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Das war der letzte Name auf seiner Liste. Rule hatte jeden verdammten Namen einzeln geprüft und nichts gefunden.
Er rieb sich das Gesicht und sah sich um. Madame Yu und Mike waren immer noch über ihre Listen gebeugt, aber die anderen waren fertig. Was jetzt? Was zur Hölle sollten sie als Nächstes tun? »Am besten reichen wir unsere Kopien an unseren Nebenmann weiter. Um gegenzulesen.«
»Wir essen jetzt«, sagte Madame Yu, ohne von ihren Blättern aufzusehen.
Essen. Ja, es war … Gott, es war Mittag. Jetzt hatte Friar Lily schon ungefähr zwölf Stunden in seiner Gewalt. Rule schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, was das bedeutete. Sie war am Leben. Sie war am Leben, und sie hatte es geschafft, zu ihm Verbindung aufzunehmen. »Natürlich«, sagte er, erstaunt, wie ruhig seine Stimme klang. »Scott, würdest du bitte etwas für uns bestellen?«
Scott nickte, holte sein Handy heraus und tippte dem Mann, der neben ihm saß, auf die Schulter. »Ich kenne hier keine Lieferanten. Wo soll ich anrufen?«
»Zwei Block weiter gibt es eine Pizzeria, die ist ziemlich gut. Ich gebe Ihnen die Nummer.«
Rules Telefon ertönte. Hastig griff er danach. »Ja?«
»Wir haben eine Spur gefunden«, sagte Tony. »Ziemlich frisch noch dazu. Im Whole Foods in Potrero Hill. Rick ist jetzt mit seinem Cop in der Obst- und Gemüseabteilung. Er hat angezeigt, dass die Erdbeeren stark nach Elf riechen.«
»Potrero Hill«, wiederholte Rule und notierte es. »Der Whole Foods Supermarkt.« Er schob seinen Stuhl zurück.
Bergman kam herein. »Hinter der Adresse in der Crescent Street verbirgt sich ein Lagerhaus. Es wurde im letzten November an Abraham Brown vermietet, was schon ein kleines Kunststück ist, wenn man bedenkt, dass er im Mai verstorben ist.« Sie blieb stehen. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Nicht in den Listen. Einer meiner Leute hat in einem Whole Foods in Potrero Hill Elf gerochen.« Wo immer zum Teufel das war. Er war so erpicht darauf gewesen, etwas tun zu können, dass er nicht gefragt hatte. »Wissen Sie, wo das ist?«
»Klar.« So wie ihre Augen leuchteten, konnte auch sie es kaum erwarten, aktiv zu werden. »Ich bringe Sie hin.« Sie steckte den Kopf in den Flur. »Bill! Ich überprüfe zusammen mit Turner eine neue Spur. Fahren Sie zu diesem Lagerhaus und finden Sie heraus, ob es da einen Wachmann gibt oder sonst jemanden, mit dem Sie sprechen können.«
»Können wir eine Kopie des Fotos von Abraham Browns Führerschein bekommen?«, fragte Rule. »Vielleicht haben die Elfen das Bild für ihre Illusion benutzt. Könnte sein, dass ihn jemand wiedererkennt.«
»Gute Idee«, sagte Bergman. »Harris, Sie sind doch schnell mit solchen Sachen.«
»Klar, immer auf den Neuen.« Aber der junge Mann stand auf, streckte sich und eilte aus dem Zimmer.
»Ich begleite Sie«, sagte Madame Yu und erhob sich.
Beth sprang von ihrem Stuhl auf. »Ich auch.«
Bergman schüttelte den Kopf. »Ich brauche Leute, die die Nachbarschaft abklappern können, wenn wir einen Treffer mit Browns Foto landen. Da kann ich keine Zivilisten gebrauchen.«
Rule sah die Hand zuerst. Ungefähr einen Meter entfernt schob sie sich aus der Wand neben Bergman – eine Hand, klar und deutlich. Eine Männerhand mit einem glänzenden goldenen Ehering am Finger. Sie hielt etwas fest gepackt. Dahinter war … Nebel. Nur Nebel.
»Rule.« Madame Yus Stimme war leise. Besorgt. Sie kam zu ihm. »Was haben Sie?«
»Drummond«, flüsterte er.
In dem Moment, als er den Namen des Mannes aussprach, begann der Nebel sich zu formen. Langsam, unerträglich langsam zog er sich zusammen, doch schließlich stand Al Drummond vor Rule.
Er sah schlecht aus. Er war seit drei Monaten tot, doch jetzt sah er aus, als würde er tatsächlich sterben, unter großen Qualen. Der Schmerz hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Die Sehnen an seinem Hals standen vor. Er schien sich nur mit Mühe aufrecht halten zu können. Er sah Rule an und sagte etwas.
»Ich kann Sie nicht hören. Ich kann Sie sehen, aber ich kann Sie nicht hören. Wo ist Lily? Ist sie hier irgendwo?«, fragte er scharf.
Drummond schüttelte den Kopf und erschauerte. Wieder sagte er etwas. Rule beobachtete aufmerksam seinen Mund, doch er hatte nie gelernt, von den Lippen abzulesen. »Noch einmal«, sagte Rule. »Sagen Sie es noch einmal langsam.«
Es hatte keinen Zweck. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Sie nicht verstehen. Verdammter Mist!«
»Wen können Sie nicht verstehen?«, fragte Bergman argwöhnisch.
»Still«, fauchte Madame. »Rule, ist der Geist, der an Lily gebunden ist, hier und versucht er, Ihnen etwas zu sagen?«
»Ich kann ihn nicht hören.« Rules Stimme wurde zu einem Knurren. »Ich kann ihn sehen, aber ich kann ihn nicht hören, und von den Lippen ablesen kann ich nicht.«
»Kann er mich sehen?«
Drummond nickte.
»Ja«, sagte Rule.
»Und den Stadtplan? Kann er den Stadtplan sehen?«
Wieder nickte Drummond. Was Rule laut weitergab.
»Gut.« Sie marschierte zu der Wand. »Mr Drummond, wissen Sie, wo Lily ist?«
Drummond nickte heftig.
»Ja«, sagte Rule, die Arme gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt.
»Dann spielen wir das Heiß-und-kalt-Spiel.« Sie studierte den Plan einen Moment und legte dann den Finger darauf. »Während ich meinen Finger bewege, wird Mr Drummond nicken, wenn es wärmer wird, und den Kopf schütteln, wenn es kälter wird. Wenn ich zu der Stelle komme, wo Lily ist, sagt er etwas. Rule gibt alles weiter.«
Drummond schüttelte den Kopf und begann … es sah aus, als würde er sich mit einer Hand vorwärtsziehen. Eine Hand, die etwas hielt, das Rule nicht sehen konnte. Er kam nahe an Rule heran und blieb dann mit offenbar frustrierter Miene stehen. Er winkte Rule mit der anderen Hand zu.
»Wartet einen Moment. Ich glaube, er muss näher an den Plan heran.«
Drummond winkte Rule erneut zu. Dieses Mal verstand Rule. Er wollte, dass Rule näher vor den Plan trat. Das tat er. Und Drummond folgte … langsam. Als kostete jeder einzelne Schritt ihn ungeheure Anstrengung. Vornübergebeugt blieb er stehen, eine Hand in die Seite gepresst, die andere griff ins Leere.
»Okay«, sagte Rule. »Los.«
»Ich fange bei dem Block an, in dem unser Hotel ist«, gab Madame Yu bekannt.
Da Rule Drummond im Auge behielt und nicht Großmutter, konnte er nicht sehen, wo ihr Finger auf dem Plan hinwanderte. Drummond schüttelte schnell den Kopf. »Kälter«, sagte Rule. Jetzt folgte eine längere Pause. Drummond nickte leicht. »Wärmer, aber nicht heiß.« Wieder ein paar Herzschläge … »Kälter. Kalt … okay, jetzt haben Sie wieder die richtige Richtung. Er nickt. Er ist … da. Stopp.« Drummonds Mund hatte sich bewegt, doch jetzt schüttelte er wieder den Kopf. »Wieder hoch. Sie hatten es gerade, aber … das ist es!« Drummond nickte und redete wie ein Wasserfall.
»Mein Finger«, sagte Madame Yu, »liegt auf der Crescent Street. Auf dem Block, wo das Lagerhaus ist.«
Drummond nickte hektisch.
»Das Lagerhaus?«, sagte Rule schnell. »Ist sie da?«
Drummond nickte wieder und formte mit übertriebenen Lippenbewegungen ein Wort. Dann fiel er auseinander – löste sich nicht nur in Nebel auf, so wie er es laut Lily immer tat, sondern wurde in Fetzen gerissen.
»Er ist fort«, sagte Rule ausdruckslos. »Das Lagerhaus …« Es lag westlich des Hotels. Lily hatte Rule gesagt, sie sei östlich. Wie sollte Rule jemandem wie Drummond mehr glauben als Lily?
»Sagen Sie mir, dass Sie nicht ernsthaft vorhaben, dorthin zu gehen, aufgrund dessen was – das, was immer Sie da zu sehen geglaubt haben, gesagt hat«, sagte Bergman.
Er sah sie an. Sie sei kompetent, hatte Lily gesagt. Mache ihre Arbeit gut. Sie hatte vermutlich recht. Doch er bekam nicht aus dem Kopf, wie Drummond ausgesehen hatte. Welchen Schmerz er gelitten hatte. Er hatte sich unter großen Mühen hierhergequält, um ihm etwas zu sagen. Und das letzte Wort, das er herausgebracht hatte, das, das er so deutlich artikuliert hatte, damit Rule ihn auch wirklich verstand … es hatte ausgesehen, als würde er Beeilung sagen.
»Dame«, flüsterte er. Was soll ich tun?
Die Dame hatte noch nie mit ihm gesprochen. Und sie tat es auch jetzt nicht. Doch er spürte, wie er in einen vertrauten Zustand kam, in certa, die mentale Verfassung während eines Kampfes, wenn Gedanken, Entscheidungen und Handlungen leicht und eisklar flossen.
Er konnte mit Bergman zu Whole Foods fahren, aber das war eigentlich eine Sache für einen Cop, oder? Nicht für einen Rho. Nicht für einen Lupus. »Wir fahren zu 44191 West Crescent«, sagte er knapp. »Scott, wir brauchen unsere Autos. Special Agent, eine Polizeieskorte würde –«
»Vergessen Sie’s. Sie sind verrückt, und das werde ich nicht noch unterstützen.«
Rule hörte nicht mehr zu, da ein neuer Gedanke auf ihn einströmte. »Schon gut. Scott, du triffst mich mit den anderen dort. Mike, Todd – ihr kommt mit mir mit.«
»So wie ich natürlich«, sagte Madame Yu.
»Ihre Hilfe ist immer willkommen.«
»Sie sind wirklich verrückt«, sagte Bergman nüchtern.
Ihrem Kommentar folgte sofort die Unterstützung der anderen Agenten. Selbst Beth sah besorgt aus, und seine eigenen Leute wirkten entweder alarmiert oder wie versteinert … aber andererseits waren es auch Leidolf. Keiner von ihnen hatte schon einmal neben Madame gekämpft. Doch ihre Reaktion ließ sie ihn für einen Moment durch die Augen der anderen sehen.
Sie war so klein. Klein und dünn und runzlig. Madame Yu war eine alte Frau, egal wie groß der Geist in ihrem aufrechten Körper war … ein Körper, sehr viel älter, als die anderen sich vorstellen konnten. Langsam verzog Rule die Lippen zu einem Lächeln, als ihm eine Idee kam. Er musste annehmen, dass Friar wusste, wer Li Lei Yu war, doch er hatte keine Ahnung, was sie war. »Madame, ich weiß, was Sie tun können. Es ist sehr gefährlich.«
Sie rümpfte abfällig die Nase über diese Warnung.
»Wirken ihre Illusionszauber auf Sie?«
»Ich glaube nicht, aber das werden wir ja sehen.«
»Nun gut. Ich erkläre Ihnen alles auf dem Weg.« Scott bestellte trotz seiner möglichen Zweifel über Rules Auswahl seiner Kampfgefährten gehorsam die Wagen. Rule wollte sich gerade an den Special Agent wenden, da meldete sich Jasper zu Wort. »Ich komme auch mit. Es sei denn, du hast vor, wieder direkt in einen Kugelhagel zu laufen, dabei wäre ich nicht sehr hilfreich, weil ich nämlich viel zu schnell tot wäre. Aber bei einer Geiselnahme ist meistens mehr gefragt, dass man unbemerkt bleibt, und das kann ich.«
Rule begegnete dem Blick seines Bruders. Er sah Not und Entschlossenheit. Was konnte ein Mensch ausrichten gegen das, mit dem sie es aufnahmen? Er wusste es nicht und doch … »Bist du bereit und willens, meinen Anweisungen zu folgen?«
Jasper nickte.
Und doch hatte Jasper vielleicht das Recht, dort zu sein. Und es zu versuchen. »Nun gut. Vielleicht wirst du dabei umkommen.«
Rule holte sein Handy hervor, um ebenfalls jemanden anzurufen … Cullen. Der den Helikopter hatte. Der in San Franciscos schrecklichem Verkehr sehr viel schneller vorankam als ein Auto.
Und Drummonds letztes Wort war Beeilung gewesen.