Sechs
Mit Lucy war eine seltsame Verwandlung vor sich gegangen. Sie gab plötzlich Antworten, die aus mehr als einem patzigen Halbsatz bestanden. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den man mit etwas gutem Willen als
»heiter« bezeichnen konnte.
Und sie brauchte morgens keine Dreiviertelstunde mehr im Bad, sondern eine ganze.
Der Grund für diese Veränderungen war männlich, neunzehn Jahre alt, hatte einen halblangen Leonardo-di-Caprio-Haarschnitt, teure Sakkos, ein Handy und ein Golf-Cabrio.
Mir kam fast das Kotzen, als ich den Knaben das erste Mal sah. Ein Yuppie im Westentaschenformat, ein geschniegelter Jüngling mit blasierter Miene, das glatte Gegenteil von dem, wie ich mir meinen zukünftigen Schwiegersohn vorstellte.
»Darf ich heute bis eins wegbleiben?« lautete die scheinbar unverfängliche Frage, mit der Lucy das Gespräch einleitete.
»Es kommt darauf an, wohin du gehst und mit wem«, beteten Friedrich und ich im Chor unsere Standardantwort herunter.
»Ich gehe mit Marco auf die Fete von Natalie.«
»Ist o. k.«, wollte Friedrich das Gespräch beenden.
Ich merkte, daß Lucy enttäuscht über die schnelle Zustimmung war.
»Wer ist Marco?« fragte ich beiläufig.
Genau auf diese Frage hatte sie gewartet.
»Marco ist mein Freund«, sagte sie, und ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß sie lästige Fragen dieser Art zukünftig nicht mehr zu beantworten gedachte.
»Lernen wir den jungen Mann mal kennen?« erkundigte sich Friedrich jetzt neugierig.
»Müßt ihr mich immer kontrollieren? Hat man als Jugendlicher keine Privatsphäre?« regte sie sich künstlich auf.
Ich sah ihr an, wie sie darauf brannte, uns Marco zu präsentieren.
»Wenn er mit dir ausgehen will, mußt du ihn uns schon mal vorstellen«, verlangte ich.
Scheinbar genervt warf sie uns hin: »Heute abend könnt ihr ihn ja begutachten, er holt mich ab.«
Daß Lucy dem Badezimmerspiegel während der folgenden Stunden noch mal kurz den Rücken drehte, war nur ihrer Lieblingsschokoladentorte zuzuschreiben, von der sie normalerweise zwei bis drei Stücke verputzte.
Heute aß sie nur ein schmales Scheibchen, dann schob sie den Teller weg.
»Mehr geht nicht, ich bin zu fett. Marco haßt dicke Schenkel.«
Mir war schon aufgefallen, daß sie weniger aß. Wenn sie aus lauter Aufregung und Verliebtheit keinen Hunger gehabt hätte, wäre das in Ordnung gewesen. Aber wenn sie hungerte, um dem Schönheitsideal irgendeines Kerls zu entsprechen, hatte der mich ab sofort zum Feind.
»Du bist überhaupt nicht fett, du hast eine wunderbar schmale Taille …«
»… und dicke Beine«, fiel sie mir ins Wort.
So ein Quatsch! Ich war jetzt schon wütend auf Marco.
Wenn er meine Tochter gern hätte, würde er ihr sagen, wie hübsch er sie findet, nicht, was ihm alles nicht an ihr paßt.
Mir entging nicht, daß Lucy sich im Laufe des Nachmittages ungefähr vierzehnmal umzog. Blaß und hohläugig, mit vor Aufregung glänzenden Augen, drehte sie sich vor dem Spiegel.
»Sag mal, Mama, würdest du mir die schwarze Lederjeans leihen? Ich meine, du wolltest doch erst ein paar Pfund abnehmen, bevor du sie anziehst, oder?«
Es gab mir einen Stich. Wenn ich Lucy die Jeans gab, sah ich das Teil nie wieder, außerdem übergab ich ihr damit gewissermaßen das Privileg, sich jung und modisch zu kleiden. Mir würde dann nur noch die Kittelschürze bleiben und die gepflegten Twinsets reiferer Damen.
»Bitte, Mama!«
Ich konnte ihrem flehenden Blick nicht widerstehen.
Blutenden Herzens überließ ich ihr die Hose.
Zu den Klängen irgendeiner Backstreet-Boy-Schnulze glitten Lucys Beine, die so viel länger, so viel schlanker waren als meine (und ohne eine Spur von Cellulites) in die schwarzen Lederröhren. Mit einem energischen Ruck zog Lucy den Gürtel in der Taille fest, raffte den viel zu weiten Bund einfach zusammen – und sah oberscharf aus.
Ich biß mir auf die Lippen.
»Weißt du, was ich heute im Radio gehört habe?«
Ich mußte ihr etwas antun, irgend etwas.
»Nein, was denn?«
»Einer von deinen Backstreet Boys ist ein Tierquäler. Er soll nach der Katze seines Nachbarn mit Flaschen geworfen haben.«
»Echt?« Lucy riß die Augen auf.
»Ja, stell dir vor. Nächste Woche steht er vor Gericht.
Wenn sie ihn verknacken, ist es aus mit der Band.«
Vor ein paar Wochen hätte diese Mitteilung einen Weinkrampf zur Folge gehabt. Jetzt grinste Lucy nur und meinte wegwerfend: »Das ist eh’ alles nur Masche. Die Musik finde ich auch ziemlich lasch. Marco will mir ’ne Kassette aufnehmen mit der Musik, auf die er steht. Oasis und solche Sachen, ist viel geiler.«
Gutgelaunt setzte sie ihr Verschönerungswerk fort.
Ich seufzte. Gegen die Macht der Liebe war kein Kraut gewachsen.
Ich war gespannt, wie lange es diesmal dauern würde.
Lucy war schon öfter verliebt gewesen, meist hielten diese Phasen zwischen zwei und vier Wochen an. Ihr Seelenzustand wechselte dann täglich mehrmals zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Es nahm mich richtig mit, weil ich mich noch gut erinnerte, wie fertig mich diese Wechselbäder damals gemacht hatten.
Mit gemischten Gefühlen sah ich nun also, wie meine Tochter durch die Höllentäler der ersten Lieben ging. Die Vorstellung, daß die Zurückweisung irgendeines pickeligen Jungen Lucy dazu bringen könnte, in einem verzweifelten Moment ihr Leben wegzuwerfen, marterte mich. Zu viele dieser Momente hatte ich selbst erlebt, um nicht zu wissen, daß man in diesem Alter ständig am Abgrund entlangbalanciert.
Wenn ich ihr doch nur vermitteln könnte, wie lächerlich und unbedeutend diese Kümmernisse würden, wenn man sie später aus der Distanz betrachtete. Daß man nicht daran zugrunde ginge, wenn eine Freundschaft zerbräche.
Daß der erste nicht der beste wäre. Daß jede Trennung ein Neuanfang wäre und alle Erfahrungen dazu beitragen könnten, irgendwann den Richtigen zu finden.
Wie früher, wenn sie krank war und wimmernd in meinen Armen lag, hätte ich gern alle ihre zukünftigen Schmerzen auf mich genommen, um sie nicht leiden sehen zu müssen.
»Hallo, Süße, geile Hose hast du an!«
Marco hatte offenbar viele Kinofilme gesehen, vor allem solche, in denen blöde Machos blöde Miezen zum Ausgehen abholen. Er lehnte lässig am Türpfosten, ließ seinen Autoschlüssel kreisen und musterte Lucy von oben bis unten. Er küßte sie auf den Mund und wollte sie zur Haustür rausziehen.
Ich hatte die Szene von oben beobachtet. Lucy flüsterte ihm etwas zu und zeigte in meine Richtung. Sobald er mich sah, veränderte sich sein Verhalten. Die Macho-Allüren fielen von ihm ab, er stellte sich gerade hin und streckte mir höflich die Hand entgegen.
»Guten Abend, Frau Schrader, mein Name ist Marco Tremper, vielen Dank, daß ich mit ihrer Tochter ausgehen darf«, spulte er routiniert herunter. Das Sprüchlein sagte er nicht zum ersten Mal auf, soviel war klar, »’n abend, Marco«, begrüßte ich ihn, »nett, dich kennenzulernen.«
Ist er nicht süß, sagte Lucys Blick, der unsicher und doch voller Besitzerstolz von ihm zu mir ging.
»Ihr fahrt mit dem Auto?« wollte ich wissen.
»Keine Sorge, Mama, Marco fährt super Auto«, sagte Lucy schnell.
»Außerdem trinke ich nicht, wenn ich fahre«, ergänzte der Musterknabe.
Das wollte ich hoffen. Aber ich hatte ohnehin weniger Sorge wegen des Autos als wegen seines überkorrekten Auftretens. Das war einfach nicht normal für einen Neunzehnjährigen, und es machte mich äußerst mißtrauisch.
»Also, Mama, tschüß«, beendete Lucy die Inspektion.
Marco reichte mir noch mal die Hand und verabschiedete sich formvollendet. Ich sah den beiden nach, wie sie ins Auto stiegen. Bisher war Lucy mit dem Fahrrad abgeholt worden oder mit der Vespa. Die Zeiten änderten sich.
»Findest du wirklich, daß Lucy schon reif genug ist, um mit Männern herumzuziehen?«
Ich drehte mich zu Queen Mum um.
»Das sind keine Männer, sondern Jungs, ein bißchen älter als sie.«
»Ich finde, Lucy wirkt sehr frühreif. Du solltest ihr vielleicht die Möglichkeit geben, mehr Kind zu sein.«
Ich fühlte, wie sich meine Stacheln aufstellten.
»Ich halte sie bestimmt nicht davon ab, sich als Kind zu fühlen.«
»Lucy macht keinen glücklichen Eindruck. Sie ruht nicht in sich.«
»Mummy, sie ist in der Pubertät! Da ruht man nicht in sich.«
»Sie könnte Yoga machen oder autogenes Training. Das würde ihr bestimmt guttun.«
»Das kannst du ihr ja vorschlagen. Ich freue mich schon auf ihre Antwort«, sagte ich und wollte gehen.
Aber Queen Mum war offensichtlich entschlossen, eine Grundsatzdebatte herbeizuführen.
»Um Jonas mache ich mir auch so meine Gedanken.«
»Ach ja?«
Mein Adrenalinspiegel stieg bedrohlich an. Wenn ich mich jetzt nicht beherrschte, gäbe es Krach.
»Muß das Kind immer Rockmusik hören? Das entspricht doch seinem Alter gar nicht.«
»Weißt du, wie viele Pumuckl, Bibi Blocksberg, Märchen- und Kinderkassetten Jonas hat? Er mag sie nicht.
Sie sind ihm zu blöd. Wenn er Rockmusik hören will, dann soll er. Da mische ich mich nicht ein.«
»Solltest du aber.«
Ich sah sie herausfordernd an. »Ach, weißt du, Mummy, es reicht ja, wenn du dich ständig einmischst«, sagte ich mit schneidender Stimme, stampfte die Treppe hoch und knallte die Schlafzimmertür hinter mir zu.
Ich war müde an diesem Abend und ging früh ins Bett.
Sonst hatte ich nie Probleme mit dem Einschlafen gehabt. Heute tat ich kein Auge zu. Friedrich atmete schon ruhig neben mir, als ich immer noch angespannt im Dunkeln hockte und mich über Queen Mum aufregte.
Außerdem dachte ich voller Sorge an Lucy. Marco sah zwar nicht aus wie ein Vergewaltiger, Dealer oder Junkie.
Eher wie ein Computerhacker, der die Kreditkarten anderer Leute kopiert und heimlich, still und leise ihre Konten plündert. Warum ich ihm diese kriminelle Energie zutraute, verstand ich selbst nicht. Er war mir einfach unsympathisch.
Endlich, kurz nach eins, ging die Haustür. Vielleicht ist er doch nicht so übel, dachte ich verschwommen, bevor ich endlich einschlief.
»Warum soll immer ich hingehen?«
Wütend funkelte ich Friedrich an, der sich zum Ichweiß-nicht-wievielten-Mal vor dem Elternabend im Kindergarten drücken wollte.
»Ich hab einen wichtigen Termin«, behauptete er.
»Ich hab auch einen wichtigen Termin«, trotzte ich.
Warum war immer ich zuständig für
Geburtstagsgeschenke, frische Socken, Pausenbrote und Elternabende? Diese Kinder waren genauso seine wie meine.
Trotzdem war es natürlich ich, die den Abend mit einer Horde aufgebrachter Mütter und ein paar Vorzeige-Vätern verbrachte, die, ihre Knie knapp unterm Kinn, auf den viel zu kleinen Kindergartenstühlchen saßen und stritten. Es ging um die Zusammenlegung zweier Gruppen.
»Es muß gespart werden«, erklärten die einen, »sonst besteht die Gefahr, daß der Kindergarten ganz geschlossen wird.«
»Das ist pädagogisch nicht vertretbar«, hielten die anderen dagegen, »das ist ja wie Massentierhaltung!«
Ich sprach nicht gern vor vielen Leuten und hielt deshalb den Mund. Als ich nach meiner Meinung gefragt wurde, stammelte ich irgendwas von »Übergangslösung«,
»pädagogischen Aushilfskräften« und »langfristiger Planung«.
Dankbar, daß jemand nicht rumbrüllte, sondern in ruhigem Tonfall etwas von sich gab, wollte der Elternhaufen mich plötzlich zur Speerspitze seines Protestes machen und zur Sprecherin küren.
Ich zuckte zusammen. Nicht noch einen Job, bitte! Ich fühlte mich völlig ausgelastet mit einer Tochter kurz vorm Sitzenbleiben, einer Mutter mit Hang zum Psychodrama, einem Ehemann, der sich vor allem drückte, und einem Sohn, der sich noch nicht die Schuhe zubinden konnte.
Halbtags hatte ich einen Job, dazu ein Haus und einen Garten zu versorgen – es gab nichts, worauf ich weniger Lust hatte, als auch noch wochenlang auf Ämter und Behörden zu rennen. Außerdem kam Jonas in einem halben Jahr in die Schule, dann waren wir von der Zusammenlegung gar nicht mehr betroffen.
Die versammelten Eltern sahen mich auffordernd an.
Ich holte Luft, um zu sagen: »Nein, ich will das nicht machen.« Aber ich traute mich nicht.
Ich nickte resigniert, was von allen Anwesenden als Zeichen der Zustimmung gedeutet wurde. Flugs wurde ein Komitee gewählt, das mich bei meiner Aufgabe unterstützen sollte, und so fand ich mich wenig später in Gesellschaft von Frau Nessinger, einer weiteren Mutter mit politisch-kämpferischen Ambitionen und einem der Väter »Bei Reni« wieder.
Reni war die ausgemergelte Wirtin einer schmucklosen Vorstadtkneipe, in der ich höchstens mal ein paar Flaschen Bier holte, wenn Friedrich vergessen hatte, einen Träger zu kaufen.
»Marthe«, sagte die kämpferische Mutter und streckte die Hand aus. Der Vater hieß Horst, und dann erfuhr ich auch noch, daß Frau Nessinger auf den schönen Vornamen Wiltrud hörte.
Sie wohnte mit ihrer Familie in unserer Straße. Ihr Mann war als Vertreter von pharmazeutischen Produkten ständig unterwegs, ihre beiden Söhne machten ihr das Leben zur Hölle. Goofy, der Jüngere, war eigentlich ein ganz netter Bursche, sein Bruder Bastian dagegen ein aggressives, verschlagenes Kerlchen. Jonas kam oft heulend nach Hause, wenn er von ihm wieder gequält worden war.
Wiltrud war eine notorische Klatschtante. Vormittags arbeitete sie im Supermarkt, der ihr in erster Linie als Nachrichtenbörse diente. Das Geld brauchte sie natürlich auch; vermutlich war sie deshalb so scharf darauf, daß Goofy weiter in den Kindergarten ging.
Marthe erzog ihre Tochter Sina allein. »Von Anfang an«, wie sie betonte, es klang so, als wisse sie nicht einmal, wer der Vater war.
Horst erzählte uns ausgiebig von seiner Scheidung.
Seine Kinder lebten bei der Mutter, und um die Verbindung zu halten, stiefelte er brav zu ungeliebten Terminen wie Elternabend oder Kinderarzt.
Nachdem wir uns ein bißchen bekannt gemacht hatten, beratschlagten wir, was zu tun wäre, bis alle Gäste gegangen waren und Reni begann, die Stühle auf die resopalbeschichteten Tische zu stellen.
»Mama, ich brauche Geld«, teilte Lucy mir mit.
»Da geht’s dir wie uns allen«, tröstete ich sie.
»Ich will mehr Taschengeld! Ich brauche eine Stretchhose!«
»In deinem Schrank hängen mindestens zehn Hosen.
Darunter meine teure Lederjeans.«
»Ja, aber keine Stretchhose. Alle meine Freundinnen haben eine. Und die kriegen auch alle mindestens zweihundert Mark im Monat. Ich nur hundert.«
»Weißt du, wieviel Taschengeld ich mit fünfzehn gekriegt habe?« fragte ich, und es war mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter.
Diese saublöden Elternsprüche, warum waren sie einem so fest ins Gehirn gemeißelt, daß man sie unweigerlich hervorholte, obwohl sie einen früher so genervt hatten?
»Das kann man nicht vergleichen, das ist doch urlange her. Allein die Inflationsrate ist doch schon der Wahnsinn«, sagte Lucy.
»Erstens ist das nicht urlange her, sondern gerade mal zweiundzwanzig Jahre, und zweitens kriegst du auch unter Berücksichtigung der Inflationsrate ungefähr doppelt so viel wie ich damals.«
»Willst du, daß ich wieder klaue? Oder auf den Strich gehe?«
Böse schaute meine Tochter mich an. Ob das schon der unheilvolle Einfluß von Marco war?
»Nein, ich will, daß du begreifst, daß du nicht alles haben kannst, was deine Freundinnen haben. Und daß das Geld, das du so lässig verschleuderst, von deinem Vater und mir hart verdient werden muß.«
» Aber alle haben eine bestickte Lammlederjacke, nur ich nicht« , jammere ich.
» Willst du etwa so aussehen wie alle? « fragt Mummy und schaut mich streng an.
Natürlich nicht. Eine bestickte Lammlederjacke ist der Gipfel der Individualität; » alle« sind die Leute, auf die es ankommt, deren Meinung zählt, wenn man fünfzehn ist und verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung.
» Ich brauche doch sowieso einen Wintermantel« , versuche ich es mit einem praktischen Argument.
» Du kriegst einen Wintermantel. Einen aus Wolle, in einer vernünftigen Qualität, mit Kapuze. «
Mummy ist unerbittlich. Ich ahne, daß ich keine Chance habe und mir ein weiterer Winter als Außenseiter bevorsteht.
» Warum darf ich mir nicht aussuchen, was ich anziehe?
Ich muß schließlich damit rumlaufen. «
Ich stampfe mit dem Fuß auf und fange an zu heulen.
Ich fühle mich so machtlos, so ausgeliefert. Ich möchte endlich erwachsen sein und selbst entscheiden.
Schon als ich längst verloren habe, läßt Mummy es sich nicht nehmen, ihren Triumph noch zu krönen. » Daß für so eine Jacke kleine Lämmer bestialisch ermordet werden, ist Grund genug, keine zu tragen! «
Traurig und wütend spreche ich den ganzen Tag kein Wort mehr mit meinen Eltern. Am nächsten Abend sind wir alle zusammen von einem Geschäftspartner meines Vaters in ein feines Restaurant eingeladen. Als der Kellner zu mir kommt, bestelle ich laut und deutlich:
» Lammkoteletts! «
»Was kostet so eine Stretchhose?«
»Hundertzwanzig.« Lucy fiel mir um den Hals.
»Halt, so einfach ist das nicht!« bremste ich sie. »Ich strecke dir das Geld vor. Wenn du bei der nächsten Mathearbeit eine Drei schreibst, kannst du’s behalten.
Wenn nicht, stotterst du es von deinem Taschengeld ab.«
»Na gut, wenn’s sein muß«, willigte Lucy ein.
Manchmal half nur Erpressung, leider. Was hatte ich mir nicht alles vorgenommen! Ohne Druck sollte meine Erziehung sein, nur getragen von Liebe, Nachsicht und Geduld.
Neidisch hatte ich als Kind auf meine antiautoritär erzogenen Altersgenossen gesehen, die im Winter ohne Schuhe rauslaufen und sich Marmelade in die Haare schmieren durften. Kinder wissen selbst, was gut für sie ist, hatte ich lange gedacht und noch länger verkündet.
Inzwischen war ich eines Besseren belehrt worden.
Kindererziehung ist eine Art Seilziehen, bei dem verbissen um jeden Millimeter Boden gerungen wird. Ständig prallten meine Interessen gegen die der Kinder, und es war bei weitem nicht so, daß ich als Erwachsene im Vorteil gewesen wäre. Im Gegenteil, Kinder, so hatte ich gelernt, verfügen über die Macht der Machtlosen und können einen leichter über die Linie ziehen als ein gleich starker Gegner.
Ich fühlte mich obendrein ziemlich alleingelassen mit der Aufgabe, Lucy und Jonas zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Friedrich hatte sich zwar für Erziehungsfragen noch nie zuständig gefühlt, aber in letzter Zeit wurde sein Desinteresse an der Familie immer schlimmer. Wir sahen ihn manchmal tagelang nicht, weil er morgens ins Labor verschwand, bevor wir aufgestanden waren, und spät abends wiederkam, wenn wir schon schliefen.
Als er eines Morgens überraschend zum Frühstück blieb, zeigte Lucy auf ihn und fragte: »Mami, wer ist der Mann?«
Friedrich lachte: »Du kannst Onkel zu mir sagen!«
Er küßte Lucy und Jonas.
»Iiih, nicht küssen!« schrie Jonas und rannte weg.
Friedrich drückte mich kurz an sich, und schon war er zur Tür raus.
Er sprach nie über seine Gefühle. Obwohl er kein kalter Mensch war, konnte er seine Empfindungen nur körperlich ausdrücken, nicht verbal. Wenn wir zusammen schliefen, spürte ich meist, wie es ihm ging. Wenn ich ihn fragte, erfuhr ich gar nichts. Trotzdem versuchte ich es immer wieder.
»Was soll denn sein?« gab er ungehalten zurück. »Ich muß wahnsinnig viel arbeiten, wir sind an einer großen Sache dran.«
»Aber du bist immer weg, und selbst, wenn du mal da bist, bist du innerlich nicht anwesend. Hast du mich in den letzten Wochen einmal gefragt, wie es mir geht?«
Er lächelte. »Also gut. Wie geht es dir?«
Ich winkte ab. »Vergiß es.«
Vielleicht verlangte ich wirklich zuviel.
Ich konnte mich eigentlich nicht beklagen: Friedrich hatte einen guten Job, er war lieb zu den Kindern und behandelte mich besser als viele Männer ihre Frauen.
Wenn davon ausgegangen wurde, daß Ehepartner pro Tag durchschnittlich acht Minuten miteinander umgehen, war unsere Ehe doch ein Hort der Kommunikation. Oder sagen wir: Auf jeden Fall guter Durchschnitt. Meistens jedenfalls.
Ein paar Tage später erfuhr ich, was Friedrich in den letzten Wochen so beschäftigt hatte.
»Das ist das Ende«, sagte er, warf die Zeitung auf den Tisch und starrte trübsinnig hinterher.
»Was ist das Ende?« fragte ich erschrocken.
Als er keine Antwort gab, griff ich nach der Zeitung.
Die Schlagzeile hieß: SCHAF GEKLONT! ENGLI-SCHEN WISSENSCHAFTLERN GELINGT PERFEKTE
KOPIE!
Seit Jahren arbeitete Friedrich am Transfer von DNS, der Erbsubstanz von Pflanzen und Tieren, in andere Zellen, mit dem Ziel des »Klonens«, der Vervielfältigung. Ich hatte das immer ziemlich gruselig gefunden und insgeheim gehofft, den Wissenschaftlern würde das Experiment nicht gelingen. Nun hatte es doch einer geschafft, nur leider – oder glücklicherweise? – nicht mein Mann.
»Heißt das, man kann jetzt auch Menschen klonen?« fragte ich entsetzt. Die Vorstellung, manchen Zeitgenossen in mehrfacher Ausführung zu begegnen, fand ich ziemlich ungemütlich.
»Im Prinzip ja. Technisch ist es möglich, aber natürlich ist es verboten.«
Als hätte das jemals in der Geschichte der Menschheit etwas genutzt. Alles, was machbar war, wurde irgendwann gemacht, das konnten Gesetze oder Verbote nicht verhindern. Mir wurde sehr unbehaglich zumute.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest das schaffen?« fragte ich Friedrich.
»Auch wenn du’s nicht glaubst, wir waren sehr nahe dran. Eigentlich haben wir in den nächsten Monaten mit dem Durchbruch gerechnet. Jetzt können wir die Arbeit von Jahren wegschmeißen.«
Er stand auf. »Ich geh ein bißchen spazieren.«
Armer Friedrich.
Mir wurde klar, wie wenig ich von seiner Arbeit wußte.
Es genügte mir, daß jeden Monat Geld aufs Konto floß, daß er abends nicht zu spät heimkam und zufrieden war mit dem, was er tat. Was das im Einzelnen war, hatte mich nie interessiert. Ich war auch sicher gewesen, ich würde es nicht verstehen, deshalb hatte ich nicht gefragt.
Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Hätte das nicht auch zu meinen Aufgaben als Ehefrau gehört, mich mit dem zu beschäftigen, womit mein Mann sich tagaus, tagein beschäftigte, wie er uns ernährte, was seine Gedanken bestimmte?
Dann fiel mir ein, daß ja auch Friedrich sich nie um das kümmerte, was ich tat. Ob was zu essen im Haus war, ob die Wäsche gewaschen war, ob die Kinder pünktlich ins Bett gingen, ob ich Streß in der Bank hatte, ob die Heizkostenrechnung bezahlt war – all das interessierte ihn nicht.
Er ging davon aus, daß alles klappte, und da immer alles klappte, fiel ihm gar nicht auf, wieviel Arbeit das bedeutete.
Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß ich eigentlich die Bedauernswerte sei. Als er zurückkam, verbrachten wir den Abend mehr oder weniger schweigend, jeder in Gedanken versunken. Ein Hauch von Feindseligkeit lag in der Luft, es war nicht genau festzustellen, von wem er ausging.