18
Jasper Machek schüttelte den Kopf. »Sie irren sich.«
Lily musterte ihn. Er hatte sich gut unter Kontrolle, doch die steinerne Miene beherrschte er nicht so perfekt wie sein Bruder, denn in seinen Augen zeigte sich Furcht … diesen Augen, die Rules so ähnlich waren, abgesehen von den Krähenfüßen, dem leichten Verlust an Elastizität der Haut, den das Alter mit sich brachte. »Das wäre ganz einfach zu beweisen. Dazu reicht ein Telefonanruf.«
»Ich muss Ihnen gar nichts beweisen.«
»Das sollten Sie sich vielleicht noch mal überlegen. Entführung ist eine Straftat. Und eine Straftat nicht anzuzeigen ist ebenfalls eine Straftat.«
»Da gibt es nichts anzuzeigen. Adam lässt gern von Zeit zu Zeit alles hinter sich, dann nimmt er nicht einmal sein Handy mit. Ich werde Ihnen nicht sagen, wo er ist, denn, nun ja, ich will nicht, dass er davon erfährt. Von allem hier.«
»Ich vermute, er wird es merken, wenn Sie im Gefängnis sitzen.«
»Ich hoffe, dass Sie mich nicht festnehmen.« Er fuhr sich mit beiden Händen an den Oberschenkeln entlang und versuchte ein Lächeln, das für Cullen bestimmt war. »Sie haben dabei wohl auch ein Wörtchen mitzureden, könnte ich mir vorstellen. Wenn Sie Ihren Gegenstand zurückbekommen – samt Entschädigung«, fügte er schnell hinzu. »Wiedergutmachung für die Kränkung und die Unannehmlichkeiten – vielleicht sehen Sie dann von einer Anzeige ab.«
Cullen antwortete, indem er höhnisch die Lippen verzog.
Machek lächelte nur. »Geld ist nützlich. Denken Sie darüber nach.«
Es lag ihm wirklich nichts daran, dachte Lily. Ob er ins Gefängnis kam oder nicht, war ihm im Moment nicht wichtig. Später vielleicht, aber nicht jetzt. »Okay«, sagte sie milde. »Wir reden nicht über Adam. Wie lange vermissen Sie schon Ihren gestohlenen Was-immer-es-ist?«
»Sie bringen da etwas durcheinander.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte ein Bein über das andere. Er hatte lange Beine, ganz wie sein Bruder, und einen ähnlichen Körperbau – groß und schlank, breite Schultern, schmale Hüften. Aber sein Körperbau war zarter als Rules, weniger muskulös und mit markant hervortretenden Ellbogen, Schulterblättern und Knien, dort, wo Knochen auf Knochen traf. Er warf einen verstohlenen Blick in Rules Richtung. »Über mein gestohlenes Eigentum werde ich nicht sprechen, aber über Adam rede ich gern. Doch das tut nichts zur Sache, oder? Es wäre nur Zeitverschwendung, und ich habe eine Frist gesetzt bekommen. Wenn ich ihnen nicht gebe, was sie wollen, zerstören sie mein Eigentum.«
»Und Sie haben den Prototyp nicht mehr. Das haben Sie zumindest Rule gesagt.«
»Wir wollten diesen Deal machen, bevor ich mehr sage.«
»Mein Boss wird jeden Deal erst absegnen müssen. Bisher haben Sie mir noch nicht viel Grund gegeben, ihn davon zu überzeugen, dass ein Deal nötig ist, egal wie er aussieht.«
Er runzelte die Stirn. Spielte unruhig mit den Händen – er hatte lange Finger, ein wenig länger als Rules – und rieb sie sich wieder an den Beinen. »Ich darf meine Freiheit nicht verlieren, bis ich mein Eigentum wiederhabe. Dann kann ich reden, und wir können neu verhandeln. Wenn Sie sich darauf einlassen können – oder Ihren Boss dazu bringen können –, ist der Handel abgeschlossen.«
»Der Zeitpunkt der Festnahme ist meine Sache. Ich bin frei, damit zu warten, bis Sie Ihr Eigentum zurückhaben.«
»Gut.« Er stieß die Luft aus. »Das ist gut. Der Handel gilt.«
»Sie brauchen den Prototyp, um Ihr Eigentum wiederzubekommen, aber Sie haben Rule gesagt, dass er sich nicht mehr in Ihrem Besitz befindet.«
»Das ist richtig.«
»Wer hat ihn entwendet? Und wie? Wo waren Sie?«
Er schüttelte den Kopf. »Darauf werde ich gern antworten, aber jetzt noch nicht.«
»Wir können ihn nicht wiederbeschaffen, wenn Sie uns nichts sagen.«
»Oh, das erwarte ich auch nicht von Ihnen. Ich musste ihnen sagen, dass ich nicht weiß, wo der Prototyp ist. Diese Leute lügt man nicht an.«
»Diese Leute?«
»Um wen es sich handelt, darüber können wir später reden. Glücklicherweise haben sie einem Ersatz zugestimmt. Statt des Prototyps nehmen sie den Mann, der ihn hergestellt hat.«
Cullen lachte bellend. »Erst bestehlen Sie mich, dann wollen Sie, dass ich mich gegen Ihren Geliebten eintauschen lasse? Wie bekommen Sie bloß morgens den Reißverschluss Ihrer Jeans zu, bei den Eiern, die Sie haben.«
»Ja, es ist erstaunlich«, sagte Machek freundlich. »Aber ich dachte … Ich könnte mich auch irren, aber die Entscheidung liegt doch nicht nur bei Ihnen. Wenn Rule Ihnen etwas befiehlt, müssen Sie es doch tun, oder?«
Rules Brauen wanderten höher. »Und du dachtest, ich würde Cullen gegen etwas eintauschen, von dem du beharrlich behauptest, es sei ein Gegenstand und keine Person?«
»Nun ja …« Er spreizte die Hände. »Ich dachte, dir würde etwas einfallen, wie wir den Austausch vornehmen und ihn dann zurückfordern können. Wie genau das gehen könnte, überlasse ich dir. Was die Frage betrifft, warum du dir die Mühe machen solltest –«
»Und das nicht unerhebliche Risiko eingehen«, sagte Rule trocken.
»Und das Risiko eingehen«, bestätigte Machek. »Wenn ich mir ansehe, was du im Oktober in Washington getan hast, scheinst du bereit zu sein, zum Schutz anderer ziemlich viel zu riskieren, um andere zu schützen. Aber vielleicht hast du ja auch ein wenig Eigeninteresse daran. Weil es um etwas geht, das für dich oder dein Volk von Bedeutung ist, wie zum Beispiel der Mann, von dem du behauptest, er stecke hinter den Anschlägen im Oktober.«
»Robert Friar?«, sagte Lily scharf. »Sie wissen, wo er ist?«
»Nicht direkt. Ich kenne nicht seinen genauen Aufenthaltsort. Aber er ist in Kalifornien, und ich verfüge über Informationen, die Sie zu ihm führen könnten.«
»Steckt er hinter alldem? Hat er Sie engagiert?«
Machek warf ihr einen Blick zu, der ebenso schwer zu deuten war wie Rules, wenn er komplett zumachte. »Ich werde keine Fragen mehr beantworten, bis ich mein Eigentum wiederhabe.«
Er meinte es ernst. Davon war Lily überzeugt. Und der Rest? Wie viel davon war ehrlich gemeint? Bestimmte Punkte umschiffte er sorgfältig, wie jemand, der gern die Wahrheit gesagt hätte, es aber nicht durfte. Oder wie ein geschickter und geübter Lügner. Er behauptete nicht, zu wissen, wo Friar steckte. Er deutete eine Möglichkeit an, wollte aber nicht sagen, wer seinen Partner in seiner Gewalt hatte, ja, er wollte nicht einmal zugeben, dass King entführt worden war.
Wenn Lily nicht dabei gewesen wäre, hätte er es Rule gegenüber vielleicht getan, statt immer von »seinem Eigentum« zu reden. Möglicherweise wäre er dieses Risiko sogar in Lilys Anwesenheit eingegangen, wenn sie Cynna mitgebracht hätten, in der Hoffnung, sie würde King finden, bevor seine Entführer merkten, dass das FBI eingeschaltet worden war. Stattdessen war nun Cullen hier. Wie praktisch, hatte er gesagt. »Wie soll der Austausch –« Ihr Telefon spielte die ersten Takte von Boy von Ra Ra Riot … Beths Klingelton. Lily schnitt eine Grimasse und griff in ihre Tasche, um den Ton auszustellen. »Wie soll der Austausch ablaufen?«
»Das weiß ich nicht. Der Anruf, bei dem ich die Einzelheiten erfahre, soll irgendwann heute im Laufe des Tages oder am Abend erfolgen.«
Rule ergriff das Wort. »Du hast uns hier zu dir nach Hause kommen lassen. Ich gehe davon aus, dass diese geheimnisvollen Leute wissen, dass du mit uns redest. Was glauben sie, was du uns erzählst?«
In seinen Augen blitzte etwas auf, das Belustigung hätte sein können. »Na, im Moment trete ich als Vermittler für den echten Dieb auf, der euch den Prototyp zurückverkaufen will, um diesen gewalttätigen Typen zu entgehen, die ihn gestern Nacht überfallen und versucht haben, ihn ihm zu klauen.«
Lily machte ein skeptisches Gesicht. »Und diese Leute denken wirklich, ich würde das nicht durchschauen und Sie verhaften?«
»Sie sagten, sie seien überzeugt, dass ich es Ihnen erfolgreich ausreden kann, bis Sie den Prototyp wiederhaben. Um Sie zu beschäftigen, soll ich Sie mit falschen Informationen über den versuchten Diebstahl versorgen, um Sie in die Irre zu führen, bis es Zeit für den Austausch ist. Dann locke ich Seabourne an den vereinbarten Ort.«
»Nur Cullen?«, fragte Lily.
Er zuckte die Achseln. »Ich soll nur ihn mitbringen, wenn ich kann, aber es war klar, dass Sie dem möglicherweise nicht zustimmen würden. Sobald wir alle dort sind, äh …«, er sah Cullen entschuldigend an, »wird Seabourne mit Wolfsbann außer Gefecht gesetzt.«
Rule sagte: »Weißt du, wie sie das anstellen wollen? Das ist nicht so einfach, wie es nach der Sache am Big Sister scheint.«
»Das haben sie nicht gesagt. Ich nahm an, dass sie es verbrennen wollen, aber allein aufgrund von Vermutungen sollte man keine Entscheidungen fällen. Soll ich versuchen, das herauszufinden, wenn sie anrufen?«
Rule schüttelte den Kopf. »Damit machen wir sie nur misstrauisch. Sie werden erwarten, dass du nur daran denkst, King wiederzubekommen … oder dein Eigentum, nicht daran, was sie mit Cullen anstellen.«
»Sie wissen, dass mir sein Wohlergehen nicht gleichgültig ist. So habe ich aus ihnen herausbekommen, dass sie Wolfsbann einzusetzen planen. Sie haben mir versichert, dass sie ihn schonend behandeln werden, dass er ihnen tot nicht von Nutzen wäre.«
Cullen zeigte mit einem Schnauben, was er davon hielt.
»Machen Sie keine Mätzchen«, sagte Lily zu Machek. »Finden Sie so viel wie möglich über den Treffpunkt und den Austausch heraus, aber belassen Sie es dann dabei.« Sie sah Rule an und fragte sich, worauf er hinauswollte. Er begegnete ihrem Blick, doch seiner war verschlossen, verriet nichts.
Wenn du Zweifel hast, stell Fragen. Das tat Lily und kam immer wieder auf verschiedene Arten auf dieselben zurück, bis Machek höflich vorschlug, ihn entweder festzunehmen oder zu gehen. Doch er hoffte, sie würden ihre Einwilligung zu dem Austausch geben. Und endlich schaltete auch Rule sich wieder ein.
»Ohne über mehr Informationen zu verfügen, können wir unsere Einwilligung zu gar nichts geben«, sagte er und stand auf. »Sobald du weißt, wo, wann und wie dieser Austausch stattfinden soll, ruf mich an, und wir reden darüber.«
»Ich habe deine Nummer«, sagte Machek ruhig und erhob sich wie ein guter Gastgeber, dessen Gäste aufbrechen.
Er versteckte sich anders als Rule, dachte Lily. Er benutzte Unbeschwertheit als Schild. »Und meine«, ergänzte sie, zückte eine Visitenkarte und legte sie auf den beladenen Beistelltisch. »Nur für den Fall.«