Ivan

1552
Die Schiffe kamen von Osten her flußaufwärts. Gleichmäßig tauchten die Ruder ins Wasser. Mutter Wolga, mächtige Wolga. Hoch oben in dem grenzenlosen Herbsthimmel zogen hin und wieder blasse Wolken vorüber, während die Schiffe auf dem trägen Wasser dahinglitten, auf ihrem Weg zurück in die Heimat. Manchmal wurden Segel gesetzt, meistens jedoch wurde gerudert. An den Ufern des breiten Flusses war nur der gleichförmige Singsang der Schiffer zu hören, der schwermütig übers Wasser klang. Boris wußte nicht, wie viele Boote es waren. Nur ein Teil der Armee war in der Garnison im Osten zurückgeblieben. Der größte Teil der Streitmacht kehrte im Triumph in die Frontstadt Niznij Novgorod zurück. Die Russen hatten soeben die mächtige Tatarenstadt Kazan erobert.
Kazan: Weit hinter ihnen auf dem Hügel an der Wolga lag es, wo der breite Strom südwärts durch die Steppe floß und sich dann dem Kaspischen Meer zuwandte. Kazan, wo einst die Wolgabulgaren gelebt hatten. Es war das Tor zu dem Imperium, das ehemals von dem mächtigen Tschingis Khan beherrscht worden war. Nun gehörte es zu Rußland.
Boris saß in einem der hinteren Boote. Er war sechzehn Jahre alt, mittelgroß und eher schmal, hatte ein breites Gesicht mit leicht türkischem Einschlag, tiefblaue Augen, dunkelbraunes Haar und einen spärlichen Bart. Als junger Kavallerist trug er einen gesteppten Wollmantel, der Pfeile abhalten konnte. Um seine Schultern hing ein Pelzmantel gegen die kalte Brise. Hinter ihm baumelte ein kurzer türkischer Bogen, und zu seinen Füßen lag eine Axt in einer Hülle aus Bärenfell. Boris war von edlem Geblüt. Sein voller Name lautete: Boris, Sohn Davids, mit dem Zunamen Bobrov. Wenn man ihn fragte, woher er komme, antwortete er, sein Besitz liege bei Russka.
Im ersten Boot saß Zar Ivan. Der Heilige Zar, mit einundzwanzig Jahren Alleinherrscher über alle Russen. Kein Herrscher vor ihm hatte solche Titel geführt. Seine Hauptstadt war Moskau. Seit dem Fall Konstantinopels hundert Jahre zuvor hatten drei Generationen an der Entstehung des mächtigen Staates Muscovia, des Moskauer Reiches, gearbeitet. Eine nach der anderen waren die bedeutenden Städte im nördlichen Rußland Moskau und seinen Armeen zugefallen. Tver, Rjazan, Smolensk, selbst das wichtige Novgorod gaben ihre frühere Selbständigkeit auf. Dieser neue Staat war allerdings keine Föderation; der Fürst von Moskau war ein ebenso großer Despot wie einst der Khan. Unbedingter Gehorsam gegenüber dem Machtzentrum, das war die Doktrin der Moskauer Fürsten.
»Nur auf diese Weise kann der Staat der Rus seinen ehemaligen Ruhm zurückgewinnen«, war die Meinung der Befürworter. Bis dahin war es ein weiter Weg. Jetzt noch war der größte Teil des westlichen Rußland und des alten Kiever Landes im Süden in der Hand des mächtigen Litauen. Außerdem regierten jenseits des Schwarzen Meeres die moslemischen Türken im alten Konstantinopel, das nun Istanbul hieß. Katholiken im Westen, Moslems im Süden. Vom Osten her fielen regelmäßig die tatarischen Steppenvölker ein.
Dagegen gab es verschiedene Verteidigungslinien: die Vasallensiedlungen ehemals feindlicher Tataren jenseits der Oka, außerdem kleine Forts, befestigte Garnisonsstädte. Niemand jedoch hatte sie bislang unter Kontrolle gebracht, bis zu diesem Jahr, als sie ihren Herrn fanden. Boris lächelte geheimnisvoll. Zu seinen Füßen lagen, an den Händen gefesselt, zwei Tataren, die er selbst gefangen hatte und nun auf seinen kleinen Besitz in Russka bringen wollte. Er würde ihnen zeigen, wer ihr Herr war.
Dieser Feldzug war erst der Anfang. Weit im Süden am Wolga-Delta, wo einst die Chazaren herrschten, lag eine weitere Tatarenhauptstadt: Astrachan. Sie würde wohl als nächste fallen. Dann käme der Oberste aller westlichen Tataren unten am Schwarzen Meer an die Reihe, der Krim-Khan in seiner Festung: Bachtschisaraj.
Er war eine furchterregende Gestalt. Sein Palast war so berühmt wie der Topkapi-Palast des Sultans in Istanbul, und selbst der Osmanenherrscher war froh, in dem Krim-Khan einen Verbündeten zu haben. Doch zur rechten Zeit würde auch dieser fallen, und später, östlich der Wolga, hinter den Wüsten, wo andere Tataren lebten – die Kazachen, Uzbeken, die Nogai-Horde –, die wilden, doch zersplitterten Stämme in den asiatischen Wüsten.
Dies war das große Ziel, das Zar Ivan sich gesteckt hatte: Ein christlich-russischer Zar würde eines Tages über das riesige Eurasien-Imperium des mächtigen Tschingis Khan herrschen. Zum erstenmal in der Geschichte unterwarfen Bewohner des Waldes die Bewohner der Steppe. Beim Verlassen Kazans hatte Boris tatsächlich gehört, wie von Ivan als dem »Weißen Khan«, dem »Westlichen Khan« also, gesprochen wurde. Kein Wunder, daß er mit so großer Erwartung nach vorn zum Schiff des jungen Zaren blickte.
Erst an diesem Morgen hatte der Zar ihn angesprochen. Und nicht nur das: Er hatte ihn in sein Vertrauen gezogen. Boris war von großem Stolz erfüllt.
Er war wirklich ein Held, dieser große dunkle junge Zar, der sich eine unglaubliche Aufgabe gestellt hatte. Mit drei Jahren bereits hatte er die Krone geerbt und mußte gedemütigt zusehen, wie die Fürsten und Bojaren um die Herrschaft in Rußland kämpften, die doch seine Sache war. Es gab zwei mächtige Gruppen, einerseits die vom alten russischen Herrscherhaus oder von den litauischen Regenten abstammenden Fürsten; andererseits die größten Bojarenfamilien, etwa fünfunddreißig Sippen, die den Kern der duma bildeten, des adligen Beratungsorgans.
Sie waren die mächtigen Intriganten, die Ivan ausschalten mußte. Sie haßten seine Mutter, weil sie Polin war. Sie verachteten seine Frau; aus den fünfzehnhundert geeigneten Bewerberinnen, die er nach Art der Khans sich vorführen ließ, hatte er ausgerechnet dieses Mädchen gewählt, das zwar aus einer alten Familie stammte, nicht jedoch aus einer Bojarenfamilie. Ivan hatte aus Liebe geheiratet.
Boris hatte Anastasia, die liebliche Gemahlin des Zaren, nie gesehen, doch hatte er oft über sie nachgedacht, denn er sollte nach seiner Rückkehr nach Moskau selbst heiraten. Er wünschte sich seine zukünftige Frau so wie Anastasia, die, so hieß es, dem Zaren in schwierigen Lagen unerschütterlich zur Seite stand, der er in allem vertrauen konnte.
Ihre Familie gehörte zwar nicht zu den größten Magnaten, aber sie war vornehm. Noch war der Familienname »Zacharin«, doch er wurde in »Romanov« abgewandelt.
Boris hatte für Fürsten und Magnaten nichts übrig. Warum sollte er sie stützen, wenn sie doch nur alle wichtigen Positionen an sich rissen und dem niederen Adel, dem er selbst angehörte, nur die Brosamen von ihrem Tisch ließen? Unter den autokratischen Fürsten Moskaus jedoch konnten Männer wie er vorwärtskommen. Während diese Herrscher versuchten, die Macht der einflußreichen Sippen zu brechen, förderten sie Männer aus unbekannteren Familien.
Zwei Jahre zuvor hatte Ivan tausend seiner besten Leute – Bojarenkinder nannte man sie, aber es waren auch einfachere Burschen darunter – ausgewählt und ihnen Land nahe Moskau geben lassen, damit sie stets zur Hand waren. Boris war zu seinem Leidwesen noch zu jung dafür. Aber immerhin war Russka, wenn auch ein unbedeutender Ort, nicht allzu weit vom Zentrum entfernt.
Daran dachte Boris Bobrov auf dieser Bootsfahrt, und immer wieder dachte er an seine morgendliche Begegnung mit dem Zaren.
Im Lager schlief noch alles. Die Boote lagen ruhig am Ufer. Es war die tiefe Stille vor der Morgendämmerung. Nichts regte sich auf dem Wasser. Der Himmel war leer. Es war, als wollten nicht einmal die wenigen Nachtvögel länger den großen Frieden der allmählich untergehenden Sterne stören.
Boris war früh erwacht und stand nun am Ufer. Er hatte einen Pelzmantel angezogen und sich noch in der Dunkelheit aus dem Zelt geschlichen.
Um diese Stunde überkam ihn häufig eine merkwürdige Empfindung, etwas wie Melancholie, bis hin zu tiefer Verlassenheit; ein Gefühl, das bitter und süß zugleich war.
Wie er so neben den Booten stand, gingen seine Gedanken zurück zu seinen Eltern. Er konnte sich nur sehr fern an seine Mutter erinnern. Eine zarte Gestalt, die vor langer Zeit aus seinem Leben verschwunden war; sie starb, als er fünf Jahre alt war. So bedeutete der Vater die Familie für ihn.
Er war vor einem Jahr gestorben. Boris hatte ihn nur als tragische Figur gekannt, verkrüppelt durch schlimme Verwundungen, die er kurz nach Boris Geburt in Kämpfen gegen die Tataren erlitten hatte. Zehn Jahre war er Witwer geblieben. Man konnte noch ahnen, daß er einst von stämmiger Statur gewesen war, doch seine blauen Augen lagen umschattet, tief eingesunken in dem Gesicht mit den türkischen Zügen; die Rippen an dem schmalen, gebeugten Oberkörper waren sichtbar. Nur mit Mühe richtete sich der Vater zu voller Größe auf. Doch er wollte Würde wahren, bis der Sohn alt genug war, um seinen Mann zu stehen.
Dieses Durchhaltevermögen hatte den Jungen geprägt. Für ihn stellte sein Vater das Bild eines Heroen dar. »Jetzt bist du die Familie«, hatte der Vater gesagt. »Du hältst die Ehre der Familie hoch.«
Er schloß die Augen und stellte sich seine Vorfahren vor, große, noble Gestalten, Krieger des Waldes, der Steppe, der Berge. Er gelobte ihnen, sie nicht zu enttäuschen. Die Familie Bobrov mit dem alten Emblem des tamga, des Dreizacks, würde wieder zu Ruhm kommen.
Als er so über den Fluß sah, dachte er, ob sein Vater ihn wohl in der Dunkelheit sehen konnte, ob er wußte, daß sie über Kazan triumphiert hatten.
Es mußte so sein. Gott würde dem Vater das Wissen nicht vorenthalten, daß sein Sohn den Familienbesitz wieder zusammenholen würde, diesen Kreis als Wiedergutmachung für den Vater schließen würde. Ja, so mußte es sein, sonst wäre Gottes Universum nicht vollkommen.
Sicher würde er, Boris, eines Tages Erfolg haben, aus seiner Einsamkeit befreit werden. Mit seiner zukünftigen Frau würde sich sein Traum von Freundschaft und wahrer Liebe erfüllen. Hinter sich hörte er leise Schritte. Als er sich umdrehte, sah er einen Schatten auf sich zukommen, doch erst als dieser ganz nahe war, erkannte er zu seiner höchsten Überraschung, daß es Zar Ivan war. Boris verneigte sich tief.
Der Zar stellte sich neben ihn. Erst nach langem Schweigen fragte er den Jungen nach seinem Namen. Wie sanft seine Stimme war! Er fragte ihn auch nach seiner Herkunft und schien zufrieden mit der Antwort. Dann schwieg Ivan wieder und sah auf den breiten Fluß, der blaß schimmernd in der Dunkelheit verschwand. Boris überlegte lange, ehe er ein paar Worte wagte: »Dir ist es zu danken, mein Gebieter, daß Rußland endlich frei wird.« Hatte er das Rechte gesagt? Beim Blick zur Seite sah er nur ein leichtes Stirnrunzeln auf dem langen Gesicht mit dem scharfen Profil.
Dann sprach Ivan mit tiefer Stimme, so leise, daß Boris die Worte eben noch hören konnte: »Rußland ist ein Gefängnis, mein Freund, und ich bin Rußland. Es ist wie ein Bär, den die Menschen im Käfig halten, damit sie sich über ihn lustig machen können. Rußland ist von seinen Feinden umringt – es kann nicht bis an seine natürlichen Grenzen gelangen.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Es war jedoch nicht immer so. In den Tagen Monomachs war es anders.« Er machte eine Pause und fragte dann: »Sage mir, wie haben die Rus in den großen Tagen Kievs Handel getrieben?«
»Vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer«, antwortete Boris. »Von Novgorod bis nach Konstantinopel.«
»Und doch besetzten die Türken jetzt das Zweite Rom; ein Tataren-Khan kontrolliert die Häfen des Schwarzen Meeres. Und im Norden«, er seufzte, »brach mein Großvater Ivan der Große die Macht der Hanse in Novgorod, und trotzdem kontrollieren die Deutschen unsere nördlichen Küsten.«
Boris kannte die Tatsachen. So reich Novgorod auch war, es mußte über die baltischen Häfen seinen Handel mit dem Westen abwickeln, die größtenteils in der Gewalt der deutschen Ritterorden oder der deutschen Kaufleute waren. Die einzigen russischen Häfen lagen zu weit nördlich, waren die Hälfte des Jahres zugefroren. »Rußland ist von Land umschlossen«, fuhr Ivan bitter fort. »Deshalb ist es nicht frei.«
Boris war durch diese Worte sehr berührt, nicht nur von dem, was der Zar sagte, sondern von dem Schmerz in seiner Stimme. Dieser mächtige Gebieter, den Boris verehrte, litt ebenso wie er. In dieser Hinsicht war der Zar ein Mann genau wie er; einen Augenblick lang vergaß Boris den Standesunterschied und flüsterte eindringlich: »Aber dein Schicksal ist es, frei und groß zu sein. Gott hat Moskau als sein Drittes Rom gewählt. Du wirst uns führen!« Ivan nickte nachdenklich. »Gott führte uns nach Kazan und gab es in unsere Hände. Er erhörte die Gebete seines Dieners.« Tatsächlich war der Feldzug zu der Tatarenstadt im östlichen Wolga-Gebiet in manchem einem mächtigen Kreuzzug vergleichbar. Nicht nur wurden den Truppen Ikonen vorangetragen, sondern Ivans eigenes Kruzifix, das einen Splitter des wahren Kreuzes enthielt, wurde aus Moskau gebracht; Priester sprengten Weihwasser im Lager gegen das schlechte Wetter, das die Belagerung erschwerte.
Boris zweifelte keinen Augenblick am Zaren, und für ihn stand fest, daß Moskau dazu ausersehen war, die christliche Welt zu führen. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Das herrschende Konstantinopel war in die Hände der Türken gefallen. Die Sophien-Kirche war nun Moschee. Die russische Kirche hatte geduldig gewartet, daß der griechische Patriarch seine frühere Autorität wiedererlangen würde, doch er blieb weiterhin eine Marionette des türkischen Herrschers. Im Lauf der Jahre wurde es deutlich, daß der Metropolit in Moskau praktisch der wahre Führer der östlichen Orthodoxie war.
Ein Herrscherschicksal. Der Großvater des jungen Zaren, Ivan der Große, hatte eine Fürstin aus dem ehemaligen Kaisergeschlecht von Konstantinopel geheiratet; von diesem Tag an hatte die russische Herrscherfamilie stolz den doppelköpfigen Adler – das Herrscherwappen der gefallenen römischen Stadt – in ihr Wappen aufgenommen.
Boris blickte voller Bewunderung auf die hohe Gestalt neben sich. Nachdem der Zar längere Zeit in Gedanken versunken geschwiegen hatte, seufzte er. »Rußland steht ein großes Schicksal bevor, doch ich habe innerhalb meines Landes noch gegen sehr viel mehr zu kämpfen als draußen.«
Boris wußte, wie die kühnen Fürsten Sujskij ihn als Knaben gedemütigt hatten, wie sie und andere versucht hatten, das Werk der bedeutenden Moskauer Dynastie zu zerstören und den Zaren durch Magnaten abzulösen. Boris wußte auch, wie fünf Jahre zuvor bei dem furchtbaren Brand in Moskau der Mob Ivans polnische Familie mütterlicherseits dafür verantwortlich machte, seinen Onkel aus der HimmelfahrtsKathedrale zerrte und niedermetzelte. Sie hatten sogar gedroht, Ivan umzubringen. Dessen Feinde versuchten seine zahlreichen Reformen zu verhindern.
Nun also wandte der junge Zar sich an ihn, Boris Bobrov, der nur einen armseligen kleinen Besitz in Russka hatte, und sagte leise: »Ich brauche Männer wie dich.« Und schon war er verschwunden. Boris flüsterte erregt: »Ich gehöre dir«, und er fügte den furchtgebietenden Titel dazu: »Gosudar« – Allherrscher. So stand er, zitternd vor Erregung, bis endlich das schwache Frühlicht im Osten erschien.
Auf der ganzen Bootsfahrt die Wolga hinauf war Boris beschäftigt mit den erregenden Gedanken, wohin die Begegnung mit dem jungen Zaren führen würde. Würde sie seiner Familie Glück und Ruhm bringen?
Boris, Davids Sohn, mit Zunamen Bobrov. Die Namengebung hatte sich innerhalb der letzten Generationen verändert. Niemand außer den Fürsten und den höchsten Bojaren gebrauchte die volle Ableitung aus dem Namen des Vaters, die auf -vitsch endete. Zar Ivan, zum Beispiel, hieß Ivan Vasilevitsch. Er jedoch, ein niederer Adliger, war nur Boris Davidov – nicht Davidovitsch. Um seine Identität noch mehr zu unterstreichen, konnte ein Russe zu diesen beiden Namen einen dritten hinzufügen, üblicherweise den Namen, unter dem sein Großvater am bekanntesten war. Manchmal war es der Taufname des Großvaters, etwa Ivan, und so wurde der dritte Name zu »Ivanova« oder einfach zu »Ivanov«. Es konnte aber auch ein Spitzname sein.
Auf diese Weise entstanden im sechzehnten Jahrhundert, wenn auch etwas verspätet, Familiennamen. Boris' Familie war stolz auf ihren Namen. Ivan der Große selbst hatte Boris' Urgroßvater den Spitznamen »Bobr« gegeben, was »Biber« bedeutete. So wollte die Familie eben einfach »Bobrov« heißen.
Aber die Familie Bobrov verlor an Bedeutung, wie es damals typisch war für russische Adelsfamilien.
Zuerst einmal wurden, über Generationen hin, die Besitzungen immer wieder aufgeteilt, und die letzten drei Generationen hatten es versäumt, neues Land zu erwerben. Der schlimmste Schlag erfolgte, als Boris' Großvater wie so viele seines Standes in hoffnungsloser Verschuldung dem ortsansässigen Kloster gegenüber diesem den gesamten Ort Russka übergab und für sich selbst nur die Ländereien in Sumpfloch behielt. Die Familie bewohnte ein Haus innerhalb des Dorfes, das das Kloster ihr gegen eine bescheidene Miete überließ; und da Boris den Namen Sumpfloch abscheulich fand, sagte er lieber, er komme aus Russka. In vieler Hinsicht konnte Boris jedoch zufrieden sein. Sein Besitz in Sumpfloch war, wenn auch durch Teilung verkleinert, immer noch guter Boden, und er war Alleinerbe. Es war auch eine votschina, also dem Feudalsystem unterstellt, und so gehörte ihm dieser Grund unter allen Umständen durch Erbfolge. In den vergangenen fünfzig Jahren nämlich wurde das Land immer seltener als votschina geführt, wurde vielmehr – entweder von verarmten Landbesitzern oder neuen Leuten bewirtschaftet – als pomeste, als Dienstgut, ausgewiesen, er stand also in einem Dienstverhältnis zum Fürsten. Und wenn auch, praktisch gesehen, das Land oft auf die nächste Generation innerhalb einer Familie überging, geschah das nur nach Lust und Laune des Fürsten.
Trotzdem reichten Boris' Einkünfte kaum für Pferde, Rüstung und die alltäglichen Bedürfnisse. Er konnte seinen Familienstatus nur verbessern, wenn er die Gunst des Fürsten errang. Die Begegnung mit dem Zaren war also das bisher wichtigste Ereignis in Boris' Leben. Der Zar kannte nun immerhin seinen Namen. Aber er mußte mehr tun, um die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu lenken. Doch wie?
Am Spätnachmittag kamen sie an einer Stelle vorüber, wo am linken Ufer die Wälder einem Steppenstreifen wichen. Dort sahen sie in einer Entfernung von etwa einer Meile eine Ansammlung von Hütten. Boris schnaubte ärgerlich, als er sah, daß sie sich bewegten. Er wußte sofort, daß es sich um Tataren handelte. Die Tataren an den Grenzen des Moskauer Reiches lebten großenteils in diesen seltsamen beweglichen Häusern – Holzhütten auf Rädern. In den Augen der Tataren waren die feststehenden Wohnstätten der Russen etwas Ähnliches wie Schweineställe, die Ratten und jede Art von Ungeziefer anlockten. Für Boris bewies dieser ständige Wechsel, daß die Tataren unstet und nicht vertrauenswürdig waren.
Er sah hinunter auf die zwei gefangenen Tataren, vierschrötige, flachgesichtige Gesellen mit glattrasierten Köpfen. Es waren Moslems.
Wenn auch der Feldzug ein Kreuzzug gewesen war, so bestand der Zar doch auf seiner Politik, die unterworfene tatarische Bevölkerung nicht durch Gewalt zum Übertritt zum Christentum zu bewegen. Er wollte, daß die Leute aus Überzeugung konvertieren. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, deuteten die Abgesandten des Zaren vorsichtig an, daß sich im Moskauer Reich bereits moslemische Gemeinden befanden, die mit Erlaubnis des Zaren in Frieden ihren Glauben ausüben konnten. Allerdings mußte ein Tatar, der in den persönlichen Dienst des Zaren eintreten wollte, Christ sein, denn Ivan selbst war strenggläubig.
Die beiden Tataren würden in dieser Nacht übertreten. Und bald, dessen war Boris sich sicher, wäre auch er einer der wenigen Auserwählten des Zaren, einer seiner besten Männer. Früh am nächsten Morgen wurden die beiden Tataren von einem der mitreisenden Priester in der Wolga getauft. Nach russischem Ritual wurden sie dreimal ganz untergetaucht. Diese Szene konnte dem jungen Zaren nicht entgangen sein. Zwei Tage darauf erreichten sie die große Grenzstadt Niznij Novgorod. Sie erhob sich drohend über dem Zusammenfluß von Wolga und Oka. Östlich lagen die ausgedehnten Wälder, in denen die Mordvinen lebten. Im Westen befand sich das Herz des Moskauer Reiches. Die hohen Wälle und die weißen Kirchen der Stadt blickten über die Eurasische Ebene hin, als wollten sie sagen: Hier ist das Land des Heiligen Zaren – unerschütterlich.
In Niznij Novgorod stand das Makarius-Kloster mit seinem großen Markt. Boris ging durch die Straßen und freute sich, wieder zu Hause zu sein.
Die zurückkehrende Armee wurde von der Bevölkerung begeistert empfangen. Die Tataren hatten sich so oft in ihre Angelegenheiten gemischt in der Vergangenheit, und außerdem war die Stadt Kazan ihre Rivalin im Osthandel.
Am Nachmittag, als der Arbeitstag zu Ende war, traf Boris die junge Frau. Sie stand vor einem langgestreckten hölzernen Gebäude, in dem sich ein öffentliches Badehaus befand. Sie war eine typische Vertreterin ihrer Schicht.
Während die Frauen der oberen Klassen völlig abgeschieden lebten und ihr Gesicht in der Öffentlichkeit nicht zeigten, stellten sich die Frauen aus dem Volk gern zur Schau.
Ihr Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen knallrot. Ihre mandelförmigen Augen unter den kräftig nachgezogenen Brauen standen weit auseinander. Boris schloß, daß auch Mordvinenblut in ihren Adern floß. Sie trug eine rote Samtkappe, ein langes besticktes Gewand, das sicher teuer gewesen war, und hellrote Schuhe. Sie merkte, daß Boris sie beobachtete, und erwiderte seinen Blick leicht amüsiert. Während er auf sie zutrat, lächelte sie. Da sah er, daß ihre Zähne schwarz waren.
Dieses Schwärzen der Zähne wurde mit Quecksilber vorgenommen, und Boris hatte gehört, daß die Sitte von den Tataren stammte. Als er das erstemal mit einer solchen Frau ausgegangen war, hatten ihn die schwarzen Zähne abgestoßen. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.
Sie blieben kurz an einem Getränkestand stehen, wo Wodka ausgeschenkt wurde. Es war ursprünglich kein russisches Getränk, sondern im vergangenen Jahrhundert aus dem Westen über Polen nach Rußland gekommen. Tatsächlich rührte der Name »Wodka« von der falschen Aussprache der lateinischen Bezeichnung aqua vitae durch die russischen Kaufleute her.
Boris wurde warm von dem Getränk. Danach nahm sie ihn mit auf ihr Zimmer.
Ihr Leib fühlte sich glatt und geschmeidig an. Als er bezahlt hatte und gehen wollte, fragte sie, ob er verheiratet sei. Als sie hörte, er sei kurz davor, lachte sie fröhlich. »Sperre sie ein und traue ihr nie«, rief sie ihm nach, als sie sich an der Haustür trennten. Er erschrak, als in diesem Augenblick mehrere Leute aus der Kirche gegenüber kamen. Sie trugen Pelze. Boris erkannte die hohe junge Gestalt in ihrer Mitte sogleich. Ob der fromme Herrscher ihn wohl mit dem Mädchen gesehen hatte? Offensichtlich war es der Fall, denn zuerst blickte er dem Mädchen aufmerksam nach, dann richtete er seinen durchdringenden Blick auf Boris. Der hielt den Atem an. Ivan lachte nur, ein hartes Lachen, ehe er sich mit seinen Freunden entfernte.
Boris konnte nur hoffen, daß diese Begegnung die Meinung des Herrschers über ihn nicht geändert hatte und damit seine Pläne durchkreuzte.
Zwei Tage bevor der Oktober zu Ende ging, erreichten sie die große Stadt Moskau. Sie waren von Niznij Novgorod durch das Herzland von Muscovia gekommen, zuerst in die alte Stadt Vladimir, wo sie erfuhren, daß Zar Ivan einen Sohn bekommen hatte. Dann hatte Ivan eine größere Gruppe von Leuten zuerst ins nahe gelegene Suzdal geführt und weiter in das berühmte Dreifaltigkeits-Sergios-Kloster, vierzig Meilen von der Hauptstadt entfernt, damit Gott der gebührende Dank abgestattet werde.
Während Boris dem Zaren folgte, in die Städte, tief in Rußlands Wälder hinein und über Grasland, dachte er, daß er nun Gottes Absicht und das Schicksal des jungen Zaren klarer vor sich sehe als zuvor. Die endlose Steppe, dachte er, wird endlich von Rußlands starkem Herzen erfüllt werden.
Es schneite ganz fein, als sie Moskau erreichten, die Flocken tanzten leicht durch die Luft. Die Stadt lag am Zusammenfluß von Moskwa und Jausa. Boris war überwältigt von ihrer Größe. Moskau war damals eine der größten Städte Europas – so groß wie das ausgedehnte London oder das mächtige Mailand. Die Vorstädte zogen sich weit hinaus in die umgebenden Dörfer, daß es schwierig war, zu unterscheiden, wo die eigentliche Stadt anfing. Zuerst begegnete man den festungsähnlichen Klöstern, den äußeren Vorstädten mit Gewerbebetrieben, Obstpflanzungen und Gärten. Dann kam man zu dem schützenden Wall, der sich um die Erdstadt schloß, wo das niedere Volk lebte; nun die gemauerten Wände der Weißen Stadt, die Gegend der Mittelklasse. Endlich der kitajgorod, das reiche Viertel neben den hoch aufragenden Mauern des Kreml. Als sie durch die Vorstädte kamen, war schon eine Menge Volkes auf den Straßen. Von überall her klangen Glocken durch den Schnee. Mauern, Türme, die goldenen Kuppeln der Klöster tauchten undeutlich im Schneegestöber auf. Als sie sich der Zitadelle näherten, hörte es allmählich auf zu schneien, und vor ihnen lag die großartige Stadt.
Boris hielt bei diesem Anblick den Atem an. Die Kavalleristen mit spitzen Helmen oder hohen zylindrischen Pelzmützen ritten stolz auf die Stadttore zu. Ihnen zur Seite marschierte das neue Elitekorps des Zaren, die streltsij – die Strelitzen –, und die Hellebardiers hatten Schwierigkeiten, die begeisterte Menge zurückzuhalten, die aus den Stadttoren strömte. Aus der Stadtmauer wuchsen in regelmäßigen Abständen hohe Türme mit steilen Zeltdächern. Hinter ihnen lag das umschlossene Meer der Holzhäuser, durchsetzt mit Steintürmen und Kuppeln.
Moskau, die Stadt der Zaren. Bei Ivans Krönung wurde ihm eine Mütze aus Pelz und Gold aufs Haupt gesetzt, von der es hieß, sie habe Monomach gehört, dem größten aller Fürsten in den Tagen der alten Rus. Doch die Autokraten von Moskau gingen weit über das hinaus, was Monomach sich in den vergangenen Tagen von Kiev erträumt hatte. Wenn eine Stadt fiel, wurden die Mitglieder der Fürstenfamilie aufgeteilt und zu Staatsdienern gemacht; die führenden Bojaren wurden in anderen Provinzen angesiedelt. Als der Großvater des jungen Zaren Novgorod übernahm, entfernte er selbst die Glocke, mit der das vetsche zusammengerufen worden war, um zu demonstrieren, daß es mit der Freiheit der Bürger für alle Zeiten vorbei sei.
Moskau, Stadt der Kirche und des Staates. Nach Meinung vieler Kirchenmänner sollten staatliche und religiöse Obrigkeiten in völligem Einvernehmen miteinander regieren. Das war das byzantinische Ideal des ehemaligen oströmischen Reiches. So war es auch in Moskau. Hatte der junge Zar nicht bereits zwei große Reformprogramme verabschiedet, eins für die Verwaltung und ein zweites für die Kirche? Ivan würde keine Magnaten tolerieren, die das Volk unterdrückten, keinen Klerus, der nachlässig oder unmoralisch in seinen Gewohnheiten war.
Eine lange Prozession kam von den Stadttoren her. Der Klerus, vom Metropoliten angeführt, prächtig gewandet, trug Banner und Ikonen zur Begrüßung des Zaren. »Slava – sei gepriesen, Retter der Christenheit!« Auf ihrer Reise von Kazan hatte Boris gehört, daß die Soldaten dem siegreichen Zaren einen neuen Namen gaben: »Groznyj« – der Furchteinflößende, der Ehrfurchtgebietende oder, in ungenauer Übersetzung, der Schreckliche.
An Boris' Hochzeitstag hatte es bereits geschneit. Ein paar Freunde, die er in diesem Jahr gefunden hatte, holten ihn in dem Häuschen in der Weißen Stadt ab; trotz ihrer gespielten Heiterkeit fühlte er sich sehr einsam. Der triumphale Einzug in Moskau schien weit zurückzuliegen, obwohl es nicht einmal einen Monat her war. Welch ein Tag war das gewesen! Selbst Boris hatte sich wie ein Held gefühlt, als sie durch die Stadttore zum Kreml kamen.
Boris trank mit den anderen jungen Burschen in den Tavernen. Er fühlte sich als Sieger, wenn er nachts bewundernd um die Zitadelle wanderte. Dann war der riesige Platz nahezu leer. Im Sommer standen hier die Marktbuden, doch im Winter wurde der ganze Markt hinunter auf den zugefrorenen Fluß verlegt. Neben der weiten Fläche erhoben sich die unüberwindlichen Mauern der Festung mit den hohen Türmen. Irgendwo dort drinnen wohnte der Zar. Eines Tages, dachte Boris, wird man mich hineinrufen. Seine Hochstimmung hielt an, bis er in das Viertel östlich des Kreml gelangte. Das war der kitajgorod, der von einer Mauer umgebene Stadtteil, in dem der hohe Adel und die reichsten Kaufleute wohnten. Hier bestanden die großen Häuser nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein. Die hohen Herren feierten gerade. Sein zukünftiger Schwiegervater war wohl auch dort drinnen. Er lebte zwar nicht da, er hatte ein gediegenes Holzhaus in der Weißen Stadt, doch er war zu den Festen der mächtigen Männer in diesem vornehmen Viertel geladen. Dies erinnerte Boris schmerzlich an das Hauptproblem seines Lebens. Er war nicht vermögend.
Der Schwiegervater, Dmitrij Ivanov, hatte deutlich gemacht, daß er Boris seine dritte Tochter nur aus jahrelanger Freundschaft mit Boris' Vater gebe. Es war nicht so, daß Boris eine großartige Partie machte, doch etwas Besseres hatte sein Vater für ihn nicht einfädeln können.
Für Dmitrij war es zweifellos ein Opfer. Der Besitz dreier hübscher Töchter stellte für den Adligen ein Kapital dar. Sie wurden zunächst in der Abgeschiedenheit der Frauengemächer oben im Haus gehalten, und später ließen sich Heiraten zum Nutzen der Familie arrangieren. Der junge Boris hatte außer seiner annehmbaren Herkunft nichts, so fiel die Mitgift recht bescheiden aus. Was seine Gefühle für Elena anlangte, war Boris nervös und unsicher. Sein Vater hatte die Verlobung schon lange davor abgesprochen, und als Boris vor dem Kazan-Feldzug nach Moskau kam, hatte er sie erstmals gesehen. Er kam eines Morgens in das große Holzhaus. Man bot ihm Brot und Salz an, und er ging, wie es sich gehörte, zu den Ikonen in der roten Ecke, verbeugte sich dreimal und murmelte: »Habe Erbarmen, Herr.« Als er sich auf die orthodoxe Art bekreuzigte, traten Vater und Tochter ein. Dmitrij war klein, dick und glatzköpfig, in seinem breiten Gesicht standen die Augen nah beieinander. Sein voller roter Bart reichte bis auf den vorgewölbten Bauch. Er trug einen leuchtendblauen, golddurchwirkten Kaftan.
Elena trug ein langes besticktes rosarotes Kleid. Ihr goldenes Haar hing in einem Zopf auf dem Rücken. Auf dem Kopf trug sie ein einfaches Diadem und über dem Gesicht einen Schleier. Mit einem leisen Seufzen riß Dmitrij den Schleier weg, und Boris starrte seine zukünftige Frau an.
Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Ihre blauen, leicht mandelförmigen Augen standen nah beieinander; das war der einzige Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit diesem kleinen, gefühllos aussehenden Mann. Die Flügel ihrer schmalen Nase über dem eher vollen Mund bebten nervös. Sie war blaß und wirkte angespannt. Sie hat Angst, ich könnte sie nicht lieben, war Boris' erster Eindruck. Das weckte ein Gefühl von Zärtlichkeit und Ritterlichkeit in ihm. Sie weiß nicht, daß sie schön ist, stellte er weiterhin fest. Auch das war gut. Und während er sie so betrachtete, wurde ihm klar: Er begehrte sie. Er begehrte sie mit jener Leidenschaft, die besagt: Du gehörst mir, und ich kann dir nach Lust und Laune befehlen. Durch mich wirst du noch schöner werden.
Er lächelte sie an – aber Elena blickte zu Boden. Diese Kleinigkeit war der Grund für seine Unsicherheit am Hochzeitstag. Und was war das für ein Ausdruck gewesen, der über ihr ängstliches Gesicht huschte? Enttäuschung oder gar Widerwillen? Aber wenn sie ihn wirklich nicht leiden konnte, hätte sie das nicht ihrem Vater gesagt? In diesem Fall hätte Boris ihn von seinem Versprechen entbunden. Oder hatte sie aus Höflichkeit geschwiegen? Während ihrer seltenen Begegnungen vor der Hochzeit hatte er sie immer wieder gebeten, es ihm zu sagen, wenn sie unglücklich sei, doch sie hatte versichert, alles sei in Ordnung.
Alles ist gut, beruhigte sich Boris, als sie nebeneinander vor den Priestern standen.
Es war eine lange russische Messe. Die feinen gedrehten Wachskerzen auf den hohen, mit Marderfellen geschmückten Wandleuchtern leuchteten und füllten den Raum mit Helligkeit. Die Luft war schwer vom Duft des Wachses. Die Priester mit ihren langen Bärten und den schweren, mit Perlen und Edelsteinen besetzten Gewändern wirkten wie überirdische Wesen, wie sie sich zum Gesang des Chores feierlich bewegten.
Boris sprach das Gelöbnis und reichte den Ring, der nach orthodoxer Art an den Ringfinger der rechten Hand gesteckt wurde. Der bewegendste Augenblick für Boris kam gegen Ende der Messe, als seine Braut auf die Knie sank, sich vor ihm niederbeugte und seinen Fuß mit der Stirn berührte zum Zeichen ihrer Unterwerfung. Es war eine wirkliche Unterwerfung. Wie alle Frauen der oberen Schichten würde Elena in fast völliger Abgeschiedenheit leben müssen. Dies war Ehrensache für sie beide. Es war auch Ehrensache für die Ehefrau, ihrem Gemahl zu gehorchen. Ungehorsam ihm gegenüber käme dem Ungehorsam eines Soldaten dem Offizier gegenüber gleich.
Manche Männer hielten es für richtig, ihre Frauen zu schlagen, und Boris hatte gehört, daß die Frauen dies sogar für ein Zeichen von Liebe hielten. Tatsächlich gab das berühmte, von einem engen Berater des Zaren verfaßte Hausbuch für das Familienleben, der »Domostroj«, genaue Anweisungen, wie eine Frau ausgepeitscht, jedoch nicht mit einem Stock geschlagen werden solle, und wie der Mann danach liebevoll mit ihr sprechen solle, damit die ehelichen Beziehungen nicht litten.
Als Boris nun auf diese junge Frau hinunterschaute, die er kaum kannte, jedoch heftig begehrte, wollte er nichts als sie in seine Arme nehmen und von ihr jene warme Zuneigung bekommen, die er nie kennengelernt hatte. Ich will sie lieben und beschützen, versprach er in stummem Gebet.
Zum Schluß der Zeremonie reichte der Priester ihnen einen Becher. Als sie beide daraus getrunken hatten, zertrat er ihn mit dem Absatz. Beim Hinausgehen streuten die Gäste, die fast alle von Elenas Seite kamen, Hopfenblüten über das Brautpaar. Boris seufzte erleichtert. Sie waren verheiratet. Nun würde alles gut werden.
Es folgte die Hochzeitsfeier. Es waren viele Gäste geladen, und wie üblich wurde der Bräutigam zuvorkommend behandelt. Da dies ein wichtiges Familienfest war, nahmen auch die Frauen daran teil. Boris verneigte sich tief vor Elenas alter Großmutter, die von ihrer luxuriösen Abgeschiedenheit in den oberen Gemächern her die ganze Familie beherrschte. Sie dankte ihm mit einem Kopfnicken, lächelte aber nicht dabei – Boris war ein bißchen gekränkt. Auf den Tischen türmten sich die Speisen. Es gab Gans und Schwan, Blini mit Sahne, Kaviar, Fleischpastete mit Eiern, den piroschkij. Außerdem Lachs und jede Art von Süßigkeiten. Auf einem Nebentisch standen Rot- und Weißwein aus Frankreich. Boris war tief beeindruckt. Wer sich solche Weine leisten konnte, gehörte zur oberen Klasse. Bei ihm daheim wurde gewöhnlich Met getrunken. Er fühlte Dankbarkeit, daß er nun zu diesen offenbar reichen Menschen gehörte.
Die Gäste setzten sich an die Festtafel, das Hochzeitspaar nahm die Ehrenplätze ein. Vor dem Mahl wurde Wein ausgeschenkt. Boris trank ein wenig und lächelte in die Runde. Er hatte keine große Sympathie für Elenas Vater, doch den Bruder Fedor verabscheute er geradezu, und ausgerechnet ihm saß er gegenüber. Während Elenas älterer Bruder dem stämmigen, rothaarigen Vater sehr ähnlich war, glich der neunzehnjährige Fedor, schlank und hellhaarig, Elena. Es hieß, er habe sich die Körperhaare auszupfen lassen. Heute hatte er zwar darauf verzichtet, sein Gesicht zu pudern, doch offensichtlich war es massiert und mit Salbe behandelt worden. Selbst über den breiten Tisch weg nahm Boris den Duft des schweren Parfüms wahr.
Es gab viele solcher Dandys in Moskau. Dandy zu sein galt als vornehm, trotz der strengen Orthodoxie des Zaren. Viele waren homosexuell. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Fedor Boris erklärt, er liebe alles Schöne, ob Junge oder Mädchen, und er nehme sich, wen er wolle.
»Schafe und Pferde auch, vermute ich«, war Boris' lapidare Antwort gewesen. Fedor irritierte diese Antwort keineswegs. »Hast du's schon mal ausprobiert?« fragte er in komischem Ernst, und dann, mit einem spöttischen Lachen: »Vielleicht solltest du.« Boris wollte die Angelegenheit nicht weiter tragisch nehmen – Fedor war schließlich der Bruder seiner Braut. Doch die Abneigung gegen Fedor wuchs, und er versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Aus irgendeinem Grund hatte Elena diesen Bruder gern. Das war ihre Hochzeitsfeier. Boris mußte versuchen, diese Leute zu mögen und gut mit ihnen auszukommen. Pflichtschuldig hob er sein Glas und lächelte, als der junge Mann ihm zutrank. Fedor blickte Boris sehr aufmerksam an und sagte laut, so daß viele es hören konnten: »Sei froh, daß du heute dort sitzt, wo du sitzt, Boris. In Zukunft wirst du viel weiter unten am Tisch sitzen als irgendeiner von uns.« Boris fuhr auf: »Das glaube ich nicht. Die Bobrovs sind auf dem gleichen Stand wie die Ivanovs.«
Fedor lachte: »Du bist dir doch im klaren darüber, mein lieber Boris, daß niemand von uns jemals unter dir dienen könnte.« Das war eine schwere und genau kalkulierte Beleidigung. Boris konnte nun aber nicht aufstehen und Fedor dafür schlagen. Die Feststellung über Boris' Familie war vollkommen sachlich vorgebracht, und die Tatsache konnte in einem Schriftstück nachgeprüft werden. Möglicherweise, fürchtete Boris, hatte Fedor sogar recht. Die gesamte russische Oberschicht bis hinunter zum verarmten Adel war in einem ebenso umfangreichen wie heiß umstrittenen Geschlechterbuch verzeichnet. Das war der »Mestnitschestvo«. Entscheidend für den Rang einer Person im System war nicht die eigene Position, sondern die der Vorfahren im Vergleich zu Vorfahren einer anderen Person. So konnte ein Mann sich weigern, bei einem Bankett einen niedrigeren Platz einzunehmen als ein anderer, er konnte selbst einem hohen Offizier den Gehorsam verweigern, wenn er nur zu beweisen vermochte, daß etwa sein Großonkel eine höhere Position innegehabt hatte als der Großvater des anderen. Dieses Opus war deshalb so umfangreich, weil natürlich jede Adelsfamilie dem zuständigen Beamten einen möglichst ausführlichen und beeindruckenden Stammbaum brachte. Dieses System hatte sich im vorhergehenden Jahrhundert entwickelt und inzwischen einen solchen Grad von Absurdität erreicht, daß Zar Ivan es im Kriegsfall außer Kraft setzte, sonst wäre vermutlich kein Befehl befolgt worden.
Boris wußte von seinem Vater, daß die Bobrovs aufgrund früherer Dienstleistungen beim Fürsten den Ivanovs, selbst wenn sie verarmt waren, nicht nachstanden. Hatte sein Vater sich getäuscht, oder hatte er ihn gar täuschen wollen? Als er jetzt zu Fedor hinüberblickte, kamen ihm Zweifel an seiner eigenen Position, und er errötete.
»Es ist nicht die Zeit für derlei Themen.« Das war Dmitrij Ivanovs Stimme, die das peinliche Gespräch beendete. Boris war seinem Schwiegervater dankbar dafür, doch das Gefühl der Verlegenheit wollte nicht von ihm weichen.
Spätnachts brachten die jungen Männer das Paar zurück in Boris' Haus. Es war klein und da es einem Priester gehört hatte, weiß getüncht zum Zeichen, daß der Bewohner keine Steuern zahlen mußte. Boris hatte Glück gehabt mit dem Haus. Dem Brauch entsprechend hatte er Getreidegarben aufs Brautbett gelegt; nun war er endlich allein mit Elena. Er sah sie an. Sie lächelte etwas unsicher.
Was dachte dieses scheue vierzehnjährige Mädchen mit dem goldenen Haar? Sie dachte, daß sie diesen jungen Mann würde lieben können; daß sie ihn, auch wenn er in allem etwas unbeholfen war, lieber mochte als ihren Bruder. Sie hatte Angst, daß sie, weil sie jung und unerfahren war, nicht wußte, wie sie ihm zu Gefallen sein könnte. Sie spürte, daß er einsam war, unsicher, voller Ängste und sehr mißtrauisch. Einerseits wollte sie ihn trösten, ihm helfen, aus seiner Misere herauszukommen, andererseits fürchtete sie, daß er statt dessen von ihr verlangen könnte, seine Einsamkeit mit ihm zu teilen. Dieses instinktive Gefühl der Gefahr hielt sie davor zurück, sich ihm allzu rasch zu unterwerfen.
Zwei Wochen später traten sie ihre Reise nach Russka an. Es war ein gleißender Wintermorgen, als Boris und Elena, in Pelze gehüllt, sich auf einem großen, von drei Pferden gezogenen Schlitten dem Städtchen näherten.
Auf dem Marktplatz fand gerade ein kleines, aber nicht unwichtiges Treffen statt. Vom Aussehen her hätte man nicht schließen können, daß diese vier Männer – ein Priester, ein Bauer, ein Kaufmann und ein Mönch – Vettern waren. Und nur der Priester wußte, daß er ein Nachkomme von Yanka war, jener Bauersfrau, die den Tataren getötet hatte.
Vor allem Michail, der Bauer aus Sumpfloch, zeigte sich besorgt. Er war ein vierschrötiger, breitbrüstiger Bursche mit einem dunkelbraunen Lockenkranz und sanften blauen Augen. Jetzt sah sein sonst so freundliches Gesicht bekümmert drein. »Glaubst du wirklich, daß ihre Mitgift klein ist?« Der großgewachsene Priester bejahte.
»Das ist schlimm, sehr schlimm.« Und der arme Mann starrte unglücklich auf seine Füße.
Stefan sah ihn mitleidig an. Seit vier Generationen zuvor sein Urgroßvater nach einem Mönch aus der Verwandtschaft getauft worden war, erhielt jeweils der älteste Sohn der Familie den Namen Stefan und wurde Priester. Auch seine Frau war Tochter eines Priesters.
Stefan war zweiundzwanzig, eine stattliche Figur, die Würde ausstrahlte. Sein Bart war sorgfältig gestutzt, die blauen Augen blickten ernst. Er hatte Verbindungen in Moskau, und da er lesen und schreiben konnte – für einen Priester der damaligen Zeit ungewöhnlich –, stand er in Briefwechsel mit Personen in der Hauptstadt. So war es ihm möglich gewesen, Auskünfte über Elena einzuholen, und die Informationen waren eindeutig.
»Eine Ehefrau ohne Geld – denkt euch nur, was das für mich bedeutet!« jammerte Michail. »Er wird das Letzte aus mir herausholen.«
Alle verstanden sein Problem. Sumpfloch war Boris' ganzer Besitz. Die einzige Möglichkeit, eine Frau und bald eine Familie zu unterhalten, bestand in intensiverer Nutzung des Bodens und größerer Ausbeutung der Bauern, die ihn bewirtschafteten. »Ihr zwei habt Glück«, meinte Michail zu Stefan und dem Mönch Daniel. »Ihr seid Geistliche. Und du«, wandte er sich an den Kaufmann, »was kümmert's dich? Du lebst in Russka.« Lev, der Kaufmann, ein stämmiger Mann von fünfunddreißig Jahren, hatte ein hartes Tatarengesicht und listige schwarze Augen. Er handelte vor allem mit Fellen, hatte seine Geschäfte jedoch erweitert und war als Geldverleiher erfolgreich. Wie in Rußland oft der Fall, war auch in jener Region das Kloster der wichtigste Geldverleiher, da es über das höchste Kapital verfügte. Doch die allgemein expandierende Wirtschaft der vergangenen hundert Jahre hatte vielen Kaufleuten die Möglichkeit verschafft, selbst Kredite zu gewähren, und in Rußland liehen sich Menschen aller Klassen Geld.
Die Zinsen waren hoch; Wucherer verlangten hundertfünfzig Prozent und mehr.
Seit Russka vom Kloster übernommen worden war, wurde es größer. Es gab nun mehrere Reihen von Hütten, manche von beachtlichem Umfang. Über fünfhundert Menschen lebten in den inzwischen verstärkten Mauern. Über dem Stadttor erhob sich ein hoher hölzerner Wachturm mit steilem Zeltdach. In Russka herrschte eine geschäftige, wohlgeordnete Atmosphäre. Auf dem Marktplatz, wo es neben einer älteren Holzkirche nun auch eine Steinkirche gab, waren das ganze Jahr über Stände aufgestellt, und die Leute kamen aus den benachbarten Orten. Ein Tributeinnehmer kassierte an Ort und Stelle die Zollgebühren der Händler; doch die vom Kloster gelieferten Waren waren zollfrei, und dieser Umstand lockte besonders viele Käufer an. Lev wandte sich an Michail und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich würde mir keine Sorgen machen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ist dir nicht klar, daß der junge Herr Boris seinen Besitz ohnehin nicht mehr lange behalten wird, wenn dieser Bursche hier freie Hand hat?« Und damit deutete er auf den Mönch neben sich.
Die Schlitten glitten leicht auf der glitzernden Bahn des zugefrorenen Rus dahin. Im ersten saßen Boris und Elena, im zweiten fünf tatarische Sklaven und Elenas Jungfer neben einem Haufen Gepäck.
Da lag nun endlich Russka vor ihnen. Wie still es war! Boris drückte Elenas Hand und seufzte vor Glück.
Elena lächelte. Gott sei Dank, dachte sie, ist der Ort nicht so klein, wie ich befürchtet habe. Vielleicht gibt es ein paar Frauen, mit denen ich mich ab und zu unterhalten kann. Schon waren sie vor dem Tor. Als sie auf den Marktplatz fuhren, sah sie die vier Männer in der Mitte stehen, die sich beim Anblick der Schlitten höflich verneigten.
Den Ausdruck auf dem Gesicht des Mönchs konnte man nicht sehen, denn der dicke schwarze Bart ließ nur die Augen frei, die aufmerksam beobachteten, und einen Teil der pockennarbigen Wangen. Er war von untersetzter Statur, und seine leicht gebeugte Haltung konnte auf die demütige Ergebenheit eines Geistlichen hindeuten, und doch flackerte in seinen sanften braunen Augen eine versteckte Leidenschaftlichkeit. Er musterte das junge Paar eingehend.
Stefan bemerkte dies, und die beiden taten ihm leid. Er hatte Boris' Vater gern gehabt, und er wünschte auch dem Sohn nur Gutes; dagegen war er seinem geistlichen Bruder nicht eben wohlgesinnt. Daniel selbst war zwar mittellos, doch besessen vom Gedanken an Reichtum – für das Kloster.
Er ist habgierig im Namen Gottes, dachte Stefan bei sich. Es ist ein Verbrechen.
Der große Kampf zwischen jenen, die meinten, die Kirche solle ihre Reichtümer aufgeben, und jenen, die für eine reiche Kirche sprachen, tobte seit Generationen. Die Gruppe der Geistlichen, die glaubten, die Kirche müsse zu einem Dasein in Armut und Einfachheit zurückkehren, ging in die Geschichte als »die Uneigennützigen« ein; die meisten Leute in Russka und in der Hauptstadt nannten sie liebevoll »die Nichthabgierigen«. Sie konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Um das Jahr 1500 erklärte der Kirchenrat, daß Ländereien und anderer Besitz der Kirche die irdische Machtstellung in erstrebenswerter Weise sicherten. Wer anders dachte, galt als Häretiker.
Der Mönch Daniel hatte in allen geschäftlichen Belangen solche Umsicht bewiesen, daß der Abt des Klosters Peter und Paul ihm die Aufsicht über die klösterlichen Aktivitäten in der kleinen Handelsstadt übergab. Die geheime Mission bestand darin, den Abt bei der Vergrößerung des klösterlichen Landbesitzes zu unterstützen.
Darin würde Daniel wohl erfolgreich sein. Seit Generationen hatte die Kirche ihren Landbesitz innerhalb der Gemeinde fortlaufend erweitert. Zwei Jahre zuvor hatte Zar Ivan versucht, dieses Wachstum zu beschränken, indem er anordnete, daß Klöster und Kirchen bei Schenkung oder Erwerb von Ländereien seine Erlaubnis einzuholen hätten. Doch solche Gesetze traten selten wirklich in Kraft. In der Zentralregion des Moskauer Reiches besaß die Kirche zu der Zeit etwa ein Drittel des Landes.
Es gab zwei attraktive Ländereien in der Nähe; das eine Gebiet lag im Nordosten, nun wieder in den Händen des Moskauer Fürsten; das andere war der Ort Sumpfloch.
Boris' Vater hatte seinen Besitz behaupten können; aber ob der junge Mann bei der geringen Mitgift seiner Frau dazu in der Lage sein würde? Daniel hegte große Zweifel daran. Entweder würde Boris das Land gegen eine Pacht auf Lebenszeit an das Kloster abgeben, was häufig geschah, oder er würde es gleich verkaufen. Ansonsten hatte er die Möglichkeit, sich immer tiefer in Schulden zu stürzen. Und auch dann würde das Kloster den Besitz schließlich übernehmen.
Wie dem auch sein mochte: Boris würde ein Leben in Ehren führen. Nach seinem Tod würden die Mönche für den edlen Wohltäter, der sein Land dem Dienst an Gott weihte, beten. Eine Schwierigkeit sah Daniel allerdings voraus. Wenn der junge Mann die Absichten des Klosters kannte, würde er, wie sein Vater, alles daransetzen, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Er würde unter allen Umständen vermeiden, Geld vom Kloster zu leihen.
»Hier kommst du ins Spiel«, hatte er Lev, den Kaufmann, tags zuvor angewiesen. »Wenn der junge Mann Geld leihen will, biete ihm einen Kredit an, und ich übernehme die Garantie.« Lev hatte gelacht und gemeint: »Ach, ihr Mönche…« Und nun kam der junge Mann auf sie zu.
Als der Schlitten den Platz überquerte, hörte Elena ihren Mann leise fluchen. Als sie ihn überrascht ansah, lächelte er ihr nur entschuldigend zu.
»Meine Feinde«, flüsterte er. »Das sind alles meine Vettern. Nimm dich vor allem vor dem Priester in acht«, fügte er hinzu. Die vier Männer blickten ihr unschuldig entgegen. Boris' Furcht vor dem Priester hatte nur einen Grund: Stefan konnte lesen, und Boris selbst konnte nur wenige Wörter entziffern. Er wußte, daß viele Adlige bei Hof lesen konnten. Die Mönche und Priester in den großen Klöstern und Kirchen beherrschten ihre eigene Kirchensprache in Wort und Schrift. Was aber fing der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit Büchern an? Boris schien das verdächtig. Die Katholiken oder diese merkwürdigen deutschen Protestanten, die mit Moskau Handel trieben, konnten wahrscheinlich auch lesen.
Daß Daniel, der Mönch, hinter seinem Land her war, konnte Boris verstehen. Aber was Stefan wohl im Schilde führte? Die kleine Gruppe begrüßte die Ankommenden höflich. Sie lächelten Elena respektvoll zu. Dann fuhr der Schlitten weiter zu dem kleinen Haus am Ende des Platzes, wo der Verwalter, seine Frau und die Bediensteten das junge Paar erwarteten. Am nächsten Morgen inspizierte Boris seinen Besitz in Sumpfloch. Der alte Verwalter führte ihn umher. Er war schon da gewesen, als Boris noch ein Kind war, und er war kein schlechter Kerl. Jedenfalls war er ehrlich, soweit Boris wußte.
»Es ist alles in gutem Zustand, wie dein Vater es hinterlassen hat«, sagte er.
Boris blickte nachdenklich umher. Als die Sachverständigen des Zaren nach Ivans neuerlichen Steuerreformen Russka besuchten, inspizierten sie den Besitz der Bobrovs eingehend. Es handelte sich um etwa dreihundert tschetvezts, was ungefähr siebzehnhundert Hektar entspricht. Die Bobrovs hatten in zweierlei Hinsicht Glück: Erstens befanden die Sachverständigen, daß ein Teil des Landes von minderer Qualität sei, wodurch sich die Steuern reduzierten. Zum zweiten war das hochwertige Areal ein wenig zu groß, als daß es nach den Standardmaßen der Steuertabelle exakt hätte erfaßt werden können.
Die russischen Sachverständigen für Grund und Boden vermochten gewisse Teilstücke, Bruchteile, nicht zu berechnen und steuerlich nicht zu taxieren. Zum Beispiel war ein Zehntel in den Steuertabellen nicht vorgesehen. Sie wußten auch nicht, wie man Brüche mit unterschiedlichen Divisoren addiert oder subtrahiert. Sie stellten fest, daß der gute Boden in Sumpfloch etwa zweihundertvierundfünfzig tschetvezts umfaßte. Aufgrund der angedeuteten Probleme blieben mehr als eineinhalb Hektar steuerfrei.
Boris' derzeitige Einkünfte aus seinem Land betrugen zehn Rubel jährlich. Und damit ging es ihm gut, verglichen mit anderen, denen der Zar pomeste – Land als Dienstgut – zugewiesen hatte. Andererseits hatte er für einen Feldzug für sich und seine Pferde sieben Rubel aufzuwenden; Rüstung und anderes Gerät waren bereits in seinem Besitz. An Steuern mußte er vier Rubel jährlich entrichten. In Russka hatte er geringe Schulden, auch bei Lev, dem Kaufmann. Wie die Dinge standen, würde er innerhalb einiger Jahre zwangsläufig immer mehr in Schulden geraten, falls der Zar nichts für ihn tat.
Doch Boris war nicht mutlos. Mit der Zeit würde er Ivans Gunst schon erringen. »Ich glaube, wir können die Einkünfte aus dem Land verdoppeln«, erklärte er dem Verwalter zuversichtlich. Genau das hatte der arme Bauer Michail befürchtet. Ein Bauer hatte zwei Möglichkeiten, seinen Herrn zu bezahlen: entweder gab er Geld oder Naturalien, entrichtete also den obrok, oder er bewirtschaftete das Land seines Herrn in Fronarbeit, die sogenannte barschtschina. Die Kombination aus beiden Leistungen war die Regel. Die Bauern in Sumpfloch arbeiteten nur einen oder zwei Tage auf dem Land, das Boris für sich behalten hatte. Dazu leisteten sie obrok für das Land, das sie erhalten hatten. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte der Besitz drei Pächter verloren; einer war zu einem anderen Herrn übergewechselt, einer war ohne Erben gestorben, und der dritte war weggeschickt worden. Sie wurden nicht ersetzt, so hatte Boris' Vater noch einmal vierzig Hektar gutes Land für sich behalten.
In Michails Abmachung mit Boris war die Aufteilung der Verpflichtungen nicht festgesetzt. Falls Boris sie ändern wollte, konnte er das. Er überlegte: Der Pachtzins war zwar mehrfach angehoben worden, doch der Getreidepreis war noch deutlich höher gestiegen. »Wir können den obrok reduzieren und die barschtschina erweitern«, meinte Boris munter. Das Getreide, das er auf dem zusätzlichen Acker anbauen konnte, würde viel mehr wert sein als die laufenden Pachteinnahmen. Er würde seine Einnahmen steigern, während die Bauern natürlich verlieren würden. Zwei Monate später bat Boris den Kaufmann um einen Besuch in seinem Haus. Lev wußte, warum. Boris war nicht untätig gewesen; er hatte alles, was zu seinem Besitz gehörte, einer genauen Prüfung unterzogen.
Michail, der arme Vetter des Kaufmanns, klagte: »Anscheinend entgeht ihm nichts. Er ist ein Tatar wie du, Lev.« Bei allem Mitgefühl für seinen Vetter – Lev bewunderte Boris insgeheim. Vielleicht wird er uns alle überraschen und seinen Besitz behalten, dachte er beinahe belustigt. Ihm jedenfalls würde es nichts ausmachen! Er würde überleben, und wenn das bedeutete, sich überall lieb Kind zu machen: in Russka natürlich zuerst einmal beim Kloster, dem das Land gehörte; doch auch bei Boris. Denn man mußte Umsicht walten lassen. Manchmal gelüstete es die Zaren in Moskau nach kirchlichen Besitzungen, und sie fanden einen Vorwand, um sie zu übernehmen. Falls das geschehen sollte, würde der junge Herr, der dem Zaren diente, eine wichtige Rolle spielen.
Unter solchen Erwägungen erreichte Lev das behäbige, zweistöckige Holzhaus mit der breiten Außentreppe. Er wurde in den großen Wohnraum geführt, wo Boris ihn erwartete. »Wie du weißt, werden die Einkünfte aus Sumpfloch in diesem Jahr stark ansteigen, doch in der Zwischenzeit brauche ich Kredit; ich denke an fünf Rubel.«
Lev nickte. Die Summe war bescheiden. »Kann ich dir leihen. Die Zinsen betragen einen Rubel auf je fünf.«
Zwanzig Prozent! Boris staunte mit offenem Mund. Das waren höchst angenehme Bedingungen – um die Hälfte weniger, als zwei andere Kaufleute ihm vorgeschlagen hatten. Lev lächelte. »Meine Rechnung geht dahin, daß ich die Freunde den Feinden vorziehe, Herr«, war die entwaffnende Begründung. »Ich hoffe, daß Elena Dmitreva wohlauf ist!« sagte er höflich.
»Ja danke.« Lev glaubte zu sehen, daß über das junge Gesicht ein Schatten lief. In der Stadt hieß es, Boris' Frau sei ein freundliches, sanftes Geschöpf. Außer den beiden Bediensteten und der Frau des Priesters hatte aber kaum jemand in Russka sie gesehen. Sie zeigte sich nicht in der Öffentlichkeit. Boris ließ den Priester zum Messelesen ins Haus kommen, statt seine Frau den neugierigen Blicken der einfachen Leute in der Kirche auszusetzen. Das Leben in Russka kam Elena seltsam vor. Überall war es so ruhig. Anna, die Frau des Priesters, die sie manchmal besuchte, war eine angenehme junge Person von zwanzig Jahren. Boris hatte gegen die Besuche nichts einzuwenden. Oft saßen die beiden am Nachmittag im oberen Stockwerk beisammen. Von Anna erfuhr Elena eine Menge über die Gemeinde. Sie konnte Boris sogar versichern, daß der Priester ihm wohlgesinnt sei. Elena hatte sich vorgestellt, daß sie als verheiratete Frau mit ihrem Mann und ihrem Haus beschäftigt sei und immer etwas zu tun habe. Da Boris jedoch häufig auf seinem Besitz war, wußte sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Sie war dreimal im Kloster gewesen, das von der Familie ihres Mannes gegründet worden war. Die Mönche hatten sie freundlich empfangen. Sie hatte mit Boris auch Sumpfloch einen Besuch abgestattet, und dort hatte man sie mit tiefen Verbeugungen und kleinen Geschenken willkommen geheißen. Doch da Elena fühlte, daß die Einwohner des Weilers sie als Anlaß für ihre neuen Verpflichtungen ansahen, legte sie keinen Wert auf einen weiteren Besuch.
Wie sehnte sie sich nach dem geschäftigen Treiben von Moskau, dem ausgefüllten Leben mit ihrer Familie! Warum ging ihr Mann nicht wieder dorthin mit ihr? Er mußte seine Geschäfte in Russka doch nun bald beendet haben!
Boris gab ihr immer wieder Rätsel auf. Sie war an die häufig schlechte Laune ihres Vaters gewöhnt und wußte, daß Männer unter wechselnder Stimmung leiden. Sie hätte es akzeptieren können, wenn das auch bei Boris so gewesen wäre oder wenn er sie hin und wieder geschlagen hätte. Darauf war sie schließlich gefaßt. Lev, der Kaufmann, schlug seine Frau grundsätzlich einmal in der Woche, das wußte sie.
Doch Boris war stets freundlich, und wenn ihn etwas bedrückte, zog er sich an den Ofen oder ans Fenster zurück. Wenn sie ihn nach dem Grund fragte, lächelte er nur vage.
Elena wußte, daß er von ihr erwartete, eine vollkommene Ehefrau zu sein, so wie Anastasia es für Ivan war. Was aber bedeutete das? Sie tat ihm jeden Gefallen, war zärtlich, wenn er Kummer hatte. Doch irgend etwas an ihr schien ihn zu enttäuschen. Sie bemühte sich vergeblich, den Grund zu finden.
Im Winter kamen beunruhigende Nachrichten aus dem Osten. Die Garnison in Kazan war zu klein, und nun befand sich das gesamte Gebiet um die eroberte Tatarenstadt im Aufruhr. »Zar Ivan hat die duma der Bojaren zusammengerufen, doch sie will nicht in Aktion treten«, erzählte ein Kaufmann aus der Hauptstadt. Dieses Ereignis brachte die erste ernste Verstimmung zwischen den jungen Eheleuten. »Diese verdammten Bojaren«, fluchte Boris. »Ich wünschte, der Zar würde sie alle erledigen.«
»Nicht alle Bojaren sind schlecht«, protestierte Elena. »Doch, das sind sie«, schnappte Boris trotzig zurück. »Und eines Tages zeigen wir ihnen, wo ihr Platz ist.« Er wußte, daß in diesen Worten eine Beleidigung ihres Vaters verborgen lag, die sie traurig stimmte. Doch das war ihm jetzt gleichgültig. Einige Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Elena war nur von der Frage besessen, wann sie wieder nach Moskau reisen würden. Sie war sich nicht im klaren darüber, daß der Grund der Verzögerung das Geld war. Boris hatte mit ihr nie über seine Finanzen gesprochen. Sie hatte in ihrem Vaterhaus in Moskau ein angenehmes Leben geführt und konnte sich nicht vorstellen, welch finanzielle Belastung das gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt für einen Mann mit bescheidenen Mitteln bedeutete. Anfang Februar waren sie immer noch in Russka, und Elena fühlte sich sehr einsam. Also sandte sie eine Nachricht an ihre Mutter. Das war nicht schwierig. Anna übergab die Botschaft einem Kaufmann, der nach Vladimir reiste. Der wiederum reichte sie weiter an einen Freund, der auf dem Weg nach Moskau war. Elena beklagte sich keineswegs in ihrem Brief, sie bat nur, ihr jemanden zur Gesellschaft zu schicken – vielleicht eine arme Verwandte.
Als Ende Februar zwei Schlitten vor ihrem Haus vorfuhren, stieß Elena einen Freudenschrei aus: Ihnen entstiegen, anstelle der armen Verwandten, ihre Mutter und ihre Schwester. Sie wollten eine Woche bleiben. Elenas Mutter war eine große, imposante Frau, und sie behandelte Boris mit freundlicher Höflichkeit. Die Schwester, die verheiratet war und schon Kinder hatte, war eine stämmige Person, die gern lachte. Natürlich bedeutete der Besuch Extraausgaben. Nach dieser Woche wußte Boris, daß seine Anleihe bei Lev nicht ausreichen würde. Das ärgerte ihn. Noch schlimmer war, daß er sich ausgeschlossen fühlte. Elena wollte unbedingt neben ihrer Schwester schlafen, und die Mutter bewohnte das Zimmer im oberen Stockwerk, so daß Boris unten am großen Ofen schlafen mußte. Die beiden Schwestern fanden das höchst amüsant, und er hörte sie die halbe Nacht plaudern.
Tagsüber fühlte er sich noch elender. Die drei Frauen steckten unentwegt zusammen und tuschelten miteinander. Boris argwöhnte, daß es dabei um ihn ging.
Seine Vorstellung von Frauen entsprach der allgemeinen Meinung jener Zeit. Es waren allerlei Schriften byzantinischer und russischer Autoren in Umlauf, die die Ansicht von der Minderwertigkeit des Weibes vertraten.
So war auch Boris der Meinung, Frauen seien unrein. Er selbst wusch sich immer sorgfältig, nachdem er mit Elena geschlafen hatte, und während der Zeit ihrer monatlichen Regel mied er ihre Gegenwart möglichst.
Vor allem jedoch waren Frauen für ihn Fremde. Warum waren Elenas Mutter und Schwester gekommen? Als er höflich danach fragte, antwortete Elenas Schwester fröhlich, sie seien nur gekommen, um die Braut und den Besitz ihres Mannes zu sehen: und sie würden auch im Nu wieder verschwunden sein. »Hast du sie gebeten zu kommen?« fragte er Elena mißtrauisch. »Nein«, antwortete sie, der Wahrheit entsprechend. Boris bemerkte jedoch ihre leichte Verlegenheit. Sie gehört nicht mir, dachte er. Sie gehört zu ihnen.
Endlich reisten die beiden Frauen ab. Beim Abschied dankte Elenas Mutter Boris herzlich für die Gastfreundschaft und meinte vielsagend: »Wir freuen uns, euch bald in Moskau zu sehen, Boris Davidov. Mein Mann und ich, auch seine Mutter, erwarten euch sehnsüchtig.«
Das war ein Versprechen möglicher Unterstützung seitens Dmitrijs und der Hinweis, die alte Dame finde es respektlos, wenn er sich ihr nicht bald vorstelle. Er lächelte verlegen und dachte daran, daß der Besuch ihn fast einen ganzen Rubel gekostet hatte. Und was hatten die beiden wohl mit seiner Frau angestellt? Als sie wieder allein waren, ließ sich zunächst alles gut an. Boris kam nachts wieder zu Elena, und sie liebten sich leidenschaftlich. Zwei Wochen später änderte sich seine Laune schlagartig. Er hatte verschiedene Mängel an den Gerätschaften und in den Getreidespeichern entdeckt, die der Verwalter offenbar übersehen hatte. Gleichzeitig erlag einer der Tatarensklaven einer schweren Krankheit. Also mußte Boris entweder einen neuen Sklaven kaufen oder weniger Land bewirtschaften. Er würde wohl eine weitere Anleihe bei Lev machen müssen.
Elena wartete eine Gelegenheit ab, um mit ihm zu reden. »Du machst dir zu viele Sorgen«, begann sie. »So ernst ist es gar nicht.«
»Das kann nur ich beurteilen«, meinte er ruhig. »Aber ich sehe doch dein trauriges Gesicht«, fuhr sie fort. Sie sagte das mit leise ironischem Ton. Er warf ihr einen finsteren Blick zu.
Wo nahm sie nur diese Keckheit her? Daran waren bestimmt die beiden Frauen schuld!
Damit hatte er in gewissem Sinn recht. Elena hatte Mutter und Schwester des öfteren nach ihrer Meinung über Boris gefragt, und die hatten ihr erklärt: »Wenn ein Mann Launen bekommt, muß man einfach darüber hinweggehen.« Dabei bedachten sie nicht, daß Boris ein ungewöhnlicher Mann war.
Boris bekam den Eindruck, daß Elena seine Stimmung nicht ernst nahm, und dachte nur: Sie haben ihr beigebracht, mich zu verachten. Noch konnte er seinen Ingrimm hinunterschlucken, doch dann machte Elena den größten Fehler.
»Ach, Boris«, sagte sie, »es ist albern, so niedergeschlagen zu sein.« Albern! Seine Frau nannte ihn albern? Wütend sprang er auf und ballte die Fäuste. »Lach du mich noch einmal aus, wenn ich Sorgen habe«, schrie er. Er machte einen Schritt auf sie zu, ohne zu wissen, was er tat.
Da pochte es an die Tür, und Stefan, der Priester, trat ein. Er sah äußerst betroffen aus: »Der Zar liegt im Sterben.«
Wohin der Bauer Michail auch blickte – nichts als Probleme. Der junge Herr Boris war mit seiner Frau zwar wieder in Moskau, doch er kam von Zeit zu Zeit auf einen kurzen Besuch. Sicher war es bald wieder soweit. Wer weiß, was er dann vorhatte. Die neue barschtschina war eine erdrückende Bürde. Neben seinem Dienst und kleineren Zahlungen an Boris mußte Michail auch die Staatsausgaben bezahlen. Seine Frau half, indem sie hübsches Tuch in leuchtenden Farben und mit einem roten Vogelmuster darin webte und auf dem Markt in Russka verkaufte. Aber er hatte trotzdem kein Geld übers Jahresende hinaus und gerade genug Getreidevorräte, die ihn nach einer schlechten Ernte über den Winter brachten.
»Wir könnten doch weggehen«, meinte seine Frau, »noch diesen Herbst.«
Er lehnte diesen Gedanken nicht ab, doch vorläufig konnte er nichts unternehmen. Die Gesetze, nach denen ein Bauer seinen Herrn verlassen durfte, waren fünfzig Jahre zuvor von Ivan dem Großen erlassen und von seinem Enkel, dem derzeitigen Zaren, erneuert worden. Ein Bauer durfte seinen Dienst nur zu bestimmten, von seinem Herrn festgesetzten Daten verlassen, und zwar in den beiden Wochen um den Sankt-Georgs-Tag, den 25. November. Das hatte durchaus einen Sinn, denn um diese Zeit war die gesamte Ernte eingebracht; doch für den Bauern war es die schlechteste Zeit des Jahres, sich nach etwas Neuem umzusehen. Außerdem waren hohe Austrittsgebühren zu entrichten. Wenn nach der Kündigung auch das erledigt war, konnten der Bauer und seine Familie sich frei bewegen. Aber wohin? Das war Michails Problem. »Warten wir noch ein wenig, dann sehen wir weiter«, sagte er abschließend. Seine Frau würde geduldig abwarten, das wußte er. Und da er nicht wußte, was er machen sollte, beschloß er, sich Rat bei seinem Vetter, dem Priester Stefan, zu holen.
Keiner sprach darüber, doch jedermann am Hof in Moskau dachte dasselbe: Man hatte den Zaren verraten, gegen ihn gemeutert. Im März war Ivan schwer erkrankt, wahrscheinlich an Lungenentzündung. Er konnte kaum noch sprechen. Den Tod vor Augen, bat er Fürsten und Bojaren, seinen Sohn, der noch ein Säugling war, als Nachfolger zu akzeptieren. Doch die meisten schlugen ihm die Bitte ab – und das war, strenggenommen, offene Meuterei. »Dann haben wir eine andere Regentschaft, die auf die Familie der Mutter, diese verdammten Zacharins, übergeht«, lautete das Hauptargument. Welche Alternative sahen sie? Da war die harmlose, mitleiderregende Figur des jüngeren Zarenbruders – eine schwachköpfige Kreatur, die sich selten blicken ließ. Und da gab es Vladimir, den Vetter des Zaren. Von allen Fürsten war er am engsten mit dem regierenden Monarchen verwandt, ein Mann mit Erfahrung, ein besserer Thronanwärter als das Kind.
Am Bett des Schwerkranken wurde debattiert. Selbst Ivans engste Vertraute drückten sich flüsternd in Ecken herum. Und der Zar lauschte, und sein Mißtrauen wuchs.
Was würde nach dem Tod des Zaren mit dem Moskauer Staat geschehen? Würde er in Anarchie stürzen, da die Magnaten einander gegenseitig bekämpften um der Macht willen? Doch der Zar genas. Die Höflinge verneigten sich wieder lächelnd vor ihm. Die Nachfolge seines Vetters Vladimir war kein Thema mehr, als habe man nie darüber gesprochen. Zar Ivan verlor kein Wort darüber, doch er vergaß nichts. Und über dem gesamten Hof lag eine düstere Atmosphäre. Im Mai reiste Ivan mit seiner Familie in den hohen Norden, um die Dankgebete für seine Genesung in ebenjenem Kloster zu sprechen, das seine Mutter aufgesucht hatte, als sie mit ihm schwanger war. Es war ein langer Weg bis in die Wälder kurz vor der arktischen Leere. Auf der Reise fiel der Kinderfrau der kleine Prinz, Ivans und Anastasias Sohn, aus den Armen und starb. Boris und Elena waren im März nach Moskau zurückgereist und hatten sich in ihrem bescheidenen Häuschen in der Weißen Stadt eingerichtet. Elena besuchte Mutter und Schwester täglich. Dort hörte sie ständig Neuigkeiten über die schlimmen Ereignisse am Hof, entweder durch Elenas Vater oder durch ihre Mutter. Boris war häufig allein, er hatte nicht viel zu tun. Obwohl sie ein ruhiges Leben führten, hatte er große Ausgaben: für die Pferde, für Geschenke, und vor allem für die vielen Meter von Seidenbrokat und Pelzbesatz für Kaftane und Kleider, die für Höflichkeitsbesuche nötig waren. Er hoffte sehr, daß diese Investitionen nicht vergeblich waren.
Manchmal spürte er dumpfen Zorn, wenn seine Frau fröhlich von einem Besuch bei der Mutter zurückkam. Wenn sie nachts beieinanderlagen, begehrte er sie, hielt sich aber trotzdem zurück. Wie kann sie mich lieben, wenn sie meine Sorgen nicht teilt? überlegte er. Mitunter war diese Gefühlskälte seine Art, sie zu bestrafen.
Die junge Elena dagegen dachte bei diesen Anzeichen von Gleichgültigkeit, ihr launischer Mann habe kein Interesse mehr an ihr. Obwohl ihr eher nach Tränen zumute war, zog sie sich stolz zurück, oder sie richtete eine Barriere zwischen ihnen auf, so daß er wiederum dachte: Ich sehe, sie will mich nicht mehr. Manchmal betete Boris vor den Ikonen in der Kirche, daß er und seine Frau einander lieben und verzeihen könnten, doch im Grund seines Herzens glaubte er nicht mehr daran. Bei einer solchen Gelegenheit kam Boris zufällig ins Gespräch mit dem jungen Priester Philipp. Er war etwa im gleichen Alter wie Boris, sehr schlank, rothaarig, mit harten, ausgeprägten Gesichtszügen. Als Boris ihm erzählte, daß seine Familie dem Kloster in Russka eine Ikone, die wunderschöne Rublev, gestiftet hatte, war Philipp begeistert.
»Herr, ich beschäftige mich eingehend mit Ikonen. Da gibt es also eine von Andrej Rublev in Russka? Das wußte ich nicht. Natürlich muß ich sie mir ansehen. Erlaube mir, daß ich dich einmal dorthin begleite. Das wäre sehr liebenswürdig.« Unversehens hatte Boris einen Freund fürs Leben gewonnen. Elena erzählte Boris erst im Juli, daß sie schwanger war. Sie erwartete das Kind zum Jahresende. Boris war natürlich sehr aufgeregt. Elenas Familie gratulierte ihm. Und als er an seinen Vater dachte und daran, daß dieser Sohn ihre edle Linie fortsetzen werde, durchströmte ihn neue Kraft. Er war fest entschlossen, erfolgreich zu sein und den Besitz in gutem Zustand zu übergeben. Elenas Vater hatte gleich außerhalb der Stadt einen Besitz. Sie ging in den Spätsommermonaten oft hinaus, und so war sie auch jetzt bei ihrer Familie. Am folgenden Morgen sollte sie mit ihrer Mutter zurückkehren.
Was, zum Teufel, will Stefan bloß von mir? fragte sich Boris. Er hatte eine Nachricht des Priesters erhalten, in der jener um eine Zusammenkunft ersuchte. Der junge Priester begrüßte Boris mit größter Höflichkeit und bat ihn, die Angelegenheit streng vertraulich zu behandeln; es ging um den Bauern Michail.
Stefan erläuterte in kurzen Worten Michails Dilemma. »Es könnte sein, daß das Kloster ihn dir wegnehmen will. Sie würden einen guten Arbeiter gewinnen, und du würdest deinen besten verlieren – was bedeutet, daß es für dich noch schwerer würde, dich zu behaupten.«
»Er kann nicht gehen!« brauste Boris auf. »Ich weiß genau, daß er die Gebühren nicht bezahlen kann.«
Falls ein Bauer kündigte, hatte er hohe Beträge zu entrichten, über einen halben Rubel – das war mehr als der Gegenwert von Michails Jahresernte. Und Boris hatte recht – Michail hätte es nicht bezahlen können.
»Er nicht, aber das Kloster«, entgegnete Stefan ruhig. So war das! Unlauteres Abwerben eines Bauern, indem man die Austrittsgebühren für ihn übernahm. Wahrscheinlich würde der Mönch Daniel ihm, einem Bobrov, so etwas antun. »Du schlägst also vor, daß ich meinen Bauern einen Teil ihrer Pflichten erlasse?«
»Ein wenig, Boris Davidov. Nur so viel, daß Michail aus dem Gröbsten herauskommt. Er ist ein guter Arbeiter, und ich kann dir versichern, daß er nicht von dir weggehen will.«
»Und warum erzählst du mir das alles?« fragte Boris. Stefan schwieg. Sollte er vielleicht sagen, daß er mit dem wachsenden Reichtum des Klosters nicht einverstanden war, daß Boris und seine junge Frau ihm leid taten? Nein, das konnte er nicht tun. »Ich bin nur ein Priester, ein Zuschauer«, meinte er daher mit einem vorsichtigen Lächeln. »Nehmen wir es also als meine gute Tat für den Tag.«
»Ich werde nachdenken über das, was du mir gesagt hast«, sagte Boris unverbindlich. »Ich danke dir für deine Anteilnahme und die Mühe, die du dir gemacht hast.«
Damit trennten sie sich, und der Priester war überzeugt, dem Bauern und seinem Herrn einen christlichen Dienst erwiesen zu haben. Nachdem er gegangen war, lief Boris nervös im Zimmer auf und ab. Für welch einen Trottel halten sie mich denn? Denkt Stefan vielleicht, ich hätte das listige Lächeln auf seinen Lippen nicht bemerkt?
Es sah vielleicht so aus, als wolle Stefan helfen, doch Boris glaubte nicht daran. Er dachte an die vier Vettern, wie sie am Tage ihrer Ankunft in Russka beieinandergestanden hatten. Nein, er konnte keinem trauen, keinem einzigen – er traute ja nicht mal mehr seiner Frau. Worauf aber war der Priester aus? Er bereitete offensichtlich eine Falle vor. Wenn er Michails Verpflichtungen reduzierte – wer würde davon profitieren? Der Bauer, natürlich, Stefans Vetter. Und Boris hätte weniger Einkünfte, müßte also weitere Anleihen machen und würde damit dem Verlust seines Besitzes an das Kloster einen Schritt näher sein.
Nur in einem Punkt hatte der schlaue Priester wohl die Wahrheit gesagt: Das Kloster könnte versuchen, Michail abzuwerben, falls es den Besitz noch nicht übernehmen könnte. Wie sollte er, Boris, dies verhindern?
Seltsamerweise war es der Priester Philipp mit seiner Leidenschaft für Ikonen, der die Lösung lieferte.
Der Kreml hatte stets wachsenden Bedarf an pomeste – Land für Ivans Gefolgsleute. Und so sprachen sich die engsten Ratgeber des Zaren dafür aus, die Uneigennützigen zu unterstützen und Land von der Kirche abzuziehen. Der Metropolit suchte nach einer Möglichkeit, das zu verhindern – und er fand sie.
Der Priester Sylvester, ein Mann, der die Kampagne gegen die besitzende Kirche betrieb, war ein enger Vertrauter des Zaren und gleichzeitig mit einem Mann befreundet, den man der Häresie bezichtigte. Der Metropolit sah darin die Chance, ein weit gespanntes Intrigennetz zu spinnen. Tatsächlich gelang es auch, eine Verbindung zwischen einigen Freunden der antikirchlichen Bewegung und der Familie des Fürsten Vladimir aufzudecken. Diesen seinen Vetter hatte Ivan mißtrauisch im Visier – schließlich galt er als möglicher Nachfolger auf dem Thron. Der Metropolit war entzückt. Der für die reiche Kirche gefährliche Sylvester würde nun als Freund der Ketzer und der Feinde Ivans entlarvt werden. Ein Schauprozeß wurde einberufen.
Die Verhandlung wurde für Ende Oktober festgesetzt. Der Metropolit, der Zar, die hohen geistlichen und weltlichen Würdenträger würden anwesend sein. Sylvesters Anhänger und Freunde lebten bereits in Furcht und Schrecken.
Dieser Schauprozeß mochte vielleicht dem Metropoliten genügen, nicht jedoch Sylvesters Rivalen im Rat. Plötzlich brachten sie noch einen Fall zur Sprache, Sylvester unmittelbar betreffend. Es ging um Ikonen.
In der großen Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml hingen seit kurzer Zeit Ikonen, die unter Sylvesters Aufsicht hergestellt worden waren. Die Gegner Sylvesters behaupteten nun, die Darstellungen seien ketzerisch.
Wenn Boris auch nicht die Einzelheiten der Anklage verstand, so wußte er doch, daß der Vorwurf ernst war. Einige Tage vor dem Prozeß bot ihm sein Freund Philipp, der Priester, an, mit ihm die fraglichen Ikonen im Kreml anzusehen.
Die beiden Männer betraten den Kreml durch ein hohes, strenges Tor und gingen an den wuchtigen Mauern der Rüstkammer vorbei auf den zentralen Platz.
Da standen die beiden, und um sie herum ragten kuppelgekrönte Kirchen und Paläste in den trüben Himmel: die Kathedralen Mariä Himmelfahrt, Mariä Verkündigung, des Erzengels Michael; der Facettenpalast in italienischer Bauweise, die Kirche der Niederlegung des Gewandes Mariä, der Glockenturm Ivans des Großen.
Sie betraten die Verkündigungs-Kathedrale. Die Ikonen, Anlaß heftiger Diskussionen, boten für Boris keinen ungewöhnlichen Anblick. Er konnte nichts Schlimmes daran entdecken. Doch der eifrige junge Priester deutete auf eine Christusfigur mit Flügeln und aneinandergelegten Handflächen. »Sieh dir das an: Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
»Das ist vielleicht etwas ungewöhnlich«, gab Boris vorsichtig zu und räusperte sich.
»Ungewöhnlich? Es ist empörend! Ein Götzenbild. Siehst du nicht, daß der Künstler das einfach erfunden hat? Es ist nicht gestattet, den Herrn auf diese Weise darzustellen. Außer es kommt von den Katholiken im Westen«, fügte er finster hinzu. Bei näherer Betrachtung mußte Boris zugeben, daß der Künstler eine höchst eigenwillige Auslegung gewagt hatte. »Schau einmal hier!« Philipp stand vor einer anderen Ikone. »Unser Herr als David, in den Kleidern eines Zaren. Und dort drüben«, er blickte zu einer weiteren Ikone, »der Heilige Geist als Taube. So etwas ist für uns orthodoxe Christen undenkbar! Ketzer machen das. Diese abscheulichen Katholiken im Westen haben trotz allem etwas Gutes – die Inquisition. Die fehlt uns hier in Rußland. Das Übel muß an der Wurzel gepackt werden.« Schweigend verließen sie die Kathedrale. Als sie auf dem weiten Platz standen, hatte Boris einen glänzenden Einfall. »Ich glaube, solche Ikonen werden in Russka hergestellt.« An einem trüben Novembertag kamen die beiden Besucher in Russka an. Ein kalter, feuchter Wind, der starken Regen, sogar Schnee ankündigte, blies ihnen ins Gesicht. Philipp hätte lieber eine angenehmere Zeit abgewartet, doch Boris hatte darauf bestanden, sofort zu reisen.
Sie gingen in Boris' Haus, der von hier aus eine freundliche Nachricht an den Priester Stefan mit der Bitte um einen Besuch sandte. Boris schickte seinen Diener zum Verwalter mit dem eiligen Auftrag, ein paar fette Hühner zu holen, eine Flasche Wein und alles, was sonst zu ihrem Wohlbefinden beitragen könnte. Zwei Stunden später saßen sie zu dritt beim Abendessen. Stefan war gespannt, ob sein Besuch etwas Gutes für den unglücklichen Michail bedeuten könne. Der Wein versetzte alle in eine umgängliche Stimmung. Boris erzählte, daß er hier seinen Geschäften nachgehen wolle, und bat Stefan, seinem Freund in der Zwischenzeit das Dorf und das Kloster zu zeigen. Stefan versprach ihm, den Gast am nächsten Tag herumzuführen.
Zwei Tage später war die Falle gelegt, und Boris schickte nach dem Mönch Daniel. »Ich bin in einer höchst schwierigen Lage«, begann er listig. »Es spielt im Grunde keine Rolle, außer im Hinblick auf kürzliche Ereignisse in Moskau.« Er legte eine Pause ein. Der Mönch wußte nicht, worauf Boris abzielte. »Ich beziehe mich auf die Ketzerprozesse«, fuhr Boris aalglatt fort. Diese hatten am 25. Oktober stattgefunden und waren zu einem uneingeschränkten Triumph für den Metropoliten geworden. Die gelieferten Beweise reichten aus für Folter und lebenslange Haftstrafen. Ganz Moskau war entsetzt.
Als treuer Anhänger des Metropoliten war Daniel hoch erfreut. Doch er verstand nicht: Was hatten diese Prozesse mit dem jungen Landbesitzer und seinen Belangen in Russka zu tun? Er blickte Boris fragend an.
»Es sieht so aus, als hätten wir Ketzertum hier, mitten unter uns«, sagte Boris. Dabei pochte er mißbilligend auf die Tischplatte. Daniel starrte ihn an.
Alles lief so einfach ab! Boris war erstaunt, wie glatt und klug der Priester Philipp seine Rolle spielte – damit hatte er nicht gerechnet. Der hinterhältige Bursche hatte sich von dem zuvorkommenden Stefan herumführen lassen und dabei eher harmlose Fragen gestellt. Er hatte die Ikonen gesehen, die auf dem Markt zum Verkauf standen. Er hatte sich auch die großen Felder vor den Klostermauern angesehen. Erst als sie bei Sonnenuntergang vor dem Stadttor standen und hinunter auf das Kloster blickten, war es aus Philipp herausgebrochen: »Welch ein kleines und doch so reiches Kloster!«
»Du denkst, es ist zu reich?« hatte Stefan neugierig gefragt. »Heutzutage muß man vorsichtig sein, mein Freund«, hatte Philipp vage geantwortet.
»Natürlich. Du bist also auf der Seite der Uneigennützigen?« Der Priester aus Moskau hatte zustimmend sein Haupt geneigt. »Und du?«
»Ich auch«, hatte der Priester aus Russka harmlos geantwortet. Schweigend waren sie zu Boris' Haus zurückgegangen, wo sie sich zum Abschied umarmten.
Philipp teilte Boris seine Ansicht mit. »Der Priester gehört zu den Uneigennützigen. Im Augenblick weiß ich nicht, ob er ein Ketzer ist, aber jedenfalls liest er zuviel, und außerdem ist er ein Narr. Es ist nicht abzusehen, in welche Art von Ketzerei er hineingeraten könnte. Was die Ikonen anbetrifft: Es gibt vier verschiedene ketzerische Versionen.«
»Also könnte ich jetzt Nachforschungen anstellen?«
»Ich glaube, das solltest du.«
Der Mönch Daniel hatte still abgewartet, während Boris seinen Gedanken nachhing. »Es sieht so aus, Bruder Daniel, daß die Ikonen, die im Kloster Peter und Paul hergestellt werden, ketzerischen Inhalts sind. Sie werden auf dem Markt unter deiner Aufsicht verkauft. In der gegenwärtigen Lage… könnten das Kloster, zumindest einige seiner Insassen damit in Gefahr geraten.« Daniel wirkte jetzt nervös. »Wir nehmen natürlich gern deinen Rat an.«
»Natürlich«, lenkte Boris ein, »aber wenn es sich um höchste Stellen handelt, wird es doch riskant.«
»Ich fürchte, deine eigene Familie könnte mit dem Geschäft in Verbindung gebracht werden. Dein Vetter Stefan, der Priester. Er ist, du weißt das wahrscheinlich, einer der Uneigennützigen.« Boris sah Daniel erbleichen – trotz des dichten Barts. Seit langem hatte er diesen Verdacht gehegt. »Selbst wenn er das ist – ich bin absolut gegenteiliger Ansicht«, sagte er.
»Das weiß ich so gut wie du. Aber wir beide wissen auch, daß in solchen Zeiten, wenn die Behörden aufmerksam werden… Sie werden dich, die Ikonen und deinen Vetter überprüfen, mit dem du häufig gesehen wirst, und sie werden ein Exempel zum Thema Häresie statuieren.«
Das war die reinste Ironie. Obwohl Mönch und Priester absolut gegensätzliche Ansichten vertraten, ließen sie sich durch saubere Analyse und Synthese wie ein Paar Schurken aneinanderketten.
Es entstand eine lange Pause.
»Wie sollen wir verfahren?« fragte der Mönch vorsichtig. Boris sah gedankenverloren vor sich hin. »Die Frage ist«, überlegte er, »ob ich meinen Freund, einen Priester in Moskau, davon überzeugen kann, daß diese Angelegenheit nicht berichtet zu werden braucht. Er ist ein Fanatiker.«
»Sollte ich vielleicht mit ihm sprechen?«
»Das wäre unklug. Er würde es als Schuldeingeständnis werten.« Boris schwieg einen Augenblick. »Ich muß auch meine eigene Position berücksichtigen.« Es wurde still im Zimmer. »Es würde mich natürlich traurig stimmen«, fuhr Boris nach einer Weile fort, »wenn Unglück über eine Familie käme, über eine große, zahlreiche Familie, der wir wohlgesinnt sind.«
Zahlreich. Er sah, wie es in Daniel arbeitete. Er, der Mönch, Stefan, der Priester, dann Lev, der Kaufmann, und außerdem noch Michail, auch ein Vetter. Boris wartete, bis er meinte, daß Daniel vollkommen begriffen habe.
»Natürlich wünschen wir dir und deinem Besitz in Sumpfloch das Beste«, murmelte der Mönch.
»Nun, ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Boris rasch. »Sprechen wir vorläufig nicht weiter darüber.« Als der Mönch ging, bat Boris: »Wenn dir zufällig Lev, der Kaufmann, begegnet, Bruder Daniel, schicke ihn doch zu mir.«
Am Spätnachmittag lieh Boris sich weitere acht Rubel vom Kaufmann, und zwar zu dem lächerlichen Zinssatz von nur sieben Prozent. Ehe er am nächsten Tag mit Philipp nach Moskau zurückkehrte, versicherte er ihm, daß die anstößigen Ikonen unverzüglich ausgetauscht würden und Stefan als Anhänger der Uneigennützigen streng verwarnt worden sei. Außerdem bot er ihm eine zinslose Anleihe von einem Rubel an, die der erklärte Gegner der Häresie bereitwillig annahm.
Boris tat nichts für Michail. Es war nicht mehr nötig. Wohin hätte der Bauer auch gehen sollen?
Im Winter dieses Jahres, als der Boden schneebedeckt war, machte sich von Moskau aus eine große Expedition unter Führung von Ivans besten Männern – der brillante Fürst Kurbskij war auch dabei – nach Kazan auf. Unter den ehrgeizigen jungen Männern war auch Boris. Vier Wochen später bekam Elena die Wehen. Sie betete: Wenn ich all diese Schmerzen aushalte, macht Gott sicher, daß Boris mich liebt. Es wurde ein Mädchen.
Im Jahr des Herrn 1553 setzten in England drei Schiffe Segel. Unter dem Kommando von Sir Hugh Willoughby, Mitglied einer der illustren englischen Adelsfamilien, sollten sie eine Handelsstraße um den Nordosten Eurasiens nach China auskundschaften. Unglücklicherweise kamen in den tückischen nördlichen Gewässern zwei der Schiffe vom Kurs ab; monatelang kreuzten Willoughby und seine Leute durch die Meere, bis sie schließlich bei einer Insel vor Lappland auf Grund liefen und in der eisigen Dunkelheit, die den ganzen arktischen Winter hindurch herrscht, fast erfroren wären.
Ein anderes Schicksal hatte das dritte Schiff, die »Edward Bonaventura«, auf der Richard Chancellor segelte. Während der Sommermonate stieß es in eine nördliche Region vor, in der um diese Jahreszeit die Sonne nicht untergeht. Im August gingen die Männer in einem seltsamen Land von Bord, wo die einheimischen Fischer sich ihnen zu Füßen warfen. Sie waren die ersten Engländer seit Jahrhunderten, die nach Muscovia gelangten. George Wilson gefiel es in diesem fremden Land. Niemand hatte bisher sonderlich Notiz von ihm genommen, doch hier war er – zusammen mit seinen Schiffskameraden – geradezu eine Berühmtheit.
Der kleine Mann hatte etwas Rattenhaftes, man konnte auch sagen, er sah aus wie ein Schakal in einer Gruppe von Bären. Er war dreißig Jahre alt, und der einzige Grund, warum er diese Reise unternommen hatte, war die Tatsache, daß er als Tuchhändler geschäftlichen Mißerfolg erlitten hatte. Sein Vetter, ein Kapitän, hatte ihn vor den nördlichen Gewässern gewarnt. Es gebe Treibeis so hoch wie Berge, hatte er gesagt. Nun, jetzt war er hier, auf halbem Weg nach China, zwischen Menschen, die wie Bären aussahen. Aber soweit er es beurteilen konnte, war die Lage nicht hoffnungslos. Im Gegenteil, seine schmalen Augen leuchteten, wenn er sah, wieviel Geld man hier verdienen konnte.
Da niemand wußte, wer die Besucher waren oder woher sie kamen, wurde die englische Gruppe zunächst in Verwahrung gehalten, bis die »Gastgeber« Instruktionen aus der Hauptstadt erhielten. »Die Fürsorglichkeit dieser Menschen ist so groß, daß man nicht weiß, ob wir Gäste oder Gefangene sind«, meinte Chancellor sarkastisch. Es hatte heftig geschneit, ehe sie in die Hauptstadt gebracht wurden. So konnte Wilson beobachten, wie die Waren von den Lastkähnen auf unzählige Schlitten verladen und von den Sammelpunkten zu den Städten im Inneren des Landes gebracht wurden. Es gab alle Arten von Waren: Getreide, Fisch, vor allem aber Felle über Felle in unvorstellbarer Vielfalt – Zobel, Hermelin, Biber, Bären.
Es war eine lange Reise nach Moskau, und mit jeder Meile entfernten sie sich weiter vom Meer. Dies ist das größte Land der Welt, dachte Wilson. Diese Menschen in ihrer riesigen, abgekapselten Welt aus Wäldern und Schnee sind anders als wir, eine Rasse für sich.
»Das sind rauhe Barbaren«, war Chancellors Meinung. Trotzdem wurden sie in Moskau herzlich empfangen. Gleich nach ihrer Ankunft wurden sie vor den Zaren gerufen. Wilsons Knie zitterten. Er hatte gehört, daß alle Menschen Sklaven des Zaren seien; nun begriff er den Sinn dieser Worte. Ivan stand am Ende einer großen Halle im Palast des Kreml. Ihm zur Seite hatten sich die Bojaren, gekleidet in schwere, kostbare Kaftane, formiert. Wie groß Ivan war, größer noch durch den hohen pelzbesetzten Hut! Ein blasses, habichtartiges Gesicht; ein kalter, durchdringender Blick. Die Engländer wurden von großer Scheu ergriffen. Das war ganz in Ivans Sinn, denn er wollte diese Kaufleute aus dem fremden fernen Land beeindrucken. Vielleicht konnten sie ihm von Nutzen sein.
Er gab sich liebenswürdig. Man übersetzte ihm das in Latein, Griechisch, Deutsch und anderen Sprachen abgefaßte Empfehlungsschreiben. Daraufhin wurden die Fremden zu einem Fest eingeladen.
Es übertraf alle ihre Vorstellungen. Hundert Gäste saßen an der Tafel. Geschirr und Besteck waren aus purem Gold. Es gab gefüllten Fisch, alle Arten von Braten, exotische Delikatessen wie Elchhirn, Kaviar, Blini. Der Wein wurde in juwelenverzierten Pokalen gereicht. Alles war von verschwenderischer Pracht. Zar Ivan saß in einiger Entfernung von den gewöhnlichen Sterblichen. Das üppige Bankett zog sich über fünf Stunden hin.
Danach führte man die Fremden durch den fürstlichen Palast. Nein, dieses seltsame mächtige Reich hatte nicht seinesgleichen. Den Palast empfand Wilson als prächtig und stillos zugleich. Die Zimmerfluchten erinnerten ihn an Höhlen. Das Mobiliar war nicht zu vergleichen mit dem der englischen Paläste – sehr schlichte Stühle und Bänke, beschlagene Truhen und riesige Öfen. Diese Einfachheit wurde jedoch mehr als ausgeglichen durch kostbare Orientteppiche und üppige Wandbehänge aus Seidenbrokat. Die englischen Kaufleute hatten die Gunst des Zaren errungen, und sie erkannten sehr bald die großen Möglichkeiten dieses Handelsplatzes, auf den sie durch Zufall gestoßen waren: Moskau mit seinen Märkten war ein grandioser Umschlagplatz. Aus dem Osten kamen auf Wolga und Don Baumwolle, Schafe, Gewürze. Jedes Jahr fanden sich Nogaj-Stämme aus der asiatischen Steppe mit ihren Pferdeherden ein. Novgorod lieferte Eisen, Silber, Salz. Andere Städte schickten Leder, Öl, Getreide, Honig und Wachs. »Die Möglichkeiten sind grenzenlos.« Chancellor war begeistert. Obwohl Rußland reich an Rohstoffen war, stellte es außer Waffen keine Waren her. Auf jeden Fall ist das also ein guter Absatzmarkt für Luxusgüter, dachte Wilson.
Die Engländer fanden auch sehr bald heraus, daß die stämmigen, kräftigen russischen Kaufleute im Grunde träge waren. »Sie kennen nichts außer ihrem Land«, meinte Wilson zu Chancellor. »Sie sind wie erwartungsvolle Kinder.«
»Das denke ich auch, aber vergiß nicht, daß zuerst der Zar unser Kunde ist.«
Sie hatten festgestellt, daß der Zar ein Monopol auf die meisten wichtigen Güter, alkoholische Getränke eingeschlossen, besaß. Ausländische Kaufleute mußten sämtliche Waren zuerst ihm anbieten.
»Der Zar will auch Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff haben«, erklärte Chancellor, »und er möchte, daß wir Fachkräfte bringen, darunter auch Leute aus dem Bergbau. Das habe ich ihm bereits zugesagt.«
Wilson machte die Bekanntschaft einiger deutscher Kaufleute, die Aufenthaltserlaubnis in der Stadt hatten. Darunter auch ein Arzt. Warum also wollte der Zar Leute aus dem fernen England, wenn er andere bekommen konnte, die viel näher waren? Einer der Deutschen, der etwas Englisch sprach, erklärte es Wilson. »Vor etwas sechs Jahren wollte ein Deutscher dem Zaren alle möglichen Fachleute bringen. Mit über hundert Männern kam er bis in einen baltischen Hafen. Hätte er sie nach Moskau hereinbringen können, wären sie mit Hilfe des Zaren bestimmt reich geworden.«
»Und warum kamen sie nicht bis hierher?«
»Sie wurden aufgehalten. Von den litauisch-livländischen Behörden in Haft genommen.« Er blickte Wilson ernst an. »Die einflußreichsten Personen standen dahinter.«
»Und warum?«
»Glaubst du denn, mein Freund, daß der Livländische Orden, der viele der baltischen Häfen kontrolliert, ein Interesse daran hat, Ivans Position zu stärken? Denkst du, daß Litauen oder der König von Polen, oder der deutsche Kaiser wollen, daß Rußland stärker wird als ihre Länder?« Er blickte auf dem Marktplatz umher. »Sieh dir diese Leute an«, fuhr er fort. »Sie sind rückständig. Sie haben zwar eine große, aber schlecht ausgebildete Armee. Wenn sie versuchen, sich der baltischen Häfen zu bemächtigen, werden sie von den überlegenen Schweden oder Deutschen sofort zurückgeschlagen. Deshalb ist Zar Ivan auch so froh, daß ihr hier seid. Ihr seid über den äußersten Norden zu uns gekommen. Es ist ein langer, beschwerlicher Weg, aber auf diese Weise kann er das Baltikum umgehen und die Fachleute bekommen, die er braucht.« Was George bei aller Begeisterung beunruhigend fand, war nicht die Gewalt, die Grobheit der Menschen, sondern die Übermacht der orthodoxen Kirche. Überall sah man Priester und Mönche. Wilson war, wie die meisten seiner Landsleute, protestantisch. Diese Leute hier sind Dummköpfe, war seine Ansicht. Doch das dachte er ja von fast allen Menschen.
Als Chancellor im Januar mitteilte, daß er nach ihrer Rückkehr nach England im Frühjahr eine weitere Expedition nach Muscovia leiten werde, beschloß Wilson, sich ihm wieder anzuschließen. Er wollte hier zu Geld kommen. Außerdem hatte der deutsche Kaufmann, ebenfalls Protestant, eine unverheiratete Tochter – und keinen Sohn. Das Mädchen war vielleicht ein bißchen schwerfällig, doch ganz ansehnlich. Wilson fand sie passabel, und er wollte zurückkommen.
In drei Jahren schlugen die russischen Armeen unter Führung Kurbskijs und anderer die Tatarenrevolten bei Kazan nieder. Sie zogen weiter über die östliche Wolga in das Land der Nogajs. Selbst der ferne Tataren-Khan von Westsibirien hinter dem Ural erkannte Ivan als Oberhaupt an. Zweimal wurden große Truppenverbände die Wolga abwärts entsandt, dann durch die Steppe in die verlassenen Länder um Astrachan, und auch diese Stadt wurde genommen. Zar von Kazan und Astrachan – sehr fremd klangen die beiden Titel. In den neu verfaßten Chroniken wurden der Zar und seine Familie verherrlicht. Ivan hätte nun am liebsten den mächtigen KrimKhan geschlagen, doch vorläufig war er dazu nicht imstande. Also versuchte er mit dem sogenannten Livländischen Krieg die Tore seines Binnengefängnisses zu öffnen, seine Nachbarn im Norden zu schrecken, jene reichen Häfen an den baltischen Küsten, die er so dringend benötigte. Zunächst schien er auch Erfolg zu haben. Kein Wunder, daß Elena wenig von ihrem Mann zu sehen bekam. Boris führte das Leben eines Gefolgsmannes – ein hartes Leben. Oft gab es wenig zu essen. Sengende Hitze oder schreckliche Kälte – das war sein Los. Als abgehärteter Mann kehrte er aus Astrachan zurück, brachte bescheidene Beute mit, ein paar Rubel wert, mit denen er einen Teil seiner Schulden tilgte. Seine Beziehung zu Elenas Vater, die nie eng gewesen war, kühlte weiter ab. Der Grund lag nicht im persönlichen Bereich, denn Dmitrij war durchaus erfreut über die Karriere seines Schwiegersohnes, sondern im politischen. Es fing nach Boris' Rückkehr aus Astrachan an. Elena empfand, daß er hochgestimmt war. Während die Armee die Steppe und Wüste an der Wolga unterwarf, hatte Ivan mit seinem engsten Rat einen anderen Sieg an der Heimatfront errungen: die Reform des Reiches.
Wieder einmal war Ivan, in Übereinstimmung mit den Zentralisierungsideen des Zeitalters, entschlossen, die Magnaten und ihre Vasallen zur Strecke zu bringen. Es wurde verfügt, daß alle Landpächter, ob es sich um Dienstgut, pomeste, oder um privat ererbte votschina handelte, dem Zaren bei Aufforderung Militärdienst zu leisten hatten.
»Das wird diese Faulpelze lehren, wer der Herr ist«, äußerte Boris grimmig vor seinem Schwiegervater. »Weißt du, daß die Hälfte der Landpächter in Iver niemandem Dienst taten?«
»Dann erkläre mir«, war die eisige Erwiderung, »was genau der Unterschied zwischen deinem ererbten Besitz und einer einfachen pomeste ist.«
»Es gibt einen rechtlichen Unterschied; praktisch gesehen, da hast du allerdings recht, existiert keiner. Wenn du nicht dienst, nimmt dir der Zar deinen Besitz ab.«
»Und das findest du in Ordnung?«
»Ja. Warum sollte ich dem Zaren nicht dienen? Würdest du es nicht wollen?«
Das war eine hinterhältige Frage, denn Boris wußte sehr wohl, daß die Familie seiner Frau mehrere Besitzungen hatte und derzeit niemand von ihnen Dienst tat.
Dmitrij schwieg.
»Wenn ein Mann dem Zaren nicht dienen will«, fuhr Boris gelassen fort, »muß ich daraus schließen, daß er ein Feind des Zaren ist.«
»Einen solchen Schluß solltest du nicht ziehen, junger Mann«, fuhr Dmitrij auf.
Elena wußte, daß die Situation zwischen ihrem Mann und ihrem Vater die tiefe Kluft widerspiegelte, die zwischen den Zaranhängern und den Angehörigen der alten herrschenden Klasse bestand.
Nach anfänglichen Erfolgen wendete sich das Blatt im Norden. Die baltischen Städte baten Schweden, Litauen, Dänemark um Schutz.
Es sah so aus, als würde dieser Konflikt nie enden.
Im August 1560 starb Anastasia, die geliebte Gemahlin des Zaren, das Licht seines Lebens.
Als Elena dies hörte, wurde ihr schwer ums Herz. Sie ahnte, daß eine Zeit noch größerer Dunkelheit vor ihnen lag.
1566
Oktober. Ein naßkalter, windiger Tag im Städtchen Russka. Eine einzelne Gestalt reitet langsam auf einem Rappen auf das Stadttor zu. Vorn auf dem Sattel sind zwei kleine Embleme angebracht: ein Hundekopf, als Zeichen, daß der Reiter genau beobachtet, und ein Besen, mit dem die Feinde des Herrn weggefegt werden. Der Reiter ist schwarz gekleidet. Stolz blickt er nach allen Seiten, er ist der Herr der ganzen Region. Ein Mönch vor dem Klostertor bringt sich eilends außer Sichtweite. Vor mehr als einem Jahr hat er die Gelübde abgelegt. Der Wortlaut entsprach der Bibel – er schwor, seinen Herrn mehr zu lieben als Eltern oder Geschwister. Er schwor weiterhin, sogleich kundzutun, falls er irgend jemanden des Ungehorsams gegen seinen Herrn, den Zaren, verdächtigte. Die schwarze Gestalt ist mächtig und gefürchtet. Es stimmt, daß der Mann nicht glücklich ist. Er ist auf dem Weg zu seinem Heim, zu seiner Frau. Es ist Boris Bobrov.
Endlich hatte Ivan einen verheerenden Schlag gegen all seine Feinde geführt, der sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Im Dezember 1564 hatte er ohne jede Erklärung mit einem großen Wagentroß Moskau verlassen und war am SanktNikolaus-Tag in einer befestigten Jagdhütte, bekannt als Alexandrovskaja Sloboda, etwa vierzig Meilen nordöstlich der Hauptstadt, eingetroffen. Niemand wußte, was dieser Umzug bedeuten sollte. Im Januar hieß es dann, er habe abgedankt. War das ein politischer Schachzug?
Die Bojaren mußten ihn, aus Furcht vor dem Volk, zurückrufen. Er kam gnädigerweise und nahm den Bojaren und der Kirche den heiligen Eid ab, ihn nach seinem Gutdünken regieren und bestrafen zu lassen, wen immer er wollte. Das war der Beginn des Terrorregimes. Zar Ivan teilte sein Reich in zwei Teile. Den größeren ließ er von Bojaren seines Vertrauens in seinem Namen regieren. Den kleineren verwandelte er in einen weitläufigen Privatbesitz unter seiner persönlichen Herrschaft, und hier durften nur Leute wohnen, die er persönlich ausgesucht hatte. Dieses Personallehen nannte er mit schwarzem Humor opritschnina, den Witwenanteil nach dem Tod des Gemahls. Seine Gefolgsleute, von denen er blinden Gehorsam verlangte, hießen opritschniki; sie gingen stets schwarz gekleidet.
Es war ein Staat im Staat, ein Polizeistaat. Die opritschniki konnten nur vor ihre eigenen Gerichte gestellt werden – tatsächlich standen sie über dem Gesetz. Ein Teil von Moskau gehörte zur opritschnina, ebenso Suzdal und Gebietsteile oberhalb der Oka und südwestlich von Moskau. Der größte Teil lag allerdings oben im Norden, fern von den ehemaligen Fürstenstädten, ein Land eisumschlossener Klöster, mit Pelzhandel, riesigen Salzvorkommen, reichen Händlern aus dem Norden. Die mächtige Familie der Stroganovs wurde sogleich beim Zaren vorstellig, um in diesen Staat im Staate aufgenommen zu werden.
Auf jedem Besitz machten die Untersuchungsbeamten des Zaren Station. Wenn der Grundherr loyal war, konnte er bleiben; wenn er Verbindung zu einem Magnaten oder zu einer der vielen Fürstenfamilien hatte, wurde er mit großer Wahrscheinlichkeit entlassen; wenn er Glück hatte, bekam er lediglich einen schlechteren Besitz.
Auf diese Weise erhielten die opritschniki die frei werdenden Besitzungen, die sie natürlich als Dienst-pomeste führten. Russka lag ebenfalls innerhalb der opritschnina; deshalb befragten nun die Untersuchungsbeamten den jungen Herrn in Sumpfloch. Genau das hatte Boris gewollt.
»Ich diene dem Zaren auf all seinen Feldzügen«, sagte er. »Laßt mich, ich bitte euch, einer der opritschniki sein.« Als er sah, daß sie sich eine Notiz machten, fügte er hinzu: »Vielleicht erinnert der Zar sich meiner. Sagt ihm, daß er eines Morgens in der Dämmerung auf unserem Rückzug von Kazan mit mir gesprochen hat.« Der Beamte lächelte schief. »Wenn das so ist, erinnert der Zar sich an dich.«
Sie prüften alles sorgfältig und konnten keinen Makel an seiner Familie finden. Nur ein Problem gab es.
»Wie steht es mit der Familie deiner Frau?« wurde Boris gefragt. »Dein Schwiegervater hat Freunde in Kreisen, deren Loyalität nicht gesichert ist. Was kannst du über ihn sagen?«
»Was möchtet ihr denn wissen?« fragte Boris leise. Eine Woche darauf wurde Boris nach Moskau gerufen. Dort teilte man ihm nach einer kurzen Unterredung mit, daß er das Land als Dienstgut behalten könne und nun zu den opritschniki gehöre. »Der Zar hat sich deiner erinnert«, sagte man ihm. Boris und Elena saßen beim Essen. Er aß schweigend. Sie saß auf der anderen Seite des schweren Tisches und stocherte im Gemüse. Anscheinend hatte keiner von beiden den Mut, das Gespräch zu beginnen. Die Gerüchte aus Moskau, sollten sie wahr sein, bildeten ein allzu schreckliches Thema.
Einmal fragte er sie leise nach dem Befinden Levs, des Kaufmanns. Er war verantwortlich für das Eintreiben der örtlichen Abgaben und somit ein Angestellter der opritschnina, wie Boris. Sie arbeiteten in allen offiziellen Angelegenheiten miteinander. »Und unsere Tochter?« fragte Elena schließlich. Das Mädchen war Anfang des Jahres an einen jungen Adligen verheiratet worden. Er lebte zwar nicht innerhalb der opritschnina, doch in bescheidenem Wohlstand, und Boris hatte sich von der Loyalität der Familie überzeugt. Elena hatte die Vermutung, daß er froh war, das Mädchen im Alter von nur zwölf Jahren aus dem Haus zu bekommen. Obwohl er freundlich zu seiner Tochter war, wußte Elena, daß Boris einen Sohn anstelle des Mädchens gewünscht hatte. »Es geht ihr gut«, antwortete er kurz. »Ich habe mit ihrem Schwiegervater gesprochen.«
Elena reiste jetzt selten nach Moskau. Obwohl ihre Familie dort war, verspürte sie keine Lust, und Boris ermutigte sie auch nicht dazu. In der Hauptstadt herrschte eine gespannte, mitunter schreckenerregende Atmosphäre. Menschen verschwanden, und es war die Rede von Hinrichtungen. Aus den ehemaligen Fürstenstädten hörte man von Massenbeschlagnahmungen, Großfürsten und Magnaten verloren ihre Ländereien und wurden auf elende kleine Höfe in die ferne Gegend um Kazan verschickt.
»Eine ekelhafte Geschichte«, meinte Elenas Vater, als sie ihn einmal in der Stadt besuchte. »Die meisten der Hingerichteten haben überhaupt nichts verbrochen. Und viele Beschlagnahmungen finden nicht in den Gegenden der opritschnina statt. Dieses Komplott soll uns alle ruinieren.«
In jenem Frühjahr waren zwar einige Exilanten begnadigt worden, doch zwei Metropoliten waren zurückgetreten, oder man hatte sie dazu gezwungen, da sie diesen neuen Terrorstaat nicht hinnehmen wollten.
Und nun die letzten furchtbaren Nachrichten! Boris betrachtete Elena. Sie war im Grunde immer noch das Mädchen, das er geheiratet hatte – leise, ein bißchen nervös, bestrebt zu gefallen –, doch das Leid hatte ihr eine gewisse Würde verliehen, ein Selbstgenügen, das er manchmal bewunderte, dann wieder machte es ihn ärgerlich. War das vielleicht eine heimliche Anklage gegen ihn, wenn nicht sogar Verachtung? Erst als Boris sein Mahl beendet hatte, fragte Elena: »Was ist nun wirklich in Moskau geschehen?«
Es war Ivans eigene Idee gewesen, die große Reichsversammlung, den zemskijsobor, einzuberufen. Nicht, daß sie auch nur im entferntesten repräsentativ gewesen wäre. Es waren nur annähernd vierhundert Männer aus dem niederen Adel, der Geistlichkeit und führende Kaufleute zusammengekommen. Immerhin war es ein bemerkenswertes Zugeständnis an das Volk, daß eine solche Körperschaft überhaupt existierte.
Der Krieg im Norden war kein Erfolg gewesen. Rußland brauchte die baltischen Städte, Polen stellte sich gegen sie, und der Zar brauchte Geld. Die Idee war, daß der zemskijsobor dem Krieg und der massiven Abgabenerhöhung zustimmte und dem Feind zeigte, daß das ganze Land dahinterstand.
Die Reichsversammlung war im Juli zusammengetreten. Sie hatte sich mit allen Vorschlägen des Zaren einverstanden erklärt. Es gab nur ein Hindernis: Die unverschämten Abgeordneten, vom neuen Metropoliten unterstützt, bedrängten Ivan, die opritschnina aufzugeben. Der Zar war wütend.
»Es waren Verräter, und der Zar hat sie entsprechend behandelt«, meinte Boris barsch. »Es gibt immer noch viele von ihnen, viele Kurbskijs, die ausgerottet werden müssen.« Ach ja, Kurbskij, dachte sie. Abgesehen von Anastasias Tod hatte den Zaren sicherlich nichts so tief getroffen wie das Abtrünnigwerden des Fürsten Kurbskij. 1564 war dieser Kommandeur, unter dem auch Boris nach Kazan gezogen war, nach Litauen desertiert. In militärischer Hinsicht war er gar nicht so bedeutend, doch er war Ivans Freund gewesen seit Kindertagen.
»Stimmt es, daß der Zar die ganze Versammlung eingesperrt hat?« fragte Elena. »Nur sechs Tage lang.«
»Wie viele wurden hingerichtet?«
»Nur drei.« Boris' Gesicht war wie versteinert. »Es war ein Komplott, weißt du. Sie haben Verrat geübt.« Boris stand auf. »Es wird keine Versammlungen mehr geben, das sage ich dir!« fügte er mit einem kurzen Auflachen hinzu.
Elena fragte ihn nicht, ob er dabeigewesen war. Sie wollte es gar nicht wissen. Nun ging sie zögernd zu ihm hinüber und legte den Arm um ihn in der Hoffnung, daß ihre Liebe seine Sorgen erleichtern könnte. Aber er wußte, daß in ihrer Liebe auch Mitleid lag, und das konnte er nicht hinnehmen; so wandte er sich schweigend ab. In dieser Nacht schlief er unruhig. Sie hatte sich ihm hingegeben, aber es war nicht genug gewesen. Sie tat so, als schlafe sie. Er lief auf und ab. Morgens blickte er durch das Pergament, das das Fenster abschirmte, in die graue Dämmerung. Er wandte sich um, und als er sah, daß sie wach war, sagte er: »Ich fahre morgen nach Moskau zurück.«
Sie wußte nicht, ob sie ihn abhalten sollte. Sie hatte das Gefühl, versagt zu haben. »Stefans Frau Anne ist krank«, bemerkte sie dumpf. »Ich habe vergessen, es dir zu sagen.«
Immer wenn der Bauer Michail den Blick über seine Familie gleiten ließ, wußte er, daß er gut geplant hatte. Sein ältester Sohn war nun verheiratet und lebte am anderen Ende des Ortes; um ihn machte Michail sich keine Sorgen. Auch seine beiden Jüngsten, ein Sohn und eine Tochter unter zehn Jahren, bereiteten ihm kein Kopfzerbrechen. Aber da war noch Karp, und hier lag das Problem. Er wird zwanzig und ist noch ledig, dachte Michail wehmütig. Was soll ich bloß mit ihm anfangen?
Frauen fanden Karp zweifellos attraktiv; er war schlank, gut gebaut, dunkelhaarig, bewegte sich mit anmutiger Leichtigkeit, und er ritt auf einem Zugpferd, als wäre es ein Schlachtroß. Doch da war etwas in seinem Innern, eine Wildheit und Freiheit, die nicht in die Enge des Dorfes paßten. Einige Mädchen in Russka hatten sich von ihm verführen lassen. Mehrere verheiratete Frauen hatten sich ihm heimlich angeboten. Es machte dem Jungen Spaß, nach hübschen Gesichtern Ausschau zu halten, zu erobern, dann auszuwählen, was ihm gefiel.
Natürlich war Michail auch froh, Karp im Haus zu haben, denn er war eine tüchtige Hilfe. Trotz der schwierigen Umstände und der zusätzlichen Arbeit, die für Boris zu leisten war, erzielten der Bauer und sein Sohn gute Gewinne aus dem Getreideanbau. Außerdem hatten sie eine neue, unerwartete Einnahmequelle entdeckt. Drei Jahre zuvor hatte Michail im nahen Wald ein Bärenjunges gefunden, dessen Mutter von Jägern getötet worden war. Die arme Kreatur war erst einige Wochen alt, und Michail brachte es nicht übers Herz, sie zu töten oder sich selbst zu überlassen; so nahm er den kleinen Bären zur Freude der Dorfbewohner mit nach Hause.
Nur seine Frau war wütend. »Soll ich ihn vielleicht durchfüttern?« schrie sie.
Karp dagegen war begeistert. Er konnte erstaunlich gut mit Tieren umgehen. Als der Bär achtzehn Monate alt war, brachte Karp ihm ein wenig Tanzen und einige Kunststücke bei. Für die Vorstellungen ließ er das Tier von der Kette. Oft warfen die Leute ihm auf dem Markt von Russka Münzen zu. Zweimal war Karp mit dem Bären schon flußaufwärts bis nach Vladimir gezogen und mit einem hübschen Sümmchen zurückgekehrt.
Auf diese und andere Weise hatte Michail ganz behutsam, um weder Eifersucht noch Argwohn zu erregen, Geld beiseite geschafft. Sein Ziel war klar: »Ich möchte genug haben, um mich von dem Herrn Boris freizukaufen.«
Das Leben in Russka würde noch schwieriger werden. Auch sein Vetter Lev, der örtliche Tributeinnehmer, hatte es Michail anvertraut. »Der Zar möchte das übrige Reich tributpflichtig machen und die Ländereien der opritschnina abgeben. Tatsächlich braucht er dringend Geld. Es wird eine harte Zeit werden.« Sicher würde der Bauer auch von Boris noch mehr geschröpft werden. Es war Zeit wegzugehen. »Und wohin gehen wir?« fragte Karp.
»Nach Osten«, meinte der Vater, »in die neuen Länder, wo die Menschen frei sind.«
Im Frühjahr 1567 starb die Frau des Priesters Stefan. Nach den Regeln der orthodoxen Kirche durfte er nicht wieder heiraten, sondern mußte als Mönch in den Orden eintreten. Also gab er sein Häuschen in Russka auf und zog ins Kloster Peter und Paul auf der anderen Flußseite, doch las er weiterhin die Messe in der kleinen Steinkirche in Russka, wo man ihm viel Achtung entgegenbrachte.
Elena vermißte ihren Freund, der ihr so oft Gesellschaft geleistet hatte. Irgendwie tat ihr der Priester auch leid, der nun Mönch war.
In jenem September war es offensichtlich, daß ein neuer Krieg in den baltischen Ländern unmittelbar bevorstand. Boris freute sich darauf. Während des Sommers war er öfters in Russka gewesen und hatte außerdem eine ruhige, glückliche Zeit mit Elena verbracht. Vielleicht würde er doch noch einen Sohn bekommen. Boris hatte auch den Zaren in Alexandrovskaja Sloboda besucht. Es war ein merkwürdiger Ort. Der Hauptsitz des Zaren wurde in vielem wie ein Kloster geführt.
Am ersten Abend in der schwerbewachten Einfriedung wurde Boris in eine Hütte geführt, wo bereits zwei opritschniki schliefen, und eine harte Bank wurde ihm zugewiesen. Lange vor der Morgendämmerung erwachte er durch schrilles Glockengeläut. »Zum Gebet«, murmelten die beiden, »beeile dich!« In der Dunkelheit des großen Hofes nahmen seine beiden Genossen ihn in die Mitte; in der Ferne sah er ein helles Rechteck, das er für die offene Kirchentür hielt. Doch da hörte Boris plötzlich von oben eine harte Stimme. »Zum Gebet, meine sündigen Kinder!« tönte es. »Was ist denn das für ein alberner Mönch?« erkundigte er sich leise. »Halt den Mund, du Idiot! Das ist doch der Zar!« Es war drei Uhr. Die Morgenandacht dauerte bis ins erste Tageslicht. Boris entdeckte den Zaren in der Menge; vielleicht beobachtete der ihn sogar. Nach einiger Zeit bewegte sich die hohe, dunkle Gestalt an ihm vorbei an die Spitze der Mönchskette und blieb dort schweigend stehen, strich sich hin und wieder durch den langen rötlichen Bart, der mit schwarzen Strähnen durchsetzt war. Plötzlich legte Ivan sich auf den Boden und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Stein.
Niemals seit jener Begegnung an der Wolga war Boris dem Zaren so nahe gewesen. Er empfand große Furcht. Das war jedoch nichts gegen seine Gefühle, die er nach der Messe und der Morgenmahlzeit hatte, als er allein vor den Zaren gerufen wurde. Dieser war in einen schwarzen, goldbestickten und pelzbesetzten Kaftan gekleidet. Er hatte die Gestalt und das scharfe Profil noch in Erinnerung, aber wie alt war Ivan geworden! Sein Kopf glich fast einem Totenschädel. Und doch glaubte Boris nach kurzer Zeit wieder den jungen Zaren vor sich zu haben. Da war der gleiche melancholische Charme, und die dunklen Augen hatten noch den gleichen traurigen Ausdruck.
»Es sind viele Jahre vergangen, Boris Davidov, seit wir uns an den Ufern der Wolga begegnet sind.« Boris nickte.
»Und du erinnerst dich noch an unser Gespräch?«
»An jedes Wort, Herr.«
»Ich auch. Und sage mir, Boris Davidov, glaubst du immer noch, was du damals über unser Schicksal gesagt hast?«
»Aber ja, Herr.«
Ivan betrachtete ihn nachdenklich. »Rußlands Schicksalsweg ist hart«, murmelte er. »Der gerade, schmale Weg ist von Dornen gesäumt. Wir, die wir diesen edlen Pfad gehen, Boris, müssen leiden. Es muß Blut vergossen werden. Wir dürfen nicht zurückschrecken. Ist es nicht so?«
Boris nickte. Als er sich die Bedeutung dieser Worte klarmachte, war er zutiefst bewegt.
»Die Pflichten der opritschniki sind oft hart. Deine Frau mag meine opritschniki nicht«, fuhr Ivan fort.
Das war zwar eine Feststellung, doch Ivan schwieg abwartend, und Boris hätte die Möglichkeit gehabt zu widersprechen. Im Grunde drängte es ihn dazu, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. Nach einer Weile nickte Ivan. »Gut. Lüge mich niemals an, Boris Davidov«, sagte er leise. Er wandte sich der Ikone in der Ecke zu und fuhr mit tiefer, trauervoller Stimme fort: »Sie hat recht. Glaubst du, Boris Davidov, der Zar wüßte nicht über seine Untertanen Bescheid? Ein paar dieser Männer sind wie Hunde.« Nun wandte Ivan sich um. »Und Hunde können einen Wolf jagen und töten. Es gibt viele Wölfe zum Töten.«
Ivan schwieg, sein Blick ging wieder zur Ikone. Boris hatte das Gefühl, er sollte gehen, doch davor wollte er noch etwas fragen.
»Darf ich hier bleiben bis zum nächsten Feldzug?« Das war sein sehnlichster Wunsch. Ivan blickte zu ihm zurück. »Nein«, antwortete er leise, »zur Zeit ist es hier ruhig, aber… das ist nicht der richtige Platz für dich.«
Boris zog sich betrübt zurück, und am nächsten Vormittag reiste er ab.
Auf dem Rückweg hob sich seine Stimmung auf wunderbare Weise, als habe sein ganzes Wesen und sein Einsatz in der Sache neuen Aufschwung genommen.
An einem klaren Septembertag begegnete Boris in Moskau dem Engländer, und zwar an der Kremlmauer.
Der Mann stand am Ufer der Neglinaja und blickte neugierig hinüber. Der Blickfang war für George Wilson der Palast, speziell konstruiert für die erhöhte Sicherheit des Zaren. Das Gebäude war ein furchteinflößendes Fort aus rotem Ziegel und anderem Stein, in Schußweite vom Kreml entfernt. Auf der zinnenbekrönten Brustwehr waren bewaffnete Wachen zu sehen. Boris blickte interessiert zu Wilson hinüber. Er hatte schon viel von diesen englischen Kaufleuten gehört, die sich nun in verschiedenen Städten des Nordens aufhielten. Es war ein lästiger Haufen, doch der Zar hielt sie offenbar für nützlich.
Das Leben hatte es gut gemeint mit Wilson. Er heiratete das deutsche Mädchen. Ihr kräftiger junger Körper sagte ihm sehr zu. Sie hatten zwei Kinder, und er war zufrieden mit seinem Leben. Nach wie vor war er ein streitbarer Protestant. Immer trug er einige gedruckte Traktate bei sich, gleichsam zum Schutz gegen die übermächtige Gegenwart der orthodoxen Kirchenmänner mit ihrem Weihrauch und ihren Ikonen. Gelegentlich wurde er von einem dieser Schwarzhemden aufgehalten, die wissen wollten, was es mit diesen Papieren auf sich habe. Dann erklärte er feierlich, das seien Gebete, Buße für seinen schlechten Lebenswandel, und damit gaben sie sich gewöhnlich zufrieden.
Er hatte einige gewinnbringende Transaktionen abgewickelt, doch keine war so lohnend wie jene, die er gerade plante. Leider war sie, genaugenommen, illegal, und zwar nicht von russischer, sondern von englischer Seite her.
Seit Chancellors Rückkehr nach Rußland war der englische Handel als Monopol mit dem Freibrief der Moskauer Kompanie organisiert, und es war eine blühende Angelegenheit. Wilson war in den Handelsniederlassungen zwischen Moskau und den fernen Nordmeeren beschäftigt und hatte im Grunde über nichts zu klagen außer über zwei Dinge: Ivan hatte tatsächlich seine Hand auf einen Teil der baltischen Küste gelegt, insbesondere auf Narva. Außerdem hatte ein listiger Italiener einige Jahre zuvor zugunsten einer Gruppe Antwerpener Kaufleute häßliche Gerüchte über die englischen Kaufleute in Moskau in Umlauf gebracht. Folglich war der englische Handel über das ferne Nordmeer nicht mehr ganz so einfach wie ehemals.
»Wenn ich die Gesetze der Kompanie umgehe und Waren auf eigene Rechnung über Narva schicke, könnte ich hohe Gewinne machen«, sagte Wilson zu seinem Schwiegervater. Er war nicht der einzige Engländer, der seine Geschäfte auf diese Weise abwickelte. Wilson blickte unruhig in die Zukunft. Der Krieg im Norden würde sicher noch andauern. Die letzte Reise des ersten Bevollmächtigten der Moskauer Kompanie fand aufgrund der dringenden Bitte des Zaren statt, ausgebildete Leute und Vorräte für den Krieg im Norden gegen Polen herbeizuschaffen. Sie waren gerade eingetroffen.
Doch es gab noch eine weitere Neuigkeit, die wie ein Lauffeuer durch die englische Gemeinde ging: Den reisenden Abgesandten der Kompanie hatte der Zar eine geheime Nachricht mitgegeben, die unverzüglich die Runde in der verschworenen englischen Gemeinde machte: Der Zar hatte bei Königin Elisabeth von England um Asyl nachgesucht, für den Fall, daß er aus Rußland fliehen mußte. Wilson überlegte, was zu tun sei.
Und da stand nun einer der Schwarzhemden unmittelbar neben ihm. Wilson hatte inzwischen ganz gut Russisch gelernt, was notwendig war in einem Land, in dem niemand eine Fremdsprache beherrschte. Er entschloß sich, die furchteinflößende schwarze Gestalt anzusprechen in der Hoffnung, etwas herauszufinden.
Boris war überrascht von der Anrede durch den Kaufmann, antwortete jedoch höflich. Er war erfreut, daß der Fremde Russisch sprach, und so unterhielten sich die beiden eine Zeitlang. Wilson war auf der Hut. Er machte dem Schwarzhemd gegenüber keinerlei Andeutung, wieviel er selbst wußte. Durch vorsichtiges Fragen fand er zu seiner Beruhigung heraus, daß Boris, der kürzlich im Hauptquartier des Zaren gewesen war, nicht den Eindruck drohenden Unheils hatte. Dieser Engländer wollte einen Posten Pelze, und er wollte ihn unauffällig haben. Boris hatte zwar nicht viele, doch sicher konnte er noch welche bekommen. Welch ein glücklicher Zufall!
»Komm nach Russka«, sagte er. »Keiner von euren englischen Kaufleuten ist je dort gewesen.«
Der Herbst und das Frühjahr danach waren für den Mönch Daniel gleichermaßen geschäftig und unruhig. Er stand nicht mehr so hoch in der Gunst des Abtes. Und dies war seine eigene Schuld. In seinem Eifer, dem Kloster zu Geld zu verhelfen, bedrängte er die Händler in Russka zu sehr. Nichts von ihren Aktivitäten entging ihm, folglich versuchten sie ihn zu betrügen, wo immer es ging. Natürlich waren beide Parteien in gereizter Verfassung, was den Profit des Klosters schmälerte.
Obwohl von Zeit zu Zeit diskrete Hinweise an das Kloster gingen, ließ der Abt, ein älterer Mann, es bei einem halbherzigen Tadel gegenüber Daniel bewenden. Wenn Daniel zur Antwort gab, die Stadtmenschen seien allesamt Schurken, glaubte der alte Mann ihm nur zu gern.
So wäre es endlos weitergegangen, wäre nicht Stefans Frau gestorben und der Priester nicht zwangsweise ins Kloster eingetreten. Es dauerte nicht lange, und die Händler, die Stefan schätzten, baten ihn, zur Verbesserung der Situation die Aufsicht in Russka zu übernehmen.
Der Abt hatte keine Lust, in Aktion zu treten. Er hatte irgendwie Angst vor dem tatkräftigen Mönch. Trotzdem machte er hier und da seine Bemerkungen. »Du hast gute Arbeit in Russka geleistet, Daniel. Eines Tages solltest du dir eine neue Aufgabe suchen.« Es bedurfte nur weniger solcher Hinweise, damit Daniel sich in wahre Arbeitswut hineinsteigerte, was den Abt noch mehr davon abhielt, ihm nahezutreten. Doch war er um so entschlossener, diesen Mönch loszuwerden.
Stefan seinerseits beobachtete die Entwicklung, ohne sie voranzutreiben. Er hatte andere, persönliche Probleme zu lösen; denn immer noch war er der Geistliche in Russka. Die Leute suchten seinen Rat. So war es nur natürlich, daß er weiterhin die Messe im Haus der Bobrovs las und Elena auch häufiger als früher besuchte. Schließlich konnte das seine verstorbene Frau, Elenas ehemalige Freundin, ja nun nicht mehr tun. Elena hat, so dachte er, weiß Gott ein einsames Leben.
Es war tatsächlich so. Im Herbst war sie zweimal in Moskau bei ihrer Mutter gewesen. Das zweitemal hatte die Mutter sie gefragt: »Ist Boris eigentlich noch unser Freund?« Als Elena zögerte, weil sie es selbst nicht wußte, fügte die Mutter rasch hinzu: »Laß nur.« Und nach kurzem Schweigen: »Sag ihm nicht, daß ich dich gefragt habe.«
»Möchtest du, daß ich eine Zeitlang hier bleibe?« fragte Elena. Doch die Mutter wehrte ab. »Im Frühjahr vielleicht«, meinte sie zerstreut. Elena war nicht nur einsam, sondern auch betrübt. Wie hätte sie sich da nicht freuen sollen, wenn der Priester sie besuchte? Schon bald hatte sich zwischen ihnen eine freundschaftliche Beziehung entwickelt, die harmlos war, solange sie sich nicht durch Worte oder Gesten verrieten, daß sie ineinander verliebt waren. Elena bewunderte den hochgewachsenen dunkelbärtigen Priester, der auf die Vierzig zuging. Er war ein feiner Mensch. Sie erlebten die Gefühle derjenigen, die vorher durch Leiden gegangen sind. Er las für sie die Messe. Sie betete. Dann wieder unterhielten sie sich, doch nie über Persönliches.
Welch außerordentliches Glück, dachte Daniel, daß Gott mir die Gabe geschenkt hat, zwei Vorkommnisse zugleich zu beobachten. Auf diese Weise entgingen ihm nicht die beiden hochwichtigen, wenn auch nach außen hin kaum auffälligen Ereignisse an einem Oktobernachmittag auf dem Marktplatz.
Eines betraf den englischen Kaufmann Wilson, der am Abend zuvor mit Boris eingetroffen war. Nachdem sie einige Zeit bei dem Kaufmann Lev verbracht hatten, waren die beiden nach Sumpfloch geritten, und der Mönch hatte sie nicht mehr gesehen, bis er von der Fähre aus den Engländer in angeregtem Gespräch mit Stefan unterwegs sah. Daniel fuhr rasch wieder zurück und folgte ihnen. Sie hatten sich rein zufällig getroffen. Wilson war früher als Boris nach Russka zurückgekommen, und Stefan ging spazieren. Der Priester, neugierig auf einen Engländer, überhäufte Wilson mit Fragen, und der dachte sich, dieser gebildete Bursche werde ihm vielleicht erzählen, was er wissen wollte.
Bald kamen sie auf die Religion zu sprechen. Wilson war anfangs zurückhaltend, doch Stefan ermutigte ihn. »Ich kenne euch Protestanten. Auch unsere Kirche hat eine Reform nötig, obwohl es unklug ist, gerade jetzt davon zu sprechen.« Wilson zeigte dem Priester schließlich eines seiner gedruckten Pamphlete.
Stefan war begeistert. »Sage mir, was darin steht«, bat er. Wilson übersetzte den Inhalt, so gut er konnte.
Es war eine echte Schmähschrift. Die katholischen Mönche wurden darin als Nattern, Blutsauger, Räuber bezeichnet. Die Klöster wurden reich und eingebildet genannt, die Gottesdienste Götzendienst, und in diesem Ton ging es weiter. »Das geht natürlich gegen die Katholiken«, versicherte Wilson.
Doch der Priester lachte nur: »Das geht auch gegen uns.« Ehe sie in die Stadt kamen, hatte Wilson das Papier klugerweise unter seinem Mantel versteckt. Als sie sich am anderen Ende des Marktplatzes voneinander verabschiedeten, steckte Wilson das Blatt Stefan als kleines Zeichen der Freundschaft zu. Was macht es schon? dachte er. Selbst wenn einer lesen kann, versteht er doch kein Wort davon.
Und das beobachtete Daniel. Im gleichen Augenblick fiel ihm auch auf der anderen Seite des Marktplatzes etwas auf. Karp, der Sohn des Bauern Michail, hatte vor ein paar Kaufleuten, die aus Vladimir gekommen waren, um Ikonen zu kaufen, den Bären seine Kunststücke vorführen lassen. Sie hatten ihm Münzen hingeworfen, die Karp aufhob und seinem Vater gab, der neben ihm stand. Das war alles; doch Daniel war der Ausdruck auf den Gesichtern Michails und Karps nicht entgangen. War es eine Art Einverständnis? Ja, aber nicht nur das. Dieser vierschrötige Bauer hat eben ausgesehen wie ein freier Mann, dachte Daniel. Anscheinend scheffelten sie Geld!
Daniel merkte sich die beiden Beobachtungen gut, und er wollte auf alle Fälle noch mehr erfahren.
Im November 1567, als das Heer sich gerade nach Norden über das verschneite Land auf den Weg gemacht hatte, brach Zar Ivan plötzlich seinen erneuten Feldzug gegen die baltische Region ab und eilte zurück nach Moskau. Boris kam mit der restlichen Armee zurück.
Ein neues Komplott war aufgedeckt worden. Die Verschwörer hatten gehofft, mit der stillschweigenden Duldung des polnischen Königs den Zaren im kalten Norden töten zu können. Viele Namen waren registriert, doch um wie viele mehr mochten an dem geplanten Anschlag beteiligt gewesen sein?
Im Dezember machten die opritschniki sich ans Werk. Mit Äxten unter den Umhängen und mit Namenslisten nahmen sie Hausdurchsuchungen vor. Viele Menschen kamen auf grausame Art ums Leben. Wer Glück hatte, wurde in die Verbannung geschickt. Am Ende der zweiten Dezemberwoche drang eine Gruppe der opritschniki in das Haus des Edelmanns Dmitrij Ivanov ein. Sein Schwiegersohn Boris gehörte nicht zu ihnen. Sie brachten ihn in eine Waffenkammer des Kreml. Dort war schon eine große eiserne Pfanne aufs Feuer gestellt. Darin wurde er zu Tode gequält. Von seinem Tod erfuhr der Zar durch einen Geheimbericht. Die in dem Schreiben erwähnten Namen der über dreitausend anderen, die in den kommenden Monaten starben, seither als »die Synodalen« bekannt, sind der Vergessenheit anheimgefallen – sie durften nie wieder erwähnt werden.
Gleichzeitig wurden alle Klöster im Land aufgefordert, ihre Chroniken dem Zaren zur Durchsicht vorzulegen. Auf diese Weise stellte Ivan sicher, daß keinerlei Berichte über diese furchtbaren Jahre existierten.
Der Mönch Daniel war voller Zuversicht. Gott sei Dank hatte ein Mönch anderthalb Jahrhunderte zuvor die gute Idee gehabt, eine Chronik zu verfassen, und sie enthielt wohl nichts, was den Zaren hätte stören können. Zur Feier der Siege Ivans über die moslemischen Khanate von Kazan und Astrachan fünf Jahre zuvor hatte das Kloster unter den Kreuzen auf den Kirchenkuppeln in Russka Mondsicheln zum Zeichen des Triumphs der christlichen Armeen über den Islam angebracht. Unsere Loyalität kann nicht angezweifelt werden, dachte Daniel zufrieden.
Der alte Abt war so verzweifelt über die neue Säuberungsaktion in Moskau, daß er kaum in der Lage war, seinen Geschäften ordnungsgemäß nachzugehen, und das Problem der Verwaltung in Russka hatte er völlig vergessen.
So griff Daniel im Frühjahr erneut die Frage auf, wie der Klosterbesitz erweitert werden könne.
Boris' Land, das nun zur opritschnina gehörte, kam natürlich nicht mehr in Frage. Es blieb noch ein anderer Landstreifen etwas nördlicher, der jetzt dem Zaren selbst gehörte. Ob er sich wohl überreden ließ?
Die Idee war gar nicht so abwegig. Trotz der Beschränkung kirchlicher Landnahmen war Ivan selbst immer noch ein großzügiger Stifter.
»Er vernichtet seine Feinde, dann läßt er zur Rettung seiner Seele der Kirche etwas mehr zukommen«, war die zynische Bemerkung eines Mönches.
Mit diesen Gedanken begab Daniel, der Mönch, sich zu dem Bruder, der die Chronik in Verwahrung hatte, und machte sich an die Arbeit. In dem von ihnen verfaßten Dokument, das sie im Februar von dem nervösen Abt unterzeichnen ließen, wurde der Zar an die vielen der Kirche bis dahin selbst unter den Tataren zugeteilten Privilegien erinnert. Es deutete auf die Loyalität des Klosters und die Unantastbarkeit seiner Chroniken hin. Und darin wurde um das so dringend benötigte Land gebeten.
Bevor es abgesandt wurde, zeigte der etwas unschlüssige Abt es Stefan. Der las es, lächelte und sagte kein Wort dazu. Am Morgen des 22. März 1568 ereignete sich in der Kathedrale Mariä Himmelfahrt in Moskau ein schrecklicher Zwischenfall. Der Metropolit Philipp wandte sich während der Eucharistiefeier plötzlich um und rügte in Anwesenheit einer großen Gemeinde von Bojaren und opritschniki den Zaren wegen des Mordes an Unschuldigen während der letzten Säuberungsaktion. »Es sind Märtyrer«, verkündete er.
Die Bojaren erbebten angesichts solcher moralischer Unerschrockenheit.
»Ihr werdet mich kennenlernen«, erwiderte der Zar. Kurz darauf nahm der Metropolit Zuflucht in ein Kloster. Ivan ließ Personen aus dem Umkreis des tapferen Kirchenmannes hinrichten.
Zu allem Unglück erhielt einen Tag nach diesem Vorkommnis der Zar die Bitte um Land vom Kloster in Russka. Ivan antwortete umgehend, und zwar auf bedrohliche Weise. Weder Daniel noch der verstörte Abt wußten, was sie tun sollten.
Als der Sankt-Georgs-Tag kam, waren Michail, seine Frau, sein Sohn Karp, die beiden Jüngeren und Mischa, der Bär, zur Abreise bereit. Das nötige Geld hielt der Bauer in der Hand. Im Gegensatz zu vielen anderen Bauern in der Gegend hatte er keine Schulden; die waren unauffällig im vergangenen Monat bezahlt worden. Er hatte ein gutes Pferd und außerdem Tagesgeld. Er war ein freier Mann und konnte gehen.
Sein Plan war einfach. Sie würden über Land, durch die Wälder, nach Murom gehen. Dort würden sie wahrscheinlich bis zum Frühjahr bleiben und dann ein Boot die Oka hinauf nach Niznij Novgorod nehmen; weiter könnten sie per Schiff nach Osten zur mächtigen Wolga gelangen, in die neuen Länder, wo die Siedler frei lebten. Doch obwohl alles gepackt war, blieb die Familie. Eine Woche lang saßen sie in ihrem Häuschen und warteten. Jeden Tag gingen Michail oder Karp nach Russka hinein, und sie kamen jedesmal niedergeschlagen zurück. Auch an diesem Tag.
»Nun?« fragte der Vater, Karp schüttelte den Kopf. »Nichts. Keine Spur. Verfluchte Schwindler!« schrie er.
»Vielleicht morgen«, bemerkte die Mutter, aber es klang nicht überzeugt.
Michail wußte, daß man ihn betrogen hatte. Die Kündigungsgesetze auf Boris' Besitz waren klar. Der Bauer mußte schuldenfrei sein und die übliche Frist um den SanktGeorgs-Tag einhalten, außerdem seine Austrittsgebühren entrichten. Es gab allerdings noch einen Haken: Der Herr oder sein Verwalter mußten persönlich die Kündigung und die entsprechende Summe in Empfang nehmen.
Einige Tage vor dem festgesetzten Datum waren Boris und seine Frau plötzlich nach Moskau gereist. Michail war einmal nach Russka gegangen, um den Verwalter aufzusuchen. Er war blaß vor Schreck zurückgekehrt: Auch der alte Mann war mit seiner Frau auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Sie hatten das Städtchen nie vorher verlassen. Auch in den folgenden Tagen ließen sie sich nicht blicken.
»Denkt bloß nicht, sie hätten die Gegend verlassen!« sagte Karp wütend. »Dieser Verwalter versteckt sich irgendwo in der Nähe, und wenn wir weggehen, ohne zu bezahlen, taucht er plötzlich mit ein paar Männern auf. Ich wette, wir werden jeden Moment beobachtet.«
Damit hatte Karp recht. Allerdings konnten sie nicht wissen, daß der Mönch Daniel, Michails Vetter, hinter alldem steckte. Denn nach der alarmierenden Antwort des Zaren stand es für Daniel fest, daß das Kloster, und er insbesondere, Freunde allerorten brauchten. Die erste Wahl fiel natürlicherweise auf Boris, einen Gefolgsmann des Zaren. Der listige Mönch hatte bald herausgefunden, daß Michail seine Schulden heimlich abbezahlte. Eines Morgens hatte er Boris persönlich aufgesucht und ihn darauf hingewiesen, daß einer seiner besten Bauern plante wegzugehen. Er hatte ihm auch gesagt, wie er das verhindern könne. Boris war entsprechend dankbar.
So ging der Sankt-Georgs-Tag vorbei, auch der nächste und der folgende. Am Morgen des siebten Tages stellte Michail mit Entsetzen fest, daß Karp und das Pferd verschwunden waren. Auf dem Tisch lag ein Häufchen Münzen.
Drei Tage danach kam ein Mann aus einem nahegelegenen Dorf mit einer Nachricht: »Karp kam an einem Morgen durch unser Dorf geritten. Er sagte, er habe Geld für das Pferd dagelassen. Es tue ihm leid, daß es nicht mehr sei.«
Michail nickte. »Sagte er, wohin er reiten würde?«
»Ja. Aufs wilde Feld.«
Das wilde Feld. Die offene Steppe. Das Land, wo in vergangenen Jahren junge aufsässige Burschen wie Karp sich jenen Banden, zur Hälfte Banditen, zur Hälfte Krieger, angeschlossen hatten, die sich Kosaken nannten.
»Er sagte, ihr möchtet euch um den Bären kümmern«, sagte der Mann abschließend.
Später an jenem Tag traf eine weitere entsetzliche Neuigkeit in Russka ein: Die Männer des Zaren hatten den Metropoliten verschleppt.
Elena glaubte fest daran, daß ihr noch ein Sohn geschenkt werde, und Stefan ermutigte sie. Wenn sie auch nie ein Wort über Boris verloren hatte, der Priester konnte sich ihr Leben doch gut vorstellen. Je länger er sie kannte, desto mehr Mitleid hatte er mit ihr.
»Wir werden von Gott nicht dafür belohnt, daß wir unser persönliches Glück suchen, sondern dafür, daß wir uns selbst verleugnen«, erklärte er ihr. »Wir müssen vergeben, wir müssen erdulden, und vor allem müssen wir glauben.«
Elena glaubte. Sie glaubte schließlich auch daran, daß Gott ihr einen Sohn schenken und ihr Mann eines Tages einen anderen Weg einschlagen werde.
Nachdem ihr Vater verschwunden war, hatte Elena eine Zeitlang gehofft, er sei noch am Leben, doch Boris, der die Untersuchungen leitete, erzählte ihr, daß er hingerichtet worden sei. Auf welch grausame Weise, sagte er nicht. Sie sah aber, daß er unter seinem Wissen litt.
Das Frühjahr 1569 brachte kaltes Wetter und ließ erneut eine schlechte Ernte befürchten. Aus der baltischen Region kam die Nachricht, der Feind habe eine befestigte Stadt in seine Gewalt gebracht. Jedermann wirkte bedrückt.
Anfang Juni hatte Daniel erneut eine Unterredung mit Boris. Daniel war beunruhigt. In Russka sah es nicht gut aus. Die Ereignisse der vergangenen Jahre, die steigenden Abgaben für den Krieg im Norden, das Auseinanderbrechen der opritschnina und die Beschlagnahme von Grund und Boden hatten der russischen Wirtschaft sehr geschadet. Dies bewirkte, zusammen mit der Mißernte, eine empfindliche Rezession. Die Staatseinnahmen gingen drastisch zurück. Etwas mußte geschehen.
Da war noch die Geschichte mit dem Zaren im vergangenen Frühling. Die hatte Daniels Ansehen auch nicht gehoben. Ivan hatte der Bitte um Landvergabe weder entsprochen noch sie abgelehnt, sondern eine ebenso merkwürdige wie beschämende Antwort gesandt. Land so groß wie eine Ochsenhaut wolle er ihnen überlassen – nicht mehr und nicht weniger. Der junge Bote war ein Schwarzhemd. Offenbar den Anweisungen des Zaren folgend, warf er dem alten Abt die Tierhaut höhnisch vor die Füße und schrie: »Der Zar läßt dir bestellen: Lege diese Haut auf den Boden, und das Stück Land darunter wird er dir geben.«
»Ist das alles?« fragte der erschrockene Abt. »Nein. Der Zar hat versprochen, dich aufzusuchen, dir das Land zu geben, das du ausgewählt hast, und auch sonst alles, was du verdienst.«
»Du, Daniel, hast dies alles über uns gebracht«, sagte der Abt betrübt, nachdem der Bote gegangen war. »Und diese Haut«, seufzte er, »werden wir wohl behalten müssen.« Seitdem wurde sie im Zimmer des Abts aufbewahrt.
Als erstes wollte Daniel nun Stefan in seine Schranken weisen. »Ich finde, du solltest wissen, daß der Priester mehr Zeit in deinem Haus verbringt, seit seine Frau tot ist«, erzählte er Boris und fügte hinzu: »Du hast mir einmal erzählt, daß er ein Häretiker sei. Ich habe gesehen, wie er ein Stück Papier von einem Engländer bekommen hat, den du hergebracht hast. Die Engländer sind alle Protestanten, habe ich gehört.«
Boris sagte kein Wort, doch Daniel war überzeugt, daß er sein Ziel bei ihm erreicht hatte.
Für Boris war es insgesamt ein Jahr übler Vorzeichen. Es gab Zweifel an der Loyalität der nördlichen Städte Novgorod und Pskov. Weit im Süden, auf der Krim, bereiteten die osmanischen Türken mit den Krim-Tataren angeblich eine Offensive gegen die unteren Wolga-Regionen vor. Und nun kam die Nachricht im Sommer, daß die beiden Mächte Polen und Litauen formell zu einem Königreich unter Regierung eines katholischen polnischen Königs verbunden wurden.
»Das bedeutet, daß wir Katholiken von Kiev bis Smolensk haben, also direkt vor unserer Haustür.«
Und jetzt mußte er auch noch argwöhnen, daß seine Frau ihn mit dem Priester hinterging. Er brütete stundenlang darüber. Teils verspürte er Wut, teils Abscheu gegenüber dem ketzerischen Priester, den er noch nie hatte leiden können. Und auch gegen seine Frau fühlte er Aggressionen. Falls aber Daniel gedacht hatte, daß es auf diese Weise ein leichtes sei, Stefan in Ungnade fallen zu lassen, hatte er sich getäuscht. Boris beschloß, vorerst nichts zu unternehmen. Allerdings wollte er die beiden heimlich beobachten lassen. Aus gutem Grund: Wenn wirklich nachzuweisen war, daß Elena ihm untreu war, konnte er sich guten Gewissens von ihr scheiden lassen.
Man muß ja nur den Zaren ansehen, dachte Boris. Er hat wieder geheiratet und hat Söhne aus beiden Ehen. Der Zar hatte einen Erben. Vielleicht, daß auch er – mit einer anderen Ehefrau, die sich ihm nicht entzog…
Elena hatte keine Ahnung, was in Boris' Kopf vorging. Der Gedanke an ihre mögliche Untreue verletzte ihn, und doch wurde sie dadurch wieder begehrenswerter. Elena dachte nur, daß er seine düsteren Stimmungen habe, daß sie ihm aber noch immer nicht gleichgültig sei. Die Ernte war vernichtet. An einem außergewöhnlich schwülen Julinachmittag ritt Boris von Sumpfloch nach Russka zurück. Er war auf den Feldern gewesen. Als er auf den staubigen kleinen Platz kam, sah er Stefan, den Priester, langsam die Treppe seines Hauses herunterkommen. Er mußte bei Elena gewesen sein. Boris' Herz setzte einen Augenblick lang aus. Stefan entfernte sich, in Gedanken versunken. Leise ging Boris hinauf und öffnete die Tür.
Elena stand am offenen Fenster und blickte hinaus. Ihre Finger lagen am hölzernen Fensterrahmen. Sie trug ein einfaches hellblaues Seidenkleid und sah sehr mädchenhaft aus. Sein Herz klopfte, doch er atmete ruhig. Sie blickte immer noch hinter dem Mann her. Nach einer Minute wandte sie sich um. Ihr Gesicht wirkte sehr ruhig, doch sie war überrascht, ihn da stehen zu sehen. Und als er sie wortlos anstarrte, errötete sie ein wenig. »Ich habe dich nicht hereinkommen hören.«
»Ich weiß.« Hatten sie Zärtlichkeiten ausgetauscht? Er suchte nach einem Hinweis. War da nicht ein Strahlen in ihren Augen? War ihr Kleid zerdrückt? Unordnung im Zimmer? Er konnte nichts entdecken. Dennoch sagte er: »Du liebst ihn.« Sie errötete tief, schluckte, sah sehr unglücklich aus. »Nein. Nicht als Mann. Nur als Priester.«
»Ist er denn kein Mann?«
»Natürlich. Ein feiner Mann, ein frommer Mann«, widersprach sie. »Ihr seid zärtlich miteinander.«
»Nein. Niemals!«
»Lügnerin!«
»Niemals!«
Das bedeutete wohl, daß sie es sich gewünscht hätte. Seine Vernunft sagte ihm, daß sie es nicht getan hatte, doch sein Stolz verbot ihm, ihr zu trauen.
Sie war jetzt blaß, sie zitterte, hatte Angst. »Niemals! Du beleidigst mich.« Da sah Boris plötzlich etwas wie Verachtung, Zorn in ihren Augen, etwas, das er nie zuvor gesehen hatte. Er machte einen Schritt auf sie zu und schlug ihr so heftig ins Gesicht, daß ihr Kopf nach hinten zuckte. Sie schrie auf. Er schlug sie mit der anderen Hand. »Du brutaler Kerl!« schrie sie. »Mörder!«
Er schlug sie wieder und wieder. Dann vergewaltigte er sie. Am nächsten Morgen ritt er nach Moskau.
Im September 1569 starb die zweite Gemahlin des Zaren. Einen Monat später wurde Fürst Vladimir, Ivans Vetter und weiterhin Thronanwärter, der Verschwörung angeklagt und gezwungen, Gift zu trinken. Anschließend wurde die ganze Familie des unseligen Fürsten umgebracht.
Ende des Jahres deckte Ivan eine weitere Verschwörung auf. Er bekam die Nachricht, daß Novgorod und Pskov planten, sich abzutrennen.
Daran mag etwas Wahres gewesen sein. Bis heute sind die Umstände nicht geklärt. Diese einst unabhängigen Zentren nahe den baltischen Häfen sahen sicher die Möglichkeit, der steigenden Besteuerung und der Tyrannei seitens des Moskauer Reiches zu entkommen, indem sie sich dem neu gebildeten Staatenbund von Polen und Litauen anschlossen. Ende 1569 machte Ivan der Schreckliche, begleitet von einem großen Verband der opritschniki, sich in aller Heimlichkeit nach Novgorod auf. Selbst der Kommandeur der Vorhut kannte das Ziel nicht. Ivan legte größten Wert darauf, daß die Städte ahnungslos blieben.
Im Januar wurde Novgorod von seinem Schicksal ereilt. Wie viele Menschen durch Folter, Verbrennung und Hinrichtung umkamen, steht nicht fest, doch sicher geht die Zahl in die Tausende. Novgorod wurde bis auf die Grundmauern zerstört und hat sich nie wieder erholt. Nachdem die meisten der hochstehenden Bürger bereits auf der Straße umgebracht worden waren, ließ Ivan vierzig Personen in Pskov hinrichten und einige Priester an Pfählen verbrennen. Dann kehrte er nach Alexandrovskaja Sloboda zurück. In Russka brachte Elena einen Sohn zur Welt. Da Boris noch nicht von der Strafexpedition nach Novgorod zurückgekehrt war, mußten sie und Stefan, der Priester, den Namen auswählen. Das Kind wurde auf den Namen Fedor getauft. Der Priester sandte Boris einen Brief.
Der Mönch Daniel war noch immer mit der Erwerbung von Gütern für das Kloster beschäftigt; und im April 1570 kam ihm eine Erleuchtung. Es ging um die Ochsenhaut, die der Zar geschickt hatte. Die Idee war so schlau und kühn zugleich, daß sie noch heute als »Daniels List« und als das Sprichwort »Das geht auf keine Kuhhaut« bekannt ist.
1571
Der Schnee auf dem Marktplatz in Russka war längst festgestampft. Die wenigen Verkaufsstände wurde soeben geschlossen. Der kurze Tag neigte sich dem Ende zu.
Boris blickte finster drein, als er Michail und seine Familie neben dem verglühenden Feuer mitten auf dem Platz stehen sah. Michail starrte Boris ohne Hoffnung an.
Es war noch eine Woche bis zur Fastenzeit. Doch eigentlich war die ganze Zeit Fastenzeit – es hatte zum drittenmal hintereinander eine Mißernte gegeben. An diesem Morgen hatte Boris gesehen, daß eine Familie gemahlene Birkenrinde aß.
Das Kloster half nach Kräften, aber auch seine Vorräte schmolzen. In den nördlichen Regionen hatte es eine Seuche gegeben. Zwei Familien waren aus Sumpfloch weggezogen; in anderen Orten waren es mehr gewesen.
Wohin mochten sie ziehen? Wahrscheinlich nach Osten, in die neuen Länder an der Wolga. Doch wie viele von ihnen würden in dem harten, eisigen Winter ans Ziel gelangen? Michail und seine verfluchte Familie! Boris ahnte, wie sehr sie ihn hassen mochten. Seit Karps Flucht mit dem Pferd war es mit der Familie immerzu bergab gegangen. Sie hatten ein neues Pferd gekauft, und sie kamen auch irgendwie durch die zweite schlechte Ernte, aber sie mußten dafür ihre versteckten Geldreserven angreifen. Von Loskauf war keine Rede mehr.
Da sprach der Bauer seinen Herrn an. »Gib eine Kopeke, Boris Davidov! Wenigstens für den Bären.«
Boris hörte die Bitterkeit aus den Worten. Laß meine Kinder verhungern, aber hab Mitleid mit dem Tier – so hieß das. »Verdammter Bär!« sagte Boris und ging weiter.
Der Bär war so abgemagert wie die Menschen. Erbärmlich stand er da in seinen Ketten. Warum, in aller Welt, töteten sie ihn nicht? Boris war gerade von dem hohen grauen Wachturm über dem Tor heruntergekommen, den er in letzter Zeit täglich bestiegen hatte. Von dort oben sah er aus dem Ostfenster über die weite Ebene und hing seinen Gedanken nach. Es schien, als wäre Russka von der winterlichen Dunkelheit verschluckt worden. Alles war grau. In der Ferne lag das große Feld bei Sumpfloch wie ein riesiges Grab. Boris dachte über seine eigene Familie nach, vor allem über das Kind Fedor. War er wirklich sein Sohn? Seit langem zerbrach er sich den Kopf darüber. Möglich war es durchaus. Vielleicht hatte Elena an jenem Nachmittag empfangen, als er sie geschlagen und danach vergewaltigt hatte. Aber vielleicht war auch der Priester kurz davor oder danach mit ihr zusammengewesen.
Darum kreisten seine Gedanken wieder und wieder. Von der Geburt des Kindes hatte er nicht durch seine Frau, sondern durch den Priester erfahren. Stefan hatte wohl auch den Namen des Kindes bestimmt. Es war überdies der Name von Elenas Bruder, den er gehaßt hatte. Bei seiner Rückkehr hatte Boris sich das Kind sehr genau angesehen. Aber Boris sah keinerlei Ähnlichkeit mit irgend jemandem.
Unterdessen beobachtete er die beiden. Der Priester hatte ihm freundlich gratuliert, seine Frau hatte dem Priester leicht zugelächelt, der wie ein Beschützer neben ihr stand. War da doch eine engere Verbindung? Im Dezember war Fedor neun Monate alt geworden, und Boris kam zu dem Schluß, daß er mehr und mehr dem Priester glich. Nein, der kleine Kerl, der da auf dem hölzernen Fußboden umherkroch und ihn manchmal anlächelte, war nicht sein Sohn. Boris hatte aber noch nicht beschlossen, was er unternehmen würde. Er kam soeben vom Wachturm zurück und befand sich auf der Höhe der Kirche, als er ein Rufen vom Tor her hörte. Der Mönch Daniel sah sie zuerst: Zwei große Schlitten flitzten von Norden her den Fluß herunter. Jeder wurde von drei herrlichen Rappen gezogen. Sie fuhren über das Ufer genau auf die Klosterpforte zu. Erst aus der Nähe sah Daniel, daß die Männer in den Schlitten ganz in Schwarz gekleidet waren, und schließlich entdeckte er, daß es sich bei der hohen mageren Gestalt, die, in Pelze gehüllt, im ersten Schlitten saß, um Ivan handelte. Erschrocken bekreuzigte er sich und fiel auf die Knie.
Wie üblich war der Zar von Alexandrovskaja Sloboda ohne Ankündigung gekommen. Sie fuhren in den Klosterhof, und die Mönche sahen erstaunt, wie Ivan ausstieg und langsam aufs Refektorium zuging. Er trug einen hohen kegelförmigen Pelzhut, und in der Rechten hielt er einen langen Stab mit einem goldsilbernen Knopf und einer Spitze, die tiefe Löcher in den Schnee bohrte. »Ruft euren Abt«, tönte die tiefe Stimme über den eisigen Hof. »Sagt ihm, der Zar sei hier.« Die Mönche zitterten, als sie dies hörten. Kaum fünf Minuten später waren sie alle im Refektorium versammelt. Vorn stand der Abt vor den achtzig Mönchen, darunter auch Daniel. Die zwölf opritschniki hatten sich an der Tür postiert; der Zar saß auf einem schweren Eichenstuhl und blickte die Mönche düster an. Nach kurzem Schweigen fragte er sehr ruhig: »Und mein treuer Diener Boris Davidov Bobrov – wo ist er?«
»Oben in Russka«, antwortete einer. »Holt ihn!« lautete der Befehl.
Einer der opritschniki verschwand. Nach langem Schweigen heftete der Zar seinen durchdringenden Blick auf den Abt. »Man hat dir eine Ochsenhaut geschickt. Wo ist sie?«
Die Furcht des alten Abts konnte nicht größer sein als jene, die Daniel überkam. Wie er da Angesicht zu Angesicht vor dem Zaren stand, erschien ihm der einst so kühne Plan plötzlich erbärmlich, ja geradewegs ungehörig. Eiseskälte stieg in ihm auf. »Bruder Daniel wurde damit beauftragt«, hörte er den Abt antworten. »Er kann dir erklären, was er damit gemacht hat.« Daniel fühlte die Augen des Zaren auf sich ruhen. »Wo ist meine Ochsenhaut, Bruder Daniel?«
»Wie du uns gestattet hast, Gosudar, haben wir damit ein Stück Land markiert, das, wenn Deine Majestät die Gnade hat, deinem treuen Kloster zugesprochen wird.« Ivan starrte ihn an. »Mehr wollt ihr nicht?«
»Nein, großer Herr, das ist genug.«
Der Zar erhob sich; er überragte alle anderen. »Laßt mich sehen!«
Die Idee war genial. Schließlich hatte die Anordnung des Zaren gelautet, das Stück Land mit der Ochsenhaut einzugrenzen. Warum also sollte man sie nicht in Streifen schneiden? Besser noch: Warum die Streifen nicht nochmals auseinanderschneiden? Oder noch besser…
Zu Ende des Sommers hatte Daniel sich mit den Mönchen an die Arbeit gemacht. Mit spitzen Kämmen und scharfen Messern trennten sie tagelang die Haut so auseinander, daß schließlich nur noch eine lange Faser übrigblieb. Diese wurde sorgfältig auf eine hölzerne Rolle gewickelt, und beim Abwickeln konnten damit ohne weiteres mehr als vierzig Hektar abgemessen werden. Daniel hatte das Areal am SanktNikolaus-Tag mit Pfählen abgesteckt. Nun stapfte er, die Rolle in der Hand, gefolgt von Ivan, dem Abt und den opritschniki, zur besagten Stelle. Soeben begann er, die Lederfaser abzurollen, als er Ivans Stimme vernahm: »Genug! Komm her!«
Das war es also. Das bedeutete wohl sein Todesurteil. Als Daniel vor dem Zaren stand, faßte dieser ihn beim Bart. »Ein schlauer Mönch«, sagte er nicht unfreundlich. Er lächelte dem Abt zu. »Der Zar hält sein Wort. Ihr sollt das Land haben.« Unter inbrünstigen Gebeten verneigten sich die beiden Mönche tief.
»Ich bleibe heute nacht hier«, fuhr Ivan fort. »Und wenn ich abreise, werdet ihr mich von einer anderen Seite kennen.« Er wandte sich um. Er lächelte, als er über den Schnee eine schwarzgekleidete Gestalt herbeieilen sah. »Ach, da kommt er ja«, rief er, »ein treuer Diener. Boris Davidov, du wirst diesen schlauen Mönchen helfen, mich wirklich kennenzulernen.« Dann wandte er sich an den Abt: »Kommt, es wird Zeit für die Vesper.«
Draußen war es bereits dunkel, als die zitternden Mönche inmitten des Glanzes aller Kerzen, die sie hatten auftreiben können, die Vespergesänge anstimmten. Vor ihnen stand Zar Ivan, angetan mit dem golddurchwirkten Ornat für die höchsten Feiertage, und dirigierte mit seinem Stab. Um seine Lippen lag ein merkwürdig hartes Lächeln.
Nach dem Gottesdienst zogen sich die Mönche in ihre Zellen zurück, und Ivan begab sich ins Refektorium, wohin er Essen und Getränke für sich, Boris und die übrigen opritschniki bringen ließ. Er schickte auch nach dem Abt und nach Daniel. Voller Furcht kamen sie und mußten neben der Tür stehenbleiben. Daniel erkannte, daß Seltsames im Zaren vorging, als er sich zum Mahle setzte. Da war etwas Drohendes in seinen Augen. Sie waren blutunterlaufen und sahen in die Ferne, so als befinde er sich in einer anderen Welt.
Man hatte ihm den besten Wein kredenzt und alles Eßbare, was aufzutreiben war. Eine Zeitlang aß und trank er, in Gedanken versunken; die opritschniki neben ihm kosteten alles vor, um sicherzugehen, daß nichts vergiftet war. Die übrigen Schwarzhemden aßen schweigend, auch Boris, der dem Zaren gegenübersaß. Nach einer Weile blickte Ivan auf. »Nun, Abt, du hast mich um mehr als vierzig Hektar guten Landes gebracht«, sagte er gefährlich ruhig. »Du und dieser behaarte Kerl neben dir«, fuhr Ivan fort. »Ihr sollt wissen, daß der Zar gibt und nimmt.« Verächtlich blickte er sie an. »Auf meinem Weg hierher war ich hungrig«, sprach er weiter, »und doch fand ich in den Wäldern kein Wild. Warum nicht?«
»Es gab wenig Wild diesen Winter. Die Leute haben Hunger…«
»Ihr bezahlt eine Strafe von hundert Rubel«, sagte Ivan leise. Dann wandte er sich an Boris. »Gibt es denn hier keine Unterhaltung, Boris Davidov?«
»Da ist ein Bursche mit einem Tanzbären«, meinte Boris zögernd, »aber er ist nicht besonders gut.«
»Ein Bär?« Die Miene des Zaren hellte sich auf. »Das ist gut. Nimm einen Schlitten und bringe die beiden her, Boris Davidov.« Boris wollte schon gehen, als der Zar rief: »Halt! Nimm zwei Schlitten. Meinen und noch einen. Setze den Bären in meinen Schlitten, ziehe ihm meine Pelze an und setze ihm den Zarenhut auf.« Damit warf Ivan Boris seinen hohen Hut zu. »Der Zar aller Bären statte dem Zaren aller Russen einen Besuch ab.« Er brach in schallendes Gelächter aus, und die opritschniki knallten fröhlich grölend ihre Teller auf den Tisch. »Und nun«, wandte Ivan sich an den Abt, und mit einemmal war alle Heiterkeit aus dem Gesicht des Zaren verschwunden, »sag diesem Gauner neben dir, daß er mir einen Topf voller Flöhe bringen soll.«
»Flöhe, Herr?« wiederholte der Abt unsicher. »Wir haben keine Flöhe.«
»Einen Topf mit Flöhen, sage ich!« Der Zar stand plötzlich auf und stieß seinen Stock heftig auf den Boden. »Flöhe!« brüllte er. »Es ist Verrat, den Befehlen des Zaren nicht zu gehorchen. Flöhe! Siebentausend – und keinen weniger!«
Es gehörte zu Ivans liebsten Praktiken, Unmögliches als selbstverständlich zu verlangen. Der Abt wußte nicht, daß der Zar diesen Befehl schon früher gegeben hatte, und zitterte am ganzen Körper. »Wir besitzen keine, Herr«, sagte nun auch Daniel. Seine Stimme sollte fest klingen, doch er brachte nur ein heiseres Flüstern zuwege.
»Dann hast du hundert Rubel Strafe zu bezahlen, Bruder Daniel«, antwortete Ivan gelassen.
Eigentlich wollte Daniel protestieren, doch er erinnerte sich, daß der Zar kürzlich einen Mönch rittlings auf ein Pulverfäßchen hatte binden und dann anzünden lassen. So zog er es vor zu schweigen.
Zar Ivan ging an den Tisch zurück und bedeutete den beiden Mönchen, auf ihren Plätzen zu bleiben. Ohne sie weiter zu beachten, begann er mit den schwarzgekleideten opritschniki zu scherzen. Eine halbe Stunde verstrich. Der Zar trank stetig, blieb jedoch offenbar Herr seiner Sinne. »Bringt mehr Kerzen«, befahl er. Er mißtraute der Dunkelheit.
Aus der Kirche wurden Kerzenständer gebracht und in den Ecken aufgestellt. In diesem Augenblick meldete einer der opritschniki die Ankunft des Bären. Alle drängten zur Tür, voran der Zar. Es war ein grotesker Anblick. Vier Männer mit brennenden Fackeln eilten dem Schlitten voraus, in dem der Bär saß – angetan mit dem herrlichen Zobelmantel, auf dem Kopf den Zarenhut. Um seinen Hals hatte Boris ein goldenes Kreuz aus der Kapelle gehängt. Der verängstigte Michail brachte den Bären dazu, auf den Hinterbeinen ins Refektorium zu tapsen.
»Verneigt euch!« schrie Ivan die Mönche an. »Verneigt euch vor dem Zaren aller Bären!« Er führte den Bären eigenhändig zu seinem Stuhl und brachte das Tier dazu, sich zu setzen. Dann mußten sich alle, auch der Abt, in einer lächerlichen Zeremonie vor dem Bären verneigen, ehe man ihm Mantel und Hut abnahm. »Komm jetzt, Bauer«, sagte der Zar schroff zu Michail, »er soll seine Kunststücke vorführen.«
Das Repertoire des Bären war nicht gerade umfangreich: Das magere Tier richtete sich auf, machte ein paar plumpe Tanzschritte, schlug die Tatzen gegeneinander. Nach kurzer Zeit wurde Ivan der traurige Anblick langweilig, und er schickte Michail und das Tier in die Ecke.
Draußen wurde es dunkler. Vereinzelt glitzerten ein paar Sterne. Drinnen saß Ivan in Gedanken versunken und gab Boris von Zeit zu Zeit ein Zeichen, ihre beiden Pokale mit Wein zu füllen. »Es heißt, ich trete zurück und werde Mönch. Hast du davon gehört?«
»Ja, Herr. Deine Feinde behaupten das.«
Ivan nickte langsam. »Jenen, die Gott ausersehen hat, über Menschen zu herrschen, ist keine Freiheit gegeben, sondern eine schreckliche Bürde. Sie leben nicht in einem Palast, sondern in einem Gefängnis. Kein Herrscher ist sicher, Boris Davidov. Vielleicht ist das Leben eines Mönchs besser.« Auch Boris hatte reichlich getrunken. Sein Kopf war noch klar, aber er fühlte sentimentale Traurigkeit in sich aufsteigen, während er in die zwiespältige Welt des verehrten Herrschers eintauchte. Auch er wußte auf seine schlichte Art, was es heißt, von Angst vor Verrat und nächtlichen Alpträumen geplagt zu werden. Sie werden ihn töten, dachte er, wenn er sie nicht zuerst tötet. Wie gern hätte er seine heimlichen Ängste mit dieser mächtigen Persönlichkeit geteilt, die in die Herzen der Menschen sah und ihm nun wieder tiefstes Vertrauen zeigte.
»Sag mir, Boris Davidov, was sollen wir mit diesem Spitzbuben von Priester anfangen, der dem Zaren Land gestohlen hat?« fragte Ivan schließlich.
Boris überlegte. Er fühlte keine Zuneigung zu Daniel, und doch mußte er eine kluge Antwort geben. »Er ist nützlich«, meinte er zögernd, »er liebt das Geld.«
»Das ist eine gute Antwort.« Ivan lächelte grimmig. »Prügeln wir ein bißchen Geld aus ihm heraus.« Er winkte zwei opritschniki herbei und flüsterte ihnen Anweisungen zu. Sie schleppten Daniel eilig hinaus.
Boris wußte, was nun folgen würde. Daniel wurde aufgehängt, wahrscheinlich mit dem Kopf nach unten, und so lange geschlagen, bis er verriet, wo das Geld des Klosters versteckt war. Boris fühlte kein Mitleid.
Damit hatte der lange Abend des Zaren eigentlich erst begonnen. Boris sah am leichten Zucken von Ivans linkem Auge, was jetzt kommen würde. Einer der opritschniki hatte ihm verraten: Wenn dieses Auge zuckte, gelüstete es den Zaren zu strafen. »Sag mir, Boris Davidov«, sagte er mit weichem Tonfall, »wem von diesen ist nicht zu trauen?« Boris schwieg.
»Denk an deinen Eid«, murmelte Ivan. »Du hast geschworen, deinem Zaren alles zu erzählen, was du weißt.«
»Es heißt, es gebe einen, der sich der Ketzerei schuldig macht«, sagte Boris.
Stefan war höchst erstaunt, als die vier opritschniki in seine Zelle einbrachen.
Sie leisteten gründliche Arbeit. Durch lange Praxis geübt, durchwühlten sie systematisch den Kasten, der seine wenige Habe enthielt; sie untersuchten die Wände, und einer entdeckte zwischen den dicken Bohlen das, wonach sie suchten – das Pamphlet. Seltsam, Stefan hatte das englische Traktat fast vergessen, hatte seit Monaten nicht hineingesehen. Er hätte behaupten können, es nicht zu kennen, aber an dem Tag, als Wilson es ihm gegeben hatte, hatte er die Übersetzung des Engländers am Rand notiert, um den Wortlaut nicht zu vergessen.
Sie schleppten Stefan ins Refektorium und zeigten dem Zaren das Papier. Ivan las es Wort für Wort vor. Von Zeit zu Zeit hielt er inne und wies Stefan auf die Schwere der Ketzerei hin, die er mit eigener Hand geschrieben hatte.
Wenn er auch einige Protestanten wie die englischen Kaufleute geduldet hatte, weil sie Ausländer und immer noch besser als Katholiken waren, war Ivan doch empört über die anmaßenden antiautoritären Argumente des Pamphlets, die sich indirekt auch gegen ihn richteten.
Als er geendet hatte, starrte er Stefan finster an. »Was hast du dazu zu sagen?« hob er an. »Glaubst du diese Dinge?«
»Es sind die Ansichten von Fremden«, antwortete Stefan. »Aber du bewahrst sie in deiner Zelle auf?«
»Als eine Rarität.« Das stimmte, wenigstens fast. »Eine Rarität.« Der Zar wiederholte das Wort verächtlich. »Wir werden sehen, Mönch, welch eine Rarität wir für dich haben.« Er blickte zum Abt hin. »Du hast seltsame Mönche in deinem Kloster«, bemerkte er.
»Ich wußte nichts davon, Herr«, war die klägliche Antwort. »Aber mein getreuer Boris Davidov wußte davon. Du scheinst sehr nachlässig zu sein in der Erfüllung deines Amtes, Abt! Du hast wohl daran getan, Boris«, seufzte Ivan, »dieses Monster zu entlarven. Wie sollen wir ihn bestrafen?« Der Zar sah sich im Raum um. Als er entdeckte, was er suchte, erhob er sich. »Komm, Boris, hilf mir beim Strafvollzug«, sagte er.
Langsam ging Ivan auf Michail zu, nahm ihm die Kette aus der Hand, an der der Bär geführt wurde, und brachte das Tier zum Priester. Auf seinen Wink befestigte Boris das andere Ende der Kette an Stefans Gürtel, so daß der nun in einem Abstand von zwei Schritten mit dem Bären zusammenhing.
Der Zar legte seinen Arm um Boris' Schultern, führte ihn an den Tisch zurück und rief den übrigen opritschniki zu: »Jetzt soll der Zar der Bären sich mit dem Ketzer befassen!« Stefan bekreuzigte sich und stand mit gesenktem Kopf in stummem Gebet vor dem Tier, das hilflos seinen Kopf hin und her drehte.
»Nehmt meinen Stock«, befahl Ivan. Die Schwarzhemden bildeten einen Kreis und trieben den Bären mit dem spitzen Stock des Zaren an.
»Hojda, hojda!« schrie dieser. So feuerten seine Kutscher die Pferde an. Schließlich begann der Bär vor Wut und Schmerz Stefan mit den Tatzen zu bearbeiten. Der Priester versuchte, die Schläge abzuwehren, die ihm blutende Wunden verursachten. »Hojda«, rief der Zar erneut, »hojda!«
Der Bär setzte sein grausames Tun fort, bis Ivan seinen Männern schließlich befahl, das zerfetzte Bündel Mensch hinauszubringen und die Hinrichtung auf dem Hof zu vollenden. Doch die Nacht war noch nicht zu Ende, und der Zar war noch immer nicht befriedigt. »Mehr Wein«, befahl er Boris. »Setze dich neben mich, mein Freund.« Es war, als habe der Zar die anderen vergessen. Er betrachtete versonnen die Ringe an seinen Fingern. »Siehst du, dies ist ein Saphir«, erklärte er. »Saphire beschützen mich. Hier ist ein Rubin. Rubine reinigen das Blut.«
»Du hast ja keine Diamanten, Gosudar«, bemerkte Boris. Ivan nahm Boris' Hand und lächelte ihm liebevoll zu. »Weißt du, es heißt, Diamanten halten Zorn und Wollust vom Menschen fern. Genau das habe ich nie gewollt. Vielleicht sollte ich?« Boris wußte nicht, ob er wachte oder träumte. War es möglich, daß der Zar ihm zur Seite saß und wie ein Bruder zu ihm sprach? Plötzlich sah Ivan ihn direkt an und fragte: »Warum hast du denn den Priester gehaßt?« Die Frage klang nicht unfreundlich, im Gegenteil.
Boris hielt den Atem an. »Woher wußtest du das, Herr?«
»Ich habe es dir angesehen, mein Freund, als sie ihn hereinbrachten.« Er lächelte wieder. »Er war wirklich ein Ketzer, weißt du. Er hat den Tod verdient. Für dich hätte ich ihn auf alle Fälle töten lassen.«
Boris starrte vor sich hin. Es stimmte, er hatte kein Mitleid mit Stefan gehabt. Nun wurde er von Gefühlen nahezu überwältigt. Der Zar, mochte er auch schrecklich sein, war sein Freund. Es war schier unfaßbar. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er fühlte plötzlich, wie einsam er in all den Jahren gewesen war. Und nun empfand er den Wunsch, dem Zaren, der ihm gewogen war, seine unseligen Geheimnisse anzuvertrauen. Wem sonst sollte er sich mitteilen, wenn nicht Gottes Stellvertreter auf Erden, den Beschützer der einzig wahren Kirche?
»Du hast einen Sohn, Gosudar, der deine Herrschaft fortsetzen wird«, begann Boris. »Ich habe keinen Sohn.«
Ivan runzelte die Stirn. »Hast du wirklich keinen Sohn?« fragte er erstaunt.
Boris schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe einen Sohn, und doch glaube ich, daß ich keinen habe.«
Ivan betrachtete ihn aufmerksam. »Du meinst… der Priester?«
Boris nickte. »Ja, ich glaube schon.«
Ivan schwieg eine Weile. Dann erhob er sich. Boris wollte das gleiche tun, doch der Zar bedeutete ihm mit einer ausholenden Gebärde, sich vor ihm auf den Boden zu werfen. Dann hob er den Saum seiner langen Robe und legte ihn über Boris' Kopf, so wie der Bräutigam seine Braut bei der Brautmesse bedeckt.
»Der Zar ist dein einziger Vater«, sagte er leise. Dann wandte er sich zu den übrigen opritschniki und rief: »Bringt uns unsere Mäntel und wartet hier auf uns.« Ivan zog seinen Zobelmantel an, setzte seinen hohen Pelzhut auf und befahl Boris leise, ihm zu folgen.
In der tiefen Nacht waren nun mehr Sterne zu sehen. Graue, zerrissene Wolken trieben am Himmel, als Zar Ivan über den Hof ging und sein langer Stock auf den gefrorenen Schnee klopfte. Boris folgte ihm durch das Tor zum Fluß hin.
Wie still es war! Der hohe Turm zeichnete sich mit seinem Zeltdach gegen den sternenbestickten Himmel ab. Wortlos führte Ivan den anderen vom Fluß weg zum großen Stadttor. Das kleine Seitentor, mit einem Nachtwächter davor, war noch offen. Ivan ging hindurch auf den sternenhellen Marktplatz. Dort wandte er sich an Boris:
»Wo ist dein Haus?«
Boris deutete in die Richtung, wollte die Führung übernehmen, doch der Zar war schon unterwegs. Nichts war zu hören außer seinem Stab und dem leisen Rascheln seiner langen Robe.
Boris lief, um die Tür seines Hauses zu öffnen, aber Ivan blieb stehen. »Ruf deine Frau. Sie soll unverzüglich herunterkommen«, befahl er mit tiefer Stimme.
Boris ahnte nicht, was folgen würde. Oben brannte eine Lampe in der Ecke. Elena döste vor sich hin, das Kind im Arm. Da sah sie plötzlich Boris' bleiches, völlig verstörtes Gesicht an der Tür. Noch ehe sie ein Wort wechseln konnten, klang die Stimme des Zaren von unten: »Sie soll sofort herunterkommen. Der Zar wartet.«
»Komm«, flüsterte Boris.
Noch halb im Schlaf und ganz verwirrt stand Elena auf. Sie trug nur ein langes Wollhemd und Filzpantoffeln. Unsicher tappte sie mit dem Kind die Treppe hinunter.
»Komm her zu mir«, ertönte die leise Stimme des Zaren. Elena spürte die eisige Nachtluft auf ihrem Gesicht und versuchte das Kind zu bedecken. Sie ging auf die hohe Gestalt zu und wußte nicht, wie sie sie begrüßen sollte. »Laß mich das Kind sehen«, sagte Ivan. »Gib es mir.« Zögernd reichte sie ihm den Knaben, der sich im Schlaf bewegte. »Nun, Elena Dmitrieva, wußtest auch du, daß der Priester Stefan ein Ketzer war?«
Elena fuhr zusammen. Einen Augenblick lang öffnete sich die Wolkendecke. Die Mondsichel kam zum Vorschein und sandte ein bleiches Licht auf die Straße hinunter.
Ivan konnte das Gesicht der Frau deutlich sehen. »Der ketzerische Priester ist tot. Nicht einmal die Bären hielten zu ihm«, fuhr er fort. Es gab keinen Zweifel: In ihrem Gesicht stand nicht nur das Entsetzen einer schwachen Frau über einen schauerlichen Tod – sie hatte ihn geliebt.
»Freust du dich nicht, daß ein Feind des Zaren tot ist?« Sie konnte nicht antworten.
Ivan betrachtete das Kind. Es war klein und blond, nicht einmal ein Jahr alt. Es schlief immer noch. Sein Aussehen gab keinerlei Aufschluß. »Wie heißt das Kind?« fragte er schließlich.
»Fedor«, flüsterte sie.
»Fedor.« Der Zar nickte. »Und wer ist der Vater des Kindes? Mein treuer Diener oder ein ketzerischer Priester?«
»Ein Priester? Wer sollte der Vater sein, wenn nicht mein Ehemann?«
Sie sah unschuldig aus, aber wahrscheinlich log sie. Viele Frauen betrogen ihre Männer. Ihr Vater war ein Verräter, erinnerte sich Ivan. »Den Zaren darf man nicht belügen«, betonte er. »Ich frage dich noch einmal: Hast du Stefan, den ketzerischen Priester, den ich mit gutem Grund habe töten lassen, nicht geliebt?« Sie wollte widersprechen. Doch weil sie den Priester wirklich geliebt hatte, machte diese hohe Gestalt ihr angst. Sie war keines einzigen Wortes fähig.
»Boris soll entscheiden«, meinte der Zar. »Nun, mein Freund, was ist dein Urteil?«
Boris schwieg. Vorstellungen und Empfindungen wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Bot Ivan ihm einen Ausweg an, vielleicht die Scheidung? Was also glaubte er? Er wußte es selbst kaum. Sie hatte den Priester geliebt. Sie hatte sich von ihrem Mann zurückgezogen, hatte ihn gedemütigt, versucht, seinen Stolz zu brechen. Plötzlich kam der jahrelange Groll gegen sie wie eine riesige Welle nach oben. Er würde sie bestrafen. »Es ist nicht mein Kind«, sagte er endlich. Ivan sprach kein Wort. Den Stab in der Rechten, das Kind, das nun zu weinen begann, auf dem linken Arm, ging er aufs Tor zu. Boris folgte ihm in einigem Abstand.
Was geschah da? Erst allmählich begriff Elena in ihrer Verstörung und Furcht, was gesprochen worden war. Frierend starrte sie hinter den anderen her. »Fedor!« Ihr Schrei hallte über den eisigen Marktplatz. Stolpernd rannte sie vorwärts.
Am Tor verneigte sich der erschrockene Wächter tief, die Hand auf dem Herzen. Ivan zeigte auf die Tür des Turmes. »Öffne!« Das Kind auf dem Arm, stieg er die Stufen im Innern hinauf.
Boris und der Wächter versperrten Elena den Weg. Wie ein wildes Tier wehrte sie sich, riß sich los, schlug die Tür von innen zu und verriegelte sie.
Sie konnte den Zaren in der Dunkelheit hören, das Knarren der Stufen unter seinen Schritten, das Geräusch seines Stabes. Sie hörte ihr Kind weinen. »Gott steh mir bei!« flüsterte sie.
Als sie die Stelle erreichte, wo die Stufen hinaus zur Brustwehr führten, vernahm sie keinen Laut mehr von oben. Ivan stand dort unterm Dach, wo die Fenster sich hinaus auf die endlose Ebene öffneten. Elena sah den dreieckigen Schatten des Holzdaches über sich. Und da hörte sie den Schrei ihres Kindes, sah zwei Hände, die ein kleines weißes Bündel in die Nacht hinaus schleuderten.
»Fedja!« Elena warf sich gegen die Brustwehr, streckte ihre Arme weit in dem ohnmächtigen Versuch, das Bündel aufzufangen, das an ihr vorbeifiel in die tiefen Schatten dort unten. Sie hörte den leichten Aufprall auf dem Eis.
In der Morgendämmerung reiste der Zar ab. Zuvor jedoch bestand er auf dem traditionellen Segen durch den Abt. Seinem Zug wurden zwei Schlitten hinzugefügt; der eine enthielt eine ansehnliche Menge von Münzen und Geschirr aus dem Kloster, der andere beförderte die Glocke, die das Kloster einst von Boris' Familie erhalten hatte. Dies alles sollte zur Herstellung von zusätzlichen Geschützen umgehend eingeschmolzen werden.
Bald danach kam die Nachricht, daß die Krim-Tataren sich tatsächlich den russischen Landen näherten. Der Zar, der wieder einmal den Glauben schürte, er sei ein physischer Schwächling, setzte sich in den Norden ab. Die Umgebung von Moskau wurde verwüstet.
Zwei Wochen nach dem Tod ihres Kindes stellte Elena fest, daß sie wieder schwanger war. Der Vater des Kindes, das sie trug, war auch diesmal Boris.
Mit Erstaunen bemerkte die Gemeinde während der Ostervigil im Kloster St. Peter und Paul im Jahre 1571 – wobei der größte Teil der verminderten Bevölkerung von Russka und Sumpfland anwesend war –, wie gleich nach Beginn der Feier eine einzelne Gestalt lautlos durch den hinteren Kircheneingang hereinkam: Boris Davidov.
Während der Fastenzeit hatte er sich nicht blicken lassen. Niemand wußte, was geschah. Es hieß, er faste allein. Andere behaupteten, seine Frau wolle ihn nicht mehr sehen. Wieder andere hatten angeblich gehört, wie er sie angesprochen habe. Einige meinten, er habe versucht, den Zaren an der Ermordung seines Sohnes zu hindern; es gab auch die Ansicht, er habe ihm dabei geholfen. So war es kaum verwunderlich, daß die Leute sich immer wieder neugierig nach ihm umsahen.
Boris stand da mit gesenktem Haupt. Er bewegte sich nicht aus diesem Teil der Kirche weg, der den Büßern vorbehalten war, er blickte nicht auf, und er bekreuzigte sich auch nicht an den Stellen, wo es in der Messe vorgeschrieben war.
Die Ostervigil der orthodoxen Kirche, in der die Auferstehung Christi gefeiert wird, ist ein Fest voller Freude und innerer Bewegung. Nach der langen Fastenzeit befindet sich die Gemeinde in jenem Zustand von körperlicher Schwäche und spiritueller Läuterung, wie es einem geistigen Fest zukommt. Die Vigil beginnt mit der Nachtmette. Um Mitternacht werden die prächtigen Türen der Ikonostase geöffnet, damit das leere Grab sichtbar wird. Die Gläubigen gehen, mit Wachskerzen in den Händen, in einer Prozession um die Kirche herum. Dann beginnt die Frühmette mit den österlichen Stundengebeten, auf deren Höhepunkt der Priester ausruft: »Christ ist erstanden!« Das Volk antwortet: »Er ist wahrhaft erstanden!« Ein junger Priester nahm nun Stefans Platz ein. Er stand zum erstenmal mit dem Kreuz in der Hand vor den heiligen Türen. Auch seine Knie zitterten, weil das Fasten ihn geschwächt hatte. Doch als er die Gemeinde und die brennenden Kerzen sah und den intensiven Weihrauchduft wahrnahm, der in alle Winkel der Kirche drang, erfüllte ihn ein erhebendes Gefühl. »Christ ist erstanden!« rief er wieder aus.
Und auch diesmal antwortete die Gemeinde: »Er ist wahrhaft erstanden!«
Der junge Priester sah, daß die einsame Gestalt die Lippen bewegte. Er konnte nicht wissen, daß kein Laut aus Boris' Kehle drang. Dann kam der Osterkuß, und die Gläubigen stellten sich auf, und einer nach dem anderen küßte das Kreuz, die Evangeliare, die Ikonen und dann den Priester. Zum Schluß küßten die Menschen einander – es war Ostern, und dies war die einfache, liebevolle Art der orthodoxen Kirche, das hohe Fest zu feiern. Boris ging als einziger nicht nach vorn.
Nach dem Osterkuß hielt der Priester eine wundervolle Predigt über Johannes Chrysostomus und über das Vergeben. Er erinnerte daran, daß Gott ein Fest, eine Belohnung vorbereitet habe. Und ebenso sprach er von der Fastenzeit, von Reue und Buße. »Wenn einer ernsthaft gefastet hat, soll er jetzt seine Belohnung erhalten«, las der Priester mit sanfter Stimme vor. »Wenn einer nachlässig war, heißt es, so verzweifle er nicht. Denn das Fest des Herrn wird den Sündern nicht vorenthalten, wenn sie nur zu ihm kommen. Denn er gewährt Gnade den letzten wie den ersten. Wenn jemand sein Eisen in der ersten Stunde geschmiedet hat«, las er laut, »soll er belohnt werden. Wenn einer in der dritten Stunde kommt, ebenfalls. Wenn einer erst in der sechsten Stunde kommt, soll er keine Furcht haben. Wenn einer bis zur neunten Stunde gesäumt hat, soll er näher treten. Wenn einer gezögert hat…«, der Priester blickte nach hinten, »selbst bis zur elften Stunde, er möge kommen…«
Was ihm auch durch den Kopf gehen mochte – ob er nun begriffen hatte, daß seine Frau unschuldig war, ob er sich schuldig fühlte am Tod Stefans und Fedors oder ob er die Last des Bösen nicht länger tragen konnte, die sein Stolz ihm aufgebürdet hatte: Boris sank bei den wundervollen Worten weinend in die Knie. Im Jahre 1572 wurde die geschwächte opritschnina offiziell aufgelöst. Jeder Hinweis auf ihre Existenz wurde untersagt. Das Jahr 1581 war das erste der »Verbotsjahre«, in denen es Bauern nicht gestattet war, ihren Herren zu kündigen, nicht einmal am Sankt-Georgs-Tag.
Im selben Jahr brachte Zar Ivan in einem Wutanfall den eigenen Sohn um.