich ihr Erstaunen über Bobbys Verwandlung nicht anmerken. Sehr wohl staunten sie aber bald über etwas anderes: Der elegant gekleidete Bobby verlor im gesamten Turnier keine einzige Partie. Damit gelang ihm etwas nie Dagewesenes: Drei Mal hintereinander hatte Bobby die US-Meisterschaft gewonnen, ohne ein einziges Mal geschlagen worden zu sein.

Für diesen beeindruckenden Sieg erhielt Bobby 1000 Dollar Siegprämie. Die Finanzen der Familie verbesserten sich weiter, als Jacob Wender starb und seiner Tochter Regina 14 000 Dollar hinterließ.

Regina plante sorgsam, wie sie mit dieser – für die sparsame Familie – gewaltigen Summe umgen würde. Joan hatte einen wohlhabenden Mann geheiratet und ihre Ausbildung zur Krankenschwester fast beendet, Regina musste sich also nur um ihre eigene und Bobbys Versorgung kümmern. Sie gründete einen Treuhandfonds und ließ ihn von Ivan Woolworth betreuen. Woolworth war ein Anwalt, der gratis für die Familie Fischer arbeitete. Der Plan sah vor, dass Regina im Monat 160 Dollar für ihren Bedarf ausbezahlt bekäme. Sie plante, in die Welt zu ziehen – vielleicht nach Mexiko oder Ostdeutschland – und wieder Medizin zu studieren. Bobby aber sollte in der Wohnung am Lincoln Place 560 bleiben. Er erhielt 175 Dollar im Monat, genug für Miete, Nebenkosten und ein kleines Taschengeld. Im Laufe der Zeit zahlten Regina und Bobby immer mal wieder in den Fonds ein, der es Bobby jahrelang erlaubte, sorgenfrei zu leben.

Um Geld zu sparen, aß Bobby fast jeden Abend bei den Geschwistern Collins; auch Essenseinladungen von Schachfans und Verehrern nahm er gerne an. Er wurde berüchtigt dafür, im Restaurant nie zu bezahlen (das änderte sich erst viele Jahre später). Ein Freund lästerte, Bobby leide unter »Lähmung des Handgelenks«.

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Im März 1960 flog der 17-jährige Bobby nach Buenos Aires und fuhr von dort weiter nach Mar del Plata. Dieser mondäne Badeort im Süden der Hauptstadt war berühmt für seine Art-déco-Architektur und seine breiten Flanierwege. Hier hatten schon mehrere internationale Schachturniere stattgefunden. Argentinier nahmen den Sport ebenso ernst wie Russen und Jugoslawen, und Bobby wurde überall mit großem Respekt empfangen. Der einzige Wermutstropfen war das Wetter: Es stürmte und regnete hartnäckig. Als Regina von dem Sauwetter erfuhr, schickte sie ihrem Sohn ein Paar Galoschen. Und sie warf sich vor, Bobby vor der Abreise nicht gezwungen zu haben, seinen Ledermantel einzupacken.

Bobby glaubte, das Turnier in Argentinien locker gewinnen zu können – bis er erfuhr, dass David Bronstein, Fridrik Olafsson und ein 23-jähriger Großmeister namens Boris Spasski sich ebenfalls gemeldet hatten. Zwar fürchtete Fischer Spasski und Olafsson nicht besonders, wohl aber Bronstein.

Eine Woche vor seiner Abreise aß ich mit Bobby in Greenwich Village zu Abend. Die Cedar Tavern, ein Treffpunkt von Avantgardekünstlern und abstrakten Expressionisten, gehörte zu Bobbys Lieblingslokalen. An jenem Abend plauderten Jackson Pollock und Franz Kline an der Bar miteinander, Andy Warhol und John Cage aßen fast am Nebentisch. Bobby bekam davon natürlich nichts mit. Im Cedar genoss er das schlichte, herzhafte Essen – Typ Shepherd’s Pie – und die Anonymität: Die Gäste des Lokals waren zu sehr damit beschäftigt, Kunstgrößen anzuglotzen, als dass sie auf ein Schachwunderkind geachtet hätten.

Wir setzten uns in eine Nische und bestellten Flaschenbier. Die Kellnerin fragte Bobby nicht nach seinem Alter, obwohl er mit gerade 17 Jahren im Staat New York keinen Alkohol trinken durfte. Bobby brauchte gar nicht erst in die Speisekarte zu sehen: Er bestellte die gebratene Hochrippe. Sobald das riesige Fleischstück kam, verschlang er es innerhalb von Minuten. Als wäre er ein Schwergewichtsboxer, der vor einem großen Kampf noch eine letzte Mahlzeit zu sich nimmt.

Er hatte gerade Post aus Mar del Plata bekommen: den Turnierplan mit den Paarungen. Bobby hatte bei der Auslosung ein wenig Pech gehabt: Er würde sowohl gegen Bronstein als auch gegen Spasski mit Schwarz spielen.

Die Unterhaltung an jenem Abend verlief stockend, was für Bobby typisch war. Er selbst redete nicht viel, und lange Pausen in der Konversation machten ihn nicht verlegen. Ich fragte ihn: »Bobby, wie bereitest du dich auf ein Turnier vor? Es hat mich schon immer interessiert, wie du das machst.« Bobby war bester Laune und freute sich über mein Interesse. »Schau, ich zeig’s dir«, sagte er lächelnd und kam von seiner Seite des Tisches auf meine herüber. Dann holte er seine abgenutzte Taschengarnitur aus der Jacke. Die winzigen Figuren steckten schon auf ihren Feldern, bereit, in den Krieg zu ziehen.

Während er redete, blickte er abwechselnd mich und das Brett an – zumindest anfangs – und sprudelte einen wissenschaftlichen Vortrag über seine Methode der Vorbereitung hervor. »Zuerst einmal schaue ich mir sämtliche Partien aller Gegner an, die ich auftreiben kann. Aber richtig vorbereiten tue ich mich nur auf Bronstein. Spasski und Olafsson machen mir kein Kopfzerbrechen.« Dann zeigte er mir den Verlauf seiner bisher einzigen Partie gegen Bronstein: das Remis beim Kandidatenturnier in Portorož zwei Jahre zuvor. Er erklärte mir jeden einzelnen Zug, wobei er die Züge Bronsteins mal lobte, mal kritisierte. Die Zahl der Varianten zum Spielverlauf, die Bobby durchspielte, war verblüffend und überwältigend. Im Zuge seiner Schnellanalyse besprach er Vor- und Nachteile bestimmter Varianten und Taktiken, warum sie ratsam waren oder warum nicht. Mir war, als betrachtete ich einen Film mit begleitendem Kommentar, allerdings im schnellen Vorlauf: Bobby zog und sprach derart schnell, dass ich Schwierigkeiten hatte, Züge und Kommentar in Einklang zu bringen. Ich schaffte es einfach nicht, dieser Flut von Ideen zu folgen: »Er konnte nicht hierher ziehen, weil er sonst seine schwarzen Felder geschwächt hätte« … »Den Zug hier habe ich nicht gesehen« … »Nein. Sollte das ein Witz sein?«

Die Löcher der Steckgarnitur waren von Tausenden Stunden Benutzung so ausgeleiert, dass die nur einen Zentimeter hohen Figuren von selbst an ihren Platz zu springen schienen, allein durch Bobbys Willenskraft. Der Großteil der Goldfarbe, die anzeigte, ob eine Figur nun ein Läufer, König oder Turm war, war in Jahren der Benutzung abgeblättert. Aber natürlich wusste Bobby ohne hinzusehen – allein durch Berührung –, welche Figur was darstellte. Die winzigen Plastikstifte waren ihm wie vertraute Haustiere.

»Das Problem mit Bronstein«, fuhr er fort, »liegt darin, dass man ihn fast nicht schlagen kann, wenn er auf Remis spielt. In Zürich spielte er in 28 Partien 20 Mal remis. Hast du sein Buch gelesen?« Die Frage holte mich wieder zurück in die Realität. »Nein. Ist es nicht auf Russisch?« Bobby wirkte irritiert und verblüfft, dass ich die Sprache nicht beherrschte. »Na, dann lern es! Ist ein fantastisches Buch. Er wird gegen mich auf Sieg spielen, und ich spiele nicht auf Remis.«

In Sekunden steckte er die Figuren in ihre Ausgangspositionen zurück, wieder fast ohne hinzusehen. Er sagte: »Auf ihn kann man sich nur schwer vorbereiten, weil er so variabel spielt. Mal defensiv, mal offensiv, mit den verschiedensten Eröffnungen.« Dann begann er, mir aus dem Gedächtnis eine Partie nach der nächsten vorzuspielen – es schienen mir Dutzende –, wobei er sich auf die Eröffnungen konzentrierte, die Bronstein gegen Bobbys bevorzugte Varianten spielte. Er durchdachte eine Unzahl von Alternativen. Doch er beschränkte sich nicht auf Bronsteins Repertoire. Er machte mit mir auch eine geführte Tour durch Partien, die Louis Paulsen im 19. Jahrhundert gespielt und Experimente, die Aaron Nimzowitsch in den 1920er-Jahren gemacht hatte. Außerdem besprach er noch ein paar aktuelle Partien, die er einer russischen Zeitung entnommen hatte.

Die ganze Zeit wägte Bobby Möglichkeiten ab, schlug Alternativen vor, wählte die besten Kombinationen, urteilte und entschied. Er bot gleichzeitig eine Geschichtsstunde und einen Schachlehrgang, vor allem aber eine beeindruckende Gedächtnisleistung. Seine inzwischen leicht glasigen Augen klebten nun an der Taschengarnitur, die er behutsam in der linken Hand hielt. Er führte Selbstgespräche; mich und das ganze Restaurant um ihn hatte er total vergessen. Er schien sogar noch tiefer versunken als während eines Turniers. Seine Finger flogen nur so herum, auf seinem Gesicht zeichnete sich ein ganz feines Lächeln ab, als hinge er Tagträumen nach. Er flüsterte, kaum hörbar: »Nun, wenn er das spielt, kann ich seinen Läufer blockieren.« Danach sagte er, so laut, dass einige Gäste zu uns herüberblickten: »Aber das wird er nicht spielen.«

Ich begann leise zu weinen. In jenem magischen Augenblick war ich mir bewusst, in Gegenwart eines Genies zu sein.

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In Mar del Plata passierte genau, was Bobby vorhergesagt hatte: Als die beiden in der zwölften Runde aufeinandertrafen, spielte Bronstein auf Sieg. Als die Partie sich ihrem Ende näherte, waren beide Seiten von den Figuren her genau gleich stark, ein Remis war unausweichlich. Am Ende des Turniers teilten Fischer und Spasski sich den ersten Platz, was für Bobby seinen bisher größten Triumph in einem internationalen Turnier bedeutete.

Doch zwei Monate später erlebte er, wieder in Argentinien, ein Desaster. Von allen Städten, die Bobby besucht hatte, war ihm Buenos Aires die liebste: Er mochte das Essen, die Schachbegeisterung der Leute, die großzügigen Boulevards. Doch diesmal hinderte ihn irgendetwas, seine volle Leistung zu bringen. Damals ging das Gerücht um (das sich noch Jahre hielt), Bobby habe sich bei mindestens einer Gelegenheit bis Sonnenaufgang mit einer argentinischen Schönheit vergnügt und sei müde und unvorbereitet zum nächsten Spieltag erschienen. Miguel Najdorf, ein argentinischer Großmeister und Lebemann, der am Turnier nicht teilnahm, führte Bobby in das Nachtleben der Stadt ein. Es scherte ihn offenbar nicht, dass die Leistung des Jungen darunter litt. Mit dem Übermut eines 17-Jährigen glaubte Bobby, genügend Energie und Konzentrationsfähigkeit zu haben, um selbst nach mehreren durchwachten Nächten noch gut spielen zu können. Leider fehlte ihm dann seine übliche Brillanz, als er später in höchster Bedrängnis am Brett saß.

Was auch immer der Grund für Bobbys Versagen war – auf hartnäckiges Nachfragen antwortete er, die Beleuchtung sei schrecklich gewesen –, er hatte sich vom brillanten Dr. Jekyll in einen erschöpften Mr. Hyde verwandelt, einen Schatten seiner selbst. Im ganzen Turnier gewann er nur drei Partien, spielte elfmal remis und verlor fünfmal. Schock! Jeder spielt mal ein schlechtes Turnier. Aber bis dahin hatte Bobby sich über Jahre kontinuierlich verbessert und nur Wochen zuvor in Mar del Plata mit 13½ zu 1½ triumphiert.

Die Schlappe traf Bobby hart. Dabei schmerzte es ihn besonders, dass ausgerechnet sein amerikanischer Erzrivale, Samuel Reshevsky, gemeinsam mit Viktor Kortschnoi den Sieg davongetragen hatte. Ein Gruppenfoto vom Ende des Turniers zeigt Bobby mit leerem Blick, abwesend. Er scheint weder seine Kollegen noch die Kamera wirklich wahrzunehmen. Wurmte ihn seine schwache Leistung? Oder ärgerte er sich eventuell über Exzesse, die ihn alle Siegchancen gekostet hatten?

Bobby hatte zugesagt, bei der Schacholympiade 1960 in Leipzig als Nummer eins für die Mannschaft der Vereinigten Staaten anzutreten. Weil der amerikanische Schachbund angeblich kein Geld hatte, musste die Reise über Spenden finanziert werden. Eine landesweit tätige Spendensammlergruppe bat Bobby deshalb, bei einem Simultanschach-Schaukampf aufzutreten und auf die Finanznöte der Mannschaft hinzuweisen. Die Veranstaltung fand im Gefängniskomplex auf Riker’s Island statt, einer 1,6 Quadratkilometer großen Insel im East River. Zu jener Zeit saßen dort 14 000 Verurteilte ein. Bobby trat gegen 20 von ihnen an. Natürlich gewann er alle Partien.

Zwar berichtete die Lokalpresse über die Veranstaltung, aber leider nicht über ihren Anlass: die Geldsorgen der amerikanischen Mannschaft. Weder Außenministerium noch amerikanische Schachorganisationen konnten helfen, doch Regina Fischer glaubte zu wissen, woher das Geld kommen könnte: von der amerikanischen Schachstiftung. Im Alleingang versuchte sie, die Medien auf die ihrer Ansicht nach skandalös einseitige Förderpolitik der Stiftung aufmerksam zu machen. Tatsächlich konnte sie auch belegen, dass manche Spieler (wie Reshevsky) tatkräftige Unterstützung bekamen, andere (wie Bobby) hingegen nicht. In Briefen an Regierungsstellen verlangte sie einen öffentlichen Rechenschaftsbericht der Stiftung. Vielleicht könnte sie die Stiftung ja so weit in die Defensive bringen, dass sie – quasi als Publicitymaßnahme – die Fahrt der Olympiamannschaft finanzierte?

Bobby sehnte sich zwar danach, an einer Olympiade teilzunehmen, doch die Einmischung seiner Mutter trieb ihn zur Weißglut. Bei mindestens einer Gelegenheit tadelte er sie vor Publikum, als sie bei einer Schachveranstaltung öffentlich sprach. Sie wollte nur ihrem Sohn helfen, doch er empfand sie als überehrgeizige Nervensäge.

Bei ihrer Kampagne gegen die Stiftung erregte Regina die Aufmerksamkeit von Ammon Hennacy, einem Pazifisten, Anarchisten und Gesellschaftsaktivisten. Hennacy, der stellvertretende Herausgeber der libertären Zeitung Catholic Worker, empfahl Regina, für ihre Sache in den Hungerstreik zu treten. Sechs Tage hielt sie durch – und bekam reichlich Publicity. Hennacy überredete sie auch dazu, sich dem längsten Friedensmarsch aller Zeiten anzuschließen, von San Francisco nach Moskau. Auf diesem Marsch traf Regina später Cyril Pustan, einen Highschool-Lehrer und reisenden Klempner. Sie hatten etliche Interessen und politische Ansichten gemein – und ihren jüdischen Glauben. Sie verstanden sich hervorragend, heirateten schließlich und zogen nach England.

Als Bobby endlich die Lobby des Hotel Astoria in Leipzig betrat, wurde er von einem Mann begrüßt, der ein wenig aussah wie Groucho Marx (allerdings jünger und hübscher war): Isaac Kashdan, dem Kapitän des US-Teams. Kashdan war eine Legende der Schachwelt; von Ende der 1920er bis weit in die 1930er-Jahre gehörte der Internationale Großmeister zu den stärksten Spielern Amerikas, nahm an fünf Schacholympiaden teil und gewann mehrere Medaillen. Kashdan hatte Bobby zwar noch nie getroffen, war aber schon gewarnt worden, dass er »schwer zu steuern« sei. Kashdan fürchtete, der junge Mann könnte sich nicht ins Team fügen.

Vielleicht spürte Bobby die Vorbehalte seines Kapitäns, weshalb er das Gespräch gleich auf Kashdans Karriere brachte. Der Teenager wusste natürlich vom hervorragenden Ruf des älteren Mannes und kannte auch viele seiner großen Partien. Kashdan ließ sich gern einwickeln und gab später zu Protokoll: »Ich hatte kein echtes Problem mit ihm. Er will nur eines: Schach spielen. Er ist ein grandioser Spieler.« Obwohl die beiden im Alter fast 40 Jahre auseinanderlagen, fanden sie einen guten Draht zueinander. Einige Jahre lang verstanden sie sich richtig gut.

Die Begegnung USA–UdSSR in der fünften Runde des olympischen Turniers stellte einen der Höhepunkte der Veranstaltung dar. Der auf Platz eins gesetzte Bobby traf auf Michail Tal, den amtierenden Weltmeister. Bevor Tal seinen ersten Zug machte, starrte er aufs Brett. Und starrte und starrte. Bobby fragte sich – zu Recht, wie sich herausstellen sollte –, ob das wieder so ein Trick Tals war. Nach langen zehn Minuten zog Tal endlich. Er hoffte, Fischer so aus dem Konzept zu bringen. Doch diesmal scheiterte sein Versuch, den Amerikaner kirre zu machen. Bobby ging ran wie Blücher und zettelte eine Schlacht auf dem Brett an, die später als »offener Schlagabtausch« und »glänzende Folge von Angriff und Gegenangriff« beschrieben wurde. Das geistige Hauen und Stechen endete remis. (Später nahmen beide Spieler diese Partie in ihre Bücher auf und bezeichneten sie als eine der wichtigsten ihrer Karriere.)

Es blieb nicht unbeobachtet, dass der 17-jährige Bobby den amtierenden Weltmeister ins Schwitzen gebracht hatte. Hinter vorgehaltener Hand raunten viele Beobachter, dieser Junge werde wohl bald um den Titel spielen.

Die Olympiade endete mit einem Sieg der UdSSR, die eines der stärksten Teams aller Zeiten aufgeboten hatte. Die Silbermedaille ging an die USA. Bobbys Statistik lautete: zehn Siege, zwei Niederlagen, sechs Remis.

Bobby hatte sich ein wenig mit Handlesekunst beschäftigt und zeigte auf dem Abschlussbankett eine Probe seines Könnens. Als Michail Tal das mitbekam, sagte er skeptisch: »Das soll er mal bei mir probieren.« Er ging zu Bobbys Tisch, streckte ihm die linke Hand entgegen und sagte: »Lies mal.« Lange betrachtete Bobby Tals Handfläche und grübelte über den Mysterien der verschiedenen Linien. Rasch bildete sich eine Traube um die beiden, von ihren Tischen sahen Hunderte weitere zu.

Bobby spürte die wachsende Spannung und ließ sich extra viel Zeit. Dann setzte er einen Gesichtsausdruck auf, als wolle er den Sinn des Lebens verkünden. Mit lauter Stimme erklärte er: »Mr. Tal, ich kann aus Ihrer Hand den nächsten Weltmeister ablesen. Es wird…«

Im nächsten Augenblick redeten Bobby und Tal gleichzeitig. Fischer dröhnte: »Bobby Fischer.« Und Tal, der nie um einen Scherz verlegen war: »William Lombardy!« (der unmittelbar links von ihm stand). Alle Anwesenden brüllten vor Lachen.

Wenig später erzählte Chess Life die Szene nach und spekulierte, ob man wirklich einen Blick auf die Zukunft geworfen habe: »Angesichts der Selbstsicherheit, der Selbstgewissheit in Fischers Gesicht fragen wir uns, ob er sich nicht wirklich als nächsten Weltmeister ›sah‹.«