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Carrie Ann Rucker war neunundfünfzig, eine gelassene Frau mit ergrauendem blondem Haar und einem schiefen Vorderzahn, der ihrem Lächeln einen gewissen Charme verlieh. Sie besaß einen kleinen Laden mit kunstgewerblichem Schmuck und trug ein Muster ihrer Ware – ein hübsches Paar Chandelier-Ohrringe – zu ordentlich gebügelten Jeans und einer weißen Bluse.

Außerdem arbeitete sie als Muli für ein Drogenkartell. Ihre einzige Verhaftung hatte es nie vor die Grand Jury geschafft, aufgrund der Ungeschicklichkeit des verhaftenden Officers und eines sehr teuren Anwalts. Der ebenfalls für besagtes Kartell arbeitete.

»Und Sie haben keinen Blick in die Tüte geworfen?«, sagte Lily.

»Er hat mich gebeten, es nicht zu tun, und ich habe es versprochen. Ich halte mein Wort, Sie nicht?«

Interessant war unter anderem, dass Carrie Anns Aufmerksamkeit immer auf Lily gerichtet blieb. Rule sagte zwar nicht viel, das stimmte, doch normalerweise bemerkten die Leute ihn. Vor allem Frauen. Selbst wenn Carrie Ann auf Frauen stand, hätte Lily doch erwartet, dass sie sich etwas mehr für einen Mann interessierte, der sich gelegentlich in einen Wolf verwandelte. »Das halte ich für eine eigenartige Bitte. Und noch eigenartiger, dass Sie es versprochen haben.«

Carrie Ann lächelte entspannt. »Ich bin kein sehr neugieriger Mensch.«

»Bemerkenswert wenig neugierig, wenn man bedenkt, dass Sie in der Vergangenheit wegen des Transports illegaler Substanzen verhaftet wurden. Substanzen, die jemand ohne Ihr Wissen in Ihrem Wagen versteckt hatte«, sagte Lily trocken. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie nicht das Bedürfnis verspürten, sich zu vergewissern, ob dieser Mann, den Sie nie zuvor getroffen hatten, nicht Ihre Hilfsbereitschaft ausnutzte.«

»Er hatte eine gute Aura. Ich bin mir sicher, dass das alles ganz legal war.«

»Ach, so ist das also. Und dabei interessiert sich das FBI sehr wenig für Schnitzeljagden.«

Carrie Ann lächelte nur.

Lily sah hinunter auf ihre Notizen und fragte sich, wie viel Druck sie noch ausüben sollte. Carrie Ann war Profi. Sie wusste, was sie sagen konnte und was nicht, und die Sache machte ihr viel zu viel Spaß. Sie wusste sehr gut, dass Lily nichts in der Hand hatte, um echte Fakten aus ihr herauszupressen. Sicher, sie hatte ihnen die Beschreibung eines »netten älteren Mannes« gegeben, den sie im Park getroffen hatte, doch das hieß nur, dass der, der zur Übergabe gekommen war, ganz anders aussah als der Typ, den sie beschrieben hatte.

Lily sah von ihren Notizen auf. »Das hat er doch gesagt, nicht wahr? Dass er eine Schnitzeljagd für seine Enkel organisiert. Er bat sie, eine Einkaufstüte von Macy’s am Sockel der holländischen Windmühle abzustellen. Er hat sie ausdrücklich gebeten, nicht hineinzusehen.«

»Das ist richtig.«

»Er war männlich, weiß, ungefähr siebzig. Er hatte weißes Haar, ziemlich dicht für einen Mann seines Alters. Sie erinnern sich nicht, was er anhatte, sind sich aber sicher, dass Sie es bemerkt hätten, wenn er einen Anzug getragen hätte.«

»Niemand trägt doch an einem Samstag im Park Anzüge, oder?«

»Sie glauben, er hat vielleicht eine Brille getragen, aber auch da sind Sie sich nicht sicher. Und sie kennen seinen Namen nicht.«

»Er muss ihn mir genannt haben«, sagte sie entschuldigend, »aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Und ich glaube, die Tüte war von Macy’s, aber sie könnte auch von Nordstrom’s gewesen sein. Ich kaufe in beiden Läden ein, und ich bin mir sicher, dass sie von einem der beiden Kaufhäuser war.«

Rule berührte leicht Lilys Arm und stand auf. Sie blickte zu ihm hoch. Er hatte sein Telefon herausgeholt und ging zur Tür des Büros, das ihnen einer der hiesigen Agenten zur Verfügung gestellt hatte. Wieder sah sie Carrie Ann an. »Was, schätzen Sie, hat die Tüte gewogen?«

»Oh, nicht allzu viel. Vielleicht so viel wie zwei oder drei Bücher?«

»Merkwürdig, dass sie den Inhalt gerade mit Gegenständen aus Papier vergleichen. Denn sie enthielt in der Tat Papier.«

»Ach?«, sagte sie höflich, so als fühlte sie sich verpflichtet, Interesse zu zeigen.

»Hmm. Ms Rucker –«

»Bitte nennen Sie mich Carrie Ann«, sagte sie herzlich.

Lily zeigte die Zähne, ein Ausdruck, den sie nicht als Lächeln missverstanden wissen wollte. »Carrie Ann, ich hoffe, Sie durchforsten nun noch einmal sorgfältig Ihr Gedächtnis. So erstaunlich es scheint, doch der nette alte Mann organisierte keine Schnitzeljagd. Wie ich bereits sagte, interessiert sich das FBI nicht für so etwas. Doch wir horchen auf und werden aufmerksam, wenn es um Entführung geht.«

Das leichte Weiten ihrer Augen war Carrie Anns erste Reaktion, die vom Drehbuch abwich. Das Wort gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht. Wer immer sie mit der Übergabe beauftragt hatte, hatte ihr nicht zu verstehen gegeben, dass es sich um Lösegeld handeln könnte. Sie hatte sich schnell wieder in der Gewalt, hob die Hand an die Kehle und machte ein unsicheres Gesicht. »Entführung. Oh, sicher nicht. Wenn einer der Enkel dieses netten alten Mannes –«

Die Tür öffnete sich. »Lily«, sagte Rule. »Sie haben versucht, sich Beth zu holen. Ihr geht es gut. Murray nicht. Ich muss schnell dorthin.«

Lily schob ihren Stuhl zurück und fixierte Rucker mit dem Blick. »Sie bleiben hier.«

Eine Sekunde später war sie durch die Tür und rief dem Erstbesten, den sie sah, Befehle zu. »Beschaffen Sie mir einen Fahrer und einen Wagen mit Sirene. Schwarz und Weiß oder FBI – was schneller geht. Der Wagen soll mich auf der Straße erwarten, wenn ich mit dem Aufzug unten ankomme.«

»Was –«

»Tun Sie es. Sofort. Bergman!«

Die Tür am Ende des Flurs öffnete sich. Das Gesicht der Herausblickenden legte sich verärgert in Falten. »Sie haben nach mir gebrüllt?«

»Meine Schwester wurde überfallen. Einer von Rules Leuten ist schwer verletzt. Ich fahre hin. Lassen Sie jemanden bei Rucker. Benutzen Sie den Überfall, um sie zum Sprechen zu bringen, wenn Sie können.« Letzteres rief sie über die Schulter zurück, als sie an Rules Seite zu den Aufzügen strebte. »Wer hat dich angerufen«, fragte sie ihn leise, »wenn Murray schwer verletzt ist?«

»Patrick.«

»Patrick? Aber –«

»Ich hatte ihn zusätzlich Beths Team zugeteilt, als du Tony befragt hast. Die Angreifer haben im Treppenhaus ihres Gebäudes zugeschlagen – vier Männer, zwei von oben, zwei von unten. Beth ist nichts passiert. Murray hat mindestens eine Kugel in die Brust bekommen. Ich habe Patrick gesagt, er soll einen Rettungswagen rufen. Ich muss dort hin. Murray ist jetzt nicht bei Bewusstsein, aber wenn er so lange überlebt, bis die Sanitäter ihn einladen, könnte er aufwachen.«

»Richtig.« Schwer verletzte Lupi waren gefährlich. Murray könnte sich wandeln und dann jeden Versuch, ihm zu helfen, als Angriff verstehen. Rule war in der Lage, damit umzugehen. Sie versetzte dem Aufzugknopf einen kräftigen Stoß und überlegte, ob sie die Treppe nehmen sollte, aber sie befanden sich im zwölften Stock. Rule war möglicherweise schneller als der Aufzug, sie aber ganz sicher nicht. Der bestellte Wagen war wahrscheinlich ohnehin noch nicht vorgefahren.

Bergman trat zu ihnen. »Geht es Ihrer Schwester gut?«

»Ich glaube ja. Sie wurde von vier Männern angegriffen. Es könnte sich um versuchten Mord oder Entführung handeln, aber ich setze auf Letzteres. Wer schickt schon vier Männer, um eine einzelne junge Frau zu töten?« Sie sah Rule an. »Was ist mit den Angreifern passiert? Hat Patrick einen von ihnen festhalten können?«

»Wer ist Patrick?«, sagte Bergman.

Rule antwortete Lily, nicht Bergman. »Zwei sind tot. Einer ist entkommen. Einer lebt, ist aber schwer verletzt.«

Bergman machte ein missbilligendes Gesicht. »Hört sich an, als wäre es eine ziemliche Bescherung. Ihre Schwester hat doch sicher nicht ganz allein vier Männer abwehren können. Wer ist Patrick?«

»Einer von Rules Männern.« Wieder drückte Lily den Aufzugknopf und sah Rule an. »Ist die Polizei schon am Tatort?«

Er machte ein verdutztes Gesicht. Rule dachte nie daran, die Cops zu rufen.

»Irgendjemand hat sie sicher gerufen«, sagte Lily zu Bergman, als der Aufzug sich endlich öffnete. »Es wurde mindestens ein Schuss abgefeuert. Rufen Sie die hiesige Dienststelle an und bereiten Sie sie darauf vor, dass ich und Rule kommen.« Sie betraten die Kabine.

»Moment. Was meinen Sie damit: Er ist einer von Rules Männern? Hatten Sie mit so etwas gerechnet?«

»Nicht mit so etwas, nein.« Die Türen schlossen sich vor dem frustrierten Gesicht von Special Agent Bergman. Lily blickte Rule an. »Aber du schon. Du hast Patrick geschickt.«

»Doppelt genäht hält besser«, sagte er rätselhaft, als sich der Aufzug abwärts in Bewegung setzte. »Lily, die beiden Toten – Murray hat einen ausgeschaltet und Patrick den anderen. Aber der Schwerverletzte, das war Beth. Willst du, dass Patrick das auf seine Kappe nimmt? Ich muss ihn informieren.«

»Mist.«