2

Womit hatte sie das nur verdient? Lily fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Geh weg.«

»Äh … Lily?«, sagte Scott.

Scott hatte natürlich weder etwas gesehen noch gehört. Für ihn sprach sie ins Leere. »Drummond stattet mir mal wieder einen Besuch ab.« Al Drummond, ehemaliger FBI-Agent … der verlogene, verräterische Mistkerl, der von dem Mann erschossen worden war, den Lily letzten Monat getötet hatte. Scott wusste über ihn Bescheid.

Die Toten flößten ihr zwar keine Angst ein, aber sie konnten verdammt lästig sein. »Wenn du hier bist, um mir wieder kluge Ratschläge zu geben –«

»Nein. Zumindest …«, er hielt unsicher inne, »… glaube ich das nicht.«

Als Lebender war Drummond vieles gewesen – aber unsicher zu sein hatte nicht dazu gehört. Das war so ungewohnt, dass sie gegen ihren Willen neugierig wurde und fragte: »Warum dann?«

»Ich weiß es nicht.« Mit gefurchter Stirn verschränkte er die Arme. »Glaubst du, ich hätte mich freiwillig an dich gebunden? Glaubst du, so verbringe ich gern die Ewigkeit – dir dabei zuzusehen, wie du dir die Zähne putzt? Was zum Teufel machst du hier überhaupt?«

Lily erhob sich. Worauf immer sie heute gehofft hatte, es würde nicht geschehen. Nicht, solange Drummond in ihrer Nähe war. »Was könnte dich das angehen?«

»Ich bin nur neugierig. Es macht die Sache einfacher für mich, aber ich glaube nicht, dass du deswegen hier bist.«

»Was meinst du damit, es machte die Sache einfacher?«

»Hier ist es einfacher, mich zu zeigen. An Orten wie diesem ist der Schleier dünn.«

Das amüsierte sie und weckte zugleich schmerzliche Erinnerungen. »Ich wünschte, Mullins könnte dich hören, wie du von dem Schleier redest wie ein Fernsehmedium.«

Er schnaubte. »Ja, das fände er richtig scheiße. Besuchst du öfter die Gräber von Leuten, die du umgebracht hast?«

»Woher weißt du, wessen Grab das ist?«

»Ich kann lesen.«

»Und du weißt natürlich, wer Helen war.«

»Glaubst du etwa, ich hätte mich nicht über dich informiert?«

Drummond mochte in spektakulärer Weise auf Abwege geraten sein, aber davor war er ein guter Agent gewesen – ausgebufft, clever und gründlich. Natürlich wusste er, wer Helen war und dass Lily sie getötet hatte. Gott allein mochte wissen, was er sonst noch über sie ausgegraben hatte. »Geh weg.«

»Nun sei nicht gleich beleidigt. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

»Hat es damit zu tun, dass du mich in Ruhe lässt?«

»Und wo zur Hölle sollte ich dann hin?«

»Woher soll ich das wissen? Offensichtlich musst du ja nicht pausenlos bei mir sein. Du warst einen ganzen Monat weg.«

»Einen Monat?« Er wirkte erschüttert. »Ich war … ich glaube, ich habe geschlafen. Aber nicht die ganze Zeit. Ich war mit dir vor Gericht, als –«

Sie runzelte die Stirn. »Ich habe dich nicht gesehen.« Angeblich konnte Drummond nichts hören oder sehen, was in dieser Welt passierte, ohne sich zu manifestieren oder sich zumindest in dem Stadium schwebenden, weißen Nebels zu befinden.

»Du hast nicht hochgeschaut, und ich war …« Sein Mund bewegte sich weiter, aber sie hörte nichts mehr. Er hielt inne, machte ein finsteres Gesicht und setzte erneut an. Mittendrin wurden aus seinen Lippenbewegungen wieder Worte. »… mich an manchen Orten nicht ganz zeigen. Und sprechen ist auch verdammt schwer, also unterbrich mich nicht.«

»Du sprichst ja nicht richtig, weißt du. Die Luft bewegt sich nicht, deswegen hört dich auch niemand anders.« Vermutlich handelte es sich um eine Form von Gedankensprache, auch wenn es sich für ihre Ohren so anhörte, als redete er tatsächlich.

Er schnaubte. »Als wenn ich nicht von allein darauf gekommen wäre. Hör zu, ich glaube, ich weiß jetzt, was meine Aufgabe ist. Warum ich nicht einfach gestorben oder zur Hölle gefahren bin oder so.« Seine Augen leuchteten eindringlich. »Ich soll dein Partner sein.«

Das war so aberwitzig, dass sie lachen musste. »Ja, klar.« Sie winkte Scott mit einem Blick herbei und begann, zum Weg zurückzugehen. Drummond versuchte sie am Arm zu fassen, doch seine Hand glitt durch sie hindurch. Er verzog verärgert das Gesicht und ging dann neben ihr her. Wenigstens sah es so aus, als würde er gehen, weil seine Füße genauso wie ihre auf dem Boden auftrafen.

»Hör zu, ich habe verstanden, dass du mich nicht magst«, sagte er. »Na und? Ich habe mit vielen Arschlöchern zusammengearbeitet. Wenn es nötig ist, damit der Job erledigt wird, dann kann man damit leben.«

»Im Moment bist du ein bisschen limitiert in dem, was du tun kannst.«

»Vielleicht, aber ich kann Sachen machen, die du nicht kannst. Ich kann in einem Umkreis von hundert Metern die Lage checken. Auf beiden Seiten. Zum Beispiel sind jetzt gerade drei Geister hier – ziemlich zerrupft und nicht zu einer Unterhaltung aufgelegt, aber sie sind da. Und auf deiner Seite weiß ich, wo dein Wolfsmann gerade ist. Er hat sich gleich dort drüben versteckt.« Er streckte den Arm aus, um auf eine Bodensenke zu zeigen.

Der Ehering, den er immer noch an seinem Finger trug, leuchtete schwach. Er zog ihren Blick auf sich, dieser Ring. Unbewusst rieb sie mit dem Daumen über den Ring an ihrem Finger – ein Verlobungsring, kein Ehering, aber dasselbe Symbol. Rules Ring.

Sie sah weg. »Sein Name ist Mike.«

»Wie auch immer. Der Punkt ist: Ich kann dir helfen.«

Sie erreichten den schmalen Weg, der sich an den Gräbern entlangwand. »Und du findest, ich sollte dir vertrauen.«

»Ich war ehrlich zu dir. Als ich erst einmal begriffen hatte, was sie vorhatten, war ich ehrlich zu dir.«

Das stimmte. Er hatte sein Leben riskiert, um zweiundzwanzig Obdachlose zu retten, und es dann für einen Freund geopfert. Und nachdem er gestorben war, war er es gewesen, der das Todesmagieamulett gefunden hatte, sodass sie es hatten zerstören können.

Aber zuerst hatte er das FBI verraten, beinahe Lilys Boss getötet, sich der Verschwörung zum Mord an einem U.S.-Senator schuldig gemacht und ganz nebenbei fast Lilys Karriere beendet.

Lily musterte ihn einen Moment, dann holte sie ihr Handy hervor.

Er runzelte die Stirn. »Wen rufst du an?«

»Eine Freundin. Sie kann mit Toten jederzeit kommunizieren.« Lily hatte bisher nur mit einem Toten geplaudert, nämlich mit diesem hier. Was die Frage anging, warum gerade ihr diese zweifelhafte Ehre zuteilwurde … nun, die Expertin, die sie jetzt anrufen würde, hatte die Analogie eines Hauses gebraucht. Die meisten Menschen sahen und hörten die Toten nicht, weil ihre Häuser keine Fenster und nur eine Tür hatten – eine, die fest verschlossen und nur in eine Richtung zu öffnen war und auch das nur nach dem Tod. Doch weil Lily einmal gestorben war, schloss ihre Tür nicht mehr richtig, sondern stand einen kleinen Spalt offen. Normalerweise hatte das keine Konsequenzen, aber als sie Zeugin von Drummonds Tod wurde, hatten sich ihre Energien irgendwie vermischt.

Zumindest lautete so die Theorie. Alles erklärte sich damit nicht. An diesem Tag waren in Lilys Anwesenheit noch viele weitere Menschen gestorben, darunter auch der Mann, den sie erschossen hatte, und keiner von ihnen klebte ihr nun an den Fersen.

Sie scrollte in der Liste ihrer Kontakte zu »Etorri« hinunter und wählte »Rhej« aus.

Die Rhejes waren die weisen Frauen der Clans, die Geschichtsschreiberinnen und Quasi-Priesterinnen, und sie waren alle magisch begabt. Die Rhej der Etorri war ein Medium. Ihren richtigen Namen hatte Lily nie gehört, denn die Rhejes wurden nicht bei ihrem Namen genannt, doch letzten Monat war ihre Neugier zu groß geworden. Da die Rhejes selbst kein Geheimnis aus ihrem Namen machten und Lily die Telefonnummer der Rhej der Etorri besaß, hatte sie recht schnell herausgefunden, dass sie Anne hieß. Anne Murdock.

Anne ging sofort ans Telefon. Nachdem Lily sich für die Störung entschuldigt hatte, sagte sie: »Er ist wieder da.«

»Dieser Geist?« Anne war hörbar überrascht. »Wie hieß er doch gleich – Hammond?«

»Drummond. Er ist plötzlich einfach aufgetaucht. Im Moment guckt er mich böse an.«

»Ist er noch kohärent?«

»In dem Sinne, in dem du das Wort verwendest, ja.«

Anne stieß ein leises frustriertes Schnauben aus. »Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Ich habe seit meinem siebten Lebensjahr keinen voll kohärenten Geist mehr erlebt, und dieser weibliche Geist ist verschwunden, nachdem meine Mutter mit ihr gesprochen hatte.«

Lily wusste, was Anne mit »kohärent« meinte, weil sie, kurz nachdem Drummond ihr das erste Mal erschienen war, darüber gesprochen hatten. Die meisten Geister waren mehr eine Gewohnheit als eine echte Person – eine tief verwurzelte Handlung oder Angst oder ein Moment, der sich immer und immer wiederholte, ein leichtes Kräuseln der Luft, das der Weggang der Seele verursachte und nicht die Seele selbst. Andere waren wie echte Menschen miteinander umzugehen in der Lage, wenn auch in begrenztem Umfang, aber oftmals wussten die wenigen Lebenden, die sie sehen oder hören konnten, nichts mit ihnen anzufangen.

Doch es gab ein paar wenige Ausnahmen. Voll kohärente Geister, wie die Rhej der Etorri sie nannte. Die Fachleute waren sich nicht einig darüber, was sie waren oder wie sie entstanden, nur dass sie anders waren als die anderen, darin stimmten alle überein. Ein kohärenter Geist war wie die Person, die er im Leben gewesen war. Er oder sie nahm weiter die Welt der Lebenden wahr, anscheinend auch mit den gleichen Sinnen wie sie, und benutzte Sprache so wie sie. Doch eines galt auch für kohärente Geister: Sie waren an etwas gebunden – an einen Ort, einen Gegenstand oder, sehr selten, an eine Person.

Wie kam Lily nur zu diesem Glück? »Er sagt, er sei an mich gebunden, aber einen Monat weggewesen.«

»Ich fürchte, dafür habe ich keine Erklärung.«

»Er auch nicht. Außerdem sagt er, er glaube, er solle mein Partner sein.«

»Fragst du mich um Rat?«

»Kann man irgendwie gute Geister von miesen, verlogenen unterscheiden?«

Anne kicherte. »Auf dieselbe Weise wie die Lebenden. Natürlich kannst du herausfinden, ob er lügt. Aber er könnte ebenso gut die Wahrheit sagen oder das, was er für die Wahrheit hält. Wir wissen zwar nicht viel über kohärente Geister, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, sie seien nicht genauso konfus wie wir.«

Lily zögerte, ob sie die nächste Frage stellen sollte – aber sie musste es wissen. »Könnte es sein, dass er glaubt, er müsse mir helfen, weil es da noch etwas Unerledigtes gibt? Und wenn er es getan hat … kann er dann gehen?«

»Die Erklärung mit dem ›Unerledigten‹ trifft meiner Ansicht nach nicht pauschal auf alle Geister zu. Fast jeder von uns lässt etwas Unerledigtes zurück, aber kaum einer bleibt noch länger als einige Momente. Trotzdem gibt es unter den kohärenteren Geistern welche, die fest daran glauben, dass sie nicht auf die andere Seite passieren können. Entweder haben sie recht, oder ihr Glaube daran hält sie hier zurück.«

»Dann ist es also möglich, dass Drummond mit mir zusammenarbeiten soll und nicht, äh … passieren kann, bevor er das nicht erledigt hat. Oder eine Schuld beglichen hat oder so. Oder er steckt hier fest, weil er glaubt, er stecke hier fest.«

»Ungefähr so, ja. Ich bin dir keine große Hilfe, nicht wahr?«

Eigentlich nicht. »Noch eine Frage, die vielleicht nicht in dein Fachgebiet fällt, weil es eher um etwas … ich würde sagen Ethisches geht. Gilt diese Verpflichtung für beide Beteiligte? Verpflichtet mich die Tatsache, dass Drummond an mich gebunden ist, in irgendeiner Weise?«

Anne schwieg lange. »Ich kann nur weitergeben, was meine Mutter mir gesagt hat, die es von ihrer Mutter hat und so weiter, über einige Generationen hinweg. Wir schulden den Toten nicht mehr als den Lebenden. Und auch nicht weniger.«

Das war nicht das, was Lily hatte hören wollen. Trotzdem dankte sie der Rhej, legte auf und wandte sich dem Mann zu – oder was von dem Mann übrig war –, der sie mürrisch ansah.

»Und?«, fragte er. »Hat deine Freundin dir weiterhelfen können?«

»Vielleicht.« Drummond für immer loszuwerden stand ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Wenn er meinte, er müsste ihr unbedingt helfen … doch mit Bestimmtheit wusste sie das nun immer noch nicht. »Du sagtest, du wärst im Gericht gewesen. Dann weißt du also, was Brian Nelson getan hat.«

»Ja.« Er machte ein finsteres Gesicht. »Verdammte Trittbrettfahrer.«

Dass er exakt das aussprach, was sie gedacht hatte, war ihr unheimlich. »Das stimmt. Um Todesmagie zu gewinnen, haben er und drei aus seiner Gang zwei junge Frauen entführt und ihnen die Kehle durchgeschnitten. Sie hatten gehört, was dein Kumpel Chittenden getan hat, und wollten es ihm nachmachen.«

Seine Miene wurde ausdruckslos. »Willst du, dass ich sage, ich hatte unrecht?«

»Oh, ich denke, du weißt, dass du auf der falschen Seite warst. Ich will hören, dass du deine Ansicht über Magie und die Leute, die sie nutzen, geändert hast.«

Er schwieg.

»Ja, das habe ich mir gedacht.« Sie ging weiter.

»Okay, dann sind wir eben keine Partner. Aber ich bin immer noch ein Fundus, aus dem du nicht schöpfst. Ich habe zweimal so viel Erfahrung wie du. Das kannst du nicht einfach so vom Tisch wischen.«

Er hatte recht. Auch das war ärgerlich. Sie blieb stehen und sah ihn an. »Du bist nie lange genug da, um wirklich eine Hilfe zu sein. Du kommst plötzlich, und im nächsten Moment bist du schon wieder weg.«

»Ich … ich kann jetzt verfügbarer sein.«

Sie wartete. Da er nicht weitersprach, fuhr sie fort: »Wenn ich dich jetzt frage, warum, ist das auch eines der Dinge, die du nicht erklären kannst?«

»Da ich es selbst nicht verstehe, lautet die Antwort wohl Ja.«

»Du hast mir gesagt, du hast Friar nie persönlich kennengelernt.« Robert Friar, der einen Krieg angefangen hatte – oder einen, der vor über dreitausend Jahren begonnen hatte, weiterführte. Robert Friar, der mit Freuden den Tod von Hunderten seiner Anhänger in Kauf nahm, um die Lupi, die magisch Begabten und alle, die derjenigen, der er diente, im Weg waren, auszulöschen. Wie die Regierung der Vereinigten Staaten.

»Nur seinen Freund Chittenden.«

»Aber du hast Nachforschungen über ihn angestellt. Wenn du dich über mich informiert hast, dann doch sicher auch über ihn, bevor du dich auf seine Seite geschlagen hast.«

»Klar, ich bezweifle, dass ich mehr weiß als du. Ich habe die FBI-Akten genutzt und mit ein paar Leuten geredet.«

»Ich habe nach deiner beruflichen Meinung, nicht nach den Details deines Background-Checks gefragt. In Anbetracht dessen, was du damals in Erfahrung gebracht hast und was du jetzt weißt, würdest du sagen, er ist ein Soziopath?«

»Hm.« Angestrengt dachte er nach. »Könnte sein. In den Unterlagen steht zwar nichts über die üblichen Anzeichen, wie das Foltern von Babyhäschen, als er noch ein süßer, kleiner Junge war. Aber nicht alle Soziopathen sind gleich. Er könnte das sein, was man ›hochfunktional‹ nennt.«

»Du meinst, er kann seine wahre Natur sehr gut verbergen?«

»Ja, das, und er hat eine bessere Impulskontrolle. Die meisten Soziopathen können sich nur schwer beherrschen.«

»Die meisten, die uns bekannt sind. Die, die wir wegsperren.«

»Auch wieder wahr.« Er legte den Kopf schief. »Du versuchst, Friar besser zu verstehen?«

Sie nickte und ging weiter, aber langsam. »Ihn und die, der er dient.« Die Große Alte, die die Herrschaft der Welt an sich reißen und sie nach ihren Vorstellungen umgestalten wollte. Die, deren Namen sie niemals nannten, weil das vielleicht ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Ihre Erzfeindin, die nur durch einen Stellvertreter agieren konnte, weil sie aus dieser Welt verbannt war, Gott sei Dank. Oder den Großen Alten sei Dank, die sich ihr entgegengestellt hatten, so wie die Dame der Lupi, die damals auch für sie selbst die Tür zugeschlagen hatte, um sie auszusperren.

»Deswegen bist du hergekommen.« Drummond klang zufrieden, als hätte er ein Puzzleteil herumgedreht und sähe nun, wohin es passte. »Nicht um in deiner eigenen Psyche zu stochern, sondern um zu versuchen, ihre zu verstehen. Helen Whiteheads. Whitehead war auch eine Anhängerin dieser Alten, von der du mir erzählt hast.«

»Das war sie. Und sie schien ebenfalls eine Soziopathin gewesen zu sein.«

Drummond zog die Augenbrauen hoch. »Ach, ja?«

»So wie möglicherweise Patrick Harlowe … der andere Stellvertreter, von dem ich weiß.«

»Das sagt nichts Gutes über die Alte.«

»Nein, nicht wahr? Wenn –« Ein gedämpftes Geräusch drang aus ihrer Handtasche – der Klingelton für Anrufe, die von ihrer Büronummer weitergeleitet wurden. Sie fischte das Telefon heraus. »Agent Yu.«

Es war T.J., alias Detective Thomas James, ihr Ausbilder, als sie ganz neu bei der Mordkommission gewesen war. Während er sprach, warf Lily einen sehnsüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. Doch sie schuldete T.J. sehr viel mehr als ein spätes Mittagessen, deswegen sagte sie knapp, als er eine Pause machte: »Klar. Ich bin in fünfzehn Minuten da.« Sie steckte das Telefon weg und warf einen Blick über die Schulter nach Scott, der einige Schritte hinter ihr stand. »Hast du alles gehört?«

»Nur was du gesagt hast und dass der Anrufer ein Mann war.«

Wenn Scott ein bisschen näher gewesen wäre, hätte er T.J. sehr gut gehört, doch auch Lupiohren hatten ihre Grenzen. Nach und nach lernte sie, wo diese Grenzen waren. »Einem alten Freund aus der Mordkommission wurde ein verdächtiger Todesfall gemeldet. Er will, dass ich prüfe, ob Magie im Spiel war, aber inoffiziell.« Lily war eine Berührungssensitive, das hieß, sie konnte Magie ertasten und oftmals auf diese Weise feststellen, um welchen Typ es sich handelte. Doch sie selbst war unfähig, Magie zu wirken, und auch immun dagegen. Wenn sich an der Leiche oder am Tatort Magie befand, würde sie es herausfinden. »Ich fahre zur 1221 Hammer, Apartment 717.«

Beim Verlassen des Friedhofs informierte sie Rule per SMS darüber, dass sie später kommen würde. Mike überholte sie, noch ehe sie am Tor war, in einem für Lupi lockeren Laufschritt – mit anderen Worten, so schnell, wie sie sprinten konnte. Und zu ihrem Ärger schwebte eine durchsichtige weiße Gestalt neben ihr her. Als sie an ihrem Wagen ankam, verfestigte sie sich – sozusagen.

»Hört sich an, als hätten wir einen Fall«, sagte Drummond.

»Einer von uns, möglicherweise.« Sie schloss die Autotür auf und stieg ein.

»Ich kann dir doch helfen, verdammt.«

»Oder du stellst mir ein Bein und lachst mich aus, wenn ich falle.«

Seine Miene wurde noch saurer als gewöhnlich. »Ich bleibe in der Nähe, für den Fall, dass du deine Meinung änderst. Äh … auf dem Clangut kann ich mich nicht manifestieren, es sei denn, du rufst mich.«

Manifestieren. Ein solches Wort aus Drummonds Munde, das wäre unmöglich gewesen, als er noch am Leben gewesen war. »Geht es dort nicht?«

»Nein. Es ist, als …«, seine Finger öffneten und schlossen sich, als würde er an der Luft kratzen, »als wäre es für mich verschlossen. Es sei denn, du rufst mich. Egal, wo du bist, wenn du mich rufst, kann ich mich manifestieren.«

»Hm.« Seit Neuestem wohnten sie und Rule auf dem Clangut. So wie viele andere auch.

Dass Rules Volk verfolgt wurde, war nichts Neues, doch ihre Kinder hatten sie immer in Sicherheit gewusst. Selbst in den schlimmsten Zeiten der Verfolgung hatten die Kinder der Lupi unerkannt unter den Menschen gelebt, die sie zusammen mit den Hexen ins Feuer geworfen hätten, wenn sie gewusst hätten, wer sie waren. Auch in den Auseinandersetzungen zwischen den Clans waren Kinder stets tabu. In all den Jahren, die die Leidolf und die Nokolai verfeindet gewesen waren, hatte keiner der beiden Clans je befürchtet, der andere könne sich an seinen Kindern vergreifen. Sogar der gemeine, alte Victor Frey, der Rho der Leidolf, der Rule durch einen Trick dazu gebracht hatte, die Macht seines Clans zu übernehmen, und dann gestorben war, bevor er sie zurücknehmen konnte, hatte Toby unangetastet gelassen.

Obwohl Letzteres, vermutete Lily, wohl eher daran lag, dass Victor sich gut in ihrer Geschichte auskannte. Vor vierhundert Jahren hatten die Leidolf und die Nokolai zusammen mit den Wythe in seltener und vollständiger Übereinstimmung gehandelt. Und mit dem Rückhalt aller anderen Clans … außer einem. Der Clan der Bánach hatte mit dem Clan der Cynyr in Fehde gelegen. Die Bánach nahmen den achtjährigen Sohn des Rho der Cynyr als Geisel – ohne ihm etwas anzutun, doch sie weigerten sich, ihn freizulassen, bis die Cynyr sich ergeben hatten.

Den Clan der Bánach gab es nicht mehr.

Victor Frey war bösartig und am Ende seines Lebens wahnsinnig, aber er war auch ein Rho. Kein Hass, egal auf wen oder wie tief er saß, war so wichtig wie das Überleben des Clans. Die ersten acht Jahre seines Lebens hatte Toby in North Carolina verbracht, mitten im Revier der Leidolf, und dennoch hatte Victor ihn nicht angerührt.

Robert Friar dagegen würde sich ohne mit der Wimper zu zucken an Kindern vergreifen. Er würde nicht zögern, sie zu töten. Auf den Kundgebungen der Humans-First-Bewegung waren auch Kinder gewesen. Dass keines ums Leben gekommen war, war reines Glück gewesen – und der grimmigen Verteidigung ebenjener Lupi geschuldet, die die Leute von Humans First am liebsten kastriert, im Gefängnis oder tot gesehen hätten.

Deshalb hatten die Nokolai neben zusätzlichen Kämpfern auch so viele Kinder wie möglich auf das Clangut geholt – die Kinder und manchmal auch ihre Mütter und die Kinder der ihnen unterstehenden Clans in Nordamerika, Laban und Vochi, die beide nicht ausreichend Unterkünfte und Mittel zur Verfügung hatten, um ihren gesamten Nachwuchs auf ihren eigenen Clangütern unterzubringen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

»Bist du mir deswegen diesen Monat nicht auf die Pelle gerückt?«, fragte Lily. »Weil ich auf dem Clangut wohne und du dich dort nicht manifestieren kannst?«

»Nein.« Er zuckte steif mit den Schultern. »Es gibt vieles, das ich noch nicht vom Totsein weiß, aber das ist nicht der Grund, warum ich weg war. An manchen Orten manifestiere ich mich leichter als an anderen, aber wenn du mich rufst, geht es so gut wie überall.«

Sie musste sich auf den Weg machen. Trotzdem hielt sie noch einmal inne und betrachtete den Geist des Mannes, der einmal ihr Feind gewesen und nun fest entschlossen war, ihr Partner zu werden. Oder was auch immer. »Verrate mir eines.«

Er machte ein argwöhnisches Gesicht. »Wenn ich kann.«

»Du hast diese Frau getötet oder irgendwie ihren Tod arrangiert. Die mit der Feuergabe. Die, die deine Frau getötet hat.«

Sein Gesicht veränderte sich nicht, aber für einen langen Moment dachte sie, er würde nicht antworten. Als er endlich etwas sagte, war seine Stimme ganz neutral. »Ja, das habe ich.«

»War es ein gutes Gefühl?«

Dieses Mal war die Pause sogar noch länger und seine Stimme anders. Heiser. »Oh, ja Und wie.«