15

Lily klinkte ihren Sicherheitsgurt ein. »Noch nie hätte ich deinem Vater lieber eine verpasst.«

Rule lächelte seine nadia an, die zwischen ihm und Cullen auf dem Rücksitz von Isens riesigem gepanzertem Lincoln saß und überlegte, ob es falsch von ihm war, dass er ihren Ärger tröstlich fand. »Das geht vielen so.«

»Es gibt keine Erklärung dafür, warum er nicht mit seinen Gründen rausrücken will.«

»Er hat dir eine gegeben.«

Lily schnaubte. »Oh ja. Er will es mir nur leichter machen.«

»Ja, so ist Isen«, sagte Cullen. »Ein rücksichtsvoller Mistkerl.«

Isen hatte Lily verdeutlicht, dass es praktisch für sie wäre, wenn sie Tony persönlich befragen könnte. Das stimmte zwar, aber Lilys Skepsis war gerechtfertigt. Hinter Isens Arrangement steckte mehr … Was genau, das wusste auch Rule nicht, aber ein paar Details kannte er doch. »Du willst sicher mit Tony über den Deal sprechen, den sein Vater mit dem gemacht hat, der hinter dem Prototyp her war.«

»Natürlich will ich mit ihm sprechen. Isen hat diesbezüglich nichts aus Leo herausbekommen. Zumindest behauptet er das.« Sie warf Rule einen Blick zu. »Du warst doch ein paar Stunden bei Isen. Du weißt doch sicher mehr.«

»Heute Morgen ging es vor allem um Clanpolitik. Die Art, wie Isen den Verrat der Laban gehandhabt hat, wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.«

»Warum?«

»Es ist eine Einmischung«, sagte Cullen. »Eine Einmischung in die internen Angelegenheiten der Laban.«

»Es ist in Ordnung, wenn Isen Leo tötet, aber eine Einmischung, wenn er ihn zwingt, abzutreten?«

»So ungefähr, ja.«

Rule sah ihr an, dass sie das nicht verstand. »Ein untergeordneter schuldet seinem dominanten Clan Gehorsam, aber er wird von seinem eigenen Rho geführt. Isen hat das Recht, Leos Tod zu fordern, aber ihm zu befehlen, die Macht an seinen Thronfolger abzugeben … Er hat die nötige Autorität, aber ob er auch das Recht dazu hat, das werden nun manche infrage stellen. Nur ein Rho fällt Entscheidungen, die die Clanmacht betreffen.«

»Aber wenn er Leo getötete hätte, wäre es auf dasselbe hinausgelaufen – auch dann wäre die Macht an seinen Thronfolger übergegangen. Und Leo wäre außerdem tot.«

Rule nickte. »Und so wird Isen seine Entscheidung begründen, als einen symbolischen Tod eines eidbrüchigen Rho. Der Rho ist ›gestorben‹, der Mann nicht. Es wird trotzdem einige geben, die es als ein anmaßendes Eingreifen in die Herrschaft des Rho der Laban sehen. Äh … das ist kein sehr gutes Beispiel, aber denk dran, wie empfindlich die lokalen Cops manchmal werden, wenn das FBI auf einem Gebiet aktiv wird, das sie für ihr Revier halten. Die Feds haben die Befugnis dazu, dennoch kann es sein, dass die Beamten vor Ort glauben, sie würden ihre Amtsgewalt missbrauchen.«

»Und dann gibt es da noch den Bürgerkrieg«, sagte Cullen fröhlich. »Staatsrechte und so – welche Kompetenzen die Bundesregierung hat und welche die Bundesstaaten. Darüber echauffieren sich die Leute heute noch. Die Laban sind den Nokolai untergeordnet, aber sie haben trotzdem ihre Rechte.«

Rule nickte. »Es ist nicht gerade hilfreich, dass Tony Leos Thronfolger war und Isen ihm nicht erlaubt hat, für eine Änderung zu sorgen, bevor er die Macht weitergegeben hat.«

»Was hat das damit zu tun?«

Rule und Cullen tauschten einen Blick. Rule antwortete. »Bis diesen Juli war Leos ältester Sohn James sein Thronfolger, doch dann hat er ihn plötzlich durch seinen jüngeren Sohn Tony abgelöst. Man glaubt allgemein, dass die beiden einen Streit hatten, Leo James eine Lektion erteilen wollte und dass Tony, der jüngere Sohn, nur ein vorübergehender Platzhalter für seinen Bruder war.«

»Was stimmt denn nicht mit Tony?«

»Nichts«, sagte Rule bestimmt. Ein bisschen zu bestimmt vielleicht. Sie sah ihn fragend an. Er seufzte. »Tony hat keinen Sohn. Und, nun ja, ich habe dir gesagt, dass das eine Voraussetzung für einen Lu Nuncio ist, aber das ist kulturell bedingt, nichts, was die Clanmacht fordern würde.«

Cullen kam ihm zu Hilfe: »Aus einem ähnlichen Grund hat Jasper Herron Myron zum Lu Nuncio der Kyffin ernannt. Myron ist ein lausiger Kämpfer.«

Sie nickte langsam. »Ein Lu Nuncio sollte kampferprobt sein, aber Jasper hat seinen Onkel zum Thronfolger ernannt, weil sein Sohn noch zu jung ist und Myron kein Rho werden will und deswegen froh sein wird, wenn sein Großneffe alt genug für das Amt ist. Das wissen alle, aber keiner spricht offen darüber. Das heißt, niemand hat Tony als Lu Nuncio wirklich ernst genommen?«

»Mehr oder weniger. Wir hatten angenommen, Leo würde Tony sehr bald wieder aus dem Amt entfernen.«

Sie nickte wieder. »Okay, dann ist es also eine Frage des Reviers und der Rechte, wenn Isen Leo befiehlt, abzutreten. Das verstehe ich, aber inwiefern ändert es etwas daran, wie diese Grenzen gezogen werden, wenn er Leo leben lässt?«

»Leo war verantwortlich für das, was er getan hat, verstehst du. Nicht die Clanmacht.«

Das gab Lily eine Weile zu denken. »Aus Sicht der Lupi gesehen ergibt das sogar Sinn. Leo hat die Verantwortung für sein Handeln übernommen, deswegen ist er persönlich schuldig. Damit ist sein Clan aus dem Schneider. Aber Isens Entscheidung betrifft die Clanmacht und damit alle Laban.«

»Manche werden es so sehen.«

»Dreht sich mein Kopf? So fühlt es sich nämlich an. Und das erklärt nicht, warum diesem neuen Rho befohlen wurde, sich uns anzuschließen. Oder warum wir ihn lassen sollten.«

»Die Laban sind schuld, dass wir, du und Cullen und ich, uns nun einem Risiko aussetzen müssen. Deshalb muss der Rho der Laban das Gleiche tun – und bekommt damit eine Chance, das zurückzuholen, was die Nokolai durch seinen Clan verloren haben.«

»Großmutter sagt: Wenn man einen Feind das Gesicht verlieren lässt, muss man ihn entweder töten oder ihm eine Gelegenheit geben, es wiederzugewinnen.«

»Die Laban sind nicht unsere Feinde, aber ansonsten … ja, so ist es.«

Lily verfiel in Schweigen. Sie dachte nach. Oder sie machte sich jetzt wieder Sorgen um ihn.

Das war seine Schuld. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Er nahm ihre Hand. Sie sah ihn an, ein Blick von der Seite unter den Wimpern hervor. Sie hatte noch Fragen, aber sie würde sie nicht stellen, nicht hier. Er sah weg und streichelte mit dem Daumen über die gepolsterte Stelle unten an ihrem Daumen. Er wollte ihre Fragen nicht beantworten. Eine unbestimmte Scham haftete an ihm, klebrig wie ein Spinnennetz. Er sah keinen Grund dafür.

Es war ein Schock für ihn gewesen, von dem Menschenbruder zu erfahren. Er hatte nicht gut reagiert. Ohne Zweifel auch deswegen, weil es an Micks Geburtstag passiert war. Aber er schämte sich nicht seiner Reaktion.

Wie fühlte er sich jetzt? Das würde Lily fragen, wenn sie allein wären. Oder vielleicht auch nicht. So gern sie auch Fragen stellte, sie verstand, dass manche Antworten treffender waren, wenn man keine Worte daran heftete. Er war … neugierig. Ja, jetzt, da der Schock abgeklungen war, wollte er mehr über Machek wissen. Er wollte vermeiden, dass der Mann ins Gefängnis kam – dabei konnte Lily hilfreich oder hinderlich sein, und er wollte mit ihr diese Frage erörtern, aber erst, wenn er sie unter vier Augen sprechen konnte. Dabei gab es zwischen ihm und dem neuen Familienmitglied keine wirkliche Bindung, auch wenn Machek ihn gestern Nacht am Telefon Bruder genannt hatte.

Aber Jasper Machek war dreiundfünfzig Jahre alt. Das wusste Rule, weil Lily Isen danach gefragt hatte, als Rule noch damit beschäftigt war, die Neuigkeit zu verarbeiten. Und während Rule keine Ahnung von Jasper Macheks Existenz gehabt hatte, hatte Machek die ganze Zeit über Rule Bescheid gewusst. Das hatte Isen gesagt, kurz bevor Rule gestern Nacht den Raum verlassen hatte. Der Mann hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, Rule schon vorher Bruder zu nennen.

Und jetzt war alles anders. Er wollte etwas von ihm.

Rule erwachte aus seinen Gedanken, als er Lilys Blick auf sich spürte. »Ja?«

»Ich möchte nur sichergehen, dass wir uns einig sind«, sagte sie. »Cullen will seinen Prototyp zurück. Das will ich auch, aber vor allem will ich herausfinden, wer ihn hat und warum. Und was willst du, Rule?«

»Herausfinden, ob Friar irgendwie seine Finger bei diesem Diebstahl im Spiel hat, natürlich.« Leise fügte er hinzu. »Mir geht es gut, Lily.«

Sie nickte, aber nicht so, als würde sie ihm glauben. Eher so, als wollte sie ihm nicht widersprechen. »Im Moment besteht kein Grund anzunehmen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Es könnte sich einfach um einen ganz altmodischen Industriediebstahl handeln.«

»Du sagtest, Ruben habe eine Vorahnung gehabt, dass du lieber dabei sein solltest.«

»Aber in seiner Vorahnung war nicht zu erkennen, warum. Das bedeutet nicht, dass Friar mit drinsteckt.« Sie trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel. »Ich habe zwei Zeugen oder werde sie haben. Deinen Bruder und wie heißt er noch mal … den neuen Rho der Laban.«

»Tony Romano.«

»Richtig. Tony und Jasper hatten beide Kontakt mit dem, der diesen Diebstahl in Auftrag gegeben hat.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Ich nehme an, diese Information ist Teil des Deals, den dein Bruder machen will.«

»Für mich ist er jemand aus meiner alius-Familie.«

»Okay. Für mich ist er dein Bruder.«

Er erwiderte nichts. Irgendwann würde Lily es verstehen, aber jetzt noch nicht, und er wollte es ihr nur ungern vor Publikum erklären.

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Wie auch immer wir Jasper nennen: Er weiß etwas, das wir nicht wissen. Dass er mit uns redet, muss Teil des Deals sein.«

»Natürlich. Informationen sind das Einzige, was er anzubieten hat, wenn es stimmt, was er sagt, und er das Gerät gestohlen hat. Ich weiß nicht, was er als Gegenleistung verlangt, aber ich nehme an, er wird auf keinen Fall ins Gefängnis wollen.« Er machte eine Pause. »Das wäre auch in meinem Sinn.«

»Ich werde daran denken. Ich finde, ich sollte zu den Verhandlungen mitkommen.«

Seine Augenbrauen schossen hoch. »Ich bin durchaus in der Lage –«

»Ja, aber ihr beide werdet einen schwierigen Start haben, wenn du den Harten markieren musst.«

»Wenn man bedenkt, dass unsere Beziehung damit begann, dass er meinen Clan bestohlen hat, würde ich sagen, dass sie bereits ›schwierig‹ ist.«

»Dann lass es uns nicht noch schlimmer machen. Außerdem kannst du ihm keine Immunität vor Strafverfolgung gewähren, und darauf wird er sicher bestehen.«

Er hatte den Verdacht, dass sie genau genommen auch keine Befugnis dazu hatte, aber sie konnte darauf verzichten, Machek zu verhaften. Offenbar glaubte sie, die Sache unter der Hand regeln zu können. Er überlegte noch einen Moment und nickte dann. »Dann soll ich also der gute Cop sein?«

»Du kannst rumstehen und geheimnisvoll und ein bisschen unheimlich aussehen. Du sagtest, er wolle erst damit rausrücken, was er verlangt, wenn wir dort sind.«

Er nickte und spielte mit dem Ring an ihrem Finger. Seinem Ring.

»Kannst du mir beschreiben, was du für einen Eindruck von ihm hattest?«

»Er weiß, was er will, auch wenn er es mir nicht sagen wollte. Er war ruhig, beherrscht, obwohl man doch eigentlich hätte erwarten sollen, dass er panisch wäre oder wütend, weil er etwas verloren hat, das er mit viel Mühe in seinen Besitz gebracht hatte.« Er dachte wieder nach und fügte hinzu: »Er ist gebildet oder kann so tun, als ob.«

»Er hat einen Abschluss in Kunstgeschichte und besitzt eine kleine Galerie.«

Kunstgeschichte. Warum überraschte ihn das? Er wusste seit weniger als vierundzwanzig Stunden von der Existenz des Mannes. Das war sicher nicht genug Zeit, um Vorurteile zu entwickeln. »Gestern Nacht war ich nicht bereit, mehr über ihn zu erfahren. Jetzt bin ich es.«

Sie legte den Kopf schief. »Ich habe die FBI-Akte über ihn, außerdem ein paar neue Informationen, die Arjenie zusammengetragen hat. Willst du sie sehen?«

Das FBI hatte nicht über jeden eine Akte. »Meinst du eine Akte oder ein Vorstrafenregister?«

»Kein Vorstrafenregister. Er wurde nie verhaftet, aber vor ein paar Jahren hat man ihn des Diebstahls in der National Gallery in D.C. verdächtigt. Deswegen gingen die Unterlagen ans FBI – National Gallery, Bundesrecht. Man hat nie genug gefunden, um eine Verhaftung vorzunehmen, aber es ist offensichtlich, dass der leitende Agent ihn für den Täter hielt. Er hat die Akte zusammengestellt.«

»Dann ist er ein Profi. So wie du vermutet hattest.«

»Sieht so aus, obwohl da –«

Cullen unterbrach sie. »Was wurde gestohlen?«

Sie sah ihn an. »Das war eigenartig. Nur ein Objekt wurde vermisst – ein Kelch aus dem dreizehnten Jahrhundert, aus massivem Gold mit wertvollen Edelsteinen. Niemand konnte sich vorstellen, warum er es ausgerechnet auf dieses Objekt abgesehen hatte. Natürlich war es viel wert, aber es gab noch viel wertvollere Gegenstände, die er hätte mitgehen lassen können.«

»Nein, gab es nicht«, sagte Cullen.

»Was weißt du denn darüber?«

»Der Kelch war ein Artefakt.«

»Ein Artefakt?«, sagte Rule verblüfft. Artefakte waren äußerst mächtige magische Objekte – so mächtig, dass niemand auf der Erde wusste, wie man sie herstellte. Dazu brauchte es einen Meister, und das Wissen darum war schon seit der Säuberung verloren. »Was hat es bewirkt?«

»Das weiß niemand. Zumindest habe ich nie davon gehört, dass es jemand herausgefunden hätte, und ich habe es auch nicht geschafft, das steht fest. Ich habe tagelang an dem verdammten Ding herumgetüftelt, konnte aber nur den Auslöser entdecken – und der war verschlossen.«

»Verschlossen«, wiederholte Lily.

»Verschlossen wie mit einem Schlüssel, der zu jemandem passt, der wahrscheinlich schon seit Hunderten von Jahren tot ist, deshalb konnte es niemand benutzen. Den Schlüssel zu ändern erfordert Wissen, über das wir nicht verfügen.«

»Und du hast es mehrere Tage lang untersucht?«

»Ungefähr drei Monate, bevor es gestohlen wurde. Und –«, sagte Cullen mit vorauseilender Abwehr, »ich hatte nichts damit zu tun. Nicht, weil ich irgendwelche moralischen Einwände gehabt hätte, aber ich hätte mir Umbra nicht leisten können.«

»Umbra.«

»So nennt sich der Dieb. Oder nannte er sich. Ganz schön anmaßend, was?«

»Keine Ahnung«, sagte sie trocken. »Was bedeutet es?«

»Es ist der wissenschaftliche Name für einen Teil eines Schattens. Jedenfalls hat jeder geglaubt, dass Umbra den Kelch gestohlen hat, weil die Sache so professionell und glatt lief und es ein hoch dotierter Job war. Es wurde viel spekuliert, wer sein Kunde gewesen sein könnte, aber das war alles Blödsinn. Eigentlich wusste niemand etwas.«

»Wer ist ›jeder‹?«

Cullen wedelte vage mit der Hand. »Leute. Du weißt schon.«

»Nein, weiß ich nicht. Aber ich würde gern.«

»Mehr werde ich dir nicht sagen. Erstens war das vor sieben Jahren, und ich erinnere mich nicht mehr genau, mit wem ich geredet habe. Zweitens, wenn einer von ihnen auch nur den Verdacht hat, dass ich ihn gegenüber jemand Offiziellem erwähnt habe, reden sie nie wieder mit mir. Und das wäre übel.«

»Sind es andere Zauberer?«

»Hast du nicht gehört, dass ich gesagt habe, ich würde dir nicht sagen, wer sie sind? Ich könnte schwören, dass ich mich das habe sagen hören.« Cullen seufzte. »Jetzt fühle ich mich ein bisschen besser, weil ich weiß, dass es Umbra war, der meine Banne durchbrochen hat. Nicht viel, aber ein bisschen. Man sagte, er sei der Beste gewesen.«

Rules Augenbrauen hoben sich. »Gewesen?«

»Vor zwei oder drei Jahren ging das Gerücht, er würde keine Jobs mehr annehmen. Warum, darüber gingen die Meinungen auseinander. Einige meinten, er sei im Ruhestand. Andere, er sei gestorben. Sieht so aus, als hätte er sich nur eine Art Auszeit gegönnt.«

Lily machte sich eine Notiz. »Hm. Dann werden wir wohl Gelegenheit bekommen, ihn selbst zu fragen. Wie ist man mit Umbra in Kontakt getreten, um ihn anzuheuern?«

Cullen dachte einen Moment über die Frage nach. »Das darf ich dir wohl sagen. Hier in den Staaten hatte er einen Agenten, einen großen, fetten Typ namens Hugo. Ich habe ihn einmal wegen einer ganz anderen Sache kennengelernt. Damals – vor ungefähr fünf Jahren – hing er in einer Spelunke namens Rats in San Francisco rum. Er hat eine Gabe – welche, weiß ich nicht mehr. Vielleicht eine dieser Luftgaben. Weiß, ungefähr fünfzig, kahl, oder er hatte sich den Kopf rasiert. Auf die Stirn hat er einen Blitz tätowiert. Sieht aus, als hätte er sich das im Gefängnis machen lassen.«

»Nachname?«

»Keine Ahnung. Er nannte sich Hugo.«

»Wie groß war er?«

»Ungefähr so groß wie Rule und vielleicht hundertfünfzig Kilo schwer.«

»Okay, ich werde mal sehen, ob Arjenie etwas damit anfangen kann.« Sie wandte sich an Rule. »Ich muss Cullen noch einige Fragen stellen, bevor wir am Flughafen ankommen. Willst du jetzt die Akte lesen?«

Nein. »Ja.«

Sie bückte sich und zog einen Ordner aus der Tasche, in der ihr Laptop war. Einfacher wäre es gewesen, die Infos an sein iPad zu schicken, aber das hinterließ eine elektronische Spur. Streng genommen hatte Lily die Befugnis, diese Informationen mit einem Berater zu teilen, und streng genommen konnte man Rule einen Berater nennen. Aber die Möglichkeit, dass jemand ein Problem daraus machte, bestand immer.

Er nahm den Ordner entgegen und öffnete ihn. Auf der ersten Seite war ein kurzer Lebenslauf.

Jasper Frederick Machek

Geboren: San Francisco, Kalifornien

Zwei Jahre und neun Monate nachdem sie mich meinem Vater übergeben hatte und gegangen war, ohne auch nur einmal zurückzuschauen …

Vater: Frederick Alan Machek, geb. 7.12.1929

Mutter: Celeste Marie Machek, geborene Babineaux, geb. 27.9.1928, gest. 11.3.2006

Rule starrte die Seite an, mit trockenen, blinden Augen, der Kopf war leer bis auf einen Gedanken.

Tot. Sie war tot.