5. Kapitel
Der Gladiator des Kalten Kriegs

illustration_neu.eps

Michail Tals Basiliskenblick war berüchtigt. Mit seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen fixierte er seine Gegner so durchdringend, dass so mancher das Gefühl bekam, Tal wolle ihn mit schierer Willenskraft zu einem schlechten Zug zwingen. Pal Benko, ein Amerikaner mit ungarischen Wurzeln, setzte bei einer Partie gegen Tal sogar einmal eine Sonnenbrille auf, um dem stechenden Blick zu entkommen.

Nicht, dass Tal hypnotische Kräfte gebraucht hätte, um zu gewinnen. Der 23-jährige Lette war ein brillanter Spieler. Der zweimalige sowjetische Meister hatte das Interzonenturnier in Portorož 1958 gewonnen und galt damit als heißester Kandidat für den Einzug ins Finale um die Schachweltmeisterschaft 1960. Tals Stil war geprägt von wilden, originellen Kombinationen, intuitiven Opfern und Knalleffekten. Der gut aussehende, gebildete und vor Energie nur so strotzende Lette kam beim Publikum hervorragend an und war der Liebling der Schachwelt. Seine rechte Hand war verkrüppelt, doch sein Selbstbewusstsein litt darunter offenbar nicht.

Fischer verfügte auch zunehmend über Selbstbewusstsein, sein Stil allerdings unterschied sich radikal von Tals: Bobby spielte luzide, kristallklar, ökonomisch, konkret, vernünftig. J. H. Donner, der überlebensgroße niederländische Großmeister, brachte den Kontrast auf den Punkt: »Fischer ist der Pragmatiker, der Ingenieur. Er begeht fast keine Fehler. Stellungen beurteilt er nüchtern bis pessimistisch. Tal ist einfallsreicher. Er muss sich ständig zügeln, um nicht übermütig zu werden.«

Beim europäischen Publikum kam Bobby gut an, was sicher auch an seiner Jugend lag. In Jugoslawien, einem schachbesessenen Land, wurde er ständig von Autogrammjägern und Reportern bedrängt. Der 16-jährige Schlaks mit seiner – wie manche Europäer fanden – Westernkleidung wurde als »lakonisch wie der Held eines alten Westerns« beschrieben.

Bobby hielt Tals Blick stand, als sie sich in Portorož zum ersten Mal am Brett begegneten. Die Partie endete remis. Drei Monate vor dem Kandidatenturnier trafen sie in Zürich wieder aufeinander, wieder spielten sie remis. Tal gewann das Turnier, Bobby wurde mit einem Punkt Rückstand Dritter. Aber beim Kandidatenturnier würde es um einen ungleich höheren Preis gehen: die Chance, gegen den amtierenden Weltmeister Michail Botwinnik um den Titel zu spielen – und Bobby war fest entschlossen, sich von einem durchdringenden Blick nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Das Kandidatenturnier fand in drei jugoslawischen Städten statt, unter der Schirmherrschaft von Marschall Josip Tito, einem leidenschaftlichen Amateur-Schachspieler. Die acht besten Spieler der Welt traten gegenei­nander an, jeder gegen jeden in jeweils vier Partien. Das Ganze würde über sechs Wochen dauern und enorm anstrengend werden. Vier Teilnehmer kamen aus der Sowjetunion: Michail Tal, Paul Keres, Tigran Petrosjan und Wassili Smyslow. Bobbys drei weitere Konkurrenten, Gligorić, Olafsson und Benko, gehörten ebenso zweifellos zur Weltspitze. Fischer war der einzige Amerikaner, und viele wussten ihn gar nicht recht einzuschätzen. In einem Moment jugendlichen Übermuts erklärte Bobby, er erwarte zu gewinnen. Der britische Schachjournalist Leonard Barden behauptete, Bobby sei so oft gefragt worden, welchen Platz er belegen werde, dass er das serbokroatische Wort für »ersten« gelernt habe: prvi.

Während des Turniers trat Fischer regelmäßig in Skipullover und ungebügelter Hose auf, mit verfilztem, ungepflegtem Haar. Seine Kontrahenten hingegen trugen Anzug, Hemd und Krawatte und achteten peinlich auf ihr Äußeres. Schließlich spielte man unter den kritischen Augen Tausender Zuschauer, anfangs in Bled, danach in Zagreb und schließlich in Belgrad.

Bobbys Sekundant, der Däne Bent Larsen, sollte ihm als Trainer und Mentor zur Seite stehen, kritisierte seinen Schützling aber ständig. Vielleicht litt er noch unter der Demütigung, die Bobby ihm in Portorož zugefügt hatte. Larsen, der aussprach, was ihm durch den Kopf ging, verriet Bobby: »Die meisten Leute finden es unangenehm, gegen dich zu spielen.« Dann fügte er an: »Du gehst seltsam.« Möglicherweise eine Anspielung auf Fischers athletischen Gang nach jahrelangem Tennis, Schwimmen und Basketball? Und um sich auch ja keine Beleidigung verbeißen zu müssen, schloss er: »Außerdem bist du hässlich.« Bobby war überzeugt, dass Larsen das nicht im Scherz sagte. Die Beleidigungen »schmerzten« ihn, sein Selbstbewusstsein litt ein wenig.

Aber das lähmte seinen Kampfgeist keineswegs.

Bobby war noch immer wütend über die, wie er fand, respektlose Behandlung, die er ein Jahr zuvor in Moskau erfahren hatte. Und so schlüpfte er in die Rolle eines Gladiators im Kalten Krieg. Bei einer Gelegenheit erklärte er, alle sowjetischen Spieler des Turniers bis auf Smyslow seien seine Feinde. (Mit Smyslow, einem rothaarigen Russen, kam er gut aus.) Jahre später enthüllten freigegebene KGB-Akten, dass Bobby mit seiner Einschätzung recht gehabt hatte. Ein russischer Meister, Igor Bondarewski, schrieb, »Alle vier Sowjets taten alles in ihrer Macht, um den Emporkömmling zu bestrafen.« Tal und Petrosjan, enge Freunde, einigten sich bei allen ihren vier Partien früh auf Remis, um Kraft zu sparen. Solche sogenannten Großmeister-Remis – bei denen beide Seiten die Partie gar nicht gewinnen wollen und sich nach wenigen belanglosen Zügen auf ein Remis einigen – sind zwar nicht verboten, grenzen aber an Wettbewerbsverzerrung.

Angesichts dieser Absprache kam Bobby die Galle hoch. »Ich werde diesen dreckigen Russen eine Lektion erteilen, die sie lange nicht vergessen werden«, schrieb er aus dem Hotel Toplice. Mit diesem Beschluss begann ein lebenslanger Kreuzzug.

Bei seiner ersten Partie gegen Tal saß Bobby schon am Brett, als der 23-jährige Lette in allerletzter Sekunde auftauchte. Bobby stand auf, Tal reichte ihm die Hand zum Gruß. Tals Hand war stark deformiert: Zwei Finger fehlten, die restlichen drei waren übermäßig dick. Sie erinnerte stark an eine Klaue. Bobby, das muss man ihm lassen, zuckte nicht mit der Wimper. Er schüttelte Tal die Hand, und das Spiel begann.

Schon nach wenigen Zügen verschwand Bobbys gute Laune. Es irritierte ihn, wie Tal sich am Brett und abseits davon verhielt. Dieses Mal nervte ihn »das Starren«. Außerdem setzte Tal nach jedem Zug seines Gegners ein leicht ungläubiges Lächeln auf, als wolle er sagen: »Dummer Junge! Ich weiß, was du planst. Wie amüsant, dass du glaubst, du könntest mich überlisten.« Auch das sollte Bobby offenbar aus dem Konzept bringen.

Fischer beschloss, es ihm mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er versuchte Tal niederzustarren und warf ihm ein kurzes verächtliches Lächeln zu. Doch nach ein paar Sekunden brach er den Blickkontakt ab und konzentrierte sich auf Wichtigeres: das Geschehen am Brett, seinen Angriffsplan und seine Antworten auf Tals mögliche Pläne.

Tal bewegte sich unaufhörlich. Innerhalb von nur Sekunden führte er eine Schachfigur, notierte den Zug auf seinem Partieformular, beugte das Gesicht direkt vor die Schachuhr, um die Zeit zu prüfen, verzog das Gesicht, lächelte, hob die Augenbrauen und »schnitt Grimassen«, wie Bobby es ausdrückte. Dann erhob er sich und ging auf der Bühne herum, während Bobby nachdachte. Tals Trainer Igor Bondarewski beschrieb die Bewegungen seines Schützlings so: »Er kreiste um den Tisch wie ein Aasgeier. Der vermutlich nur darauf wartete zuzuschlagen.«

Tal war Kettenraucher und konnte während einer Partie eine ganze Packung wegrauchen. Er hatte auch den Tick, sein Kinn auf die Tischkante zu legen und durch den Figurenwald auf seinen Gegner zu schielen. Tal verhielt sich so bizarr, dass Fischer glaubte, er mache das absichtlich, um ihn zu nerven.

Dieses Verhalten irritierte Fischer zunehmend. Er beschwerte sich beim Schiedsrichter, doch was sollte der schon sagen? Manchmal stand Tal mitten in der Partie vom Brett auf und plauderte mit den anderen sowjetischen Spielern, während Fischer seinen nächsten Zug plante. Tal und die anderen flüsterten sich Analysen ihrer Stellungen zu. Bobby verstand ja ein wenig Russisch und hörte etwa die Worte für Dame und Springer, wusste aber nicht, ob Tal von seiner eigenen Partie sprach. Bobby war stinksauer; er verstand nicht, warum der Oberschiedsrichter dieses Getuschel nicht untersagte, schließlich verboten die Regeln es ausdrücklich. Er forderte von den Ausrichtern, Tal zu disqualifizieren. Damit biss er allerdings auf Granit – es hatte sich über Jahrzehnte eingebürgert, dass Sowjetspieler sich während ihrer Partien ungestraft mitei­nander unterhielten.

Fischer störte es auch, dass an anderen Brettern nach dem Ende von Partien die Kontrahenten den Spielverlauf besprachen, mitten auf der Bühne, nur wenige Meter von Bobby entfernt. Warum gingen sie dazu nicht in einen Analyseraum? Das Geflüster störte ihn in seiner Konzentration. Er beschwerte sich schriftlich beim Oberschiedsrichter darüber:

Bitte verbieten Sie, dass zwei Kontrahenten nach Beendigung ihrer Partie den Verlauf [auf der Bühne] analysieren, um eine Störung der anderen Spieler zu verhindern. Nach Ende einer Partie sollte der Schiedsrichter die Figuren sofort entfernen, um ein Nachtarocken zu verhindern. Wir schlagen vor, die Organisatoren sollten einen eigenen Raum für die Analyse nach den Partien zur Verfügung stellen. Dieser Raum muss außer Hörweite der noch spielenden Teilnehmer sein.

Robert J. Fischer, Internationaler Großmeister

Doch nichts geschah. Niemand schloss sich dem Protest an, denn fast alle machten sich eben jener Sünde schuldig, die Fischer anprangerte.

Wegen seiner häufigen Beschwerden begann man bald, Bobby »den quengeligen Amerikaner« zu nennen. Die anderen Spieler fanden sein ewiges Jammern widerlich, einen billigen Vorwand, um nach Niederlagen Turnierleitung und Gegnern die Schuld in die Schuhe zu schieben.

War Bobby zu dünnhäutig? Auf jeden Fall litt er an Geräuschüberempfindlichkeit, einer akuten Allergie gegen Krach und Hintergrundgeräusche. Offenkundig wusste Tal ganz genau, wie er Bobby zur Weißglut bringen konnte. Der Lette musterte Bobby von nah und fern und brach dann in Gelächter aus. Einmal deutete er im gemeinsamen Speisesaal auf Bobby und sagte laut: »Fischer! Kuckuck!« Bobby brach fast in Tränen aus. »Warum sagte Tal ›Kuckuck‹ zu mir?«, fragte er. Und zum ersten und vielleicht einzigen Mal während des Turniers versuchte Larsen, ihn zu trösten: »Lass dich nicht ärgern.« Er wies Bobby darauf hin, dass er sich ja rächen könne: am Brett. Später druckte eine örtliche Zeitung in Bled Karikaturen aller acht Spieler. Die Zeichnungen erschienen später auf einer Souvenirpostkarte. Bobby wirkte auf dem Porträt überaus ernst; mit abstehenden Ohren und offenem Mund sah er aus wie ein … nun ja, Kuckuck.

Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, saß neben Bobbys Porträt ein kleiner Vogel am Brett. Ein Kuckuck.

Zuschauer, Spieler und Journalisten wunderten sich offen darüber, wie Bobby mitten unter dem Schuljahr zwei Monate (September und Oktober) für ein Turnier freinehmen konnte. Schließlich kam heraus: Er hatte die Schule abgebrochen. Reginas Herz blutete, als der 16-Jährige sich rundweg weigerte, weiter zum Unterricht zu gehen. Sie hoffte, sie könnte ihn hinterher, nach dem Turnier, wieder zum Schulbesuch überreden. Selbst die stellvertretende Rektorin seiner Schule, Grace Corey, schrieb ihm nach Jugoslawien. Sie teilte ihm mit, er habe in den Prüfungen hervorragend abgeschnitten, mit 90 Prozent in Spanisch und 97 Prozent in Geometrie. »Ein tolles Jahr«, lobte sie und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Bobby wiederkomme.

Gute Noten hin oder her, die sowjetische Schachpresse begann, Bobby als ungebildet und kulturlos zu verunglimpfen, und tatsächlich setzte sich diese Propaganda in den Köpfen fest – selbst im Westen. Sowjet-Spieler verhöhnten ihn: »Bobby, was hältst du von Dostojewski?«, fragte einer. »Bist du Bentham-Fan?«, der andere. »Würdest du gern Goethe treffen?« Ihnen war nicht klar, dass Bobby während seiner Highschoolzeit zum Privatvergnügen Literatur gelesen hatte. Er mochte George Orwell, insbesondere Farm der Tiere und 1984. Auch Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde hatte er mit Genuss gelesen. Voltaires Candide gehörte zu seinen Lieblingsbüchern; Bobby redete oft über die amüsanten Stellen. Tal fragte Bobby einmal, ob er je eine Oper besucht habe. Als Bobby daraufhin den Refrain des Schmugglerchors aus Bizets Carmen sang, brachte das den Letten vorübergehend zum Schweigen. Kurz vor seiner Abreise nach Europa war Bobby mit Mutter und Schwester in New Yorks Metropolitan Opera gegangen und hatte Carmen angesehen. Er besaß auch ein Buch mit den Handlungen aller großen Opern, in das er gelegentlich hineinsah.

Unglücklicherweise spielte Bobby, Kultur hin oder her, am Anfang des Turniers schlecht. Er war frustriert darüber, die ersten beiden Partien gegen Tal verloren zu haben. Dennoch ließ Tal sich weiterhin keine Gelegenheit entgehen, seinen Kontrahenten zu irritieren. Unmittelbar vor Beginn der dritten Partie näherte Bobby sich Alexander Koblentz, einem von Tals Trainern, und flüsterte ihm so bedrohlich wie möglich zu: »Wenn Tal sich nicht benimmt, schlage ich ihm die Vorderzähne aus.« Doch die Provokationen hörten nicht auf, und Fischer verlor auch die dritte Partie.

In Situationen wie diesen stürzen junge Spieler manchmal völlig ab. Doch Bobby fing sich wieder und schöpfte neue Hoffnung. Er überwand eine Erkältung und versetzte sich in die märchenhafte Welt Lewis Carrolls und seines verrückten Universums. Er schrieb: »Ich bin recht guter Stimmung und esse gut. [Wie] in Alice im Wunderland. Erinnerst du dich? Die rote Königin schrie, bevor sie Dreck ins Auge bekam. Ich bin guter Dinge, bevor ich all meine Partien gewinne.«

»Lass uns ins Kino gehen«, schlug Dimitrije Bjelica am Abend vor Bobbys erster Partie gegen Wassili Smyslow vor. Bjelica war ein jugoslawischer Schachjournalist (und ein landesweit bekannter Fußballreporter im Fernsehen). Er hatte sich in Portorož mit Bobby angefreundet und fand dessen Beschwerden berechtigt. Ein Kinobesuch, so dachte er, könnte Bobby vielleicht ein wenig aufheitern. Wie der Zufall so spielte, lief in Belgrad nur ein einziger englischsprachiger Film: Ein Leben in Leidenschaft, die opulente Biografie des niederländischen Malers Vincent van Gogh, der sein Lebensende in einer Nervenheilanstalt verbracht hatte.

Bobby ging gerne mit. In einer Szene des Films schneidet sich der verzweifelte van Gogh nach einem läppischen Streit mit Paul Gauguin ein Ohr ab. Da flüsterte Bobby seinem Begleiter zu: »Wenn ich morgen nicht gegen Smyslow gewinne, schneide ich mir ein Ohr ab.« Am nächsten Tag spielte Bobby mit Schwarz brillant und gewann – sein erster Sieg gegen den russischen Exweltmeister. Damit hatte die Parallele zwischen den höchst sensiblen Künstlerseelen van Gogh und Bobby dann zum Glück ein Ende: Bobbys Ohr blieb dran.

Im weiteren Verlauf des Turniers bildete sich ein ungutes Muster he­raus: Wenn Bobby es schaffte, einen Gegner zu schlagen, verlor er oft am nächsten Tag gegen einen anderen. Er gewann gegen Benko und verlor dann gegen Gligorić. Auf einen Sieg gegen Fridrik Olafsson folgte eine weitere Niederlage gegen Tal. Bobby sah seine Chance schwinden, den Weltmeister herausfordern zu dürfen. Er fürchtete, wie Terry Malloy in Die Faust im Nacken nach seiner Niederlage mit einem »one-way ticket to Palookaville« dazustehen, als Verlierer ohne Perspektive im Leben.

Bobby verlor Partien, die remis hätten enden müssen, und spielte remis, wenn er hätte gewinnen müssen. Er verlor viereinhalb Kilo, dabei aß er kräftig. Der Hotelarzt verschrieb ein Stärkungsmittel, das aber nicht half. Sein Geld wurde knapp, nachdem er sieben Reiseschecks verloren hatte. Es fiel ihm schwer, seiner Mutter weiteres Geld abzuschwatzen. Einmal nannte er sie sogar eine »Laus«, weil sie ihm seinen Verlust nicht ersetzen wollte. »Du weißt, ich kann gut mit Geld umgehen«, jammerte er. Der laut Bobby »mürrische und nutzlose« Larsen entmutigte ihn weiter: Bobby könne keinen anderen Platz im Klassement erwarten als den letzten. Diesen Satz wiederholte er sogar öffentlich. Als das Zitat in der Belgrader Zeitung Borba erschien, fühlte sich Bobby gedemütigt. Larsen war sein Sekundant, er bekam 700 Dollar – nach heutiger Kaufkraft 4000 Euro – und sollte Bobby dafür gefälligst aufbauen und nicht öffentlich die Kassandra spielen.

Bobby verlor zwar gegen Tal, schlug sich aber in anderen Partien beachtlich. Harry Golombek, der Oberschiedsrichter, fand, Fischer sei im Lauf des Turniers besser geworden. Er mutmaßte: »Ginge das Turnier über 56 Runden statt nur über 28«, käme Bobbys große Stunde noch. »An Tal kommt er nicht heran, doch seine zwei Siege gegen Keres und sein ausgeglichenes Ergebnis gegen Smyslow beweisen schon seine echte Großmeister-Klasse.«

Weltmeister Michail Botwinnik schrieb: »Fischers Stärke wie Schwäche besteht darin, dass er sich stets treu bleibt und auf die gleiche Weise spielt, unabhängig von seinem Gegner und den äußeren Umständen.« Und es stimmt, Bobby blieb normalerweise bei seinem Stil, wodurch seine Gegner sich gut auf ihn einstellen konnten. Sie wussten schon im Voraus, welche Arten Eröffnungen er spielen würde.

Gut möglich, dass Tals Verhalten Bobby zur Weißglut brachte und ihm dauerhaft die Konzentration raubte. Jedenfalls begann Bobby, Pläne zu schmieden. Tal musste gestoppt werden. Wenn nicht am Brett, dann auf andere Weise. Tal, schrieb Bobby in einem Brief an Regina, hätte ihm auf unsportliche Art drei Spiele gestohlen und damit den ersten Platz im Turnier. »Er hat mich um ein Match gegen Botwinnik betrogen.«

Sprach hier schon krankhafter Verfolgungswahn aus ihm? Plante er womöglich eine Straftat? Oder ging da nur die Fantasie eines Halbwüchsigen durch? Wer weiß? Auf jeden Fall plante Bobby seine Rache. »Soll ich ihm mit meinem Stift ein Auge ausstechen? Beide Käferaugen? Vielleicht sollte ich ihn vergiften. Ich könnte in sein Zimmer im Hotel Es­planade einbrechen und das Gift in sein Trinkglas schütten.« Trotz seiner Rachepläne – die er nie umsetzte – hielt Bobby in der vierten Partie tapfer mit. Er hatte der Presse gelobt, sie zu gewinnen, egal welche Tricks Tal sich am Brett oder abseits des Bretts einfallen ließe.

Während der Partie versuchte auch Bobby sich an einem Psychotrick, trotz seines oft zitierten Spruchs: »Ich glaube nicht an Psychologie – ich glaube an gute Züge.« Normalerweise führte er seine Figur, schlug auf die Schachuhr und notierte den Zug auf dem Partieformular. Jetzt änderte er beim 21. Zug diese Reihenfolge plötzlich. Anstatt zu ziehen, beugte er sich über das Partieformular und notierte den Zug, den er erwog. Dabei wechselte er zur in Russland gebräuchlichen Notation. Danach schob er das Formular ganz beiläufig so hin, dass Tal es lesen konnte. Während seine Uhr weiterlief, beobachete Bobby Tals Reaktion.

Tal setzte ein Pokerface auf. Er erkannte, mit diesem Zug würde Bobby auf die Siegerstraße geraten. Später schrieb er: »Ich wünschte mir sehr, dass er diese Entscheidung rückgängig machte. Also stand ich ganz ruhig auf und schlenderte über die Bühne. Ich scherzte mit jemandem [Petrosjan], warf einen beiläufigen Blick auf das Schaubrett und kehrte mit zufriedenem Gesichtsausdruck an den Tisch zurück.« Dass Tal sich vor dem drohenden Zug nicht zu fürchten schien, verwirrte Bobby. War ihm ein Denkfehler unterlaufen? Er strich den Zug auf dem Partieformular und machte einen anderen Zug – der ihn geradewegs ins Verderben führte.

Verzweifelt schloss Bobby die Augen, um die weiteren Streiche Tals nicht mitzubekommen. Das Brett musste er nicht sehen, er hatte die Stellung vor seinem geistigen Auge. Fieberhaft suchte er den einen Zug, die Variante, die taktische Finte, die ihn aus den schwierigen Gewässern seiner Stellung retten würde.

Doch nichts half. Er war verloren. Tal hatte auch die vierte und letzte Partie gegen ihn gewonnen. Ein tragischer Schachtod, der ihn im Innersten traf. Bobby weinte, er machte gar keinen Versuch, seine Tränen zu verbergen. Tal gewann das Turnier und wurde später Weltmeister.

illustration_neu.eps

»Ich liebe die Dunkelheit der Nacht. Sie hilft mir bei der Konzentration«, erklärte Bobby einmal. Seine Schwester war inzwischen verheiratet, seine Mutter nahm an einem Friedensmarsch von San Francisco nach Moskau teil, und so gehörte die Brooklyner Wohnung ihm ganz allein. Er fand es herrlich. Nur Hoppy leistete ihm Gesellschaft, ein stiller, hinkender Hund. Der Teenager durfte tun und lassen, was er wollte, ohne Einschränkungen durch Eltern oder Gesellschaft. Um die Bettwäsche in der Wohnung nicht so oft wechseln zu müssen und um gelegentlich die Perspektive zu wechseln, schlief er abwechselnd in verschiedenen Betten. Neben jedem Bett stand ein Stuhl mit einem Schachbrett. Bobby legte sich in das Bett des Abends, betrachtete die Stellung und grübelte. Sollte er sich den Vierbauernangriff gegen die Königsindische Verteidigung ansehen, der ihn bei Schnellschachpartien in Schwierigkeiten brachte? Sollte er Endspiele analysieren, vor allem verzwickte Konstellationen mit Turm und Bauern? Oder sollte er ein paar der 1300 hochklassigen Partien ansehen, die bei der Olympiade 1958 in München gespielt worden waren?

Fragen wie diese kamen jeden Abend vor dem Einschlafen auf, mussten aber regelmäßig 45 Minuten hintangestellt werden, wenn Bobbys Lieblingssendung im Radio kam.

Der Trompetenstoß am Anfang der »Bahn-Frei-Polka« von Eduard Strauß weckte Bobby auf, wenn er schon am Einnicken war. Die Titelmelodie der Jean Shepherd Show war von Arthur Fiedler und dem Boston Pop-Orchester eingespielt worden, und das Thema des Stücks – ein Pferderennen – erfreute Bobby jedes Mal. »Es klingt wie Zirkusmusik«, sagte Bobby einmal in aufgeräumter Stimmung, und es war einer der beschwingtesten Tänze, die der jüngste Sohn von Johann Strauss (sen.) je komponierte. Aber für Bobby kam es nicht so sehr auf die Musik an, sondern auf die folgende Sendung und den mürrischen, bissigen Humor ihres Moderators.

Bobby war ein fanatischer Anhänger von Jean Shepherd; wenn er in New York war, verpasste er kaum je eine Sendung. Shepherds Show – die verschiedentlich als teils Kabuki, teils Commedia dell’Arte beschrieben wurde – war gewöhnungsbedürftig: Ausführlich erzählte Shepherd von seiner Kindheit im Mittelwesten, seinem Leben in der Army und den Missgeschicken seines Erwachsenenlebens in New York. Er machte Kalauer, jaulte alte Barlieder (er hatte eine grässliche Stimme) und spielte Kazoo, das simpelste aller Musikinstrumente. Die meisten Sendungen waren urkomisch, andere düster, fast depressiv. Er hatte ein künstliches Lachen, irgendwo zwischen Glucksen und Gackern, das ihn verrückt klingen ließ. Trotzdem hielten seine Fans ihn für einen modernen Mark Twain oder einen J. D. Salinger. Seine Geschichten hatten Biss und eine Botschaft und konnten immer wieder erzählt werden.

Bobby schrieb Hörerbriefe an Shepherd, ging auf Liveauftritte des Moderators in Greenwich Village (in einem Kaffeehaus namens Limelight) und besuchte ihn in dessen Studio am Broadway 1440. Nach der Sendung vollzogen die zwei ein New Yorker Ritual: Sie schlenderten die zwei Blocks zum Times Square und aßen bei Grant’s einen Hotdog.

Shepherd erinnerte sich, dass sie auf diesen Ausflügen nicht viel geredet hätten. Einmal lästerte Bobby allerdings über einen Spieler, auf den er in einem Turnier treffen würde. »Er ist dumm«, wiederholte er immer und immer wieder, ohne zu verraten, um wen es sich handelte oder wie er zu seinem Urteil gelangt war.

Hin und wieder erwähnte Shepherd Bobby auch im Radio. Der Moderator spielte zwar selbst nicht Schach, bewunderte aber ein Idealbild von Bobby Fischer und dessen Leistung. »Bobby Fischer«, flüsterte er vertraulich ins Mikrofon, als rede er mit einem Zuhörer, nicht Zehntausenden. »Stell dir nur vor. Dieser richtig nette Junge, dieser großartige Schachspieler, vielleicht der größte Schachspieler aller Zeiten. Wenn er Schach spielt, ist er … fies. Also, richtig fies.« Ein paar Mal half Shepherd mit, Geld für den US-Schachbund zu sammeln. Er tat es für Bobby.

Bobby sah nicht gern fern. Beim Radiohören konnte man wenigstens nebenher ein Schachbrett betrachten. Außerdem glaubte Bobby das Gerücht, dass Fernsehgeräte schädliche elektromagnetische Strahlung aussandten, weshalb er möglichst wenig Zeit vor den allgegenwärtigen Flimmerkisten verbrachte. Die Intimität des Radios hingegen liebte er. Während Shepherds Sendung verdunkelte Bobby sein Zimmer und stellte sich vor, Shepherd rede nur mit ihm. So fühlte er sich weniger einsam. Die Beleuchtung der Radioskala schimmerte im Dunkel, neben ihm stand ein Schachbrett, im Zimmer verstreut lagen Schachbücher und -zeitschriften. Bobbys Gedanken wanderten.

Im Anschluss an Shepherds Sendung suchte Bobby nach anderen Sendungen und Shows. Manchmal begnügte er sich mit Popmusik. Wenn die Lautstärke weit genug heruntergedreht war, konnte er sich noch immer auf das Brett konzentrieren. An anderen Abenden hörte er – oft fundamentalistischen – Predigern zu, wie sie predigten und die Bibel auslegten.

Fasziniert hörte sich Bobby allmählich immer öfter religiöse Sendungen an, zum Beispiel Hour of Decision (Stunde der Entscheidung) des Erweckungspredigers Billy Graham. Darin rief Graham das Publikum auf, sein bisheriges Leben aufzugeben und sich von Jesus Christus erretten zu lassen. Fischer verfolgte auch The Lutheran Hour (Die evangelische Stunde) und Music and the Spoken Word (Musik und das gesprochene Wort), eine Sendung des Mormon Tabernacle Choir mit aufmunternden Parolen. Am Sonntag gewöhnte Bobby sich an, den ganzen Tag Radio zu hören, immer auf der Suche nach einem guten Sender. Bei einem dieser Streifzüge durch die Senderlandschaft stolperte er in eine Sendung des charismatischen Herbert W. Armstrong auf Radio Church of God (Radio Kirche Gottes). Es handelte sich um einen eingedampften Gottesdienst mit Liedern, Hymnen und einer Predigt von Armstrong, die oft von der Natürlichkeit und der Alltagstauglichkeit der Heiligen Schrift handelte. Armstrong traf bei Bobby einen Nerv. Bobby erinnerte sich später: »Er klang so aufrichtig. Er folgte den richtigen Prinzipien: Hingabe, harte Arbeit, Hartnäckigkeit. Er gab nie auf, er war stur, er hielt durch.« Genau an diese Qualitäten glaubte auch Bobby. Sein Interesse war geweckt.

Ein Grundsatz von Armstrongs Lehre lautete, man dürfe Ärzten in ihrer Arroganz nicht trauen. Einmal predigte er:

Wir sind es nicht wert, bei der Kommunion das gebrochene Brot zu nehmen, wenn wir an Ärzte und Pillen glauben statt an Jesus Christus – und so andere Götter an Seine Stelle setzen! Deshalb sind viele krank. Viele sterben.

Gott ist der Heiler – der einzige wahre Heiler –, und die medizinische Wissenschaft stammt aus dem alten Heidenglauben an Medizinmänner, die in engem Kontakt zu imaginären Göttern zu stehen behaupteten. Sind nun alle Ärzte überflüssig?

Nein, das glaube ich nicht. Aber wenn alle Menschen Gottes Wahrheit verstünden und anwendeten, spielten Ärzte eine ganz andere Rolle als heute. Selbst ein Sack, ein ganzer Eisenbahnwaggon voll Medizin bringt keine Heilung! Die meisten unserer heutigen Krankheiten sind die Folge schlechter Ernährung und falscher Essgewohnheiten. Die wahre Funktion des Arztes sollte nicht sein, sich Gottes Stellung als einziger Heiler anzumaßen. Nein, er sollte dir helfen, den Gesetzen der Natur zu folgen, indem er eine gute Ernährung vorschreibt, indem er dir beibringt, nach den Gesetzen der Natur zu leben.

Begeistert bestellte Bobby Kopien der Predigt und verteilte sie an seine Freunde.

Im Laufe der Zeit wuchs Armstrongs Radio Church of God zu einem internationalen Konzern, der Weltweiten Kirche Gottes, mit einer Anhängerschar von 100 000 Gemeindemitgliedern und Zuhörern. Bobby fühlte sich in der evangelikalen Sekte wohl, weil sie christliche und jüdische Elemente verband, wie etwa die Einhaltung der Sabbatruhe von Freitagabend bis Samstagabend, koschere Ernährungsgesetze, den Glauben an einen künftigen Messias, das Begehen jüdischer Feiertage und die Ablehnung von Weihnachten und Ostern. In kürzester Zeit verfiel er der Church of God fast ebenso wie dem Schach. Samstagabends, nach der Sabbatruhe, fuhr er gewöhnlich in den Schachclub Manhattan oder zu Collins und spielte bis spät in die Nacht Schach. Und obwohl er manchmal erst um vier Uhr morgens heimkam, betete er dann noch eine Stunde. Er begann einen Fernkurs in »Bibelkunde«, den die Sekte anbot. Dieser Kurs ging oft auf aktuelle Ereignisse ein und interpretierte sie in Armstrongs Sinn. Am Ende jeder Wochenlektion stand ein Test zur Selbstprüfung. Eine typische Frage lautete:

Was ist der tiefere Grund für Krieg und menschliches Leid?

a) Das übermäßige Verlangen des fleischlichen Menschen

b) Unwahre politische Ideologien wie Kommunismus und Faschismus

c) Armut

d) Der Mangel an Bildungs- und Berufschancen

Lösung: a) [Bobby hatte richtig geantwortet.]

Bobby begann, der Sekte zehn Prozent seiner mageren Schacheinkünfte zu überlassen. Er weigerte sich, an Turnieren teilzunehmen, bei denen er am Freitagabend spielen musste. Er versuchte, ein Leben nach den Lehren Armstrongs zu führen, und behauptete: »Die Heilige Bibel ist das vernünftigste, bodenständig klügste Buch, das je geschrieben wurde.«

Bald nahm er einen blau überzogenen Karton überallhin mit. Wenn jemand ihn fragte, was er enthalte, antwortete er nicht. Aber sein Blick sagte: »Wie kannst du nur fragen? Ich bin tief verletzt und beleidigt.« Woche um Woche schleppte er die Schachtel mit sich herum, in den Schachclub, ins Restaurant, ins Café, in die Billardhalle. Es war schon Mitte der 60er, als Bobby während eines Restaurantbesuchs zur Toilette ging und sein Begleiter nicht widerstehen konnte. Mit schlechtem Gewissen, weil er in Bobbys Privatsphäre eindrang, schob er den Deckel der Schachtel auf. Darin lag ein Buch, auf dem in goldenen Lettern stand: Die Bibel.

In jener Phase verzichtete Bobby aus Frömmigkeit auf den Gebrauch von Obszönitäten. Eines Abends saß er mit einem Freund in Howard Johnsons Restaurant an der Sixth Avenue Ecke Greenwich und trank Limonade mit Eiskrem, als eine junge Frau um die 18 wiederholt in das Restaurant torkelte. Sie war betrunken oder high und gab einen ununterbrochenen Strom von Obszönitäten von sich. Bobby regte sich fürchterlich auf. »Hast du das gehört?«, fragte er. »Das ist schrecklich.« Er ertrug es nicht, der Frau weiter zuzuhören. »Lass uns gehen«, forderte er seinen Freund auf. Die beiden gingen, ohne ihre Limonade ausgetrunken zu haben.