12
Hank Jamison war siebenundzwanzig – nach den Maßstäben der Lupi zwar erwachsen, aber noch sehr jung. Er war groß und schlank und schön, mit großen, dunklen Augen und einer Extraportion dieser körperlichen Anmut versehen, die allen Lupi eigen war. Er sah aus wie ein Renaissancedichter, der nebenbei als Seeräuber arbeitet. Ihm hätte jeglicher Kontakt mit Frauen unter vierzig verboten werden sollen.
Hank beharrte ruhig und entschieden darauf, dass er der Schuldige sei. Sein Rho habe nichts damit zu tun, überhaupt nichts. Es sei Gier gewesen. Er habe Geld gebraucht, und jemand – wer, weigerte er sich zu sagen – hatte ihn gut dafür bezahlt, dass er ihm Cullens Geheimnisse verriet. Das alles erklärte er völlig emotionslos.
Hanks Körperkontrolle war gut, und er war clever genug, die Klappe zu halten, nachdem er seine Erklärung abgegeben hatte. Rule roch keine Schuld an ihm. Das konnte er auch nicht, denn Hank log zwar, aber Rule war nicht sein Lu Nuncio, und er versuchte, sowohl seine Geliebte als auch seinen Rho zu schützen. Deshalb gab es keinen Grund für ihn, sich schuldig zu fühlen.
Eine Stunde nach Hanks Geständnis war Lily gemeinsam mit Isen und Rule – wieder in Menschengestalt – auf dem Weg zurück zu Isens Haus. Cynna holte Ryder aus der Krippe ab, Cullen war in seine Werkstatt gegangen, um irgendwelche Versuche durchzuführen. Immer noch trieb ihn die Frage um, warum sein Schutzbann nicht aufgeflammt war. Und Hank befand sich mit Fußschellen gefesselt in der Kaserne der Wachen. Eingesperrt hatte man ihn nicht, denn das gab es auf dem Clangut nicht. Für Lupi war so etwas undenkbar. Tanzte man zu weit aus der Reihe, drohte der Tod, aber eingesperrt wurde man nicht.
Brenda Hyatt würde offiziell aus dem Clan der Nokolai ausgeschlossen werden. Die entsprechende Zeremonie war für ein weibliches Clanmitglied eine andere als für einen Lupus, weil bei ihr die Clanmacht keine Rolle spielte, doch der Name war derselbe: seco.
Bevor Isen alle entlassen hatte, hatte Lily noch die anderen Zeugen befragt. Es war, wie sie vermutet hatte: Brenda war nicht die Einzige gewesen, die Hank angesprochen hatte. Nur die kooperativste.
Als sie die Versammlungswiese verließen, brachte jemand Isen sein Telefon, mit dem er Leo anrief, den Rho der Laban … der nicht abnahm. Als sie sich Isens Haus näherten, steckte er das Handy weg, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
»Lässt es ihn nicht schuldig aussehen, weil er nicht ans Telefon geht?«, fragte Lily.
»Leo nimmt nie sofort ab.« Isen öffnete die schwere Haustür.
»Muss er denn nicht drangehen, wenn du anrufst?«
»Er muss gehorchen.«
Rule ergänzte die dürftige Antwort. »Es ist so wie ihr, Cynna und du, eben gesagt habt. Die Laban sind uns untergeordnet, aber ihr Rho ist äußerst dominant. Leo ruft Isen zurück – ich nehme an, du hattest deine Nummer angegeben?«, fragte er seinen Vater.
»Selbstverständlich. Ich glaube, ich hätte jetzt gern einen Kaffee. Trinkt ihr einen mit?«
»Gern«, sagte Lily. Warum nicht? So bald würde sie ohnehin keinen Schlaf bekommen. »Dann spielt er also eine Art Dominanzspielchen?«
Isen strebte bereits zur Küche, deswegen war es Rule, der antwortete. »Das ist eher eine Art, Dominanz und Status ins Gleichgewicht zu bringen. Beides gehört zusammen, aber es ist nicht dasselbe. Leos Status ist dem Isens untergeordnet, aber er ist dominant, deswegen möchte er derjenige sein, der anruft, nicht der, der angerufen wird. Isen toleriert das, und normalerweise achtet Leo darauf, diese Toleranz nicht zu überstrapazieren und ruft schnell zurück. Du hast vielleicht bemerkt, dass Isen keine Nachricht hinterlassen hat.«
»Ist das von Bedeutung?«
»Ich könnte Leo eine Nachricht hinterlassen, wenn ich als Lu Nuncio anrufe. Wenn Isen das täte, würde es das falsche Signal sein. Als hätten sie den gleichen Status.«
Dass die Frage des Status unter Lupi hoch kompliziert war, wusste sie bereits. »Aber du glaubst, dass er zurückruft. Obwohl er sich denken kann, dass es um Hank geht. Er muss sich doch fragen, ob er jetzt Ärger bekommt.«
»Leo ist manchmal dumm, aber er ist ein Rho. Sein Clan ist möglicherweise gefährdet. Er wird anrufen.« Rule sank auf das große Sofa gegenüber dem Kamin. Er beugte sich vor und stemmte beide Ellbogen auf die Knie.
Lily setzte sich neben ihn. Sie konnte hören, wie Isen mit Carl sprach – sie hatten einen Disput darüber, wer den Kaffee machen sollte. Isen war zwar der Rho, aber die Küche war Carls Revier. Sie drehte den Kopf zur Seite, um Rule anzusehen.
Er war müde. Müde und erschöpft und sich kaum bewusst, wo er war. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Ja, es war nach Mitternacht, aber Rule war wie das Duracell-Häschen. Er brauchte nie viel Schlaf. Also war das, was an ihm nagte, nichts Körperliches … womit reichlich andere Möglichkeiten blieben. Möglicherweise würde es seine Aufgabe sein, das Urteil zu vollstrecken, das Isen über den Rho der Laban sprach.
Aber was sie in seinem Gesicht sah, war keine Furcht vor einer unangenehmen Aufgabe. Es war eher Verwirrung.
Irgendetwas musste ihr entgangen sein.
»Du hattest die Laban von Anfang an im Verdacht, nicht wahr?«, fragte er plötzlich.
»Wenn Geld das Motiv ist, ja. Es passte einfach.«
»Aber die Vochi sind diejenigen, denen Geld wichtig ist.«
»Nein, die Vochi können mit Geld umgehen.« Wie sollte sie es ausdrücken? »Untergeordnete Clans müssen sich jedes Mal, wenn sie einen neuen Rho bekommen, neu verpflichten, stimmt’s? Das tun die Rho der Vochi seit Hunderten von Jahren. Dieselbe Entscheidung, immer wieder. Also scheint es, als würde es ihnen so gefallen, wie es ist. Warum sollten sie es aufs Spiel setzen? Geld haben sie. Sie wissen, was man damit machen kann und was nicht. Die Laban dagegen …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind erst seit knapp dreihundert Jahren den Nokolai untergeordnet. In deinen Augen ist das vielleicht keine lange Zeit, aber es hat ausgereicht, sie erkennen zu lassen, dass es den Nokolai hilft, Geld zu haben. Sie sind vielleicht nicht gewieft in finanziellen Angelegenheiten, aber sie wissen, was Stärke ist. Sie sind sehr viel motivierter als die Vochi.«
Carl kam aus der Küche. Er trug eine Pyjamahose. Bisher hätte Lily es nicht für möglich gehalten, dass es tatsächlich irgendwelche Lupi gab, die Pyjamahosen besaßen. »Iss«, sagte er, so kurz angebunden wie üblich, und reichte Rule einen Teller mit dick belegten Sandwichs. Er sah Lily an. »Möchtest du auch etwas?«
»Äh … nein. Nein, ich möchte nichts.« Schließlich hatte sie sich nicht zweimal gewandelt. Lupi brauchten Energie nach dem Wandel. Sie hätte daran denken sollen … aber das Gleiche galt für Rule.
Carl ging zurück in die Küche, von der sein Zimmer abging. Isen kam ihm entgegen, in den Händen dicke Keramikbecher. Lily sah ihn stirnrunzelnd an. »Was geschieht jetzt mit dem Rho der Laban?«
»Das steht noch nicht fest.« Er reichte ihr einen Becher mit dem duftenden Kaffee. »Bis ich mit Leo gesprochen habe, treffe ich keine Entscheidung. Eines weiß ich aber jetzt schon: Er wird an Brendas seco teilnehmen.«
Das war nur gerecht. Leo sollte mit eigenen Augen sehen, welche Folgen seine Handlungen hatten. »Aber das wird nicht alles sein.«
»Nein.« Isen stellte den zweiten Becher auf den Boden vor Rule, der mit seinen Sandwiches beschäftigt war – nicht, weil er Appetit hatte oder sie ihm schmeckten, sondern als seien sie eine lästige Aufgabe, die er schnell hinter sich bringen wollte. Isen nahm seinen Kaffee mit zu dem Armsessel, der im rechten Winkel zum Sofa stand. »Ich kann natürlich seinen Tod verlangen. Das wäre das Einfachste und wahrscheinlich auch das Beste.«
»Du entscheidest dich nur selten für das Einfache.«
»Ich werde das nicht mit dir diskutieren, Lily.«
Seine Stimme war freundlich, aber unnachgiebig. Sie ließ es darauf beruhen. Nachdenklich nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee. »Kann ich Leo befragen?«
Isens Augenbrauen hoben sich. »Es war klar, dass du das fragen würdest. Ich hätte damit rechnen müssen. In letzter Zeit passieren immer wieder Dinge, die ich hätte vorhersehen müssen.«
Rule stellte den leeren Teller auf den Boden und nahm den Becher in die Hand. »Du hast besser reagiert als ich. Und Lily auch.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Du hast es geahnt, nicht wahr? Deshalb hast du mir versichert, dass ich heute Nacht niemanden würde töten müssen. Du wusstest, was Isen vorhatte.«
»Ich hatte gehofft, es zu wissen, und ja, das war mit ein Grund.« Frauen mussten beschützt werden. So lautete der Lupi-Code. Trotzdem hatte Isen seine Leute – und sogar seinen Sohn – davon überzeugt, dass die Verfehlung schwerwiegend genug und er wütend genug war, um ein Todesurteil zu fällen. Aber vielleicht hatten nur die Lupi dies befürchtet. Brenda jedenfalls hatte allem Anschein nach keine Angst um ihr Leben gehabt. Hank schon. Er hatte gestanden, um sie zu schützen.
Rule beobachtete sie. »Du hast damit gerechnet, jemanden verhaften zu müssen, ja? Mich?«
»Ich dachte mehr an so etwas wie Schutzgewahrsam. Falls Isen entschieden hätte, dass es nötig wäre, sie zu töten, hätte ich sie in Gewahrsam genommen. Aber nur als letztes Mittel. Es wäre allerdings nicht ganz einfach gewesen, das durchzuziehen, ohne Isen so zu reizen, dass er die Rho-Karte ausgespielt hätte.«
»Nicht ganz einfach?« Isen lächelte schwach. »So kann man es auch nennen.«
Rule sah seinen Vater an. »Aber du hast damit gerechnet, dass Lily so etwas tun würde. Deswegen wolltest du, dass sie in unserer Nähe blieb – damit ich wusste, dass du nicht sofort eine Hinrichtung befehlen würdest. Doch ich habe nicht verstanden, was du mir sagen wolltest. Ich war nicht … ich verstehe nicht, warum ich es nicht erkannt habe.«
»Du warst abgelenkt«, sagte Isen. »Das ist meine Schuld. Ich habe nicht an die möglichen Folgen gedacht, wenn ich den Rho der Leidolf in einer solchen Situation rufe.«
Lily legte die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«
»Du hättest es nicht wissen können«, sagte Rule. »Ich habe ja selbst erst nicht verstanden, was da vor sich ging.«
»Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte Lily scharf.
Isen schüttelte den Kopf. »Rule hatte mit mir darüber gesprochen, wie frustrierend es für ihn sei, der Rho der Leidolf zu sein. Er spüre die Clanmacht, aber nicht den Clan.«
Sie warf Rule einen schnellen Blick zu. »Ja, das hat er erwähnt.« Nicht mit denselben Worten wie Isen, aber er hatte über seine Frustration gesprochen.
Rule war als Nokolai aufgewachsen. Diesem Clan gehörte sein Herz, während die Leidolf seine Feinde gewesen waren, bis ihm die Clanmacht aufgezwungen worden war. Als Rho wollte Rule die Leidolf gut und richtig behandeln, aber er wollte es mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen. »Es macht ihm zu schaffen, dass er sich den Leidolf nicht so verbunden fühlte, wie es seiner Meinung nach der Fall hätte sein sollen.«
»Das ist jetzt kein Problem mehr«, sagte Rule trocken.
»Nein, ganz offensichtlich nicht.« Isen machte eine Pause und trank von seinem Kaffee. »Ich hätte daran denken müssen, dass du deinen Herzschlag getrennt von den anderen halten würdest. Du durftest nicht zulassen, dass ein Nokolai einem Leidolf sagt, was er zu tun hat.«
»Stimmt.« Rules Miene war in sich gekehrt. Was er dort fand, gefiel ihm nicht.
Lily sah zwischen den beiden Männern hin und her. »Ich verstehe nicht.«
Isen rieb sich den Bart. »Vielleicht wusstest du nicht, dass ein Rho die Herzfrequenz seines Clans kontrollieren kann. Ich habe die der Nokolai hochgehalten – eine recht riskante Sache, aber ich habe die nötige Erfahrung. Auf diese Weise haben die Nokolai meine Wut am eigenen Leibe gespürt und entsprechende Erwartungen gehabt … sie wussten, dass etwas von ihnen verlangt werden würde. Etwas Drastisches. Unsere Gäste haben diesen konzentrierten Herzschlag sicher bemerkt, wodurch sie sich noch mehr isoliert und gefährdet gefühlt haben.«
»Jetzt kapier ich.« Lily nickte. »Brenda hat nicht geglaubt, dass ihr Gefahr droht – nicht physisch zumindest. Auch ich war nicht davon überzeugt, aber alle Lupi schienen zu denken, dass du ihren Tod anordnen würdest. Es war der Trick mit dem Herzschlag, der sie das glauben gemacht hat.«
Isen nickte und nahm einen Schluck. »Leider war ich ehrlich wütend. Ich habe nicht so klar gedacht, wie ich glaubte. Deshalb ist mir entgangen, dass Rule seinen Herzschlag meiner Kontrolle entzog. Um das tun zu können, musste er ein Leidolf sein.«
»Ähm … ist das ein Problem?«
Isen legte den Kopf schief, um Rule anzusehen. »Wie sehr ist es ein Problem?«
Rule saß weiter vorgebeugt da und sah zu Boden, nicht seinen Vater an. »Ich weiß es nicht. Ich habe es unter Kontrolle, aber … fühle mich nicht wohl dabei.«
Lily hätte die Antworten am liebsten aus ihnen herausgeschüttelt, doch sie sah Rule an, wie elend er sich fühlte. Er ging der Antwort nicht aus dem Weg, etwas verzehrte ihn innerlich, etwas, das Isen nicht benennen wollte. Vielleicht etwas, das Lily nichts anging … nein, das war es nicht. Wenn Rule ein Problem hatte, musste sie darüber Bescheid wissen. Aber vielleicht war sie nicht diejenige, die ihm helfen konnte. »Ist das eine Rho-Angelegenheit?«
Rule drehte den Kopf, um sie anzusehen, richtete sich langsam auf und nahm ihre Hand. »Ich bin nun schon seit Monaten der Rho der Leidolf. Immer wieder habe ich gewechselt, war einmal der Rho der Leidolf, einmal der Lu Nuncio der Nokolai, ohne dass es mir wirklich schwergefallen wäre. Das ist nun nicht mehr der Fall.«
»Du hast sicher bemerkt«, sagte Isen, »dass die Rho nicht sehr oft das Clangut eines anderen Clans betreten. Wenn aus irgendeinem Grund ein Besuch unumgänglich ist, bleiben sie nie lange.«
»Ich dachte, das sei so aus Gründen der Sicherheit. Oder des Status. Oder beidem.«
»Das sicherlich auch. Aber weder der Rho der Vochi noch der der Laban wäre besorgt um seine Sicherheit oder seinen Status, wenn er unser Gast ist, hier auf dem Clangut ihres dominanten Clans. Und trotzdem sind sie nicht hier.« Er hielt inne und sah sie an, wartete darauf, dass sie verstand, worauf er hinauswollte.
Manchmal hatte Isen eine Art an sich, die einen verrückt machen konnte. Genauso wie Großmutter.
»Friar kann hier nicht mithören«, sagte sie langsam, »aus demselben Grund, aus dem die Große Alte ihre superdupermäßige Hellsichtigkeit nicht einsetzen kann, um hier auf das Clangut zu sehen. Seine Hellhörigkeit hat Friar von ihr, und ihre Magie wirkt hier nicht, weil die Clangüter irgendeine Verbindung zu den Clanmächten haben.« Sie dachte einen Moment nach. »Ist das so ähnlich wie die Bindung eines Sidhe-Fürsten an sein Land?«
Er lächelte, um sie zu beglückwünschen, aber es war ein müdes Lächeln, ohne den üblichen Schalk. »Über diese Landbindung weiß ich nicht genug, um es mit Gewissheit sagen zu können, aber die Unterschiede scheinen zahlreicher zu sein als die Ähnlichkeiten. Sidhe-Fürsten ziehen ihre Kraft aus ihrem Land, das tue ich nicht. Man sagt, sie spüren alles Lebende, das sich auf ihrem Land befindet. Aber die Nokolai erheben Anspruch auf dieses Land. Die Clanmacht spielt dabei eine Rolle. Sie reagiert auf gewisse Arten von Energie, weswegen ich wüsste, wenn jemand, der von ihr berührt wurde, das Clangut beträte.« Er machte eine Pause, sah Rule an und schloss dann leise: »Genauso wie ich weiß, ob der Rho eines anderen Clans hier ist.«
»Aber wir sind seit Oktober hier!« Vor lauter Sorge zogen sich Lilys Schultermuskeln zusammen, so als müsste sie jemanden boxen. Als wenn das helfen würde. »Was hat sich verändert? Nur dass Rule seine Leidolf-Macht benutzt hat, um zu verhindern, dass du seinen Herzschlag beeinflusst?«
»Das auch«, sagte Rule, brach dann aber wieder ab. Er schien nach Worten zu suchen, also sagte sie nichts, um ihm Zeit zu lassen. »Du weißt von der Abmachung, die ich mit Isen getroffen habe, nachdem mir die Leidolf-Macht aufgezwungen worden war.«
Sie nickte. »Hier auf dem Clangut bist du der Lu Nuncio der Nokolai, nicht der Rho der Leidolf.«
»Bisher ist es mir nicht schwergefallen, diese Abmachung einzuhalten. Bis jetzt.« Seine Schultern hoben und senkten sich leicht. »Jetzt ist der Geist aus der Flasche, und ich bekomme ihn nicht wieder hinein.«
»Er meint«, sagte Isen leise, »dass er nicht mehr länger seine Rolle als Rho der Leidolf ablegen kann. Nicht, weil er die Clanmacht genutzt hat, sondern weil es keine Rolle mehr ist.«
Eine Rolle, die spielte sich eigentlich im Kopf ab und nicht im Herzen. Doch irgendwie war heute Nacht Rule auch ein Leidolf im Herzen geworden oder im Bauch oder wo immer Identität entstand. Und das bedeutete offenbar, dass er nun immer Rho war. Sie sah ihn an. »Heißt das, dass du da draußen auf der Wiese, als du den Kopf gesenkt und gesagt hast, du würdest deinem Rho gehorchen, nur vorgegeben hast, du würdest dich unterwerfen?«
Rule schnaubte, aber er sah nicht amüsiert aus. »Vorgegeben ist das falsche Wort. Ich kann nicht vorgeben, mich zu unterwerfen, genauso wenig wie ich vorgeben kann zu laufen. Entweder tue ich es oder nicht. Ich bin immer noch ein Nokolai, immer noch ein Lu Nuncio, deswegen unterwerfe ich mich meinem Rho, aber es war … Ich kann nicht mehr damit aufhören, Rho zu sein.«
»Und das ist ein Problem wegen deiner Abmachung mit Isen.«
»Ja, obwohl diese Abmachung neu verhandelt werden kann, wenn beide Parteien willens sind. Das eigentliche Problem entsteht durch einen der Gründe für diese Abmachung.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und warf dann seinem Vater einen Blick zu. »Ich weiß nicht, wie es für dich ist, aber ich fühle mich, als wäre ich mitten in einem Abwehrfeld.«
»Eher so, als hätte ich etwas zwischen den Zähnen, das ich aus den verschiedensten sehr guten Gründen nicht herausbekomme.«
Lily nahm einen Schluck Kaffee und versuchte zusammenzupuzzeln, was sie gerade gesagt hatten. »Die beiden Mächte der Nokolai und der Leidolf mögen sich nicht.«
Isen zeigte ihr wieder das müde Lächeln, das so untypisch für ihn war. »Es ist nichts so Persönliches, und auch die Nähe ist nicht das Problem. Immerhin koexistieren die beiden Mächte auf engstem Raum in Rule. Aber die Verbindung zwischen der Macht und dem Clangut bewirkt, dass sich ein Rho unwohl in der Domäne eines anderen fühlt. Manche glauben, dass die Dame das absichtlich so eingerichtet hat, um die Clans davon abzuhalten, sich zu nah nebeneinander niederzulassen, weil das zu Kämpfen führen würde. Andere denken, dass es eine zufällige Begleiterscheinung ist. Ich neige zu Letzterem. Wenn es in der Absicht der Dame gelegen hätte, uns vom Kämpfen abzuhalten, würde das Unwohlsein alle betreffen. So aber erlebt es nur der Rho.«
Ein kurzes Schweigen entstand. Lily trank ihren lauwarmen Kaffee und folgte der Logik, bis sie ankam bei … »Ziehen wir wieder in unsere Wohnung oder dauert es zu lange, die Untervermietung aufzuheben?«
Seine Brauen schossen in die Höhe und zogen sich dann finster zusammen. »Die Wohnung ist nicht sicher.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Ich werde nicht –« Er brach ab und blickte zur Vorderseite des Hauses.
»Ah, Seabourne ist zurück«, sagte Isen. »Ich frage mich, warum.«
Lily wusste nicht, was sie gehört hatten, aber daran war sie gewöhnt. Einen Moment später klopfte es der Form halber an der Tür. Sie hörte, wie sie sich öffnete. Schritte eilten durch den Flur, dann stand Cullen mit grimmiger Miene vor ihnen. Er richtete den Blick auf Isen. »Ich hab’s. Ich weiß nicht, ob du willst, dass ich vor ihnen spreche.« Ein anmutiges Wedeln mit der Hand ließ darauf schließen, dass er Rule und Lily meinte.
Isen seufzte und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Ich bin wohl wirklich nicht auf der Höhe. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ich weiß, warum der zweite Bann nicht aktiviert wurde.« Cullen machte eine lange, viel sagende Pause … und seufzte dann. »Ich hatte gehofft, es würde sich um eine von deinen komplizierten Intrigen handeln, aber das ist wohl nicht der Fall. Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit. Es ergibt zwar keinen Sinn, aber es ist das Einzige, das Sinn ergibt.«
»Sinn ist das, was deinen Ausführungen noch fehlt, fürchte ich.«
Cullen trat ins Zimmer und ließ sich auf das Sitzkissen neben dem Fenster fallen. Er wandte sich direkt an Isen. »Als ich die Banne zog, habe ich dir gesagt, dass ich dich davon ausschließe. Ich kann nicht meinen Rho oder meinen Lu Nuncio fernhalten. Und Cynna auch nicht. Und da ich nicht jedes Mal, wenn ich kam oder ging, die Banne lösen und wieder aktivieren wollte, habe ich Zugangsberechtigungen eingebaut. Du, Rule, Cynna und ich können die Banne übertreten, ohne sie auszulösen.«
Lily setzte sich aufrecht hin. »Moment mal. Willst du sagen, dass Rule oder Isen dein Dings geklaut hat? Oder Cynna?«
»Mach dich nicht lächerlich. Wenn Isen dahintersteckte, hätte er mich schon längst unterbrochen, und Rule würde keinen Deal hinter Isens Rücken machen. Die Sache ist die: Es gibt nur zwei Arten, Zugangsberechtigungen in einen Schutzbann einzubauen. Man kann Muster der Personen einsetzen, die die Erlaubnis haben zu passieren, aber das ist schwerer, als es sich anhört. Cynna könnte es«, fügte er hinzu. »Sie kennt sich unglaublich gut mit Mustern aus. Aber das wäre viel Arbeit, und damals musste sie sich so viele Erinnerungen des Clans merken … Ich wollte sie nicht damit belasten, also habe ich auf Möglichkeit Nummer zwei zurückgegriffen. Ich habe Rule und Isen um ein wenig Blut gebeten.«
»Ja«, sagte Isen. »Ich erinnere mich.«
»Ich auch«, sagte Rule. »Aber ich verstehe nicht, was das mit dem Dieb zu tun haben soll, denn du hast uns ja gnädigerweise von der Liste deiner Verdächtigen gestrichen.«
»Es bedeutet, dass die, die mit euch blutsverwandt sind, vermutlich auch passieren können.«
Blutsverwandte … die Liste war verflixt kurz. Toby und Benedict. Was Isen und Rule betraf, waren das alle, von denen Lily wusste. Cynna hatte keine Geschwister, und ihre Mutter war tot. Ihr Vater lebte noch, aber er war in Edge. »Deine Verwandten auch, nehme ich an«, sagte sie zu Cullen.
»Vermutlich. Aber ein Cousin wäre schon nicht eng genug verwandt. Zumindest glaube ich das. Außerdem ist Stephen ein Lupus, und der Dieb war ein Mensch.« Er strich sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Mist, ich denke, diese Frage müssen wir –«
Isens Telefon ertönte.
Rules Vater hatte keine individuellen Klingeltöne für seine Anrufer installiert, deshalb konnte sie aus der zwitschernden Melodie nicht schließen, wer anrief. Aber es musste der Rho der Laban sein. Wer sonst hätte es um diese Uhrzeit sein können?
Isen nahm das Telefon, betrachtete es dann aber, als hätte er vergessen, was es war oder wie und warum er es bedienen sollte. Doch bevor Lily sich ernsthaft Sorgen über eine beginnende Senilität machen konnte – worunter Lupi nicht litten –, drückte er die Empfangstaste. »Hallo.«
Nicht zum ersten Mal wünschte sich Lily, so gute Ohren wie ein Lupus zu haben. Rule verstand den Anrufer ohne Zweifel sehr gut. Cullen vielleicht ebenfalls, obwohl er weiter weg saß. Ihr blieb nur, den eigenartigen Ausdruck auf Isens Gesicht zu deuten – und die Art, wie Rule plötzlich neben ihr erstarrte.
Isen gab sich außerordentlich höflich. »Ja, das bin ich. Ah. Ja, mein Hirn arbeitet fast wieder normal. Ich kann nicht sagen, dass ich deinen Anruf erwartet hätte, aber es ist nicht die Überraschung, die es hätte sein können.« Es folgte eine lange Pause, als die andere Person sprach. »Nein, ich versichere dir, das habe ich nicht. Du wirst nicht wissen, was mein Wort wiegt, aber du hast es.« Eine kurze Pause. »Ach ja? Interessant … ah. Du weißt aber, dass er … ja, vielleicht. Rule?« Er streckte ihm das Telefon hin.
Rule rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«
»Du hast es gehört«, sagte Isen sanft. »Er möchte mit dir sprechen.«
Rule rührte sich immer noch nicht. Langsam sagte er: »Er sagte, sein Name sei Jasper.«
»Jasper Machek.«
»Und er ist …« Der Satz brach ab, als hätte Rule keine Ahnung, wie er ihn beenden sollte.
»Ja«, sagte Isen wie ein freundlicher Arzt wohl gesagt hätte: Ja, die Biopsieprobe wurde positiv auf Krebs getestet. »Ist er.«
Rule nahm das Telefon. »Hier ist Rule.« Eine Pause. »Das sollten wir nicht jetzt diskutieren, denke ich. Du hast Isen gesagt, dass du einen Deal machen willst … ah.« Eine recht lange Pause, dann: »Das verkompliziert die Sache.« Er lauschte wieder, warf dann Lily einen Blick zu und machte eine Geste mit der Hand, als würde er schreiben. »Ja«, sagte er, »einen Moment«, als Lily ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Handtasche holte und ihm reichte. Er kritzelte etwas. »Im Marina District? Das finde ich … Nein. Das kann ich nicht versprechen.« Wieder eine Pause. »Das erkläre ich jetzt nicht. Ich werde jemanden mitbringen, der vielleicht helfen kann … Nein, das ist nicht verhandelbar.« Eine längere Pause. »Nun gut. Ich kann dich falls nötig unter dieser Nummer erreichen? Dann bis später.« Er gab Isen das Telefon zurück und erhob sich so energisch, als wollte er etwas Bestimmtes tun. Doch dann stand er einfach nur da. »Das war der Dieb. Er möchte, dass wir ihm helfen.«
Cullens Brauen schossen in die Höhe. »Ihm helfen?«
»Er hat es nicht weit geschafft mit dem Prototyp, jemand hat ihn ihm gestohlen. Ein erstaunlich begehrter Gegenstand, wenn man bedenkt, dass er nicht einmal richtig funktioniert. Er lebt in San Francisco«, fügte Rule hinzu. »Wir sollen ihn dort um halb zwei treffen. Er wollte, dass Cynna mitkommt – er weiß von ihrer Gabe –, aber das wäre natürlich ein zu großes Risiko für sie.«
»Rule.« Lily stand auf und legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum helfen wir diesem Dieb?«
»Tun wir das? Ich weiß nicht … aber wir fahren hin.« Einen langen Moment sagte er nichts. »Es sieht so aus, als wäre er mein Bruder.«