Ivan
1552
Die Schiffe kamen von Osten her flußaufwärts.
Gleichmäßig tauchten die Ruder ins Wasser. Mutter Wolga, mächtige
Wolga. Hoch oben in dem grenzenlosen Herbsthimmel zogen hin und
wieder blasse Wolken vorüber, während die Schiffe auf dem trägen
Wasser dahinglitten, auf ihrem Weg zurück in die Heimat. Manchmal
wurden Segel gesetzt, meistens jedoch wurde gerudert. An den Ufern
des breiten Flusses war nur der gleichförmige Singsang der Schiffer
zu hören, der schwermütig übers Wasser klang. Boris wußte nicht,
wie viele Boote es waren. Nur ein Teil der Armee war in der
Garnison im Osten zurückgeblieben. Der größte Teil der Streitmacht
kehrte im Triumph in die Frontstadt Niznij Novgorod zurück. Die
Russen hatten soeben die mächtige Tatarenstadt Kazan erobert.
Kazan: Weit hinter ihnen auf dem Hügel an der Wolga lag es, wo
der breite Strom südwärts durch die Steppe floß und sich dann dem
Kaspischen Meer zuwandte. Kazan, wo einst die Wolgabulgaren gelebt
hatten. Es war das Tor zu dem Imperium, das ehemals von dem
mächtigen Tschingis Khan beherrscht worden war. Nun gehörte es zu
Rußland.
Boris saß in einem der hinteren Boote. Er war sechzehn Jahre
alt, mittelgroß und eher schmal, hatte ein breites Gesicht mit
leicht türkischem Einschlag, tiefblaue Augen, dunkelbraunes Haar
und einen spärlichen Bart. Als junger Kavallerist trug er einen
gesteppten Wollmantel, der Pfeile abhalten konnte. Um seine
Schultern hing ein Pelzmantel gegen die kalte Brise. Hinter ihm
baumelte ein kurzer türkischer Bogen, und zu seinen Füßen lag eine
Axt in einer Hülle aus Bärenfell. Boris war von edlem Geblüt. Sein
voller Name lautete: Boris, Sohn Davids, mit dem Zunamen Bobrov.
Wenn man ihn fragte, woher er komme, antwortete er, sein Besitz
liege bei Russka.
Im ersten Boot saß Zar Ivan. Der Heilige Zar, mit
einundzwanzig Jahren Alleinherrscher über alle Russen. Kein
Herrscher vor ihm hatte solche Titel geführt. Seine Hauptstadt war
Moskau. Seit dem Fall Konstantinopels hundert Jahre zuvor hatten
drei Generationen an der Entstehung des mächtigen Staates Muscovia,
des Moskauer Reiches, gearbeitet. Eine nach der anderen waren die
bedeutenden Städte im nördlichen Rußland Moskau und seinen Armeen
zugefallen. Tver, Rjazan, Smolensk, selbst das wichtige Novgorod
gaben ihre frühere Selbständigkeit auf. Dieser neue Staat war
allerdings keine Föderation; der Fürst von Moskau war ein ebenso
großer Despot wie einst der Khan. Unbedingter Gehorsam gegenüber
dem Machtzentrum, das war die Doktrin der Moskauer Fürsten.
»Nur auf diese Weise kann der Staat der Rus seinen ehemaligen
Ruhm zurückgewinnen«, war die Meinung der Befürworter. Bis dahin
war es ein weiter Weg. Jetzt noch war der größte Teil des
westlichen Rußland und des alten Kiever Landes im Süden in der Hand
des mächtigen Litauen. Außerdem regierten jenseits des Schwarzen
Meeres die moslemischen Türken im alten Konstantinopel, das nun
Istanbul hieß. Katholiken im Westen, Moslems im Süden. Vom Osten
her fielen regelmäßig die tatarischen Steppenvölker ein.
Dagegen gab es verschiedene Verteidigungslinien: die
Vasallensiedlungen ehemals feindlicher Tataren jenseits der Oka,
außerdem kleine Forts, befestigte Garnisonsstädte. Niemand jedoch
hatte sie bislang unter Kontrolle gebracht, bis zu diesem Jahr, als
sie ihren Herrn fanden. Boris lächelte geheimnisvoll. Zu seinen
Füßen lagen, an den Händen gefesselt, zwei Tataren, die er selbst
gefangen hatte und nun auf seinen kleinen Besitz in Russka bringen
wollte. Er würde ihnen zeigen, wer ihr Herr war.
Dieser Feldzug war erst der Anfang. Weit im Süden am
Wolga-Delta, wo einst die Chazaren herrschten, lag eine weitere
Tatarenhauptstadt: Astrachan. Sie würde wohl als nächste fallen.
Dann käme der Oberste aller westlichen Tataren unten am Schwarzen
Meer an die Reihe, der Krim-Khan in seiner Festung:
Bachtschisaraj.
Er war eine furchterregende Gestalt. Sein Palast war so
berühmt wie der Topkapi-Palast des Sultans in Istanbul, und selbst
der Osmanenherrscher war froh, in dem Krim-Khan einen Verbündeten
zu haben. Doch zur rechten Zeit würde auch dieser fallen, und
später, östlich der Wolga, hinter den Wüsten, wo andere Tataren
lebten – die Kazachen, Uzbeken, die Nogai-Horde –, die wilden, doch
zersplitterten Stämme in den asiatischen Wüsten.
Dies war das große Ziel, das Zar Ivan sich gesteckt hatte: Ein
christlich-russischer Zar würde eines Tages über das riesige
Eurasien-Imperium des mächtigen Tschingis Khan herrschen. Zum
erstenmal in der Geschichte unterwarfen Bewohner des Waldes die
Bewohner der Steppe. Beim Verlassen Kazans hatte Boris tatsächlich
gehört, wie von Ivan als dem »Weißen Khan«, dem »Westlichen Khan«
also, gesprochen wurde. Kein Wunder, daß er mit so großer Erwartung
nach vorn zum Schiff des jungen Zaren blickte.
Erst an diesem Morgen hatte der Zar ihn angesprochen. Und
nicht nur das: Er hatte ihn in sein Vertrauen gezogen. Boris war
von großem Stolz erfüllt.
Er war wirklich ein Held, dieser große dunkle junge Zar, der
sich eine unglaubliche Aufgabe gestellt hatte. Mit drei Jahren
bereits hatte er die Krone geerbt und mußte gedemütigt zusehen, wie
die Fürsten und Bojaren um die Herrschaft in Rußland kämpften, die
doch seine Sache war. Es gab zwei mächtige Gruppen, einerseits die
vom alten russischen Herrscherhaus oder von den litauischen
Regenten abstammenden Fürsten; andererseits die größten
Bojarenfamilien, etwa fünfunddreißig Sippen, die den Kern der
duma bildeten, des adligen Beratungsorgans.
Sie waren die mächtigen Intriganten, die Ivan ausschalten
mußte. Sie haßten seine Mutter, weil sie Polin war. Sie verachteten
seine Frau; aus den fünfzehnhundert geeigneten Bewerberinnen, die
er nach Art der Khans sich vorführen ließ, hatte er ausgerechnet
dieses Mädchen gewählt, das zwar aus einer alten Familie stammte,
nicht jedoch aus einer Bojarenfamilie. Ivan hatte aus Liebe
geheiratet.
Boris hatte Anastasia, die liebliche Gemahlin des Zaren, nie
gesehen, doch hatte er oft über sie nachgedacht, denn er sollte
nach seiner Rückkehr nach Moskau selbst heiraten. Er wünschte sich
seine zukünftige Frau so wie Anastasia, die, so hieß es, dem Zaren
in schwierigen Lagen unerschütterlich zur Seite stand, der er in
allem vertrauen konnte.
Ihre Familie gehörte zwar nicht zu den größten Magnaten, aber
sie war vornehm. Noch war der Familienname »Zacharin«, doch er
wurde in »Romanov« abgewandelt.
Boris hatte für Fürsten und Magnaten nichts übrig. Warum
sollte er sie stützen, wenn sie doch nur alle wichtigen Positionen
an sich rissen und dem niederen Adel, dem er selbst angehörte, nur
die Brosamen von ihrem Tisch ließen? Unter den autokratischen
Fürsten Moskaus jedoch konnten Männer wie er vorwärtskommen.
Während diese Herrscher versuchten, die Macht der einflußreichen
Sippen zu brechen, förderten sie Männer aus unbekannteren
Familien.
Zwei Jahre zuvor hatte Ivan tausend seiner besten Leute –
Bojarenkinder nannte man sie, aber es waren auch einfachere
Burschen darunter – ausgewählt und ihnen Land nahe Moskau geben
lassen, damit sie stets zur Hand waren. Boris war zu seinem
Leidwesen noch zu jung dafür. Aber immerhin war Russka, wenn auch
ein unbedeutender Ort, nicht allzu weit vom Zentrum entfernt.
Daran dachte Boris Bobrov auf dieser Bootsfahrt, und immer
wieder dachte er an seine morgendliche Begegnung mit dem
Zaren.
Im Lager schlief noch alles. Die Boote lagen
ruhig am Ufer. Es war die tiefe Stille vor der Morgendämmerung.
Nichts regte sich auf dem Wasser. Der Himmel war leer. Es war, als
wollten nicht einmal die wenigen Nachtvögel länger den großen
Frieden der allmählich untergehenden Sterne stören.
Boris war früh erwacht und stand nun am Ufer. Er hatte einen
Pelzmantel angezogen und sich noch in der Dunkelheit aus dem Zelt
geschlichen.
Um diese Stunde überkam ihn häufig eine merkwürdige
Empfindung, etwas wie Melancholie, bis hin zu tiefer Verlassenheit;
ein Gefühl, das bitter und süß zugleich war.
Wie er so neben den Booten stand, gingen seine Gedanken zurück
zu seinen Eltern. Er konnte sich nur sehr fern an seine Mutter
erinnern. Eine zarte Gestalt, die vor langer Zeit aus seinem Leben
verschwunden war; sie starb, als er fünf Jahre alt war. So
bedeutete der Vater die Familie für ihn.
Er war vor einem Jahr gestorben. Boris hatte ihn nur als
tragische Figur gekannt, verkrüppelt durch schlimme Verwundungen,
die er kurz nach Boris Geburt in Kämpfen gegen die Tataren erlitten
hatte. Zehn Jahre war er Witwer geblieben. Man konnte noch ahnen,
daß er einst von stämmiger Statur gewesen war, doch seine blauen
Augen lagen umschattet, tief eingesunken in dem Gesicht mit den
türkischen Zügen; die Rippen an dem schmalen, gebeugten Oberkörper
waren sichtbar. Nur mit Mühe richtete sich der Vater zu voller
Größe auf. Doch er wollte Würde wahren, bis der Sohn alt genug war,
um seinen Mann zu stehen.
Dieses Durchhaltevermögen hatte den Jungen geprägt. Für ihn
stellte sein Vater das Bild eines Heroen dar. »Jetzt bist du die
Familie«, hatte der Vater gesagt. »Du hältst die Ehre der Familie
hoch.«
Er schloß die Augen und stellte sich seine Vorfahren vor,
große, noble Gestalten, Krieger des Waldes, der Steppe, der Berge.
Er gelobte ihnen, sie nicht zu enttäuschen. Die Familie Bobrov mit
dem alten Emblem des tamga, des Dreizacks, würde wieder zu
Ruhm kommen.
Als er so über den Fluß sah, dachte er, ob sein Vater ihn wohl
in der Dunkelheit sehen konnte, ob er wußte, daß sie über Kazan
triumphiert hatten.
Es mußte so sein. Gott würde dem Vater das Wissen nicht
vorenthalten, daß sein Sohn den Familienbesitz wieder zusammenholen
würde, diesen Kreis als Wiedergutmachung für den Vater schließen
würde. Ja, so mußte es sein, sonst wäre Gottes Universum nicht
vollkommen.
Sicher würde er, Boris, eines Tages Erfolg haben, aus seiner
Einsamkeit befreit werden. Mit seiner zukünftigen Frau würde sich
sein Traum von Freundschaft und wahrer Liebe erfüllen. Hinter sich
hörte er leise Schritte. Als er sich umdrehte, sah er einen
Schatten auf sich zukommen, doch erst als dieser ganz nahe war,
erkannte er zu seiner höchsten Überraschung, daß es Zar Ivan war.
Boris verneigte sich tief.
Der Zar stellte sich neben ihn. Erst nach langem Schweigen
fragte er den Jungen nach seinem Namen. Wie sanft seine Stimme war!
Er fragte ihn auch nach seiner Herkunft und schien zufrieden mit
der Antwort. Dann schwieg Ivan wieder und sah auf den breiten Fluß,
der blaß schimmernd in der Dunkelheit verschwand. Boris überlegte
lange, ehe er ein paar Worte wagte: »Dir ist es zu danken, mein
Gebieter, daß Rußland endlich frei wird.« Hatte er das Rechte
gesagt? Beim Blick zur Seite sah er nur ein leichtes Stirnrunzeln
auf dem langen Gesicht mit dem scharfen Profil.
Dann sprach Ivan mit tiefer Stimme, so leise, daß Boris die
Worte eben noch hören konnte: »Rußland ist ein Gefängnis, mein
Freund, und ich bin Rußland. Es ist wie ein Bär, den die Menschen
im Käfig halten, damit sie sich über ihn lustig machen können.
Rußland ist von seinen Feinden umringt – es kann nicht bis an seine
natürlichen Grenzen gelangen.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Es
war jedoch nicht immer so. In den Tagen Monomachs war es anders.«
Er machte eine Pause und fragte dann: »Sage mir, wie haben die Rus
in den großen Tagen Kievs Handel getrieben?«
»Vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer«, antwortete Boris.
»Von Novgorod bis nach Konstantinopel.«
»Und doch besetzten die Türken jetzt das Zweite Rom; ein
Tataren-Khan kontrolliert die Häfen des Schwarzen Meeres. Und im
Norden«, er seufzte, »brach mein Großvater Ivan der Große die Macht
der Hanse in Novgorod, und trotzdem kontrollieren die Deutschen
unsere nördlichen Küsten.«
Boris kannte die Tatsachen. So reich Novgorod auch war, es
mußte über die baltischen Häfen seinen Handel mit dem Westen
abwickeln, die größtenteils in der Gewalt der deutschen Ritterorden
oder der deutschen Kaufleute waren. Die einzigen russischen Häfen
lagen zu weit nördlich, waren die Hälfte des Jahres zugefroren.
»Rußland ist von Land umschlossen«, fuhr Ivan bitter fort. »Deshalb
ist es nicht frei.«
Boris war durch diese Worte sehr berührt, nicht nur von dem,
was der Zar sagte, sondern von dem Schmerz in seiner Stimme. Dieser
mächtige Gebieter, den Boris verehrte, litt ebenso wie er. In
dieser Hinsicht war der Zar ein Mann genau wie er; einen Augenblick
lang vergaß Boris den Standesunterschied und flüsterte
eindringlich: »Aber dein Schicksal ist es, frei und groß zu sein.
Gott hat Moskau als sein Drittes Rom gewählt. Du wirst uns führen!«
Ivan nickte nachdenklich. »Gott führte uns nach Kazan und gab es in
unsere Hände. Er erhörte die Gebete seines Dieners.« Tatsächlich
war der Feldzug zu der Tatarenstadt im östlichen Wolga-Gebiet in
manchem einem mächtigen Kreuzzug vergleichbar. Nicht nur wurden den
Truppen Ikonen vorangetragen, sondern Ivans eigenes Kruzifix, das
einen Splitter des wahren Kreuzes enthielt, wurde aus Moskau
gebracht; Priester sprengten Weihwasser im Lager gegen das
schlechte Wetter, das die Belagerung erschwerte.
Boris zweifelte keinen Augenblick am Zaren, und für ihn stand
fest, daß Moskau dazu ausersehen war, die christliche Welt zu
führen. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Das herrschende
Konstantinopel war in die Hände der Türken gefallen. Die
Sophien-Kirche war nun Moschee. Die russische Kirche hatte geduldig
gewartet, daß der griechische Patriarch seine frühere Autorität
wiedererlangen würde, doch er blieb weiterhin eine Marionette des
türkischen Herrschers. Im Lauf der Jahre wurde es deutlich, daß der
Metropolit in Moskau praktisch der wahre Führer der östlichen
Orthodoxie war.
Ein Herrscherschicksal. Der Großvater des jungen Zaren, Ivan
der Große, hatte eine Fürstin aus dem ehemaligen Kaisergeschlecht
von Konstantinopel geheiratet; von diesem Tag an hatte die
russische Herrscherfamilie stolz den doppelköpfigen Adler – das
Herrscherwappen der gefallenen römischen Stadt – in ihr Wappen
aufgenommen.
Boris blickte voller Bewunderung auf die hohe Gestalt neben
sich. Nachdem der Zar längere Zeit in Gedanken versunken
geschwiegen hatte, seufzte er. »Rußland steht ein großes Schicksal
bevor, doch ich habe innerhalb meines Landes noch gegen sehr viel
mehr zu kämpfen als draußen.«
Boris wußte, wie die kühnen Fürsten Sujskij ihn als Knaben
gedemütigt hatten, wie sie und andere versucht hatten, das Werk der
bedeutenden Moskauer Dynastie zu zerstören und den Zaren durch
Magnaten abzulösen. Boris wußte auch, wie fünf Jahre zuvor bei dem
furchtbaren Brand in Moskau der Mob Ivans polnische Familie
mütterlicherseits dafür verantwortlich machte, seinen Onkel aus der
HimmelfahrtsKathedrale zerrte und niedermetzelte. Sie hatten sogar
gedroht, Ivan umzubringen. Dessen Feinde versuchten seine
zahlreichen Reformen zu verhindern.
Nun also wandte der junge Zar sich an ihn, Boris Bobrov, der
nur einen armseligen kleinen Besitz in Russka hatte, und sagte
leise: »Ich brauche Männer wie dich.« Und schon war er
verschwunden. Boris flüsterte erregt: »Ich gehöre dir«, und er
fügte den furchtgebietenden Titel dazu: »Gosudar« – Allherrscher.
So stand er, zitternd vor Erregung, bis endlich das schwache
Frühlicht im Osten erschien.
Auf der ganzen Bootsfahrt die Wolga hinauf
war Boris beschäftigt mit den erregenden Gedanken, wohin die
Begegnung mit dem jungen Zaren führen würde. Würde sie seiner
Familie Glück und Ruhm bringen?
Boris, Davids Sohn, mit Zunamen Bobrov. Die Namengebung hatte
sich innerhalb der letzten Generationen verändert. Niemand außer
den Fürsten und den höchsten Bojaren gebrauchte die volle Ableitung
aus dem Namen des Vaters, die auf -vitsch endete. Zar Ivan,
zum Beispiel, hieß Ivan Vasilevitsch. Er jedoch, ein niederer
Adliger, war nur Boris Davidov – nicht Davidovitsch. Um seine
Identität noch mehr zu unterstreichen, konnte ein Russe zu diesen
beiden Namen einen dritten hinzufügen, üblicherweise den Namen,
unter dem sein Großvater am bekanntesten war. Manchmal war es der
Taufname des Großvaters, etwa Ivan, und so wurde der dritte Name zu
»Ivanova« oder einfach zu »Ivanov«. Es konnte aber auch ein
Spitzname sein.
Auf diese Weise entstanden im sechzehnten Jahrhundert, wenn
auch etwas verspätet, Familiennamen. Boris' Familie war stolz auf
ihren Namen. Ivan der Große selbst hatte Boris' Urgroßvater den
Spitznamen »Bobr« gegeben, was »Biber« bedeutete. So wollte die
Familie eben einfach »Bobrov« heißen.
Aber die Familie Bobrov verlor an Bedeutung, wie es damals
typisch war für russische Adelsfamilien.
Zuerst einmal wurden, über Generationen hin, die Besitzungen
immer wieder aufgeteilt, und die letzten drei Generationen hatten
es versäumt, neues Land zu erwerben. Der schlimmste Schlag
erfolgte, als Boris' Großvater wie so viele seines Standes in
hoffnungsloser Verschuldung dem ortsansässigen Kloster gegenüber
diesem den gesamten Ort Russka übergab und für sich selbst nur die
Ländereien in Sumpfloch behielt. Die Familie bewohnte ein Haus
innerhalb des Dorfes, das das Kloster ihr gegen eine bescheidene
Miete überließ; und da Boris den Namen Sumpfloch abscheulich fand,
sagte er lieber, er komme aus Russka. In vieler Hinsicht konnte
Boris jedoch zufrieden sein. Sein Besitz in Sumpfloch war, wenn
auch durch Teilung verkleinert, immer noch guter Boden, und er war
Alleinerbe. Es war auch eine votschina, also dem
Feudalsystem unterstellt, und so gehörte ihm dieser Grund unter
allen Umständen durch Erbfolge. In den vergangenen fünfzig Jahren
nämlich wurde das Land immer seltener als votschina geführt,
wurde vielmehr – entweder von verarmten Landbesitzern oder neuen
Leuten bewirtschaftet – als pomeste, als Dienstgut,
ausgewiesen, er stand also in einem Dienstverhältnis zum Fürsten.
Und wenn auch, praktisch gesehen, das Land oft auf die nächste
Generation innerhalb einer Familie überging, geschah das nur nach
Lust und Laune des Fürsten.
Trotzdem reichten Boris' Einkünfte kaum für Pferde, Rüstung
und die alltäglichen Bedürfnisse. Er konnte seinen Familienstatus
nur verbessern, wenn er die Gunst des Fürsten errang. Die Begegnung
mit dem Zaren war also das bisher wichtigste Ereignis in Boris'
Leben. Der Zar kannte nun immerhin seinen Namen. Aber er mußte mehr
tun, um die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu lenken. Doch
wie?
Am Spätnachmittag kamen sie an einer Stelle vorüber, wo am
linken Ufer die Wälder einem Steppenstreifen wichen. Dort sahen sie
in einer Entfernung von etwa einer Meile eine Ansammlung von
Hütten. Boris schnaubte ärgerlich, als er sah, daß sie sich
bewegten. Er wußte sofort, daß es sich um Tataren handelte. Die
Tataren an den Grenzen des Moskauer Reiches lebten großenteils in
diesen seltsamen beweglichen Häusern – Holzhütten auf Rädern. In
den Augen der Tataren waren die feststehenden Wohnstätten der
Russen etwas Ähnliches wie Schweineställe, die Ratten und jede Art
von Ungeziefer anlockten. Für Boris bewies dieser ständige Wechsel,
daß die Tataren unstet und nicht vertrauenswürdig waren.
Er sah hinunter auf die zwei gefangenen Tataren,
vierschrötige, flachgesichtige Gesellen mit glattrasierten Köpfen.
Es waren Moslems.
Wenn auch der Feldzug ein Kreuzzug gewesen war, so bestand der
Zar doch auf seiner Politik, die unterworfene tatarische
Bevölkerung nicht durch Gewalt zum Übertritt zum Christentum zu
bewegen. Er wollte, daß die Leute aus Überzeugung konvertieren. Um
ihr Vertrauen zu gewinnen, deuteten die Abgesandten des Zaren
vorsichtig an, daß sich im Moskauer Reich bereits moslemische
Gemeinden befanden, die mit Erlaubnis des Zaren in Frieden ihren
Glauben ausüben konnten. Allerdings mußte ein Tatar, der in den
persönlichen Dienst des Zaren eintreten wollte, Christ sein, denn
Ivan selbst war strenggläubig.
Die beiden Tataren würden in dieser Nacht übertreten. Und
bald, dessen war Boris sich sicher, wäre auch er einer der wenigen
Auserwählten des Zaren, einer seiner besten Männer. Früh am
nächsten Morgen wurden die beiden Tataren von einem der
mitreisenden Priester in der Wolga getauft. Nach russischem Ritual
wurden sie dreimal ganz untergetaucht. Diese Szene konnte dem
jungen Zaren nicht entgangen sein. Zwei Tage darauf erreichten sie
die große Grenzstadt Niznij Novgorod. Sie erhob sich drohend über
dem Zusammenfluß von Wolga und Oka. Östlich lagen die ausgedehnten
Wälder, in denen die Mordvinen lebten. Im Westen befand sich das
Herz des Moskauer Reiches. Die hohen Wälle und die weißen Kirchen
der Stadt blickten über die Eurasische Ebene hin, als wollten sie
sagen: Hier ist das Land des Heiligen Zaren –
unerschütterlich.
In Niznij Novgorod stand das Makarius-Kloster mit seinem
großen Markt. Boris ging durch die Straßen und freute sich, wieder
zu Hause zu sein.
Die zurückkehrende Armee wurde von der Bevölkerung begeistert
empfangen. Die Tataren hatten sich so oft in ihre Angelegenheiten
gemischt in der Vergangenheit, und außerdem war die Stadt Kazan
ihre Rivalin im Osthandel.
Am Nachmittag, als der Arbeitstag zu Ende war, traf Boris die
junge Frau. Sie stand vor einem langgestreckten hölzernen Gebäude,
in dem sich ein öffentliches Badehaus befand. Sie war eine typische
Vertreterin ihrer Schicht.
Während die Frauen der oberen Klassen völlig abgeschieden
lebten und ihr Gesicht in der Öffentlichkeit nicht zeigten,
stellten sich die Frauen aus dem Volk gern zur Schau.
Ihr Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen knallrot. Ihre
mandelförmigen Augen unter den kräftig nachgezogenen Brauen standen
weit auseinander. Boris schloß, daß auch Mordvinenblut in ihren
Adern floß. Sie trug eine rote Samtkappe, ein langes besticktes
Gewand, das sicher teuer gewesen war, und hellrote Schuhe. Sie
merkte, daß Boris sie beobachtete, und erwiderte seinen Blick
leicht amüsiert. Während er auf sie zutrat, lächelte sie. Da sah
er, daß ihre Zähne schwarz waren.
Dieses Schwärzen der Zähne wurde mit Quecksilber vorgenommen,
und Boris hatte gehört, daß die Sitte von den Tataren stammte. Als
er das erstemal mit einer solchen Frau ausgegangen war, hatten ihn
die schwarzen Zähne abgestoßen. Inzwischen hatte er sich daran
gewöhnt.
Sie blieben kurz an einem Getränkestand stehen, wo Wodka
ausgeschenkt wurde. Es war ursprünglich kein russisches Getränk,
sondern im vergangenen Jahrhundert aus dem Westen über Polen nach
Rußland gekommen. Tatsächlich rührte der Name »Wodka« von der
falschen Aussprache der lateinischen Bezeichnung aqua vitae
durch die russischen Kaufleute her.
Boris wurde warm von dem Getränk. Danach nahm sie ihn mit auf
ihr Zimmer.
Ihr Leib fühlte sich glatt und geschmeidig an. Als er bezahlt
hatte und gehen wollte, fragte sie, ob er verheiratet sei. Als sie
hörte, er sei kurz davor, lachte sie fröhlich. »Sperre sie ein und
traue ihr nie«, rief sie ihm nach, als sie sich an der Haustür
trennten. Er erschrak, als in diesem Augenblick mehrere Leute aus
der Kirche gegenüber kamen. Sie trugen Pelze. Boris erkannte die
hohe junge Gestalt in ihrer Mitte sogleich. Ob der fromme Herrscher
ihn wohl mit dem Mädchen gesehen hatte? Offensichtlich war es der
Fall, denn zuerst blickte er dem Mädchen aufmerksam nach, dann
richtete er seinen durchdringenden Blick auf Boris. Der hielt den
Atem an. Ivan lachte nur, ein hartes Lachen, ehe er sich mit seinen
Freunden entfernte.
Boris konnte nur hoffen, daß diese Begegnung die Meinung des
Herrschers über ihn nicht geändert hatte und damit seine Pläne
durchkreuzte.
Zwei Tage bevor der Oktober zu Ende ging, erreichten sie die
große Stadt Moskau. Sie waren von Niznij Novgorod durch das
Herzland von Muscovia gekommen, zuerst in die alte Stadt Vladimir,
wo sie erfuhren, daß Zar Ivan einen Sohn bekommen hatte. Dann hatte
Ivan eine größere Gruppe von Leuten zuerst ins nahe gelegene Suzdal
geführt und weiter in das berühmte Dreifaltigkeits-Sergios-Kloster,
vierzig Meilen von der Hauptstadt entfernt, damit Gott der
gebührende Dank abgestattet werde.
Während Boris dem Zaren folgte, in die Städte, tief in
Rußlands Wälder hinein und über Grasland, dachte er, daß er nun
Gottes Absicht und das Schicksal des jungen Zaren klarer vor sich
sehe als zuvor. Die endlose Steppe, dachte er, wird endlich von
Rußlands starkem Herzen erfüllt werden.
Es schneite ganz fein, als sie Moskau erreichten, die Flocken
tanzten leicht durch die Luft. Die Stadt lag am Zusammenfluß von
Moskwa und Jausa. Boris war überwältigt von ihrer Größe. Moskau war
damals eine der größten Städte Europas – so groß wie das
ausgedehnte London oder das mächtige Mailand. Die Vorstädte zogen
sich weit hinaus in die umgebenden Dörfer, daß es schwierig war, zu
unterscheiden, wo die eigentliche Stadt anfing. Zuerst begegnete
man den festungsähnlichen Klöstern, den äußeren Vorstädten mit
Gewerbebetrieben, Obstpflanzungen und Gärten. Dann kam man zu dem
schützenden Wall, der sich um die Erdstadt schloß, wo das niedere
Volk lebte; nun die gemauerten Wände der Weißen Stadt, die Gegend
der Mittelklasse. Endlich der kitajgorod, das reiche Viertel
neben den hoch aufragenden Mauern des Kreml. Als sie durch die
Vorstädte kamen, war schon eine Menge Volkes auf den Straßen. Von
überall her klangen Glocken durch den Schnee. Mauern, Türme, die
goldenen Kuppeln der Klöster tauchten undeutlich im Schneegestöber
auf. Als sie sich der Zitadelle näherten, hörte es allmählich auf
zu schneien, und vor ihnen lag die großartige Stadt.
Boris hielt bei diesem Anblick den Atem an. Die Kavalleristen
mit spitzen Helmen oder hohen zylindrischen Pelzmützen ritten stolz
auf die Stadttore zu. Ihnen zur Seite marschierte das neue
Elitekorps des Zaren, die streltsij – die Strelitzen
–, und die Hellebardiers hatten Schwierigkeiten, die begeisterte
Menge zurückzuhalten, die aus den Stadttoren strömte. Aus der
Stadtmauer wuchsen in regelmäßigen Abständen hohe Türme mit steilen
Zeltdächern. Hinter ihnen lag das umschlossene Meer der Holzhäuser,
durchsetzt mit Steintürmen und Kuppeln.
Moskau, die Stadt der Zaren. Bei Ivans Krönung wurde ihm eine
Mütze aus Pelz und Gold aufs Haupt gesetzt, von der es hieß, sie
habe Monomach gehört, dem größten aller Fürsten in den Tagen der
alten Rus. Doch die Autokraten von Moskau gingen weit über das
hinaus, was Monomach sich in den vergangenen Tagen von Kiev
erträumt hatte. Wenn eine Stadt fiel, wurden die Mitglieder der
Fürstenfamilie aufgeteilt und zu Staatsdienern gemacht; die
führenden Bojaren wurden in anderen Provinzen angesiedelt. Als der
Großvater des jungen Zaren Novgorod übernahm, entfernte er selbst
die Glocke, mit der das vetsche zusammengerufen worden war,
um zu demonstrieren, daß es mit der Freiheit der Bürger für alle
Zeiten vorbei sei.
Moskau, Stadt der Kirche und des Staates. Nach Meinung vieler
Kirchenmänner sollten staatliche und religiöse Obrigkeiten in
völligem Einvernehmen miteinander regieren. Das war das
byzantinische Ideal des ehemaligen oströmischen Reiches. So war es
auch in Moskau. Hatte der junge Zar nicht bereits zwei große
Reformprogramme verabschiedet, eins für die Verwaltung und ein
zweites für die Kirche? Ivan würde keine Magnaten tolerieren, die
das Volk unterdrückten, keinen Klerus, der nachlässig oder
unmoralisch in seinen Gewohnheiten war.
Eine lange Prozession kam von den Stadttoren her. Der Klerus,
vom Metropoliten angeführt, prächtig gewandet, trug Banner und
Ikonen zur Begrüßung des Zaren. »Slava – sei gepriesen,
Retter der Christenheit!« Auf ihrer Reise von Kazan hatte Boris
gehört, daß die Soldaten dem siegreichen Zaren einen neuen Namen
gaben: »Groznyj« – der Furchteinflößende, der Ehrfurchtgebietende
oder, in ungenauer Übersetzung, der Schreckliche.
An Boris' Hochzeitstag hatte es bereits
geschneit. Ein paar Freunde, die er in diesem Jahr gefunden hatte,
holten ihn in dem Häuschen in der Weißen Stadt ab; trotz ihrer
gespielten Heiterkeit fühlte er sich sehr einsam. Der triumphale
Einzug in Moskau schien weit zurückzuliegen, obwohl es nicht einmal
einen Monat her war. Welch ein Tag war das gewesen! Selbst Boris
hatte sich wie ein Held gefühlt, als sie durch die Stadttore zum
Kreml kamen.
Boris trank mit den anderen jungen Burschen in den Tavernen.
Er fühlte sich als Sieger, wenn er nachts bewundernd um die
Zitadelle wanderte. Dann war der riesige Platz nahezu leer. Im
Sommer standen hier die Marktbuden, doch im Winter wurde der ganze
Markt hinunter auf den zugefrorenen Fluß verlegt. Neben der weiten
Fläche erhoben sich die unüberwindlichen Mauern der Festung mit den
hohen Türmen. Irgendwo dort drinnen wohnte der Zar. Eines Tages,
dachte Boris, wird man mich hineinrufen. Seine Hochstimmung hielt
an, bis er in das Viertel östlich des Kreml gelangte. Das war der
kitajgorod, der von einer Mauer umgebene Stadtteil, in dem
der hohe Adel und die reichsten Kaufleute wohnten. Hier bestanden
die großen Häuser nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein. Die
hohen Herren feierten gerade. Sein zukünftiger Schwiegervater war
wohl auch dort drinnen. Er lebte zwar nicht da, er hatte ein
gediegenes Holzhaus in der Weißen Stadt, doch er war zu den Festen
der mächtigen Männer in diesem vornehmen Viertel geladen. Dies
erinnerte Boris schmerzlich an das Hauptproblem seines Lebens. Er
war nicht vermögend.
Der Schwiegervater, Dmitrij Ivanov, hatte deutlich gemacht,
daß er Boris seine dritte Tochter nur aus jahrelanger Freundschaft
mit Boris' Vater gebe. Es war nicht so, daß Boris eine großartige
Partie machte, doch etwas Besseres hatte sein Vater für ihn nicht
einfädeln können.
Für Dmitrij war es zweifellos ein Opfer. Der Besitz dreier
hübscher Töchter stellte für den Adligen ein Kapital dar. Sie
wurden zunächst in der Abgeschiedenheit der Frauengemächer oben im
Haus gehalten, und später ließen sich Heiraten zum Nutzen der
Familie arrangieren. Der junge Boris hatte außer seiner annehmbaren
Herkunft nichts, so fiel die Mitgift recht bescheiden aus. Was
seine Gefühle für Elena anlangte, war Boris nervös und unsicher.
Sein Vater hatte die Verlobung schon lange davor abgesprochen, und
als Boris vor dem Kazan-Feldzug nach Moskau kam, hatte er sie
erstmals gesehen. Er kam eines Morgens in das große Holzhaus. Man
bot ihm Brot und Salz an, und er ging, wie es sich gehörte, zu den
Ikonen in der roten Ecke, verbeugte sich dreimal und murmelte:
»Habe Erbarmen, Herr.« Als er sich auf die orthodoxe Art
bekreuzigte, traten Vater und Tochter ein. Dmitrij war klein, dick
und glatzköpfig, in seinem breiten Gesicht standen die Augen nah
beieinander. Sein voller roter Bart reichte bis auf den
vorgewölbten Bauch. Er trug einen leuchtendblauen, golddurchwirkten
Kaftan.
Elena trug ein langes besticktes rosarotes Kleid. Ihr goldenes
Haar hing in einem Zopf auf dem Rücken. Auf dem Kopf trug sie ein
einfaches Diadem und über dem Gesicht einen Schleier. Mit einem
leisen Seufzen riß Dmitrij den Schleier weg, und Boris starrte
seine zukünftige Frau an.
Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Ihre blauen,
leicht mandelförmigen Augen standen nah beieinander; das war der
einzige Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit diesem kleinen,
gefühllos aussehenden Mann. Die Flügel ihrer schmalen Nase über dem
eher vollen Mund bebten nervös. Sie war blaß und wirkte angespannt.
Sie hat Angst, ich könnte sie nicht lieben, war Boris' erster
Eindruck. Das weckte ein Gefühl von Zärtlichkeit und Ritterlichkeit
in ihm. Sie weiß nicht, daß sie schön ist, stellte er weiterhin
fest. Auch das war gut. Und während er sie so betrachtete, wurde
ihm klar: Er begehrte sie. Er begehrte sie mit jener Leidenschaft,
die besagt: Du gehörst mir, und ich kann dir nach Lust und Laune
befehlen. Durch mich wirst du noch schöner werden.
Er lächelte sie an – aber Elena blickte zu Boden. Diese
Kleinigkeit war der Grund für seine Unsicherheit am Hochzeitstag.
Und was war das für ein Ausdruck gewesen, der über ihr ängstliches
Gesicht huschte? Enttäuschung oder gar Widerwillen? Aber wenn sie
ihn wirklich nicht leiden konnte, hätte sie das nicht ihrem Vater
gesagt? In diesem Fall hätte Boris ihn von seinem Versprechen
entbunden. Oder hatte sie aus Höflichkeit geschwiegen? Während
ihrer seltenen Begegnungen vor der Hochzeit hatte er sie immer
wieder gebeten, es ihm zu sagen, wenn sie unglücklich sei, doch sie
hatte versichert, alles sei in Ordnung.
Alles ist gut, beruhigte sich Boris, als sie nebeneinander vor
den Priestern standen.
Es war eine lange russische Messe. Die feinen gedrehten
Wachskerzen auf den hohen, mit Marderfellen geschmückten
Wandleuchtern leuchteten und füllten den Raum mit Helligkeit. Die
Luft war schwer vom Duft des Wachses. Die Priester mit ihren langen
Bärten und den schweren, mit Perlen und Edelsteinen besetzten
Gewändern wirkten wie überirdische Wesen, wie sie sich zum Gesang
des Chores feierlich bewegten.
Boris sprach das Gelöbnis und reichte den Ring, der nach
orthodoxer Art an den Ringfinger der rechten Hand gesteckt wurde.
Der bewegendste Augenblick für Boris kam gegen Ende der Messe, als
seine Braut auf die Knie sank, sich vor ihm niederbeugte und seinen
Fuß mit der Stirn berührte zum Zeichen ihrer Unterwerfung. Es war
eine wirkliche Unterwerfung. Wie alle Frauen der oberen Schichten
würde Elena in fast völliger Abgeschiedenheit leben müssen. Dies
war Ehrensache für sie beide. Es war auch Ehrensache für die
Ehefrau, ihrem Gemahl zu gehorchen. Ungehorsam ihm gegenüber käme
dem Ungehorsam eines Soldaten dem Offizier gegenüber gleich.
Manche Männer hielten es für richtig, ihre Frauen zu schlagen,
und Boris hatte gehört, daß die Frauen dies sogar für ein Zeichen
von Liebe hielten. Tatsächlich gab das berühmte, von einem engen
Berater des Zaren verfaßte Hausbuch für das Familienleben, der
»Domostroj«, genaue Anweisungen, wie eine Frau ausgepeitscht,
jedoch nicht mit einem Stock geschlagen werden solle, und wie der
Mann danach liebevoll mit ihr sprechen solle, damit die ehelichen
Beziehungen nicht litten.
Als Boris nun auf diese junge Frau hinunterschaute, die er
kaum kannte, jedoch heftig begehrte, wollte er nichts als sie in
seine Arme nehmen und von ihr jene warme Zuneigung bekommen, die er
nie kennengelernt hatte. Ich will sie lieben und beschützen,
versprach er in stummem Gebet.
Zum Schluß der Zeremonie reichte der Priester ihnen einen
Becher. Als sie beide daraus getrunken hatten, zertrat er ihn mit
dem Absatz. Beim Hinausgehen streuten die Gäste, die fast alle von
Elenas Seite kamen, Hopfenblüten über das Brautpaar. Boris seufzte
erleichtert. Sie waren verheiratet. Nun würde alles gut
werden.
Es folgte die Hochzeitsfeier. Es waren viele Gäste geladen,
und wie üblich wurde der Bräutigam zuvorkommend behandelt. Da dies
ein wichtiges Familienfest war, nahmen auch die Frauen daran teil.
Boris verneigte sich tief vor Elenas alter Großmutter, die von
ihrer luxuriösen Abgeschiedenheit in den oberen Gemächern her die
ganze Familie beherrschte. Sie dankte ihm mit einem Kopfnicken,
lächelte aber nicht dabei – Boris war ein bißchen gekränkt. Auf den
Tischen türmten sich die Speisen. Es gab Gans und Schwan, Blini mit
Sahne, Kaviar, Fleischpastete mit Eiern, den piroschkij.
Außerdem Lachs und jede Art von Süßigkeiten. Auf einem Nebentisch
standen Rot- und Weißwein aus Frankreich. Boris war tief
beeindruckt. Wer sich solche Weine leisten konnte, gehörte zur
oberen Klasse. Bei ihm daheim wurde gewöhnlich Met getrunken. Er
fühlte Dankbarkeit, daß er nun zu diesen offenbar reichen Menschen
gehörte.
Die Gäste setzten sich an die Festtafel, das Hochzeitspaar
nahm die Ehrenplätze ein. Vor dem Mahl wurde Wein ausgeschenkt.
Boris trank ein wenig und lächelte in die Runde. Er hatte keine
große Sympathie für Elenas Vater, doch den Bruder Fedor
verabscheute er geradezu, und ausgerechnet ihm saß er gegenüber.
Während Elenas älterer Bruder dem stämmigen, rothaarigen Vater sehr
ähnlich war, glich der neunzehnjährige Fedor, schlank und
hellhaarig, Elena. Es hieß, er habe sich die Körperhaare auszupfen
lassen. Heute hatte er zwar darauf verzichtet, sein Gesicht zu
pudern, doch offensichtlich war es massiert und mit Salbe behandelt
worden. Selbst über den breiten Tisch weg nahm Boris den Duft des
schweren Parfüms wahr.
Es gab viele solcher Dandys in Moskau. Dandy zu sein galt als
vornehm, trotz der strengen Orthodoxie des Zaren. Viele waren
homosexuell. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Fedor Boris erklärt,
er liebe alles Schöne, ob Junge oder Mädchen, und er nehme sich,
wen er wolle.
»Schafe und Pferde auch, vermute ich«, war Boris' lapidare
Antwort gewesen. Fedor irritierte diese Antwort keineswegs. »Hast
du's schon mal ausprobiert?« fragte er in komischem Ernst, und
dann, mit einem spöttischen Lachen: »Vielleicht solltest du.« Boris
wollte die Angelegenheit nicht weiter tragisch nehmen – Fedor war
schließlich der Bruder seiner Braut. Doch die Abneigung gegen Fedor
wuchs, und er versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Aus irgendeinem
Grund hatte Elena diesen Bruder gern. Das war ihre Hochzeitsfeier.
Boris mußte versuchen, diese Leute zu mögen und gut mit ihnen
auszukommen. Pflichtschuldig hob er sein Glas und lächelte, als der
junge Mann ihm zutrank. Fedor blickte Boris sehr aufmerksam an und
sagte laut, so daß viele es hören konnten: »Sei froh, daß du heute
dort sitzt, wo du sitzt, Boris. In Zukunft wirst du viel weiter
unten am Tisch sitzen als irgendeiner von uns.« Boris fuhr auf:
»Das glaube ich nicht. Die Bobrovs sind auf dem gleichen Stand wie
die Ivanovs.«
Fedor lachte: »Du bist dir doch im klaren darüber, mein lieber
Boris, daß niemand von uns jemals unter dir dienen könnte.« Das war
eine schwere und genau kalkulierte Beleidigung. Boris konnte nun
aber nicht aufstehen und Fedor dafür schlagen. Die Feststellung
über Boris' Familie war vollkommen sachlich vorgebracht, und die
Tatsache konnte in einem Schriftstück nachgeprüft werden.
Möglicherweise, fürchtete Boris, hatte Fedor sogar recht. Die
gesamte russische Oberschicht bis hinunter zum verarmten Adel war
in einem ebenso umfangreichen wie heiß umstrittenen
Geschlechterbuch verzeichnet. Das war der »Mestnitschestvo«.
Entscheidend für den Rang einer Person im System war nicht die
eigene Position, sondern die der Vorfahren im Vergleich zu
Vorfahren einer anderen Person. So konnte ein Mann sich weigern,
bei einem Bankett einen niedrigeren Platz einzunehmen als ein
anderer, er konnte selbst einem hohen Offizier den Gehorsam
verweigern, wenn er nur zu beweisen vermochte, daß etwa sein
Großonkel eine höhere Position innegehabt hatte als der Großvater
des anderen. Dieses Opus war deshalb so umfangreich, weil natürlich
jede Adelsfamilie dem zuständigen Beamten einen möglichst
ausführlichen und beeindruckenden Stammbaum brachte. Dieses System
hatte sich im vorhergehenden Jahrhundert entwickelt und inzwischen
einen solchen Grad von Absurdität erreicht, daß Zar Ivan es im
Kriegsfall außer Kraft setzte, sonst wäre vermutlich kein Befehl
befolgt worden.
Boris wußte von seinem Vater, daß die Bobrovs aufgrund
früherer Dienstleistungen beim Fürsten den Ivanovs, selbst wenn sie
verarmt waren, nicht nachstanden. Hatte sein Vater sich getäuscht,
oder hatte er ihn gar täuschen wollen? Als er jetzt zu Fedor
hinüberblickte, kamen ihm Zweifel an seiner eigenen Position, und
er errötete.
»Es ist nicht die Zeit für derlei Themen.« Das war Dmitrij
Ivanovs Stimme, die das peinliche Gespräch beendete. Boris war
seinem Schwiegervater dankbar dafür, doch das Gefühl der
Verlegenheit wollte nicht von ihm weichen.
Spätnachts brachten die jungen Männer das Paar zurück in
Boris' Haus. Es war klein und da es einem Priester gehört hatte,
weiß getüncht zum Zeichen, daß der Bewohner keine Steuern zahlen
mußte. Boris hatte Glück gehabt mit dem Haus. Dem Brauch
entsprechend hatte er Getreidegarben aufs Brautbett gelegt; nun war
er endlich allein mit Elena. Er sah sie an. Sie lächelte etwas
unsicher.
Was dachte dieses scheue vierzehnjährige Mädchen mit dem
goldenen Haar? Sie dachte, daß sie diesen jungen Mann würde lieben
können; daß sie ihn, auch wenn er in allem etwas unbeholfen war,
lieber mochte als ihren Bruder. Sie hatte Angst, daß sie, weil sie
jung und unerfahren war, nicht wußte, wie sie ihm zu Gefallen sein
könnte. Sie spürte, daß er einsam war, unsicher, voller Ängste und
sehr mißtrauisch. Einerseits wollte sie ihn trösten, ihm helfen,
aus seiner Misere herauszukommen, andererseits fürchtete sie, daß
er statt dessen von ihr verlangen könnte, seine Einsamkeit mit ihm
zu teilen. Dieses instinktive Gefühl der Gefahr hielt sie davor
zurück, sich ihm allzu rasch zu unterwerfen.
Zwei Wochen später traten sie ihre Reise nach Russka an. Es
war ein gleißender Wintermorgen, als Boris und Elena, in Pelze
gehüllt, sich auf einem großen, von drei Pferden gezogenen
Schlitten dem Städtchen näherten.
Auf dem Marktplatz fand gerade ein kleines, aber nicht
unwichtiges Treffen statt. Vom Aussehen her hätte man nicht
schließen können, daß diese vier Männer – ein Priester, ein Bauer,
ein Kaufmann und ein Mönch – Vettern waren. Und nur der Priester
wußte, daß er ein Nachkomme von Yanka war, jener Bauersfrau, die
den Tataren getötet hatte.
Vor allem Michail, der Bauer aus Sumpfloch, zeigte sich
besorgt. Er war ein vierschrötiger, breitbrüstiger Bursche mit
einem dunkelbraunen Lockenkranz und sanften blauen Augen. Jetzt sah
sein sonst so freundliches Gesicht bekümmert drein. »Glaubst du
wirklich, daß ihre Mitgift klein ist?« Der großgewachsene Priester
bejahte.
»Das ist schlimm, sehr schlimm.« Und der arme Mann starrte
unglücklich auf seine Füße.
Stefan sah ihn mitleidig an. Seit vier Generationen zuvor sein
Urgroßvater nach einem Mönch aus der Verwandtschaft getauft worden
war, erhielt jeweils der älteste Sohn der Familie den Namen Stefan
und wurde Priester. Auch seine Frau war Tochter eines
Priesters.
Stefan war zweiundzwanzig, eine stattliche Figur, die Würde
ausstrahlte. Sein Bart war sorgfältig gestutzt, die blauen Augen
blickten ernst. Er hatte Verbindungen in Moskau, und da er lesen
und schreiben konnte – für einen Priester der damaligen Zeit
ungewöhnlich –, stand er in Briefwechsel mit Personen in der
Hauptstadt. So war es ihm möglich gewesen, Auskünfte über Elena
einzuholen, und die Informationen waren eindeutig.
»Eine Ehefrau ohne Geld – denkt euch nur, was das für mich
bedeutet!« jammerte Michail. »Er wird das Letzte aus mir
herausholen.«
Alle verstanden sein Problem. Sumpfloch war Boris' ganzer
Besitz. Die einzige Möglichkeit, eine Frau und bald eine Familie zu
unterhalten, bestand in intensiverer Nutzung des Bodens und
größerer Ausbeutung der Bauern, die ihn bewirtschafteten. »Ihr zwei
habt Glück«, meinte Michail zu Stefan und dem Mönch Daniel. »Ihr
seid Geistliche. Und du«, wandte er sich an den Kaufmann, »was
kümmert's dich? Du lebst in Russka.« Lev, der Kaufmann, ein
stämmiger Mann von fünfunddreißig Jahren, hatte ein hartes
Tatarengesicht und listige schwarze Augen. Er handelte vor allem
mit Fellen, hatte seine Geschäfte jedoch erweitert und war als
Geldverleiher erfolgreich. Wie in Rußland oft der Fall, war auch in
jener Region das Kloster der wichtigste Geldverleiher, da es über
das höchste Kapital verfügte. Doch die allgemein expandierende
Wirtschaft der vergangenen hundert Jahre hatte vielen Kaufleuten
die Möglichkeit verschafft, selbst Kredite zu gewähren, und in
Rußland liehen sich Menschen aller Klassen Geld.
Die Zinsen waren hoch; Wucherer verlangten hundertfünfzig
Prozent und mehr.
Seit Russka vom Kloster übernommen worden war, wurde es
größer. Es gab nun mehrere Reihen von Hütten, manche von
beachtlichem Umfang. Über fünfhundert Menschen lebten in den
inzwischen verstärkten Mauern. Über dem Stadttor erhob sich ein
hoher hölzerner Wachturm mit steilem Zeltdach. In Russka herrschte
eine geschäftige, wohlgeordnete Atmosphäre. Auf dem Marktplatz, wo
es neben einer älteren Holzkirche nun auch eine Steinkirche gab,
waren das ganze Jahr über Stände aufgestellt, und die Leute kamen
aus den benachbarten Orten. Ein Tributeinnehmer kassierte an Ort
und Stelle die Zollgebühren der Händler; doch die vom Kloster
gelieferten Waren waren zollfrei, und dieser Umstand lockte
besonders viele Käufer an. Lev wandte sich an Michail und legte ihm
den Arm um die Schultern. »Ich würde mir keine Sorgen machen«,
sagte er mit ruhiger Stimme. »Ist dir nicht klar, daß der junge
Herr Boris seinen Besitz ohnehin nicht mehr lange behalten wird,
wenn dieser Bursche hier freie Hand hat?« Und damit deutete er auf
den Mönch neben sich.
Die Schlitten glitten leicht auf der
glitzernden Bahn des zugefrorenen Rus dahin. Im ersten saßen Boris
und Elena, im zweiten fünf tatarische Sklaven und Elenas Jungfer
neben einem Haufen Gepäck.
Da lag nun endlich Russka vor ihnen. Wie still es war! Boris
drückte Elenas Hand und seufzte vor Glück.
Elena lächelte. Gott sei Dank, dachte sie, ist der Ort nicht
so klein, wie ich befürchtet habe. Vielleicht gibt es ein paar
Frauen, mit denen ich mich ab und zu unterhalten kann. Schon waren
sie vor dem Tor. Als sie auf den Marktplatz fuhren, sah sie die
vier Männer in der Mitte stehen, die sich beim Anblick der
Schlitten höflich verneigten.
Den Ausdruck auf dem Gesicht des Mönchs konnte man nicht
sehen, denn der dicke schwarze Bart ließ nur die Augen frei, die
aufmerksam beobachteten, und einen Teil der pockennarbigen Wangen.
Er war von untersetzter Statur, und seine leicht gebeugte Haltung
konnte auf die demütige Ergebenheit eines Geistlichen hindeuten,
und doch flackerte in seinen sanften braunen Augen eine versteckte
Leidenschaftlichkeit. Er musterte das junge Paar eingehend.
Stefan bemerkte dies, und die beiden taten ihm leid. Er hatte
Boris' Vater gern gehabt, und er wünschte auch dem Sohn nur Gutes;
dagegen war er seinem geistlichen Bruder nicht eben wohlgesinnt.
Daniel selbst war zwar mittellos, doch besessen vom Gedanken an
Reichtum – für das Kloster.
Er ist habgierig im Namen Gottes, dachte Stefan bei sich. Es
ist ein Verbrechen.
Der große Kampf zwischen jenen, die meinten, die Kirche solle
ihre Reichtümer aufgeben, und jenen, die für eine reiche Kirche
sprachen, tobte seit Generationen. Die Gruppe der Geistlichen, die
glaubten, die Kirche müsse zu einem Dasein in Armut und Einfachheit
zurückkehren, ging in die Geschichte als »die Uneigennützigen« ein;
die meisten Leute in Russka und in der Hauptstadt nannten sie
liebevoll »die Nichthabgierigen«. Sie konnten sich allerdings nicht
durchsetzen. Um das Jahr 1500 erklärte der Kirchenrat, daß
Ländereien und anderer Besitz der Kirche die irdische Machtstellung
in erstrebenswerter Weise sicherten. Wer anders dachte, galt als
Häretiker.
Der Mönch Daniel hatte in allen geschäftlichen Belangen solche
Umsicht bewiesen, daß der Abt des Klosters Peter und Paul ihm die
Aufsicht über die klösterlichen Aktivitäten in der kleinen
Handelsstadt übergab. Die geheime Mission bestand darin, den Abt
bei der Vergrößerung des klösterlichen Landbesitzes zu
unterstützen.
Darin würde Daniel wohl erfolgreich sein. Seit Generationen
hatte die Kirche ihren Landbesitz innerhalb der Gemeinde
fortlaufend erweitert. Zwei Jahre zuvor hatte Zar Ivan versucht,
dieses Wachstum zu beschränken, indem er anordnete, daß Klöster und
Kirchen bei Schenkung oder Erwerb von Ländereien seine Erlaubnis
einzuholen hätten. Doch solche Gesetze traten selten wirklich in
Kraft. In der Zentralregion des Moskauer Reiches besaß die Kirche
zu der Zeit etwa ein Drittel des Landes.
Es gab zwei attraktive Ländereien in der Nähe; das eine Gebiet
lag im Nordosten, nun wieder in den Händen des Moskauer Fürsten;
das andere war der Ort Sumpfloch.
Boris' Vater hatte seinen Besitz behaupten können; aber ob der
junge Mann bei der geringen Mitgift seiner Frau dazu in der Lage
sein würde? Daniel hegte große Zweifel daran. Entweder würde Boris
das Land gegen eine Pacht auf Lebenszeit an das Kloster abgeben,
was häufig geschah, oder er würde es gleich verkaufen. Ansonsten
hatte er die Möglichkeit, sich immer tiefer in Schulden zu stürzen.
Und auch dann würde das Kloster den Besitz schließlich
übernehmen.
Wie dem auch sein mochte: Boris würde ein Leben in Ehren
führen. Nach seinem Tod würden die Mönche für den edlen Wohltäter,
der sein Land dem Dienst an Gott weihte, beten. Eine Schwierigkeit
sah Daniel allerdings voraus. Wenn der junge Mann die Absichten des
Klosters kannte, würde er, wie sein Vater, alles daransetzen, seine
Unabhängigkeit zu bewahren. Er würde unter allen Umständen
vermeiden, Geld vom Kloster zu leihen.
»Hier kommst du ins Spiel«, hatte er Lev, den Kaufmann, tags
zuvor angewiesen. »Wenn der junge Mann Geld leihen will, biete ihm
einen Kredit an, und ich übernehme die Garantie.« Lev hatte gelacht
und gemeint: »Ach, ihr Mönche…« Und nun kam der junge Mann auf sie
zu.
Als der Schlitten den Platz überquerte, hörte Elena ihren Mann
leise fluchen. Als sie ihn überrascht ansah, lächelte er ihr nur
entschuldigend zu.
»Meine Feinde«, flüsterte er. »Das sind alles meine Vettern.
Nimm dich vor allem vor dem Priester in acht«, fügte er hinzu. Die
vier Männer blickten ihr unschuldig entgegen. Boris' Furcht vor dem
Priester hatte nur einen Grund: Stefan konnte lesen, und Boris
selbst konnte nur wenige Wörter entziffern. Er wußte, daß viele
Adlige bei Hof lesen konnten. Die Mönche und Priester in den großen
Klöstern und Kirchen beherrschten ihre eigene Kirchensprache in
Wort und Schrift. Was aber fing der Pfarrer einer kleinen Gemeinde
mit Büchern an? Boris schien das verdächtig. Die Katholiken oder
diese merkwürdigen deutschen Protestanten, die mit Moskau Handel
trieben, konnten wahrscheinlich auch lesen.
Daß Daniel, der Mönch, hinter seinem Land her war, konnte
Boris verstehen. Aber was Stefan wohl im Schilde führte? Die kleine
Gruppe begrüßte die Ankommenden höflich. Sie lächelten Elena
respektvoll zu. Dann fuhr der Schlitten weiter zu dem kleinen Haus
am Ende des Platzes, wo der Verwalter, seine Frau und die
Bediensteten das junge Paar erwarteten. Am nächsten Morgen
inspizierte Boris seinen Besitz in Sumpfloch. Der alte Verwalter
führte ihn umher. Er war schon da gewesen, als Boris noch ein Kind
war, und er war kein schlechter Kerl. Jedenfalls war er ehrlich,
soweit Boris wußte.
»Es ist alles in gutem Zustand, wie dein Vater es hinterlassen
hat«, sagte er.
Boris blickte nachdenklich umher. Als die Sachverständigen des
Zaren nach Ivans neuerlichen Steuerreformen Russka besuchten,
inspizierten sie den Besitz der Bobrovs eingehend. Es handelte sich
um etwa dreihundert tschetvezts, was ungefähr
siebzehnhundert Hektar entspricht. Die Bobrovs hatten in zweierlei
Hinsicht Glück: Erstens befanden die Sachverständigen, daß ein Teil
des Landes von minderer Qualität sei, wodurch sich die Steuern
reduzierten. Zum zweiten war das hochwertige Areal ein wenig zu
groß, als daß es nach den Standardmaßen der Steuertabelle exakt
hätte erfaßt werden können.
Die russischen Sachverständigen für Grund und Boden vermochten
gewisse Teilstücke, Bruchteile, nicht zu berechnen und steuerlich
nicht zu taxieren. Zum Beispiel war ein Zehntel in den
Steuertabellen nicht vorgesehen. Sie wußten auch nicht, wie man
Brüche mit unterschiedlichen Divisoren addiert oder subtrahiert.
Sie stellten fest, daß der gute Boden in Sumpfloch etwa
zweihundertvierundfünfzig tschetvezts umfaßte. Aufgrund der
angedeuteten Probleme blieben mehr als eineinhalb Hektar
steuerfrei.
Boris' derzeitige Einkünfte aus seinem Land betrugen zehn
Rubel jährlich. Und damit ging es ihm gut, verglichen mit anderen,
denen der Zar pomeste – Land als Dienstgut – zugewiesen
hatte. Andererseits hatte er für einen Feldzug für sich und seine
Pferde sieben Rubel aufzuwenden; Rüstung und anderes Gerät waren
bereits in seinem Besitz. An Steuern mußte er vier Rubel jährlich
entrichten. In Russka hatte er geringe Schulden, auch bei Lev, dem
Kaufmann. Wie die Dinge standen, würde er innerhalb einiger Jahre
zwangsläufig immer mehr in Schulden geraten, falls der Zar nichts
für ihn tat.
Doch Boris war nicht mutlos. Mit der Zeit würde er Ivans Gunst
schon erringen. »Ich glaube, wir können die Einkünfte aus dem Land
verdoppeln«, erklärte er dem Verwalter zuversichtlich. Genau das
hatte der arme Bauer Michail befürchtet. Ein Bauer hatte zwei
Möglichkeiten, seinen Herrn zu bezahlen: entweder gab er Geld oder
Naturalien, entrichtete also den obrok, oder er
bewirtschaftete das Land seines Herrn in Fronarbeit, die sogenannte
barschtschina. Die Kombination aus beiden Leistungen war die
Regel. Die Bauern in Sumpfloch arbeiteten nur einen oder zwei Tage
auf dem Land, das Boris für sich behalten hatte. Dazu leisteten sie
obrok für das Land, das sie erhalten hatten. In den
vergangenen zwanzig Jahren hatte der Besitz drei Pächter verloren;
einer war zu einem anderen Herrn übergewechselt, einer war ohne
Erben gestorben, und der dritte war weggeschickt worden. Sie wurden
nicht ersetzt, so hatte Boris' Vater noch einmal vierzig Hektar
gutes Land für sich behalten.
In Michails Abmachung mit Boris war die Aufteilung der
Verpflichtungen nicht festgesetzt. Falls Boris sie ändern wollte,
konnte er das. Er überlegte: Der Pachtzins war zwar mehrfach
angehoben worden, doch der Getreidepreis war noch deutlich höher
gestiegen. »Wir können den obrok reduzieren und die
barschtschina erweitern«, meinte Boris munter. Das Getreide,
das er auf dem zusätzlichen Acker anbauen konnte, würde viel mehr
wert sein als die laufenden Pachteinnahmen. Er würde seine
Einnahmen steigern, während die Bauern natürlich verlieren würden.
Zwei Monate später bat Boris den Kaufmann um einen Besuch in seinem
Haus. Lev wußte, warum. Boris war nicht untätig gewesen; er hatte
alles, was zu seinem Besitz gehörte, einer genauen Prüfung
unterzogen.
Michail, der arme Vetter des Kaufmanns, klagte: »Anscheinend
entgeht ihm nichts. Er ist ein Tatar wie du, Lev.« Bei allem
Mitgefühl für seinen Vetter – Lev bewunderte Boris insgeheim.
Vielleicht wird er uns alle überraschen und seinen Besitz behalten,
dachte er beinahe belustigt. Ihm jedenfalls würde es nichts
ausmachen! Er würde überleben, und wenn das bedeutete, sich überall
lieb Kind zu machen: in Russka natürlich zuerst einmal beim
Kloster, dem das Land gehörte; doch auch bei Boris. Denn man mußte
Umsicht walten lassen. Manchmal gelüstete es die Zaren in Moskau
nach kirchlichen Besitzungen, und sie fanden einen Vorwand, um sie
zu übernehmen. Falls das geschehen sollte, würde der junge Herr,
der dem Zaren diente, eine wichtige Rolle spielen.
Unter solchen Erwägungen erreichte Lev das behäbige,
zweistöckige Holzhaus mit der breiten Außentreppe. Er wurde in den
großen Wohnraum geführt, wo Boris ihn erwartete. »Wie du weißt,
werden die Einkünfte aus Sumpfloch in diesem Jahr stark ansteigen,
doch in der Zwischenzeit brauche ich Kredit; ich denke an fünf
Rubel.«
Lev nickte. Die Summe war bescheiden. »Kann ich dir leihen.
Die Zinsen betragen einen Rubel auf je fünf.«
Zwanzig Prozent! Boris staunte mit offenem Mund. Das waren
höchst angenehme Bedingungen – um die Hälfte weniger, als zwei
andere Kaufleute ihm vorgeschlagen hatten. Lev lächelte. »Meine
Rechnung geht dahin, daß ich die Freunde den Feinden vorziehe,
Herr«, war die entwaffnende Begründung. »Ich hoffe, daß Elena
Dmitreva wohlauf ist!« sagte er höflich.
»Ja danke.« Lev glaubte zu sehen, daß über das junge Gesicht
ein Schatten lief. In der Stadt hieß es, Boris' Frau sei ein
freundliches, sanftes Geschöpf. Außer den beiden Bediensteten und
der Frau des Priesters hatte aber kaum jemand in Russka sie
gesehen. Sie zeigte sich nicht in der Öffentlichkeit. Boris ließ
den Priester zum Messelesen ins Haus kommen, statt seine Frau den
neugierigen Blicken der einfachen Leute in der Kirche auszusetzen.
Das Leben in Russka kam Elena seltsam vor. Überall war es so ruhig.
Anna, die Frau des Priesters, die sie manchmal besuchte, war eine
angenehme junge Person von zwanzig Jahren. Boris hatte gegen die
Besuche nichts einzuwenden. Oft saßen die beiden am Nachmittag im
oberen Stockwerk beisammen. Von Anna erfuhr Elena eine Menge über
die Gemeinde. Sie konnte Boris sogar versichern, daß der Priester
ihm wohlgesinnt sei. Elena hatte sich vorgestellt, daß sie als
verheiratete Frau mit ihrem Mann und ihrem Haus beschäftigt sei und
immer etwas zu tun habe. Da Boris jedoch häufig auf seinem Besitz
war, wußte sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Sie war dreimal im
Kloster gewesen, das von der Familie ihres Mannes gegründet worden
war. Die Mönche hatten sie freundlich empfangen. Sie hatte mit
Boris auch Sumpfloch einen Besuch abgestattet, und dort hatte man
sie mit tiefen Verbeugungen und kleinen Geschenken willkommen
geheißen. Doch da Elena fühlte, daß die Einwohner des Weilers sie
als Anlaß für ihre neuen Verpflichtungen ansahen, legte sie keinen
Wert auf einen weiteren Besuch.
Wie sehnte sie sich nach dem geschäftigen Treiben von Moskau,
dem ausgefüllten Leben mit ihrer Familie! Warum ging ihr Mann nicht
wieder dorthin mit ihr? Er mußte seine Geschäfte in Russka doch nun
bald beendet haben!
Boris gab ihr immer wieder Rätsel auf. Sie war an die häufig
schlechte Laune ihres Vaters gewöhnt und wußte, daß Männer unter
wechselnder Stimmung leiden. Sie hätte es akzeptieren können, wenn
das auch bei Boris so gewesen wäre oder wenn er sie hin und wieder
geschlagen hätte. Darauf war sie schließlich gefaßt. Lev, der
Kaufmann, schlug seine Frau grundsätzlich einmal in der Woche, das
wußte sie.
Doch Boris war stets freundlich, und wenn ihn etwas bedrückte,
zog er sich an den Ofen oder ans Fenster zurück. Wenn sie ihn nach
dem Grund fragte, lächelte er nur vage.
Elena wußte, daß er von ihr erwartete, eine vollkommene
Ehefrau zu sein, so wie Anastasia es für Ivan war. Was aber
bedeutete das? Sie tat ihm jeden Gefallen, war zärtlich, wenn er
Kummer hatte. Doch irgend etwas an ihr schien ihn zu enttäuschen.
Sie bemühte sich vergeblich, den Grund zu finden.
Im Winter kamen beunruhigende Nachrichten aus dem Osten. Die
Garnison in Kazan war zu klein, und nun befand sich das gesamte
Gebiet um die eroberte Tatarenstadt im Aufruhr. »Zar Ivan hat die
duma der Bojaren zusammengerufen, doch sie will nicht in
Aktion treten«, erzählte ein Kaufmann aus der Hauptstadt. Dieses
Ereignis brachte die erste ernste Verstimmung zwischen den jungen
Eheleuten. »Diese verdammten Bojaren«, fluchte Boris. »Ich
wünschte, der Zar würde sie alle erledigen.«
»Nicht alle Bojaren sind schlecht«, protestierte Elena. »Doch,
das sind sie«, schnappte Boris trotzig zurück. »Und eines Tages
zeigen wir ihnen, wo ihr Platz ist.« Er wußte, daß in diesen Worten
eine Beleidigung ihres Vaters verborgen lag, die sie traurig
stimmte. Doch das war ihm jetzt gleichgültig. Einige Wochen
vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Elena war nur von der Frage
besessen, wann sie wieder nach Moskau reisen würden. Sie war sich
nicht im klaren darüber, daß der Grund der Verzögerung das Geld
war. Boris hatte mit ihr nie über seine Finanzen gesprochen. Sie
hatte in ihrem Vaterhaus in Moskau ein angenehmes Leben geführt und
konnte sich nicht vorstellen, welch finanzielle Belastung das
gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt für einen Mann mit
bescheidenen Mitteln bedeutete. Anfang Februar waren sie immer noch
in Russka, und Elena fühlte sich sehr einsam. Also sandte sie eine
Nachricht an ihre Mutter. Das war nicht schwierig. Anna übergab die
Botschaft einem Kaufmann, der nach Vladimir reiste. Der wiederum
reichte sie weiter an einen Freund, der auf dem Weg nach Moskau
war. Elena beklagte sich keineswegs in ihrem Brief, sie bat nur,
ihr jemanden zur Gesellschaft zu schicken – vielleicht eine arme
Verwandte.
Als Ende Februar zwei Schlitten vor ihrem Haus vorfuhren,
stieß Elena einen Freudenschrei aus: Ihnen entstiegen, anstelle der
armen Verwandten, ihre Mutter und ihre Schwester. Sie wollten eine
Woche bleiben. Elenas Mutter war eine große, imposante Frau, und
sie behandelte Boris mit freundlicher Höflichkeit. Die Schwester,
die verheiratet war und schon Kinder hatte, war eine stämmige
Person, die gern lachte. Natürlich bedeutete der Besuch
Extraausgaben. Nach dieser Woche wußte Boris, daß seine Anleihe bei
Lev nicht ausreichen würde. Das ärgerte ihn. Noch schlimmer war,
daß er sich ausgeschlossen fühlte. Elena wollte unbedingt neben
ihrer Schwester schlafen, und die Mutter bewohnte das Zimmer im
oberen Stockwerk, so daß Boris unten am großen Ofen schlafen mußte.
Die beiden Schwestern fanden das höchst amüsant, und er hörte sie
die halbe Nacht plaudern.
Tagsüber fühlte er sich noch elender. Die drei Frauen steckten
unentwegt zusammen und tuschelten miteinander. Boris argwöhnte, daß
es dabei um ihn ging.
Seine Vorstellung von Frauen entsprach der allgemeinen Meinung
jener Zeit. Es waren allerlei Schriften byzantinischer und
russischer Autoren in Umlauf, die die Ansicht von der
Minderwertigkeit des Weibes vertraten.
So war auch Boris der Meinung, Frauen seien unrein. Er selbst
wusch sich immer sorgfältig, nachdem er mit Elena geschlafen hatte,
und während der Zeit ihrer monatlichen Regel mied er ihre Gegenwart
möglichst.
Vor allem jedoch waren Frauen für ihn Fremde. Warum waren
Elenas Mutter und Schwester gekommen? Als er höflich danach fragte,
antwortete Elenas Schwester fröhlich, sie seien nur gekommen, um
die Braut und den Besitz ihres Mannes zu sehen: und sie würden auch
im Nu wieder verschwunden sein. »Hast du sie gebeten zu kommen?«
fragte er Elena mißtrauisch. »Nein«, antwortete sie, der Wahrheit
entsprechend. Boris bemerkte jedoch ihre leichte Verlegenheit. Sie
gehört nicht mir, dachte er. Sie gehört zu ihnen.
Endlich reisten die beiden Frauen ab. Beim Abschied dankte
Elenas Mutter Boris herzlich für die Gastfreundschaft und meinte
vielsagend: »Wir freuen uns, euch bald in Moskau zu sehen, Boris
Davidov. Mein Mann und ich, auch seine Mutter, erwarten euch
sehnsüchtig.«
Das war ein Versprechen möglicher Unterstützung seitens
Dmitrijs und der Hinweis, die alte Dame finde es respektlos, wenn
er sich ihr nicht bald vorstelle. Er lächelte verlegen und dachte
daran, daß der Besuch ihn fast einen ganzen Rubel gekostet hatte.
Und was hatten die beiden wohl mit seiner Frau angestellt? Als sie
wieder allein waren, ließ sich zunächst alles gut an. Boris kam
nachts wieder zu Elena, und sie liebten sich leidenschaftlich. Zwei
Wochen später änderte sich seine Laune schlagartig. Er hatte
verschiedene Mängel an den Gerätschaften und in den
Getreidespeichern entdeckt, die der Verwalter offenbar übersehen
hatte. Gleichzeitig erlag einer der Tatarensklaven einer schweren
Krankheit. Also mußte Boris entweder einen neuen Sklaven kaufen
oder weniger Land bewirtschaften. Er würde wohl eine weitere
Anleihe bei Lev machen müssen.
Elena wartete eine Gelegenheit ab, um mit ihm zu reden. »Du
machst dir zu viele Sorgen«, begann sie. »So ernst ist es gar
nicht.«
»Das kann nur ich beurteilen«, meinte er ruhig. »Aber ich sehe
doch dein trauriges Gesicht«, fuhr sie fort. Sie sagte das mit
leise ironischem Ton. Er warf ihr einen finsteren Blick zu.
Wo nahm sie nur diese Keckheit her? Daran waren bestimmt die
beiden Frauen schuld!
Damit hatte er in gewissem Sinn recht. Elena hatte Mutter und
Schwester des öfteren nach ihrer Meinung über Boris gefragt, und
die hatten ihr erklärt: »Wenn ein Mann Launen bekommt, muß man
einfach darüber hinweggehen.« Dabei bedachten sie nicht, daß Boris
ein ungewöhnlicher Mann war.
Boris bekam den Eindruck, daß Elena seine Stimmung nicht ernst
nahm, und dachte nur: Sie haben ihr beigebracht, mich zu verachten.
Noch konnte er seinen Ingrimm hinunterschlucken, doch dann machte
Elena den größten Fehler.
»Ach, Boris«, sagte sie, »es ist albern, so niedergeschlagen
zu sein.« Albern! Seine Frau nannte ihn albern? Wütend sprang er
auf und ballte die Fäuste. »Lach du mich noch einmal aus, wenn ich
Sorgen habe«, schrie er. Er machte einen Schritt auf sie zu, ohne
zu wissen, was er tat.
Da pochte es an die Tür, und Stefan, der Priester, trat ein.
Er sah äußerst betroffen aus: »Der Zar liegt im Sterben.«
Wohin der Bauer Michail auch blickte – nichts
als Probleme. Der junge Herr Boris war mit seiner Frau zwar wieder
in Moskau, doch er kam von Zeit zu Zeit auf einen kurzen Besuch.
Sicher war es bald wieder soweit. Wer weiß, was er dann vorhatte.
Die neue barschtschina war eine erdrückende Bürde. Neben
seinem Dienst und kleineren Zahlungen an Boris mußte Michail auch
die Staatsausgaben bezahlen. Seine Frau half, indem sie hübsches
Tuch in leuchtenden Farben und mit einem roten Vogelmuster darin
webte und auf dem Markt in Russka verkaufte. Aber er hatte trotzdem
kein Geld übers Jahresende hinaus und gerade genug Getreidevorräte,
die ihn nach einer schlechten Ernte über den Winter brachten.
»Wir könnten doch weggehen«, meinte seine Frau, »noch diesen
Herbst.«
Er lehnte diesen Gedanken nicht ab, doch vorläufig konnte er
nichts unternehmen. Die Gesetze, nach denen ein Bauer seinen Herrn
verlassen durfte, waren fünfzig Jahre zuvor von Ivan dem Großen
erlassen und von seinem Enkel, dem derzeitigen Zaren, erneuert
worden. Ein Bauer durfte seinen Dienst nur zu bestimmten, von
seinem Herrn festgesetzten Daten verlassen, und zwar in den beiden
Wochen um den Sankt-Georgs-Tag, den 25. November. Das hatte
durchaus einen Sinn, denn um diese Zeit war die gesamte Ernte
eingebracht; doch für den Bauern war es die schlechteste Zeit des
Jahres, sich nach etwas Neuem umzusehen. Außerdem waren hohe
Austrittsgebühren zu entrichten. Wenn nach der Kündigung auch das
erledigt war, konnten der Bauer und seine Familie sich frei
bewegen. Aber wohin? Das war Michails Problem. »Warten wir noch ein
wenig, dann sehen wir weiter«, sagte er abschließend. Seine Frau
würde geduldig abwarten, das wußte er. Und da er nicht wußte, was
er machen sollte, beschloß er, sich Rat bei seinem Vetter, dem
Priester Stefan, zu holen.
Keiner sprach darüber, doch jedermann am Hof
in Moskau dachte dasselbe: Man hatte den Zaren verraten, gegen ihn
gemeutert. Im März war Ivan schwer erkrankt, wahrscheinlich an
Lungenentzündung. Er konnte kaum noch sprechen. Den Tod vor Augen,
bat er Fürsten und Bojaren, seinen Sohn, der noch ein Säugling war,
als Nachfolger zu akzeptieren. Doch die meisten schlugen ihm die
Bitte ab – und das war, strenggenommen, offene Meuterei. »Dann
haben wir eine andere Regentschaft, die auf die Familie der Mutter,
diese verdammten Zacharins, übergeht«, lautete das Hauptargument.
Welche Alternative sahen sie? Da war die harmlose, mitleiderregende
Figur des jüngeren Zarenbruders – eine schwachköpfige Kreatur, die
sich selten blicken ließ. Und da gab es Vladimir, den Vetter des
Zaren. Von allen Fürsten war er am engsten mit dem regierenden
Monarchen verwandt, ein Mann mit Erfahrung, ein besserer
Thronanwärter als das Kind.
Am Bett des Schwerkranken wurde debattiert. Selbst Ivans
engste Vertraute drückten sich flüsternd in Ecken herum. Und der
Zar lauschte, und sein Mißtrauen wuchs.
Was würde nach dem Tod des Zaren mit dem Moskauer Staat
geschehen? Würde er in Anarchie stürzen, da die Magnaten einander
gegenseitig bekämpften um der Macht willen? Doch der Zar genas. Die
Höflinge verneigten sich wieder lächelnd vor ihm. Die Nachfolge
seines Vetters Vladimir war kein Thema mehr, als habe man nie
darüber gesprochen. Zar Ivan verlor kein Wort darüber, doch er
vergaß nichts. Und über dem gesamten Hof lag eine düstere
Atmosphäre. Im Mai reiste Ivan mit seiner Familie in den hohen
Norden, um die Dankgebete für seine Genesung in ebenjenem Kloster
zu sprechen, das seine Mutter aufgesucht hatte, als sie mit ihm
schwanger war. Es war ein langer Weg bis in die Wälder kurz vor der
arktischen Leere. Auf der Reise fiel der Kinderfrau der kleine
Prinz, Ivans und Anastasias Sohn, aus den Armen und starb. Boris
und Elena waren im März nach Moskau zurückgereist und hatten sich
in ihrem bescheidenen Häuschen in der Weißen Stadt eingerichtet.
Elena besuchte Mutter und Schwester täglich. Dort hörte sie ständig
Neuigkeiten über die schlimmen Ereignisse am Hof, entweder durch
Elenas Vater oder durch ihre Mutter. Boris war häufig allein, er
hatte nicht viel zu tun. Obwohl sie ein ruhiges Leben führten,
hatte er große Ausgaben: für die Pferde, für Geschenke, und vor
allem für die vielen Meter von Seidenbrokat und Pelzbesatz für
Kaftane und Kleider, die für Höflichkeitsbesuche nötig waren. Er
hoffte sehr, daß diese Investitionen nicht vergeblich waren.
Manchmal spürte er dumpfen Zorn, wenn seine Frau fröhlich von
einem Besuch bei der Mutter zurückkam. Wenn sie nachts
beieinanderlagen, begehrte er sie, hielt sich aber trotzdem zurück.
Wie kann sie mich lieben, wenn sie meine Sorgen nicht teilt?
überlegte er. Mitunter war diese Gefühlskälte seine Art, sie zu
bestrafen.
Die junge Elena dagegen dachte bei diesen Anzeichen von
Gleichgültigkeit, ihr launischer Mann habe kein Interesse mehr an
ihr. Obwohl ihr eher nach Tränen zumute war, zog sie sich stolz
zurück, oder sie richtete eine Barriere zwischen ihnen auf, so daß
er wiederum dachte: Ich sehe, sie will mich nicht mehr. Manchmal
betete Boris vor den Ikonen in der Kirche, daß er und seine Frau
einander lieben und verzeihen könnten, doch im Grund seines Herzens
glaubte er nicht mehr daran. Bei einer solchen Gelegenheit kam
Boris zufällig ins Gespräch mit dem jungen Priester Philipp. Er war
etwa im gleichen Alter wie Boris, sehr schlank, rothaarig, mit
harten, ausgeprägten Gesichtszügen. Als Boris ihm erzählte, daß
seine Familie dem Kloster in Russka eine Ikone, die wunderschöne
Rublev, gestiftet hatte, war Philipp begeistert.
»Herr, ich beschäftige mich eingehend mit Ikonen. Da gibt es
also eine von Andrej Rublev in Russka? Das wußte ich nicht.
Natürlich muß ich sie mir ansehen. Erlaube mir, daß ich dich einmal
dorthin begleite. Das wäre sehr liebenswürdig.« Unversehens hatte
Boris einen Freund fürs Leben gewonnen. Elena erzählte Boris erst
im Juli, daß sie schwanger war. Sie erwartete das Kind zum
Jahresende. Boris war natürlich sehr aufgeregt. Elenas Familie
gratulierte ihm. Und als er an seinen Vater dachte und daran, daß
dieser Sohn ihre edle Linie fortsetzen werde, durchströmte ihn neue
Kraft. Er war fest entschlossen, erfolgreich zu sein und den Besitz
in gutem Zustand zu übergeben. Elenas Vater hatte gleich außerhalb
der Stadt einen Besitz. Sie ging in den Spätsommermonaten oft
hinaus, und so war sie auch jetzt bei ihrer Familie. Am folgenden
Morgen sollte sie mit ihrer Mutter zurückkehren.
Was, zum Teufel, will Stefan bloß von mir? fragte sich Boris.
Er hatte eine Nachricht des Priesters erhalten, in der jener um
eine Zusammenkunft ersuchte. Der junge Priester begrüßte Boris mit
größter Höflichkeit und bat ihn, die Angelegenheit streng
vertraulich zu behandeln; es ging um den Bauern Michail.
Stefan erläuterte in kurzen Worten Michails Dilemma. »Es
könnte sein, daß das Kloster ihn dir wegnehmen will. Sie würden
einen guten Arbeiter gewinnen, und du würdest deinen besten
verlieren – was bedeutet, daß es für dich noch schwerer würde, dich
zu behaupten.«
»Er kann nicht gehen!« brauste Boris auf. »Ich weiß genau, daß
er die Gebühren nicht bezahlen kann.«
Falls ein Bauer kündigte, hatte er hohe Beträge zu entrichten,
über einen halben Rubel – das war mehr als der Gegenwert von
Michails Jahresernte. Und Boris hatte recht – Michail hätte es
nicht bezahlen können.
»Er nicht, aber das Kloster«, entgegnete Stefan ruhig. So war
das! Unlauteres Abwerben eines Bauern, indem man die
Austrittsgebühren für ihn übernahm. Wahrscheinlich würde der Mönch
Daniel ihm, einem Bobrov, so etwas antun. »Du schlägst also vor,
daß ich meinen Bauern einen Teil ihrer Pflichten erlasse?«
»Ein wenig, Boris Davidov. Nur so viel, daß Michail aus dem
Gröbsten herauskommt. Er ist ein guter Arbeiter, und ich kann dir
versichern, daß er nicht von dir weggehen will.«
»Und warum erzählst du mir das alles?« fragte Boris. Stefan
schwieg. Sollte er vielleicht sagen, daß er mit dem wachsenden
Reichtum des Klosters nicht einverstanden war, daß Boris und seine
junge Frau ihm leid taten? Nein, das konnte er nicht tun. »Ich bin
nur ein Priester, ein Zuschauer«, meinte er daher mit einem
vorsichtigen Lächeln. »Nehmen wir es also als meine gute Tat für
den Tag.«
»Ich werde nachdenken über das, was du mir gesagt hast«, sagte
Boris unverbindlich. »Ich danke dir für deine Anteilnahme und die
Mühe, die du dir gemacht hast.«
Damit trennten sie sich, und der Priester war überzeugt, dem
Bauern und seinem Herrn einen christlichen Dienst erwiesen zu
haben. Nachdem er gegangen war, lief Boris nervös im Zimmer auf und
ab. Für welch einen Trottel halten sie mich denn? Denkt Stefan
vielleicht, ich hätte das listige Lächeln auf seinen Lippen nicht
bemerkt?
Es sah vielleicht so aus, als wolle Stefan helfen, doch Boris
glaubte nicht daran. Er dachte an die vier Vettern, wie sie am Tage
ihrer Ankunft in Russka beieinandergestanden hatten. Nein, er
konnte keinem trauen, keinem einzigen – er traute ja nicht mal mehr
seiner Frau. Worauf aber war der Priester aus? Er bereitete
offensichtlich eine Falle vor. Wenn er Michails Verpflichtungen
reduzierte – wer würde davon profitieren? Der Bauer, natürlich,
Stefans Vetter. Und Boris hätte weniger Einkünfte, müßte also
weitere Anleihen machen und würde damit dem Verlust seines Besitzes
an das Kloster einen Schritt näher sein.
Nur in einem Punkt hatte der schlaue Priester wohl die
Wahrheit gesagt: Das Kloster könnte versuchen, Michail abzuwerben,
falls es den Besitz noch nicht übernehmen könnte. Wie sollte er,
Boris, dies verhindern?
Seltsamerweise war es der Priester Philipp mit seiner
Leidenschaft für Ikonen, der die Lösung lieferte.
Der Kreml hatte stets wachsenden Bedarf an pomeste –
Land für Ivans Gefolgsleute. Und so sprachen sich die engsten
Ratgeber des Zaren dafür aus, die Uneigennützigen zu unterstützen
und Land von der Kirche abzuziehen. Der Metropolit suchte nach
einer Möglichkeit, das zu verhindern – und er fand sie.
Der Priester Sylvester, ein Mann, der die Kampagne gegen die
besitzende Kirche betrieb, war ein enger Vertrauter des Zaren und
gleichzeitig mit einem Mann befreundet, den man der Häresie
bezichtigte. Der Metropolit sah darin die Chance, ein weit
gespanntes Intrigennetz zu spinnen. Tatsächlich gelang es auch,
eine Verbindung zwischen einigen Freunden der antikirchlichen
Bewegung und der Familie des Fürsten Vladimir aufzudecken. Diesen
seinen Vetter hatte Ivan mißtrauisch im Visier – schließlich galt
er als möglicher Nachfolger auf dem Thron. Der Metropolit war
entzückt. Der für die reiche Kirche gefährliche Sylvester würde nun
als Freund der Ketzer und der Feinde Ivans entlarvt werden. Ein
Schauprozeß wurde einberufen.
Die Verhandlung wurde für Ende Oktober festgesetzt. Der
Metropolit, der Zar, die hohen geistlichen und weltlichen
Würdenträger würden anwesend sein. Sylvesters Anhänger und Freunde
lebten bereits in Furcht und Schrecken.
Dieser Schauprozeß mochte vielleicht dem Metropoliten genügen,
nicht jedoch Sylvesters Rivalen im Rat. Plötzlich brachten sie noch
einen Fall zur Sprache, Sylvester unmittelbar betreffend. Es ging
um Ikonen.
In der großen Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml hingen
seit kurzer Zeit Ikonen, die unter Sylvesters Aufsicht hergestellt
worden waren. Die Gegner Sylvesters behaupteten nun, die
Darstellungen seien ketzerisch.
Wenn Boris auch nicht die Einzelheiten der Anklage verstand,
so wußte er doch, daß der Vorwurf ernst war. Einige Tage vor dem
Prozeß bot ihm sein Freund Philipp, der Priester, an, mit ihm die
fraglichen Ikonen im Kreml anzusehen.
Die beiden Männer betraten den Kreml durch ein hohes, strenges
Tor und gingen an den wuchtigen Mauern der Rüstkammer vorbei auf
den zentralen Platz.
Da standen die beiden, und um sie herum ragten kuppelgekrönte
Kirchen und Paläste in den trüben Himmel: die Kathedralen Mariä
Himmelfahrt, Mariä Verkündigung, des Erzengels Michael; der
Facettenpalast in italienischer Bauweise, die Kirche der
Niederlegung des Gewandes Mariä, der Glockenturm Ivans des
Großen.
Sie betraten die Verkündigungs-Kathedrale. Die Ikonen, Anlaß
heftiger Diskussionen, boten für Boris keinen ungewöhnlichen
Anblick. Er konnte nichts Schlimmes daran entdecken. Doch der
eifrige junge Priester deutete auf eine Christusfigur mit Flügeln
und aneinandergelegten Handflächen. »Sieh dir das an: Hast du so
etwas schon einmal gesehen?«
»Das ist vielleicht etwas ungewöhnlich«, gab Boris vorsichtig
zu und räusperte sich.
»Ungewöhnlich? Es ist empörend! Ein Götzenbild. Siehst du
nicht, daß der Künstler das einfach erfunden hat? Es ist nicht
gestattet, den Herrn auf diese Weise darzustellen. Außer es kommt
von den Katholiken im Westen«, fügte er finster hinzu. Bei näherer
Betrachtung mußte Boris zugeben, daß der Künstler eine höchst
eigenwillige Auslegung gewagt hatte. »Schau einmal hier!« Philipp
stand vor einer anderen Ikone. »Unser Herr als David, in den
Kleidern eines Zaren. Und dort drüben«, er blickte zu einer
weiteren Ikone, »der Heilige Geist als Taube. So etwas ist für uns
orthodoxe Christen undenkbar! Ketzer machen das. Diese
abscheulichen Katholiken im Westen haben trotz allem etwas Gutes –
die Inquisition. Die fehlt uns hier in Rußland. Das Übel muß an der
Wurzel gepackt werden.« Schweigend verließen sie die Kathedrale.
Als sie auf dem weiten Platz standen, hatte Boris einen glänzenden
Einfall. »Ich glaube, solche Ikonen werden in Russka hergestellt.«
An einem trüben Novembertag kamen die beiden Besucher in Russka an.
Ein kalter, feuchter Wind, der starken Regen, sogar Schnee
ankündigte, blies ihnen ins Gesicht. Philipp hätte lieber eine
angenehmere Zeit abgewartet, doch Boris hatte darauf bestanden,
sofort zu reisen.
Sie gingen in Boris' Haus, der von hier aus eine freundliche
Nachricht an den Priester Stefan mit der Bitte um einen Besuch
sandte. Boris schickte seinen Diener zum Verwalter mit dem eiligen
Auftrag, ein paar fette Hühner zu holen, eine Flasche Wein und
alles, was sonst zu ihrem Wohlbefinden beitragen könnte. Zwei
Stunden später saßen sie zu dritt beim Abendessen. Stefan war
gespannt, ob sein Besuch etwas Gutes für den unglücklichen Michail
bedeuten könne. Der Wein versetzte alle in eine umgängliche
Stimmung. Boris erzählte, daß er hier seinen Geschäften nachgehen
wolle, und bat Stefan, seinem Freund in der Zwischenzeit das Dorf
und das Kloster zu zeigen. Stefan versprach ihm, den Gast am
nächsten Tag herumzuführen.
Zwei Tage später war die Falle gelegt, und Boris schickte nach
dem Mönch Daniel. »Ich bin in einer höchst schwierigen Lage«,
begann er listig. »Es spielt im Grunde keine Rolle, außer im
Hinblick auf kürzliche Ereignisse in Moskau.« Er legte eine Pause
ein. Der Mönch wußte nicht, worauf Boris abzielte. »Ich beziehe
mich auf die Ketzerprozesse«, fuhr Boris aalglatt fort. Diese
hatten am 25. Oktober stattgefunden und waren zu einem
uneingeschränkten Triumph für den Metropoliten geworden. Die
gelieferten Beweise reichten aus für Folter und lebenslange
Haftstrafen. Ganz Moskau war entsetzt.
Als treuer Anhänger des Metropoliten war Daniel hoch erfreut.
Doch er verstand nicht: Was hatten diese Prozesse mit dem jungen
Landbesitzer und seinen Belangen in Russka zu tun? Er blickte Boris
fragend an.
»Es sieht so aus, als hätten wir Ketzertum hier, mitten unter
uns«, sagte Boris. Dabei pochte er mißbilligend auf die
Tischplatte. Daniel starrte ihn an.
Alles lief so einfach ab! Boris war erstaunt, wie glatt und
klug der Priester Philipp seine Rolle spielte – damit hatte er
nicht gerechnet. Der hinterhältige Bursche hatte sich von dem
zuvorkommenden Stefan herumführen lassen und dabei eher harmlose
Fragen gestellt. Er hatte die Ikonen gesehen, die auf dem Markt zum
Verkauf standen. Er hatte sich auch die großen Felder vor den
Klostermauern angesehen. Erst als sie bei Sonnenuntergang vor dem
Stadttor standen und hinunter auf das Kloster blickten, war es aus
Philipp herausgebrochen: »Welch ein kleines und doch so reiches
Kloster!«
»Du denkst, es ist zu reich?« hatte Stefan neugierig gefragt.
»Heutzutage muß man vorsichtig sein, mein Freund«, hatte Philipp
vage geantwortet.
»Natürlich. Du bist also auf der Seite der Uneigennützigen?«
Der Priester aus Moskau hatte zustimmend sein Haupt geneigt. »Und
du?«
»Ich auch«, hatte der Priester aus Russka harmlos geantwortet.
Schweigend waren sie zu Boris' Haus zurückgegangen, wo sie sich zum
Abschied umarmten.
Philipp teilte Boris seine Ansicht mit. »Der Priester gehört
zu den Uneigennützigen. Im Augenblick weiß ich nicht, ob er ein
Ketzer ist, aber jedenfalls liest er zuviel, und außerdem ist er
ein Narr. Es ist nicht abzusehen, in welche Art von Ketzerei er
hineingeraten könnte. Was die Ikonen anbetrifft: Es gibt vier
verschiedene ketzerische Versionen.«
»Also könnte ich jetzt Nachforschungen anstellen?«
»Ich glaube, das solltest du.«
Der Mönch Daniel hatte still abgewartet, während Boris seinen
Gedanken nachhing. »Es sieht so aus, Bruder Daniel, daß die Ikonen,
die im Kloster Peter und Paul hergestellt werden, ketzerischen
Inhalts sind. Sie werden auf dem Markt unter deiner Aufsicht
verkauft. In der gegenwärtigen Lage… könnten das Kloster, zumindest
einige seiner Insassen damit in Gefahr geraten.« Daniel wirkte
jetzt nervös. »Wir nehmen natürlich gern deinen Rat an.«
»Natürlich«, lenkte Boris ein, »aber wenn es sich um höchste
Stellen handelt, wird es doch riskant.«
»Ich fürchte, deine eigene Familie könnte mit dem Geschäft in
Verbindung gebracht werden. Dein Vetter Stefan, der Priester. Er
ist, du weißt das wahrscheinlich, einer der Uneigennützigen.« Boris
sah Daniel erbleichen – trotz des dichten Barts. Seit langem hatte
er diesen Verdacht gehegt. »Selbst wenn er das ist – ich bin
absolut gegenteiliger Ansicht«, sagte er.
»Das weiß ich so gut wie du. Aber wir beide wissen auch, daß
in solchen Zeiten, wenn die Behörden aufmerksam werden… Sie werden
dich, die Ikonen und deinen Vetter überprüfen, mit dem du häufig
gesehen wirst, und sie werden ein Exempel zum Thema Häresie
statuieren.«
Das war die reinste Ironie. Obwohl Mönch und Priester absolut
gegensätzliche Ansichten vertraten, ließen sie sich durch saubere
Analyse und Synthese wie ein Paar Schurken aneinanderketten.
Es entstand eine lange Pause.
»Wie sollen wir verfahren?« fragte der Mönch vorsichtig. Boris
sah gedankenverloren vor sich hin. »Die Frage ist«, überlegte er,
»ob ich meinen Freund, einen Priester in Moskau, davon überzeugen
kann, daß diese Angelegenheit nicht berichtet zu werden braucht. Er
ist ein Fanatiker.«
»Sollte ich vielleicht mit ihm sprechen?«
»Das wäre unklug. Er würde es als Schuldeingeständnis werten.«
Boris schwieg einen Augenblick. »Ich muß auch meine eigene Position
berücksichtigen.« Es wurde still im Zimmer. »Es würde mich
natürlich traurig stimmen«, fuhr Boris nach einer Weile fort, »wenn
Unglück über eine Familie käme, über eine große, zahlreiche
Familie, der wir wohlgesinnt sind.«
Zahlreich. Er sah, wie es in Daniel arbeitete. Er, der Mönch,
Stefan, der Priester, dann Lev, der Kaufmann, und außerdem noch
Michail, auch ein Vetter. Boris wartete, bis er meinte, daß Daniel
vollkommen begriffen habe.
»Natürlich wünschen wir dir und deinem Besitz in Sumpfloch das
Beste«, murmelte der Mönch.
»Nun, ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Boris rasch.
»Sprechen wir vorläufig nicht weiter darüber.« Als der Mönch ging,
bat Boris: »Wenn dir zufällig Lev, der Kaufmann, begegnet, Bruder
Daniel, schicke ihn doch zu mir.«
Am Spätnachmittag lieh Boris sich weitere acht Rubel vom
Kaufmann, und zwar zu dem lächerlichen Zinssatz von nur sieben
Prozent. Ehe er am nächsten Tag mit Philipp nach Moskau
zurückkehrte, versicherte er ihm, daß die anstößigen Ikonen
unverzüglich ausgetauscht würden und Stefan als Anhänger der
Uneigennützigen streng verwarnt worden sei. Außerdem bot er ihm
eine zinslose Anleihe von einem Rubel an, die der erklärte Gegner
der Häresie bereitwillig annahm.
Boris tat nichts für Michail. Es war nicht mehr nötig. Wohin
hätte der Bauer auch gehen sollen?
Im Winter dieses Jahres, als der Boden schneebedeckt war,
machte sich von Moskau aus eine große Expedition unter Führung von
Ivans besten Männern – der brillante Fürst Kurbskij war auch dabei
– nach Kazan auf. Unter den ehrgeizigen jungen Männern war auch
Boris. Vier Wochen später bekam Elena die Wehen. Sie betete: Wenn
ich all diese Schmerzen aushalte, macht Gott sicher, daß Boris mich
liebt. Es wurde ein Mädchen.
Im Jahr des Herrn 1553 setzten in England drei Schiffe Segel.
Unter dem Kommando von Sir Hugh Willoughby, Mitglied einer der
illustren englischen Adelsfamilien, sollten sie eine Handelsstraße
um den Nordosten Eurasiens nach China auskundschaften.
Unglücklicherweise kamen in den tückischen nördlichen Gewässern
zwei der Schiffe vom Kurs ab; monatelang kreuzten Willoughby und
seine Leute durch die Meere, bis sie schließlich bei einer Insel
vor Lappland auf Grund liefen und in der eisigen Dunkelheit, die
den ganzen arktischen Winter hindurch herrscht, fast erfroren
wären.
Ein anderes Schicksal hatte das dritte Schiff, die »Edward
Bonaventura«, auf der Richard Chancellor segelte. Während der
Sommermonate stieß es in eine nördliche Region vor, in der um diese
Jahreszeit die Sonne nicht untergeht. Im August gingen die Männer
in einem seltsamen Land von Bord, wo die einheimischen Fischer sich
ihnen zu Füßen warfen. Sie waren die ersten Engländer seit
Jahrhunderten, die nach Muscovia gelangten. George Wilson gefiel es
in diesem fremden Land. Niemand hatte bisher sonderlich Notiz von
ihm genommen, doch hier war er – zusammen mit seinen
Schiffskameraden – geradezu eine Berühmtheit.
Der kleine Mann hatte etwas Rattenhaftes, man konnte auch
sagen, er sah aus wie ein Schakal in einer Gruppe von Bären. Er war
dreißig Jahre alt, und der einzige Grund, warum er diese Reise
unternommen hatte, war die Tatsache, daß er als Tuchhändler
geschäftlichen Mißerfolg erlitten hatte. Sein Vetter, ein Kapitän,
hatte ihn vor den nördlichen Gewässern gewarnt. Es gebe Treibeis so
hoch wie Berge, hatte er gesagt. Nun, jetzt war er hier, auf halbem
Weg nach China, zwischen Menschen, die wie Bären aussahen. Aber
soweit er es beurteilen konnte, war die Lage nicht hoffnungslos. Im
Gegenteil, seine schmalen Augen leuchteten, wenn er sah, wieviel
Geld man hier verdienen konnte.
Da niemand wußte, wer die Besucher waren oder woher sie kamen,
wurde die englische Gruppe zunächst in Verwahrung gehalten, bis die
»Gastgeber« Instruktionen aus der Hauptstadt erhielten. »Die
Fürsorglichkeit dieser Menschen ist so groß, daß man nicht weiß, ob
wir Gäste oder Gefangene sind«, meinte Chancellor sarkastisch. Es
hatte heftig geschneit, ehe sie in die Hauptstadt gebracht wurden.
So konnte Wilson beobachten, wie die Waren von den Lastkähnen auf
unzählige Schlitten verladen und von den Sammelpunkten zu den
Städten im Inneren des Landes gebracht wurden. Es gab alle Arten
von Waren: Getreide, Fisch, vor allem aber Felle über Felle in
unvorstellbarer Vielfalt – Zobel, Hermelin, Biber, Bären.
Es war eine lange Reise nach Moskau, und mit jeder Meile
entfernten sie sich weiter vom Meer. Dies ist das größte Land der
Welt, dachte Wilson. Diese Menschen in ihrer riesigen,
abgekapselten Welt aus Wäldern und Schnee sind anders als wir, eine
Rasse für sich.
»Das sind rauhe Barbaren«, war Chancellors Meinung. Trotzdem
wurden sie in Moskau herzlich empfangen. Gleich nach ihrer Ankunft
wurden sie vor den Zaren gerufen. Wilsons Knie zitterten. Er hatte
gehört, daß alle Menschen Sklaven des Zaren seien; nun begriff er
den Sinn dieser Worte. Ivan stand am Ende einer großen Halle im
Palast des Kreml. Ihm zur Seite hatten sich die Bojaren, gekleidet
in schwere, kostbare Kaftane, formiert. Wie groß Ivan war, größer
noch durch den hohen pelzbesetzten Hut! Ein blasses, habichtartiges
Gesicht; ein kalter, durchdringender Blick. Die Engländer wurden
von großer Scheu ergriffen. Das war ganz in Ivans Sinn, denn er
wollte diese Kaufleute aus dem fremden fernen Land beeindrucken.
Vielleicht konnten sie ihm von Nutzen sein.
Er gab sich liebenswürdig. Man übersetzte ihm das in Latein,
Griechisch, Deutsch und anderen Sprachen abgefaßte
Empfehlungsschreiben. Daraufhin wurden die Fremden zu einem Fest
eingeladen.
Es übertraf alle ihre Vorstellungen. Hundert Gäste saßen an
der Tafel. Geschirr und Besteck waren aus purem Gold. Es gab
gefüllten Fisch, alle Arten von Braten, exotische Delikatessen wie
Elchhirn, Kaviar, Blini. Der Wein wurde in juwelenverzierten
Pokalen gereicht. Alles war von verschwenderischer Pracht. Zar Ivan
saß in einiger Entfernung von den gewöhnlichen Sterblichen. Das
üppige Bankett zog sich über fünf Stunden hin.
Danach führte man die Fremden durch den fürstlichen Palast.
Nein, dieses seltsame mächtige Reich hatte nicht seinesgleichen.
Den Palast empfand Wilson als prächtig und stillos zugleich. Die
Zimmerfluchten erinnerten ihn an Höhlen. Das Mobiliar war nicht zu
vergleichen mit dem der englischen Paläste – sehr schlichte Stühle
und Bänke, beschlagene Truhen und riesige Öfen. Diese Einfachheit
wurde jedoch mehr als ausgeglichen durch kostbare Orientteppiche
und üppige Wandbehänge aus Seidenbrokat. Die englischen Kaufleute
hatten die Gunst des Zaren errungen, und sie erkannten sehr bald
die großen Möglichkeiten dieses Handelsplatzes, auf den sie durch
Zufall gestoßen waren: Moskau mit seinen Märkten war ein grandioser
Umschlagplatz. Aus dem Osten kamen auf Wolga und Don Baumwolle,
Schafe, Gewürze. Jedes Jahr fanden sich Nogaj-Stämme aus der
asiatischen Steppe mit ihren Pferdeherden ein. Novgorod lieferte
Eisen, Silber, Salz. Andere Städte schickten Leder, Öl, Getreide,
Honig und Wachs. »Die Möglichkeiten sind grenzenlos.« Chancellor
war begeistert. Obwohl Rußland reich an Rohstoffen war, stellte es
außer Waffen keine Waren her. Auf jeden Fall ist das also ein guter
Absatzmarkt für Luxusgüter, dachte Wilson.
Die Engländer fanden auch sehr bald heraus, daß die stämmigen,
kräftigen russischen Kaufleute im Grunde träge waren. »Sie kennen
nichts außer ihrem Land«, meinte Wilson zu Chancellor. »Sie sind
wie erwartungsvolle Kinder.«
»Das denke ich auch, aber vergiß nicht, daß zuerst der Zar
unser Kunde ist.«
Sie hatten festgestellt, daß der Zar ein Monopol auf die
meisten wichtigen Güter, alkoholische Getränke eingeschlossen,
besaß. Ausländische Kaufleute mußten sämtliche Waren zuerst ihm
anbieten.
»Der Zar will auch Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff
haben«, erklärte Chancellor, »und er möchte, daß wir Fachkräfte
bringen, darunter auch Leute aus dem Bergbau. Das habe ich ihm
bereits zugesagt.«
Wilson machte die Bekanntschaft einiger deutscher Kaufleute,
die Aufenthaltserlaubnis in der Stadt hatten. Darunter auch ein
Arzt. Warum also wollte der Zar Leute aus dem fernen England, wenn
er andere bekommen konnte, die viel näher waren? Einer der
Deutschen, der etwas Englisch sprach, erklärte es Wilson. »Vor
etwas sechs Jahren wollte ein Deutscher dem Zaren alle möglichen
Fachleute bringen. Mit über hundert Männern kam er bis in einen
baltischen Hafen. Hätte er sie nach Moskau hereinbringen können,
wären sie mit Hilfe des Zaren bestimmt reich geworden.«
»Und warum kamen sie nicht bis hierher?«
»Sie wurden aufgehalten. Von den litauisch-livländischen
Behörden in Haft genommen.« Er blickte Wilson ernst an. »Die
einflußreichsten Personen standen dahinter.«
»Und warum?«
»Glaubst du denn, mein Freund, daß der Livländische Orden, der
viele der baltischen Häfen kontrolliert, ein Interesse daran hat,
Ivans Position zu stärken? Denkst du, daß Litauen oder der König
von Polen, oder der deutsche Kaiser wollen, daß Rußland stärker
wird als ihre Länder?« Er blickte auf dem Marktplatz umher. »Sieh
dir diese Leute an«, fuhr er fort. »Sie sind rückständig. Sie haben
zwar eine große, aber schlecht ausgebildete Armee. Wenn sie
versuchen, sich der baltischen Häfen zu bemächtigen, werden sie von
den überlegenen Schweden oder Deutschen sofort zurückgeschlagen.
Deshalb ist Zar Ivan auch so froh, daß ihr hier seid. Ihr seid über
den äußersten Norden zu uns gekommen. Es ist ein langer,
beschwerlicher Weg, aber auf diese Weise kann er das Baltikum
umgehen und die Fachleute bekommen, die er braucht.« Was George bei
aller Begeisterung beunruhigend fand, war nicht die Gewalt, die
Grobheit der Menschen, sondern die Übermacht der orthodoxen Kirche.
Überall sah man Priester und Mönche. Wilson war, wie die meisten
seiner Landsleute, protestantisch. Diese Leute hier sind Dummköpfe,
war seine Ansicht. Doch das dachte er ja von fast allen
Menschen.
Als Chancellor im Januar mitteilte, daß er nach ihrer Rückkehr
nach England im Frühjahr eine weitere Expedition nach Muscovia
leiten werde, beschloß Wilson, sich ihm wieder anzuschließen. Er
wollte hier zu Geld kommen. Außerdem hatte der deutsche Kaufmann,
ebenfalls Protestant, eine unverheiratete Tochter – und keinen
Sohn. Das Mädchen war vielleicht ein bißchen schwerfällig, doch
ganz ansehnlich. Wilson fand sie passabel, und er wollte
zurückkommen.
In drei Jahren schlugen die russischen Armeen unter Führung
Kurbskijs und anderer die Tatarenrevolten bei Kazan nieder. Sie
zogen weiter über die östliche Wolga in das Land der Nogajs. Selbst
der ferne Tataren-Khan von Westsibirien hinter dem Ural erkannte
Ivan als Oberhaupt an. Zweimal wurden große Truppenverbände die
Wolga abwärts entsandt, dann durch die Steppe in die verlassenen
Länder um Astrachan, und auch diese Stadt wurde genommen. Zar von
Kazan und Astrachan – sehr fremd klangen die beiden Titel. In den
neu verfaßten Chroniken wurden der Zar und seine Familie
verherrlicht. Ivan hätte nun am liebsten den mächtigen KrimKhan
geschlagen, doch vorläufig war er dazu nicht imstande. Also
versuchte er mit dem sogenannten Livländischen Krieg die Tore
seines Binnengefängnisses zu öffnen, seine Nachbarn im Norden zu
schrecken, jene reichen Häfen an den baltischen Küsten, die er so
dringend benötigte. Zunächst schien er auch Erfolg zu haben. Kein
Wunder, daß Elena wenig von ihrem Mann zu sehen bekam. Boris führte
das Leben eines Gefolgsmannes – ein hartes Leben. Oft gab es wenig
zu essen. Sengende Hitze oder schreckliche Kälte – das war sein
Los. Als abgehärteter Mann kehrte er aus Astrachan zurück, brachte
bescheidene Beute mit, ein paar Rubel wert, mit denen er einen Teil
seiner Schulden tilgte. Seine Beziehung zu Elenas Vater, die nie
eng gewesen war, kühlte weiter ab. Der Grund lag nicht im
persönlichen Bereich, denn Dmitrij war durchaus erfreut über die
Karriere seines Schwiegersohnes, sondern im politischen. Es fing
nach Boris' Rückkehr aus Astrachan an. Elena empfand, daß er
hochgestimmt war. Während die Armee die Steppe und Wüste an der
Wolga unterwarf, hatte Ivan mit seinem engsten Rat einen anderen
Sieg an der Heimatfront errungen: die Reform des Reiches.
Wieder einmal war Ivan, in Übereinstimmung mit den
Zentralisierungsideen des Zeitalters, entschlossen, die Magnaten
und ihre Vasallen zur Strecke zu bringen. Es wurde verfügt, daß
alle Landpächter, ob es sich um Dienstgut, pomeste, oder um
privat ererbte votschina handelte, dem Zaren bei
Aufforderung Militärdienst zu leisten hatten.
»Das wird diese Faulpelze lehren, wer der Herr ist«, äußerte
Boris grimmig vor seinem Schwiegervater. »Weißt du, daß die Hälfte
der Landpächter in Iver niemandem Dienst taten?«
»Dann erkläre mir«, war die eisige Erwiderung, »was genau der
Unterschied zwischen deinem ererbten Besitz und einer einfachen
pomeste ist.«
»Es gibt einen rechtlichen Unterschied; praktisch gesehen, da
hast du allerdings recht, existiert keiner. Wenn du nicht dienst,
nimmt dir der Zar deinen Besitz ab.«
»Und das findest du in Ordnung?«
»Ja. Warum sollte ich dem Zaren nicht dienen? Würdest du es
nicht wollen?«
Das war eine hinterhältige Frage, denn Boris wußte sehr wohl,
daß die Familie seiner Frau mehrere Besitzungen hatte und derzeit
niemand von ihnen Dienst tat.
Dmitrij schwieg.
»Wenn ein Mann dem Zaren nicht dienen will«, fuhr Boris
gelassen fort, »muß ich daraus schließen, daß er ein Feind des
Zaren ist.«
»Einen solchen Schluß solltest du nicht ziehen, junger Mann«,
fuhr Dmitrij auf.
Elena wußte, daß die Situation zwischen ihrem Mann und ihrem
Vater die tiefe Kluft widerspiegelte, die zwischen den Zaranhängern
und den Angehörigen der alten herrschenden Klasse bestand.
Nach anfänglichen Erfolgen wendete sich das Blatt im Norden.
Die baltischen Städte baten Schweden, Litauen, Dänemark um
Schutz.
Es sah so aus, als würde dieser Konflikt nie enden.
Im August 1560 starb Anastasia, die geliebte Gemahlin des
Zaren, das Licht seines Lebens.
Als Elena dies hörte, wurde ihr schwer ums Herz. Sie ahnte,
daß eine Zeit noch größerer Dunkelheit vor ihnen lag.
1566
Oktober. Ein naßkalter, windiger Tag im
Städtchen Russka. Eine einzelne Gestalt reitet langsam auf einem
Rappen auf das Stadttor zu. Vorn auf dem Sattel sind zwei kleine
Embleme angebracht: ein Hundekopf, als Zeichen, daß der Reiter
genau beobachtet, und ein Besen, mit dem die Feinde des Herrn
weggefegt werden. Der Reiter ist schwarz gekleidet. Stolz blickt er
nach allen Seiten, er ist der Herr der ganzen Region. Ein Mönch vor
dem Klostertor bringt sich eilends außer Sichtweite. Vor mehr als
einem Jahr hat er die Gelübde abgelegt. Der Wortlaut entsprach der
Bibel – er schwor, seinen Herrn mehr zu lieben als Eltern oder
Geschwister. Er schwor weiterhin, sogleich kundzutun, falls er
irgend jemanden des Ungehorsams gegen seinen Herrn, den Zaren,
verdächtigte. Die schwarze Gestalt ist mächtig und gefürchtet. Es
stimmt, daß der Mann nicht glücklich ist. Er ist auf dem Weg zu
seinem Heim, zu seiner Frau. Es ist Boris Bobrov.
Endlich hatte Ivan einen verheerenden Schlag gegen all seine
Feinde geführt, der sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Im
Dezember 1564 hatte er ohne jede Erklärung mit einem großen
Wagentroß Moskau verlassen und war am SanktNikolaus-Tag in einer
befestigten Jagdhütte, bekannt als Alexandrovskaja Sloboda, etwa
vierzig Meilen nordöstlich der Hauptstadt, eingetroffen. Niemand
wußte, was dieser Umzug bedeuten sollte. Im Januar hieß es dann, er
habe abgedankt. War das ein politischer Schachzug?
Die Bojaren mußten ihn, aus Furcht vor dem Volk, zurückrufen.
Er kam gnädigerweise und nahm den Bojaren und der Kirche den
heiligen Eid ab, ihn nach seinem Gutdünken regieren und bestrafen
zu lassen, wen immer er wollte. Das war der Beginn des
Terrorregimes. Zar Ivan teilte sein Reich in zwei Teile. Den
größeren ließ er von Bojaren seines Vertrauens in seinem Namen
regieren. Den kleineren verwandelte er in einen weitläufigen
Privatbesitz unter seiner persönlichen Herrschaft, und hier durften
nur Leute wohnen, die er persönlich ausgesucht hatte. Dieses
Personallehen nannte er mit schwarzem Humor opritschnina,
den Witwenanteil nach dem Tod des Gemahls. Seine Gefolgsleute, von
denen er blinden Gehorsam verlangte, hießen opritschniki;
sie gingen stets schwarz gekleidet.
Es war ein Staat im Staat, ein Polizeistaat. Die
opritschniki konnten nur vor ihre eigenen Gerichte gestellt
werden – tatsächlich standen sie über dem Gesetz. Ein Teil von
Moskau gehörte zur opritschnina, ebenso Suzdal und
Gebietsteile oberhalb der Oka und südwestlich von Moskau. Der
größte Teil lag allerdings oben im Norden, fern von den ehemaligen
Fürstenstädten, ein Land eisumschlossener Klöster, mit Pelzhandel,
riesigen Salzvorkommen, reichen Händlern aus dem Norden. Die
mächtige Familie der Stroganovs wurde sogleich beim Zaren
vorstellig, um in diesen Staat im Staate aufgenommen zu
werden.
Auf jedem Besitz machten die Untersuchungsbeamten des Zaren
Station. Wenn der Grundherr loyal war, konnte er bleiben; wenn er
Verbindung zu einem Magnaten oder zu einer der vielen
Fürstenfamilien hatte, wurde er mit großer Wahrscheinlichkeit
entlassen; wenn er Glück hatte, bekam er lediglich einen
schlechteren Besitz.
Auf diese Weise erhielten die opritschniki die frei
werdenden Besitzungen, die sie natürlich als Dienst-pomeste
führten. Russka lag ebenfalls innerhalb der opritschnina;
deshalb befragten nun die Untersuchungsbeamten den jungen Herrn in
Sumpfloch. Genau das hatte Boris gewollt.
»Ich diene dem Zaren auf all seinen Feldzügen«, sagte er.
»Laßt mich, ich bitte euch, einer der opritschniki sein.«
Als er sah, daß sie sich eine Notiz machten, fügte er hinzu:
»Vielleicht erinnert der Zar sich meiner. Sagt ihm, daß er eines
Morgens in der Dämmerung auf unserem Rückzug von Kazan mit mir
gesprochen hat.« Der Beamte lächelte schief. »Wenn das so ist,
erinnert der Zar sich an dich.«
Sie prüften alles sorgfältig und konnten keinen Makel an
seiner Familie finden. Nur ein Problem gab es.
»Wie steht es mit der Familie deiner Frau?« wurde Boris
gefragt. »Dein Schwiegervater hat Freunde in Kreisen, deren
Loyalität nicht gesichert ist. Was kannst du über ihn sagen?«
»Was möchtet ihr denn wissen?« fragte Boris leise. Eine Woche
darauf wurde Boris nach Moskau gerufen. Dort teilte man ihm nach
einer kurzen Unterredung mit, daß er das Land als Dienstgut
behalten könne und nun zu den opritschniki gehöre. »Der Zar
hat sich deiner erinnert«, sagte man ihm. Boris und Elena saßen
beim Essen. Er aß schweigend. Sie saß auf der anderen Seite des
schweren Tisches und stocherte im Gemüse. Anscheinend hatte keiner
von beiden den Mut, das Gespräch zu beginnen. Die Gerüchte aus
Moskau, sollten sie wahr sein, bildeten ein allzu schreckliches
Thema.
Einmal fragte er sie leise nach dem Befinden Levs, des
Kaufmanns. Er war verantwortlich für das Eintreiben der örtlichen
Abgaben und somit ein Angestellter der opritschnina, wie
Boris. Sie arbeiteten in allen offiziellen Angelegenheiten
miteinander. »Und unsere Tochter?« fragte Elena schließlich. Das
Mädchen war Anfang des Jahres an einen jungen Adligen verheiratet
worden. Er lebte zwar nicht innerhalb der opritschnina, doch
in bescheidenem Wohlstand, und Boris hatte sich von der Loyalität
der Familie überzeugt. Elena hatte die Vermutung, daß er froh war,
das Mädchen im Alter von nur zwölf Jahren aus dem Haus zu bekommen.
Obwohl er freundlich zu seiner Tochter war, wußte Elena, daß Boris
einen Sohn anstelle des Mädchens gewünscht hatte. »Es geht ihr
gut«, antwortete er kurz. »Ich habe mit ihrem Schwiegervater
gesprochen.«
Elena reiste jetzt selten nach Moskau. Obwohl ihre Familie
dort war, verspürte sie keine Lust, und Boris ermutigte sie auch
nicht dazu. In der Hauptstadt herrschte eine gespannte, mitunter
schreckenerregende Atmosphäre. Menschen verschwanden, und es war
die Rede von Hinrichtungen. Aus den ehemaligen Fürstenstädten hörte
man von Massenbeschlagnahmungen, Großfürsten und Magnaten verloren
ihre Ländereien und wurden auf elende kleine Höfe in die ferne
Gegend um Kazan verschickt.
»Eine ekelhafte Geschichte«, meinte Elenas Vater, als sie ihn
einmal in der Stadt besuchte. »Die meisten der Hingerichteten haben
überhaupt nichts verbrochen. Und viele Beschlagnahmungen finden
nicht in den Gegenden der opritschnina statt. Dieses
Komplott soll uns alle ruinieren.«
In jenem Frühjahr waren zwar einige Exilanten begnadigt
worden, doch zwei Metropoliten waren zurückgetreten, oder man hatte
sie dazu gezwungen, da sie diesen neuen Terrorstaat nicht hinnehmen
wollten.
Und nun die letzten furchtbaren Nachrichten! Boris betrachtete
Elena. Sie war im Grunde immer noch das Mädchen, das er geheiratet
hatte – leise, ein bißchen nervös, bestrebt zu gefallen –, doch das
Leid hatte ihr eine gewisse Würde verliehen, ein Selbstgenügen, das
er manchmal bewunderte, dann wieder machte es ihn ärgerlich. War
das vielleicht eine heimliche Anklage gegen ihn, wenn nicht sogar
Verachtung? Erst als Boris sein Mahl beendet hatte, fragte Elena:
»Was ist nun wirklich in Moskau geschehen?«
Es war Ivans eigene Idee gewesen, die große Reichsversammlung,
den zemskijsobor, einzuberufen. Nicht, daß sie auch nur im
entferntesten repräsentativ gewesen wäre. Es waren nur annähernd
vierhundert Männer aus dem niederen Adel, der Geistlichkeit und
führende Kaufleute zusammengekommen. Immerhin war es ein
bemerkenswertes Zugeständnis an das Volk, daß eine solche
Körperschaft überhaupt existierte.
Der Krieg im Norden war kein Erfolg gewesen. Rußland brauchte
die baltischen Städte, Polen stellte sich gegen sie, und der Zar
brauchte Geld. Die Idee war, daß der zemskijsobor dem Krieg
und der massiven Abgabenerhöhung zustimmte und dem Feind zeigte,
daß das ganze Land dahinterstand.
Die Reichsversammlung war im Juli zusammengetreten. Sie hatte
sich mit allen Vorschlägen des Zaren einverstanden erklärt. Es gab
nur ein Hindernis: Die unverschämten Abgeordneten, vom neuen
Metropoliten unterstützt, bedrängten Ivan, die opritschnina
aufzugeben. Der Zar war wütend.
»Es waren Verräter, und der Zar hat sie entsprechend
behandelt«, meinte Boris barsch. »Es gibt immer noch viele von
ihnen, viele Kurbskijs, die ausgerottet werden müssen.« Ach ja,
Kurbskij, dachte sie. Abgesehen von Anastasias Tod hatte den Zaren
sicherlich nichts so tief getroffen wie das Abtrünnigwerden des
Fürsten Kurbskij. 1564 war dieser Kommandeur, unter dem auch Boris
nach Kazan gezogen war, nach Litauen desertiert. In militärischer
Hinsicht war er gar nicht so bedeutend, doch er war Ivans Freund
gewesen seit Kindertagen.
»Stimmt es, daß der Zar die ganze Versammlung eingesperrt
hat?« fragte Elena. »Nur sechs Tage lang.«
»Wie viele wurden hingerichtet?«
»Nur drei.« Boris' Gesicht war wie versteinert. »Es war ein
Komplott, weißt du. Sie haben Verrat geübt.« Boris stand auf. »Es
wird keine Versammlungen mehr geben, das sage ich dir!« fügte er
mit einem kurzen Auflachen hinzu.
Elena fragte ihn nicht, ob er dabeigewesen war. Sie wollte es
gar nicht wissen. Nun ging sie zögernd zu ihm hinüber und legte den
Arm um ihn in der Hoffnung, daß ihre Liebe seine Sorgen erleichtern
könnte. Aber er wußte, daß in ihrer Liebe auch Mitleid lag, und das
konnte er nicht hinnehmen; so wandte er sich schweigend ab. In
dieser Nacht schlief er unruhig. Sie hatte sich ihm hingegeben,
aber es war nicht genug gewesen. Sie tat so, als schlafe sie. Er
lief auf und ab. Morgens blickte er durch das Pergament, das das
Fenster abschirmte, in die graue Dämmerung. Er wandte sich um, und
als er sah, daß sie wach war, sagte er: »Ich fahre morgen nach
Moskau zurück.«
Sie wußte nicht, ob sie ihn abhalten sollte. Sie hatte das
Gefühl, versagt zu haben. »Stefans Frau Anne ist krank«, bemerkte
sie dumpf. »Ich habe vergessen, es dir zu sagen.«
Immer wenn der Bauer Michail den Blick über
seine Familie gleiten ließ, wußte er, daß er gut geplant hatte.
Sein ältester Sohn war nun verheiratet und lebte am anderen Ende
des Ortes; um ihn machte Michail sich keine Sorgen. Auch seine
beiden Jüngsten, ein Sohn und eine Tochter unter zehn Jahren,
bereiteten ihm kein Kopfzerbrechen. Aber da war noch Karp, und hier
lag das Problem. Er wird zwanzig und ist noch ledig, dachte Michail
wehmütig. Was soll ich bloß mit ihm anfangen?
Frauen fanden Karp zweifellos attraktiv; er war schlank, gut
gebaut, dunkelhaarig, bewegte sich mit anmutiger Leichtigkeit, und
er ritt auf einem Zugpferd, als wäre es ein Schlachtroß. Doch da
war etwas in seinem Innern, eine Wildheit und Freiheit, die nicht
in die Enge des Dorfes paßten. Einige Mädchen in Russka hatten sich
von ihm verführen lassen. Mehrere verheiratete Frauen hatten sich
ihm heimlich angeboten. Es machte dem Jungen Spaß, nach hübschen
Gesichtern Ausschau zu halten, zu erobern, dann auszuwählen, was
ihm gefiel.
Natürlich war Michail auch froh, Karp im Haus zu haben, denn
er war eine tüchtige Hilfe. Trotz der schwierigen Umstände und der
zusätzlichen Arbeit, die für Boris zu leisten war, erzielten der
Bauer und sein Sohn gute Gewinne aus dem Getreideanbau. Außerdem
hatten sie eine neue, unerwartete Einnahmequelle entdeckt. Drei
Jahre zuvor hatte Michail im nahen Wald ein Bärenjunges gefunden,
dessen Mutter von Jägern getötet worden war. Die arme Kreatur war
erst einige Wochen alt, und Michail brachte es nicht übers Herz,
sie zu töten oder sich selbst zu überlassen; so nahm er den kleinen
Bären zur Freude der Dorfbewohner mit nach Hause.
Nur seine Frau war wütend. »Soll ich ihn vielleicht
durchfüttern?« schrie sie.
Karp dagegen war begeistert. Er konnte erstaunlich gut mit
Tieren umgehen. Als der Bär achtzehn Monate alt war, brachte Karp
ihm ein wenig Tanzen und einige Kunststücke bei. Für die
Vorstellungen ließ er das Tier von der Kette. Oft warfen die Leute
ihm auf dem Markt von Russka Münzen zu. Zweimal war Karp mit dem
Bären schon flußaufwärts bis nach Vladimir gezogen und mit einem
hübschen Sümmchen zurückgekehrt.
Auf diese und andere Weise hatte Michail ganz behutsam, um
weder Eifersucht noch Argwohn zu erregen, Geld beiseite geschafft.
Sein Ziel war klar: »Ich möchte genug haben, um mich von dem Herrn
Boris freizukaufen.«
Das Leben in Russka würde noch schwieriger werden. Auch sein
Vetter Lev, der örtliche Tributeinnehmer, hatte es Michail
anvertraut. »Der Zar möchte das übrige Reich tributpflichtig machen
und die Ländereien der opritschnina abgeben. Tatsächlich
braucht er dringend Geld. Es wird eine harte Zeit werden.« Sicher
würde der Bauer auch von Boris noch mehr geschröpft werden. Es war
Zeit wegzugehen. »Und wohin gehen wir?« fragte Karp.
»Nach Osten«, meinte der Vater, »in die neuen Länder, wo die
Menschen frei sind.«
Im Frühjahr 1567 starb die Frau des Priesters Stefan. Nach den
Regeln der orthodoxen Kirche durfte er nicht wieder heiraten,
sondern mußte als Mönch in den Orden eintreten. Also gab er sein
Häuschen in Russka auf und zog ins Kloster Peter und Paul auf der
anderen Flußseite, doch las er weiterhin die Messe in der kleinen
Steinkirche in Russka, wo man ihm viel Achtung
entgegenbrachte.
Elena vermißte ihren Freund, der ihr so oft Gesellschaft
geleistet hatte. Irgendwie tat ihr der Priester auch leid, der nun
Mönch war.
In jenem September war es offensichtlich, daß ein neuer Krieg
in den baltischen Ländern unmittelbar bevorstand. Boris freute sich
darauf. Während des Sommers war er öfters in Russka gewesen und
hatte außerdem eine ruhige, glückliche Zeit mit Elena verbracht.
Vielleicht würde er doch noch einen Sohn bekommen. Boris hatte auch
den Zaren in Alexandrovskaja Sloboda besucht. Es war ein
merkwürdiger Ort. Der Hauptsitz des Zaren wurde in vielem wie ein
Kloster geführt.
Am ersten Abend in der schwerbewachten Einfriedung wurde Boris
in eine Hütte geführt, wo bereits zwei opritschniki
schliefen, und eine harte Bank wurde ihm zugewiesen. Lange vor der
Morgendämmerung erwachte er durch schrilles Glockengeläut. »Zum
Gebet«, murmelten die beiden, »beeile dich!« In der Dunkelheit des
großen Hofes nahmen seine beiden Genossen ihn in die Mitte; in der
Ferne sah er ein helles Rechteck, das er für die offene Kirchentür
hielt. Doch da hörte Boris plötzlich von oben eine harte Stimme.
»Zum Gebet, meine sündigen Kinder!« tönte es. »Was ist denn das für
ein alberner Mönch?« erkundigte er sich leise. »Halt den Mund, du
Idiot! Das ist doch der Zar!« Es war drei Uhr. Die Morgenandacht
dauerte bis ins erste Tageslicht. Boris entdeckte den Zaren in der
Menge; vielleicht beobachtete der ihn sogar. Nach einiger Zeit
bewegte sich die hohe, dunkle Gestalt an ihm vorbei an die Spitze
der Mönchskette und blieb dort schweigend stehen, strich sich hin
und wieder durch den langen rötlichen Bart, der mit schwarzen
Strähnen durchsetzt war. Plötzlich legte Ivan sich auf den Boden
und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Stein.
Niemals seit jener Begegnung an der Wolga war Boris dem Zaren
so nahe gewesen. Er empfand große Furcht. Das war jedoch nichts
gegen seine Gefühle, die er nach der Messe und der Morgenmahlzeit
hatte, als er allein vor den Zaren gerufen wurde. Dieser war in
einen schwarzen, goldbestickten und pelzbesetzten Kaftan gekleidet.
Er hatte die Gestalt und das scharfe Profil noch in Erinnerung,
aber wie alt war Ivan geworden! Sein Kopf glich fast einem
Totenschädel. Und doch glaubte Boris nach kurzer Zeit wieder den
jungen Zaren vor sich zu haben. Da war der gleiche melancholische
Charme, und die dunklen Augen hatten noch den gleichen traurigen
Ausdruck.
»Es sind viele Jahre vergangen, Boris Davidov, seit wir uns an
den Ufern der Wolga begegnet sind.« Boris nickte.
»Und du erinnerst dich noch an unser Gespräch?«
»An jedes Wort, Herr.«
»Ich auch. Und sage mir, Boris Davidov, glaubst du immer noch,
was du damals über unser Schicksal gesagt hast?«
»Aber ja, Herr.«
Ivan betrachtete ihn nachdenklich. »Rußlands Schicksalsweg ist
hart«, murmelte er. »Der gerade, schmale Weg ist von Dornen
gesäumt. Wir, die wir diesen edlen Pfad gehen, Boris, müssen
leiden. Es muß Blut vergossen werden. Wir dürfen nicht
zurückschrecken. Ist es nicht so?«
Boris nickte. Als er sich die Bedeutung dieser Worte
klarmachte, war er zutiefst bewegt.
»Die Pflichten der opritschniki sind oft hart. Deine
Frau mag meine opritschniki nicht«, fuhr Ivan fort.
Das war zwar eine Feststellung, doch Ivan schwieg abwartend,
und Boris hätte die Möglichkeit gehabt zu widersprechen. Im Grunde
drängte es ihn dazu, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. Nach
einer Weile nickte Ivan. »Gut. Lüge mich niemals an, Boris
Davidov«, sagte er leise. Er wandte sich der Ikone in der Ecke zu
und fuhr mit tiefer, trauervoller Stimme fort: »Sie hat recht.
Glaubst du, Boris Davidov, der Zar wüßte nicht über seine
Untertanen Bescheid? Ein paar dieser Männer sind wie Hunde.« Nun
wandte Ivan sich um. »Und Hunde können einen Wolf jagen und töten.
Es gibt viele Wölfe zum Töten.«
Ivan schwieg, sein Blick ging wieder zur Ikone. Boris hatte
das Gefühl, er sollte gehen, doch davor wollte er noch etwas
fragen.
»Darf ich hier bleiben bis zum nächsten Feldzug?« Das war sein
sehnlichster Wunsch. Ivan blickte zu ihm zurück. »Nein«, antwortete
er leise, »zur Zeit ist es hier ruhig, aber… das ist nicht der
richtige Platz für dich.«
Boris zog sich betrübt zurück, und am nächsten Vormittag
reiste er ab.
Auf dem Rückweg hob sich seine Stimmung auf wunderbare Weise,
als habe sein ganzes Wesen und sein Einsatz in der Sache neuen
Aufschwung genommen.
An einem klaren Septembertag begegnete Boris in Moskau dem
Engländer, und zwar an der Kremlmauer.
Der Mann stand am Ufer der Neglinaja und blickte neugierig
hinüber. Der Blickfang war für George Wilson der Palast, speziell
konstruiert für die erhöhte Sicherheit des Zaren. Das Gebäude war
ein furchteinflößendes Fort aus rotem Ziegel und anderem Stein, in
Schußweite vom Kreml entfernt. Auf der zinnenbekrönten Brustwehr
waren bewaffnete Wachen zu sehen. Boris blickte interessiert zu
Wilson hinüber. Er hatte schon viel von diesen englischen
Kaufleuten gehört, die sich nun in verschiedenen Städten des
Nordens aufhielten. Es war ein lästiger Haufen, doch der Zar hielt
sie offenbar für nützlich.
Das Leben hatte es gut gemeint mit Wilson. Er heiratete das
deutsche Mädchen. Ihr kräftiger junger Körper sagte ihm sehr zu.
Sie hatten zwei Kinder, und er war zufrieden mit seinem Leben. Nach
wie vor war er ein streitbarer Protestant. Immer trug er einige
gedruckte Traktate bei sich, gleichsam zum Schutz gegen die
übermächtige Gegenwart der orthodoxen Kirchenmänner mit ihrem
Weihrauch und ihren Ikonen. Gelegentlich wurde er von einem dieser
Schwarzhemden aufgehalten, die wissen wollten, was es mit diesen
Papieren auf sich habe. Dann erklärte er feierlich, das seien
Gebete, Buße für seinen schlechten Lebenswandel, und damit gaben
sie sich gewöhnlich zufrieden.
Er hatte einige gewinnbringende Transaktionen abgewickelt,
doch keine war so lohnend wie jene, die er gerade plante. Leider
war sie, genaugenommen, illegal, und zwar nicht von russischer,
sondern von englischer Seite her.
Seit Chancellors Rückkehr nach Rußland war der englische
Handel als Monopol mit dem Freibrief der Moskauer Kompanie
organisiert, und es war eine blühende Angelegenheit. Wilson war in
den Handelsniederlassungen zwischen Moskau und den fernen
Nordmeeren beschäftigt und hatte im Grunde über nichts zu klagen
außer über zwei Dinge: Ivan hatte tatsächlich seine Hand auf einen
Teil der baltischen Küste gelegt, insbesondere auf Narva. Außerdem
hatte ein listiger Italiener einige Jahre zuvor zugunsten einer
Gruppe Antwerpener Kaufleute häßliche Gerüchte über die englischen
Kaufleute in Moskau in Umlauf gebracht. Folglich war der englische
Handel über das ferne Nordmeer nicht mehr ganz so einfach wie
ehemals.
»Wenn ich die Gesetze der Kompanie umgehe und Waren auf eigene
Rechnung über Narva schicke, könnte ich hohe Gewinne machen«, sagte
Wilson zu seinem Schwiegervater. Er war nicht der einzige
Engländer, der seine Geschäfte auf diese Weise abwickelte. Wilson
blickte unruhig in die Zukunft. Der Krieg im Norden würde sicher
noch andauern. Die letzte Reise des ersten Bevollmächtigten der
Moskauer Kompanie fand aufgrund der dringenden Bitte des Zaren
statt, ausgebildete Leute und Vorräte für den Krieg im Norden gegen
Polen herbeizuschaffen. Sie waren gerade eingetroffen.
Doch es gab noch eine weitere Neuigkeit, die wie ein Lauffeuer
durch die englische Gemeinde ging: Den reisenden Abgesandten der
Kompanie hatte der Zar eine geheime Nachricht mitgegeben, die
unverzüglich die Runde in der verschworenen englischen Gemeinde
machte: Der Zar hatte bei Königin Elisabeth von England um Asyl
nachgesucht, für den Fall, daß er aus Rußland fliehen mußte. Wilson
überlegte, was zu tun sei.
Und da stand nun einer der Schwarzhemden unmittelbar neben
ihm. Wilson hatte inzwischen ganz gut Russisch gelernt, was
notwendig war in einem Land, in dem niemand eine Fremdsprache
beherrschte. Er entschloß sich, die furchteinflößende schwarze
Gestalt anzusprechen in der Hoffnung, etwas herauszufinden.
Boris war überrascht von der Anrede durch den Kaufmann,
antwortete jedoch höflich. Er war erfreut, daß der Fremde Russisch
sprach, und so unterhielten sich die beiden eine Zeitlang. Wilson
war auf der Hut. Er machte dem Schwarzhemd gegenüber keinerlei
Andeutung, wieviel er selbst wußte. Durch vorsichtiges Fragen fand
er zu seiner Beruhigung heraus, daß Boris, der kürzlich im
Hauptquartier des Zaren gewesen war, nicht den Eindruck drohenden
Unheils hatte. Dieser Engländer wollte einen Posten Pelze, und er
wollte ihn unauffällig haben. Boris hatte zwar nicht viele, doch
sicher konnte er noch welche bekommen. Welch ein glücklicher
Zufall!
»Komm nach Russka«, sagte er. »Keiner von euren englischen
Kaufleuten ist je dort gewesen.«
Der Herbst und das Frühjahr danach waren für
den Mönch Daniel gleichermaßen geschäftig und unruhig. Er stand
nicht mehr so hoch in der Gunst des Abtes. Und dies war seine
eigene Schuld. In seinem Eifer, dem Kloster zu Geld zu verhelfen,
bedrängte er die Händler in Russka zu sehr. Nichts von ihren
Aktivitäten entging ihm, folglich versuchten sie ihn zu betrügen,
wo immer es ging. Natürlich waren beide Parteien in gereizter
Verfassung, was den Profit des Klosters schmälerte.
Obwohl von Zeit zu Zeit diskrete Hinweise an das Kloster
gingen, ließ der Abt, ein älterer Mann, es bei einem halbherzigen
Tadel gegenüber Daniel bewenden. Wenn Daniel zur Antwort gab, die
Stadtmenschen seien allesamt Schurken, glaubte der alte Mann ihm
nur zu gern.
So wäre es endlos weitergegangen, wäre nicht Stefans Frau
gestorben und der Priester nicht zwangsweise ins Kloster
eingetreten. Es dauerte nicht lange, und die Händler, die Stefan
schätzten, baten ihn, zur Verbesserung der Situation die Aufsicht
in Russka zu übernehmen.
Der Abt hatte keine Lust, in Aktion zu treten. Er hatte
irgendwie Angst vor dem tatkräftigen Mönch. Trotzdem machte er hier
und da seine Bemerkungen. »Du hast gute Arbeit in Russka geleistet,
Daniel. Eines Tages solltest du dir eine neue Aufgabe suchen.« Es
bedurfte nur weniger solcher Hinweise, damit Daniel sich in wahre
Arbeitswut hineinsteigerte, was den Abt noch mehr davon abhielt,
ihm nahezutreten. Doch war er um so entschlossener, diesen Mönch
loszuwerden.
Stefan seinerseits beobachtete die Entwicklung, ohne sie
voranzutreiben. Er hatte andere, persönliche Probleme zu lösen;
denn immer noch war er der Geistliche in Russka. Die Leute suchten
seinen Rat. So war es nur natürlich, daß er weiterhin die Messe im
Haus der Bobrovs las und Elena auch häufiger als früher besuchte.
Schließlich konnte das seine verstorbene Frau, Elenas ehemalige
Freundin, ja nun nicht mehr tun. Elena hat, so dachte er, weiß Gott
ein einsames Leben.
Es war tatsächlich so. Im Herbst war sie zweimal in Moskau bei
ihrer Mutter gewesen. Das zweitemal hatte die Mutter sie gefragt:
»Ist Boris eigentlich noch unser Freund?« Als Elena zögerte, weil
sie es selbst nicht wußte, fügte die Mutter rasch hinzu: »Laß nur.«
Und nach kurzem Schweigen: »Sag ihm nicht, daß ich dich gefragt
habe.«
»Möchtest du, daß ich eine Zeitlang hier bleibe?« fragte
Elena. Doch die Mutter wehrte ab. »Im Frühjahr vielleicht«, meinte
sie zerstreut. Elena war nicht nur einsam, sondern auch betrübt.
Wie hätte sie sich da nicht freuen sollen, wenn der Priester sie
besuchte? Schon bald hatte sich zwischen ihnen eine
freundschaftliche Beziehung entwickelt, die harmlos war, solange
sie sich nicht durch Worte oder Gesten verrieten, daß sie
ineinander verliebt waren. Elena bewunderte den hochgewachsenen
dunkelbärtigen Priester, der auf die Vierzig zuging. Er war ein
feiner Mensch. Sie erlebten die Gefühle derjenigen, die vorher
durch Leiden gegangen sind. Er las für sie die Messe. Sie betete.
Dann wieder unterhielten sie sich, doch nie über
Persönliches.
Welch außerordentliches Glück, dachte Daniel,
daß Gott mir die Gabe geschenkt hat, zwei Vorkommnisse zugleich zu
beobachten. Auf diese Weise entgingen ihm nicht die beiden
hochwichtigen, wenn auch nach außen hin kaum auffälligen Ereignisse
an einem Oktobernachmittag auf dem Marktplatz.
Eines betraf den englischen Kaufmann Wilson, der am Abend
zuvor mit Boris eingetroffen war. Nachdem sie einige Zeit bei dem
Kaufmann Lev verbracht hatten, waren die beiden nach Sumpfloch
geritten, und der Mönch hatte sie nicht mehr gesehen, bis er von
der Fähre aus den Engländer in angeregtem Gespräch mit Stefan
unterwegs sah. Daniel fuhr rasch wieder zurück und folgte ihnen.
Sie hatten sich rein zufällig getroffen. Wilson war früher als
Boris nach Russka zurückgekommen, und Stefan ging spazieren. Der
Priester, neugierig auf einen Engländer, überhäufte Wilson mit
Fragen, und der dachte sich, dieser gebildete Bursche werde ihm
vielleicht erzählen, was er wissen wollte.
Bald kamen sie auf die Religion zu sprechen. Wilson war
anfangs zurückhaltend, doch Stefan ermutigte ihn. »Ich kenne euch
Protestanten. Auch unsere Kirche hat eine Reform nötig, obwohl es
unklug ist, gerade jetzt davon zu sprechen.« Wilson zeigte dem
Priester schließlich eines seiner gedruckten Pamphlete.
Stefan war begeistert. »Sage mir, was darin steht«, bat er.
Wilson übersetzte den Inhalt, so gut er konnte.
Es war eine echte Schmähschrift. Die katholischen Mönche
wurden darin als Nattern, Blutsauger, Räuber bezeichnet. Die
Klöster wurden reich und eingebildet genannt, die Gottesdienste
Götzendienst, und in diesem Ton ging es weiter. »Das geht natürlich
gegen die Katholiken«, versicherte Wilson.
Doch der Priester lachte nur: »Das geht auch gegen uns.« Ehe
sie in die Stadt kamen, hatte Wilson das Papier klugerweise unter
seinem Mantel versteckt. Als sie sich am anderen Ende des
Marktplatzes voneinander verabschiedeten, steckte Wilson das Blatt
Stefan als kleines Zeichen der Freundschaft zu. Was macht es schon?
dachte er. Selbst wenn einer lesen kann, versteht er doch kein Wort
davon.
Und das beobachtete Daniel. Im gleichen Augenblick fiel ihm
auch auf der anderen Seite des Marktplatzes etwas auf. Karp, der
Sohn des Bauern Michail, hatte vor ein paar Kaufleuten, die aus
Vladimir gekommen waren, um Ikonen zu kaufen, den Bären seine
Kunststücke vorführen lassen. Sie hatten ihm Münzen hingeworfen,
die Karp aufhob und seinem Vater gab, der neben ihm stand. Das war
alles; doch Daniel war der Ausdruck auf den Gesichtern Michails und
Karps nicht entgangen. War es eine Art Einverständnis? Ja, aber
nicht nur das. Dieser vierschrötige Bauer hat eben ausgesehen wie
ein freier Mann, dachte Daniel. Anscheinend scheffelten sie
Geld!
Daniel merkte sich die beiden Beobachtungen gut, und er wollte
auf alle Fälle noch mehr erfahren.
Im November 1567, als das Heer sich gerade nach Norden über
das verschneite Land auf den Weg gemacht hatte, brach Zar Ivan
plötzlich seinen erneuten Feldzug gegen die baltische Region ab und
eilte zurück nach Moskau. Boris kam mit der restlichen Armee
zurück.
Ein neues Komplott war aufgedeckt worden. Die Verschwörer
hatten gehofft, mit der stillschweigenden Duldung des polnischen
Königs den Zaren im kalten Norden töten zu können. Viele Namen
waren registriert, doch um wie viele mehr mochten an dem geplanten
Anschlag beteiligt gewesen sein?
Im Dezember machten die opritschniki sich ans Werk. Mit
Äxten unter den Umhängen und mit Namenslisten nahmen sie
Hausdurchsuchungen vor. Viele Menschen kamen auf grausame Art ums
Leben. Wer Glück hatte, wurde in die Verbannung geschickt. Am Ende
der zweiten Dezemberwoche drang eine Gruppe der opritschniki
in das Haus des Edelmanns Dmitrij Ivanov ein. Sein Schwiegersohn
Boris gehörte nicht zu ihnen. Sie brachten ihn in eine Waffenkammer
des Kreml. Dort war schon eine große eiserne Pfanne aufs Feuer
gestellt. Darin wurde er zu Tode gequält. Von seinem Tod erfuhr der
Zar durch einen Geheimbericht. Die in dem Schreiben erwähnten Namen
der über dreitausend anderen, die in den kommenden Monaten starben,
seither als »die Synodalen« bekannt, sind der Vergessenheit
anheimgefallen – sie durften nie wieder erwähnt werden.
Gleichzeitig wurden alle Klöster im Land aufgefordert, ihre
Chroniken dem Zaren zur Durchsicht vorzulegen. Auf diese Weise
stellte Ivan sicher, daß keinerlei Berichte über diese furchtbaren
Jahre existierten.
Der Mönch Daniel war voller Zuversicht. Gott sei Dank hatte
ein Mönch anderthalb Jahrhunderte zuvor die gute Idee gehabt, eine
Chronik zu verfassen, und sie enthielt wohl nichts, was den Zaren
hätte stören können. Zur Feier der Siege Ivans über die
moslemischen Khanate von Kazan und Astrachan fünf Jahre zuvor hatte
das Kloster unter den Kreuzen auf den Kirchenkuppeln in Russka
Mondsicheln zum Zeichen des Triumphs der christlichen Armeen über
den Islam angebracht. Unsere Loyalität kann nicht angezweifelt
werden, dachte Daniel zufrieden.
Der alte Abt war so verzweifelt über die neue Säuberungsaktion
in Moskau, daß er kaum in der Lage war, seinen Geschäften
ordnungsgemäß nachzugehen, und das Problem der Verwaltung in Russka
hatte er völlig vergessen.
So griff Daniel im Frühjahr erneut die Frage auf, wie der
Klosterbesitz erweitert werden könne.
Boris' Land, das nun zur opritschnina gehörte, kam
natürlich nicht mehr in Frage. Es blieb noch ein anderer
Landstreifen etwas nördlicher, der jetzt dem Zaren selbst gehörte.
Ob er sich wohl überreden ließ?
Die Idee war gar nicht so abwegig. Trotz der Beschränkung
kirchlicher Landnahmen war Ivan selbst immer noch ein großzügiger
Stifter.
»Er vernichtet seine Feinde, dann läßt er zur Rettung seiner
Seele der Kirche etwas mehr zukommen«, war die zynische Bemerkung
eines Mönches.
Mit diesen Gedanken begab Daniel, der Mönch, sich zu dem
Bruder, der die Chronik in Verwahrung hatte, und machte sich an die
Arbeit. In dem von ihnen verfaßten Dokument, das sie im Februar von
dem nervösen Abt unterzeichnen ließen, wurde der Zar an die vielen
der Kirche bis dahin selbst unter den Tataren zugeteilten
Privilegien erinnert. Es deutete auf die Loyalität des Klosters und
die Unantastbarkeit seiner Chroniken hin. Und darin wurde um das so
dringend benötigte Land gebeten.
Bevor es abgesandt wurde, zeigte der etwas unschlüssige Abt es
Stefan. Der las es, lächelte und sagte kein Wort dazu. Am Morgen
des 22. März 1568 ereignete sich in der Kathedrale Mariä
Himmelfahrt in Moskau ein schrecklicher Zwischenfall. Der
Metropolit Philipp wandte sich während der Eucharistiefeier
plötzlich um und rügte in Anwesenheit einer großen Gemeinde von
Bojaren und opritschniki den Zaren wegen des Mordes an
Unschuldigen während der letzten Säuberungsaktion. »Es sind
Märtyrer«, verkündete er.
Die Bojaren erbebten angesichts solcher moralischer
Unerschrockenheit.
»Ihr werdet mich kennenlernen«, erwiderte der Zar. Kurz darauf
nahm der Metropolit Zuflucht in ein Kloster. Ivan ließ Personen aus
dem Umkreis des tapferen Kirchenmannes hinrichten.
Zu allem Unglück erhielt einen Tag nach diesem Vorkommnis der
Zar die Bitte um Land vom Kloster in Russka. Ivan antwortete
umgehend, und zwar auf bedrohliche Weise. Weder Daniel noch der
verstörte Abt wußten, was sie tun sollten.
Als der Sankt-Georgs-Tag kam, waren Michail,
seine Frau, sein Sohn Karp, die beiden Jüngeren und Mischa, der
Bär, zur Abreise bereit. Das nötige Geld hielt der Bauer in der
Hand. Im Gegensatz zu vielen anderen Bauern in der Gegend hatte er
keine Schulden; die waren unauffällig im vergangenen Monat bezahlt
worden. Er hatte ein gutes Pferd und außerdem Tagesgeld. Er war ein
freier Mann und konnte gehen.
Sein Plan war einfach. Sie würden über Land, durch die Wälder,
nach Murom gehen. Dort würden sie wahrscheinlich bis zum Frühjahr
bleiben und dann ein Boot die Oka hinauf nach Niznij Novgorod
nehmen; weiter könnten sie per Schiff nach Osten zur mächtigen
Wolga gelangen, in die neuen Länder, wo die Siedler frei lebten.
Doch obwohl alles gepackt war, blieb die Familie. Eine Woche lang
saßen sie in ihrem Häuschen und warteten. Jeden Tag gingen Michail
oder Karp nach Russka hinein, und sie kamen jedesmal
niedergeschlagen zurück. Auch an diesem Tag.
»Nun?« fragte der Vater, Karp schüttelte den Kopf. »Nichts.
Keine Spur. Verfluchte Schwindler!« schrie er.
»Vielleicht morgen«, bemerkte die Mutter, aber es klang nicht
überzeugt.
Michail wußte, daß man ihn betrogen hatte. Die
Kündigungsgesetze auf Boris' Besitz waren klar. Der Bauer mußte
schuldenfrei sein und die übliche Frist um den SanktGeorgs-Tag
einhalten, außerdem seine Austrittsgebühren entrichten. Es gab
allerdings noch einen Haken: Der Herr oder sein Verwalter mußten
persönlich die Kündigung und die entsprechende Summe in Empfang
nehmen.
Einige Tage vor dem festgesetzten Datum waren Boris und seine
Frau plötzlich nach Moskau gereist. Michail war einmal nach Russka
gegangen, um den Verwalter aufzusuchen. Er war blaß vor Schreck
zurückgekehrt: Auch der alte Mann war mit seiner Frau auf
geheimnisvolle Weise verschwunden. Sie hatten das Städtchen nie
vorher verlassen. Auch in den folgenden Tagen ließen sie sich nicht
blicken.
»Denkt bloß nicht, sie hätten die Gegend verlassen!« sagte
Karp wütend. »Dieser Verwalter versteckt sich irgendwo in der Nähe,
und wenn wir weggehen, ohne zu bezahlen, taucht er plötzlich mit
ein paar Männern auf. Ich wette, wir werden jeden Moment
beobachtet.«
Damit hatte Karp recht. Allerdings konnten sie nicht wissen,
daß der Mönch Daniel, Michails Vetter, hinter alldem steckte. Denn
nach der alarmierenden Antwort des Zaren stand es für Daniel fest,
daß das Kloster, und er insbesondere, Freunde allerorten brauchten.
Die erste Wahl fiel natürlicherweise auf Boris, einen Gefolgsmann
des Zaren. Der listige Mönch hatte bald herausgefunden, daß Michail
seine Schulden heimlich abbezahlte. Eines Morgens hatte er Boris
persönlich aufgesucht und ihn darauf hingewiesen, daß einer seiner
besten Bauern plante wegzugehen. Er hatte ihm auch gesagt, wie er
das verhindern könne. Boris war entsprechend dankbar.
So ging der Sankt-Georgs-Tag vorbei, auch der nächste und der
folgende. Am Morgen des siebten Tages stellte Michail mit Entsetzen
fest, daß Karp und das Pferd verschwunden waren. Auf dem Tisch lag
ein Häufchen Münzen.
Drei Tage danach kam ein Mann aus einem nahegelegenen Dorf mit
einer Nachricht: »Karp kam an einem Morgen durch unser Dorf
geritten. Er sagte, er habe Geld für das Pferd dagelassen. Es tue
ihm leid, daß es nicht mehr sei.«
Michail nickte. »Sagte er, wohin er reiten würde?«
»Ja. Aufs wilde Feld.«
Das wilde Feld. Die offene Steppe. Das Land, wo in vergangenen
Jahren junge aufsässige Burschen wie Karp sich jenen Banden, zur
Hälfte Banditen, zur Hälfte Krieger, angeschlossen hatten, die sich
Kosaken nannten.
»Er sagte, ihr möchtet euch um den Bären kümmern«, sagte der
Mann abschließend.
Später an jenem Tag traf eine weitere entsetzliche Neuigkeit
in Russka ein: Die Männer des Zaren hatten den Metropoliten
verschleppt.
Elena glaubte fest daran, daß ihr noch ein
Sohn geschenkt werde, und Stefan ermutigte sie. Wenn sie auch nie
ein Wort über Boris verloren hatte, der Priester konnte sich ihr
Leben doch gut vorstellen. Je länger er sie kannte, desto mehr
Mitleid hatte er mit ihr.
»Wir werden von Gott nicht dafür belohnt, daß wir unser
persönliches Glück suchen, sondern dafür, daß wir uns selbst
verleugnen«, erklärte er ihr. »Wir müssen vergeben, wir müssen
erdulden, und vor allem müssen wir glauben.«
Elena glaubte. Sie glaubte schließlich auch daran, daß Gott
ihr einen Sohn schenken und ihr Mann eines Tages einen anderen Weg
einschlagen werde.
Nachdem ihr Vater verschwunden war, hatte Elena eine Zeitlang
gehofft, er sei noch am Leben, doch Boris, der die Untersuchungen
leitete, erzählte ihr, daß er hingerichtet worden sei. Auf welch
grausame Weise, sagte er nicht. Sie sah aber, daß er unter seinem
Wissen litt.
Das Frühjahr 1569 brachte kaltes Wetter und ließ erneut eine
schlechte Ernte befürchten. Aus der baltischen Region kam die
Nachricht, der Feind habe eine befestigte Stadt in seine Gewalt
gebracht. Jedermann wirkte bedrückt.
Anfang Juni hatte Daniel erneut eine Unterredung mit Boris.
Daniel war beunruhigt. In Russka sah es nicht gut aus. Die
Ereignisse der vergangenen Jahre, die steigenden Abgaben für den
Krieg im Norden, das Auseinanderbrechen der opritschnina und
die Beschlagnahme von Grund und Boden hatten der russischen
Wirtschaft sehr geschadet. Dies bewirkte, zusammen mit der
Mißernte, eine empfindliche Rezession. Die Staatseinnahmen gingen
drastisch zurück. Etwas mußte geschehen.
Da war noch die Geschichte mit dem Zaren im vergangenen
Frühling. Die hatte Daniels Ansehen auch nicht gehoben. Ivan hatte
der Bitte um Landvergabe weder entsprochen noch sie abgelehnt,
sondern eine ebenso merkwürdige wie beschämende Antwort gesandt.
Land so groß wie eine Ochsenhaut wolle er ihnen überlassen – nicht
mehr und nicht weniger. Der junge Bote war ein Schwarzhemd.
Offenbar den Anweisungen des Zaren folgend, warf er dem alten Abt
die Tierhaut höhnisch vor die Füße und schrie: »Der Zar läßt dir
bestellen: Lege diese Haut auf den Boden, und das Stück Land
darunter wird er dir geben.«
»Ist das alles?« fragte der erschrockene Abt. »Nein. Der Zar
hat versprochen, dich aufzusuchen, dir das Land zu geben, das du
ausgewählt hast, und auch sonst alles, was du verdienst.«
»Du, Daniel, hast dies alles über uns gebracht«, sagte der Abt
betrübt, nachdem der Bote gegangen war. »Und diese Haut«, seufzte
er, »werden wir wohl behalten müssen.« Seitdem wurde sie im Zimmer
des Abts aufbewahrt.
Als erstes wollte Daniel nun Stefan in seine Schranken weisen.
»Ich finde, du solltest wissen, daß der Priester mehr Zeit in
deinem Haus verbringt, seit seine Frau tot ist«, erzählte er Boris
und fügte hinzu: »Du hast mir einmal erzählt, daß er ein Häretiker
sei. Ich habe gesehen, wie er ein Stück Papier von einem Engländer
bekommen hat, den du hergebracht hast. Die Engländer sind alle
Protestanten, habe ich gehört.«
Boris sagte kein Wort, doch Daniel war überzeugt, daß er sein
Ziel bei ihm erreicht hatte.
Für Boris war es insgesamt ein Jahr übler Vorzeichen. Es gab
Zweifel an der Loyalität der nördlichen Städte Novgorod und Pskov.
Weit im Süden, auf der Krim, bereiteten die osmanischen Türken mit
den Krim-Tataren angeblich eine Offensive gegen die unteren
Wolga-Regionen vor. Und nun kam die Nachricht im Sommer, daß die
beiden Mächte Polen und Litauen formell zu einem Königreich unter
Regierung eines katholischen polnischen Königs verbunden
wurden.
»Das bedeutet, daß wir Katholiken von Kiev bis Smolensk haben,
also direkt vor unserer Haustür.«
Und jetzt mußte er auch noch argwöhnen, daß seine Frau ihn mit
dem Priester hinterging. Er brütete stundenlang darüber. Teils
verspürte er Wut, teils Abscheu gegenüber dem ketzerischen
Priester, den er noch nie hatte leiden können. Und auch gegen seine
Frau fühlte er Aggressionen. Falls aber Daniel gedacht hatte, daß
es auf diese Weise ein leichtes sei, Stefan in Ungnade fallen zu
lassen, hatte er sich getäuscht. Boris beschloß, vorerst nichts zu
unternehmen. Allerdings wollte er die beiden heimlich beobachten
lassen. Aus gutem Grund: Wenn wirklich nachzuweisen war, daß Elena
ihm untreu war, konnte er sich guten Gewissens von ihr scheiden
lassen.
Man muß ja nur den Zaren ansehen, dachte Boris. Er hat wieder
geheiratet und hat Söhne aus beiden Ehen. Der Zar hatte einen
Erben. Vielleicht, daß auch er – mit einer anderen Ehefrau, die
sich ihm nicht entzog…
Elena hatte keine Ahnung, was in Boris' Kopf vorging. Der
Gedanke an ihre mögliche Untreue verletzte ihn, und doch wurde sie
dadurch wieder begehrenswerter. Elena dachte nur, daß er seine
düsteren Stimmungen habe, daß sie ihm aber noch immer nicht
gleichgültig sei. Die Ernte war vernichtet. An einem
außergewöhnlich schwülen Julinachmittag ritt Boris von Sumpfloch
nach Russka zurück. Er war auf den Feldern gewesen. Als er auf den
staubigen kleinen Platz kam, sah er Stefan, den Priester, langsam
die Treppe seines Hauses herunterkommen. Er mußte bei Elena gewesen
sein. Boris' Herz setzte einen Augenblick lang aus. Stefan
entfernte sich, in Gedanken versunken. Leise ging Boris hinauf und
öffnete die Tür.
Elena stand am offenen Fenster und blickte hinaus. Ihre Finger
lagen am hölzernen Fensterrahmen. Sie trug ein einfaches hellblaues
Seidenkleid und sah sehr mädchenhaft aus. Sein Herz klopfte, doch
er atmete ruhig. Sie blickte immer noch hinter dem Mann her. Nach
einer Minute wandte sie sich um. Ihr Gesicht wirkte sehr ruhig,
doch sie war überrascht, ihn da stehen zu sehen. Und als er sie
wortlos anstarrte, errötete sie ein wenig. »Ich habe dich nicht
hereinkommen hören.«
»Ich weiß.« Hatten sie Zärtlichkeiten ausgetauscht? Er suchte
nach einem Hinweis. War da nicht ein Strahlen in ihren Augen? War
ihr Kleid zerdrückt? Unordnung im Zimmer? Er konnte nichts
entdecken. Dennoch sagte er: »Du liebst ihn.« Sie errötete tief,
schluckte, sah sehr unglücklich aus. »Nein. Nicht als Mann. Nur als
Priester.«
»Ist er denn kein Mann?«
»Natürlich. Ein feiner Mann, ein frommer Mann«, widersprach
sie. »Ihr seid zärtlich miteinander.«
»Nein. Niemals!«
»Lügnerin!«
»Niemals!«
Das bedeutete wohl, daß sie es sich gewünscht hätte. Seine
Vernunft sagte ihm, daß sie es nicht getan hatte, doch sein Stolz
verbot ihm, ihr zu trauen.
Sie war jetzt blaß, sie zitterte, hatte Angst. »Niemals! Du
beleidigst mich.« Da sah Boris plötzlich etwas wie Verachtung, Zorn
in ihren Augen, etwas, das er nie zuvor gesehen hatte. Er machte
einen Schritt auf sie zu und schlug ihr so heftig ins Gesicht, daß
ihr Kopf nach hinten zuckte. Sie schrie auf. Er schlug sie mit der
anderen Hand. »Du brutaler Kerl!« schrie sie. »Mörder!«
Er schlug sie wieder und wieder. Dann vergewaltigte er sie. Am
nächsten Morgen ritt er nach Moskau.
Im September 1569 starb die zweite Gemahlin des Zaren. Einen
Monat später wurde Fürst Vladimir, Ivans Vetter und weiterhin
Thronanwärter, der Verschwörung angeklagt und gezwungen, Gift zu
trinken. Anschließend wurde die ganze Familie des unseligen Fürsten
umgebracht.
Ende des Jahres deckte Ivan eine weitere Verschwörung auf. Er
bekam die Nachricht, daß Novgorod und Pskov planten, sich
abzutrennen.
Daran mag etwas Wahres gewesen sein. Bis heute sind die
Umstände nicht geklärt. Diese einst unabhängigen Zentren nahe den
baltischen Häfen sahen sicher die Möglichkeit, der steigenden
Besteuerung und der Tyrannei seitens des Moskauer Reiches zu
entkommen, indem sie sich dem neu gebildeten Staatenbund von Polen
und Litauen anschlossen. Ende 1569 machte Ivan der Schreckliche,
begleitet von einem großen Verband der opritschniki, sich in
aller Heimlichkeit nach Novgorod auf. Selbst der Kommandeur der
Vorhut kannte das Ziel nicht. Ivan legte größten Wert darauf, daß
die Städte ahnungslos blieben.
Im Januar wurde Novgorod von seinem Schicksal ereilt. Wie
viele Menschen durch Folter, Verbrennung und Hinrichtung umkamen,
steht nicht fest, doch sicher geht die Zahl in die Tausende.
Novgorod wurde bis auf die Grundmauern zerstört und hat sich nie
wieder erholt. Nachdem die meisten der hochstehenden Bürger bereits
auf der Straße umgebracht worden waren, ließ Ivan vierzig Personen
in Pskov hinrichten und einige Priester an Pfählen verbrennen. Dann
kehrte er nach Alexandrovskaja Sloboda zurück. In Russka brachte
Elena einen Sohn zur Welt. Da Boris noch nicht von der
Strafexpedition nach Novgorod zurückgekehrt war, mußten sie und
Stefan, der Priester, den Namen auswählen. Das Kind wurde auf den
Namen Fedor getauft. Der Priester sandte Boris einen Brief.
Der Mönch Daniel war noch immer mit der Erwerbung von Gütern
für das Kloster beschäftigt; und im April 1570 kam ihm eine
Erleuchtung. Es ging um die Ochsenhaut, die der Zar geschickt
hatte. Die Idee war so schlau und kühn zugleich, daß sie noch heute
als »Daniels List« und als das Sprichwort »Das geht auf keine
Kuhhaut« bekannt ist.
1571
Der Schnee auf dem Marktplatz in Russka war
längst festgestampft. Die wenigen Verkaufsstände wurde soeben
geschlossen. Der kurze Tag neigte sich dem Ende zu.
Boris blickte finster drein, als er Michail und seine Familie
neben dem verglühenden Feuer mitten auf dem Platz stehen sah.
Michail starrte Boris ohne Hoffnung an.
Es war noch eine Woche bis zur Fastenzeit. Doch eigentlich war
die ganze Zeit Fastenzeit – es hatte zum drittenmal hintereinander
eine Mißernte gegeben. An diesem Morgen hatte Boris gesehen, daß
eine Familie gemahlene Birkenrinde aß.
Das Kloster half nach Kräften, aber auch seine Vorräte
schmolzen. In den nördlichen Regionen hatte es eine Seuche gegeben.
Zwei Familien waren aus Sumpfloch weggezogen; in anderen Orten
waren es mehr gewesen.
Wohin mochten sie ziehen? Wahrscheinlich nach Osten, in die
neuen Länder an der Wolga. Doch wie viele von ihnen würden in dem
harten, eisigen Winter ans Ziel gelangen? Michail und seine
verfluchte Familie! Boris ahnte, wie sehr sie ihn hassen mochten.
Seit Karps Flucht mit dem Pferd war es mit der Familie immerzu
bergab gegangen. Sie hatten ein neues Pferd gekauft, und sie kamen
auch irgendwie durch die zweite schlechte Ernte, aber sie mußten
dafür ihre versteckten Geldreserven angreifen. Von Loskauf war
keine Rede mehr.
Da sprach der Bauer seinen Herrn an. »Gib eine Kopeke, Boris
Davidov! Wenigstens für den Bären.«
Boris hörte die Bitterkeit aus den Worten. Laß meine Kinder
verhungern, aber hab Mitleid mit dem Tier – so hieß das.
»Verdammter Bär!« sagte Boris und ging weiter.
Der Bär war so abgemagert wie die Menschen. Erbärmlich stand
er da in seinen Ketten. Warum, in aller Welt, töteten sie ihn
nicht? Boris war gerade von dem hohen grauen Wachturm über dem Tor
heruntergekommen, den er in letzter Zeit täglich bestiegen hatte.
Von dort oben sah er aus dem Ostfenster über die weite Ebene und
hing seinen Gedanken nach. Es schien, als wäre Russka von der
winterlichen Dunkelheit verschluckt worden. Alles war grau. In der
Ferne lag das große Feld bei Sumpfloch wie ein riesiges Grab. Boris
dachte über seine eigene Familie nach, vor allem über das Kind
Fedor. War er wirklich sein Sohn? Seit langem zerbrach er sich den
Kopf darüber. Möglich war es durchaus. Vielleicht hatte Elena an
jenem Nachmittag empfangen, als er sie geschlagen und danach
vergewaltigt hatte. Aber vielleicht war auch der Priester kurz
davor oder danach mit ihr zusammengewesen.
Darum kreisten seine Gedanken wieder und wieder. Von der
Geburt des Kindes hatte er nicht durch seine Frau, sondern durch
den Priester erfahren. Stefan hatte wohl auch den Namen des Kindes
bestimmt. Es war überdies der Name von Elenas Bruder, den er gehaßt
hatte. Bei seiner Rückkehr hatte Boris sich das Kind sehr genau
angesehen. Aber Boris sah keinerlei Ähnlichkeit mit irgend
jemandem.
Unterdessen beobachtete er die beiden. Der Priester hatte ihm
freundlich gratuliert, seine Frau hatte dem Priester leicht
zugelächelt, der wie ein Beschützer neben ihr stand. War da doch
eine engere Verbindung? Im Dezember war Fedor neun Monate alt
geworden, und Boris kam zu dem Schluß, daß er mehr und mehr dem
Priester glich. Nein, der kleine Kerl, der da auf dem hölzernen
Fußboden umherkroch und ihn manchmal anlächelte, war nicht sein
Sohn. Boris hatte aber noch nicht beschlossen, was er unternehmen
würde. Er kam soeben vom Wachturm zurück und befand sich auf der
Höhe der Kirche, als er ein Rufen vom Tor her hörte. Der Mönch
Daniel sah sie zuerst: Zwei große Schlitten flitzten von Norden her
den Fluß herunter. Jeder wurde von drei herrlichen Rappen gezogen.
Sie fuhren über das Ufer genau auf die Klosterpforte zu. Erst aus
der Nähe sah Daniel, daß die Männer in den Schlitten ganz in
Schwarz gekleidet waren, und schließlich entdeckte er, daß es sich
bei der hohen mageren Gestalt, die, in Pelze gehüllt, im ersten
Schlitten saß, um Ivan handelte. Erschrocken bekreuzigte er sich
und fiel auf die Knie.
Wie üblich war der Zar von Alexandrovskaja Sloboda ohne
Ankündigung gekommen. Sie fuhren in den Klosterhof, und die Mönche
sahen erstaunt, wie Ivan ausstieg und langsam aufs Refektorium
zuging. Er trug einen hohen kegelförmigen Pelzhut, und in der
Rechten hielt er einen langen Stab mit einem goldsilbernen Knopf
und einer Spitze, die tiefe Löcher in den Schnee bohrte. »Ruft
euren Abt«, tönte die tiefe Stimme über den eisigen Hof. »Sagt ihm,
der Zar sei hier.« Die Mönche zitterten, als sie dies hörten. Kaum
fünf Minuten später waren sie alle im Refektorium versammelt. Vorn
stand der Abt vor den achtzig Mönchen, darunter auch Daniel. Die
zwölf opritschniki hatten sich an der Tür postiert; der Zar
saß auf einem schweren Eichenstuhl und blickte die Mönche düster
an. Nach kurzem Schweigen fragte er sehr ruhig: »Und mein treuer
Diener Boris Davidov Bobrov – wo ist er?«
»Oben in Russka«, antwortete einer. »Holt ihn!« lautete der
Befehl.
Einer der opritschniki verschwand. Nach langem
Schweigen heftete der Zar seinen durchdringenden Blick auf den Abt.
»Man hat dir eine Ochsenhaut geschickt. Wo ist sie?«
Die Furcht des alten Abts konnte nicht größer sein als jene,
die Daniel überkam. Wie er da Angesicht zu Angesicht vor dem Zaren
stand, erschien ihm der einst so kühne Plan plötzlich erbärmlich,
ja geradewegs ungehörig. Eiseskälte stieg in ihm auf. »Bruder
Daniel wurde damit beauftragt«, hörte er den Abt antworten. »Er
kann dir erklären, was er damit gemacht hat.« Daniel fühlte die
Augen des Zaren auf sich ruhen. »Wo ist meine Ochsenhaut, Bruder
Daniel?«
»Wie du uns gestattet hast, Gosudar, haben wir damit ein Stück
Land markiert, das, wenn Deine Majestät die Gnade hat, deinem
treuen Kloster zugesprochen wird.« Ivan starrte ihn an. »Mehr wollt
ihr nicht?«
»Nein, großer Herr, das ist genug.«
Der Zar erhob sich; er überragte alle anderen. »Laßt mich
sehen!«
Die Idee war genial. Schließlich hatte die Anordnung des Zaren
gelautet, das Stück Land mit der Ochsenhaut einzugrenzen. Warum
also sollte man sie nicht in Streifen schneiden? Besser noch: Warum
die Streifen nicht nochmals auseinanderschneiden? Oder noch
besser…
Zu Ende des Sommers hatte Daniel sich mit den Mönchen an die
Arbeit gemacht. Mit spitzen Kämmen und scharfen Messern trennten
sie tagelang die Haut so auseinander, daß schließlich nur noch eine
lange Faser übrigblieb. Diese wurde sorgfältig auf eine hölzerne
Rolle gewickelt, und beim Abwickeln konnten damit ohne weiteres
mehr als vierzig Hektar abgemessen werden. Daniel hatte das Areal
am SanktNikolaus-Tag mit Pfählen abgesteckt. Nun stapfte er, die
Rolle in der Hand, gefolgt von Ivan, dem Abt und den
opritschniki, zur besagten Stelle. Soeben begann er, die
Lederfaser abzurollen, als er Ivans Stimme vernahm: »Genug! Komm
her!«
Das war es also. Das bedeutete wohl sein Todesurteil. Als
Daniel vor dem Zaren stand, faßte dieser ihn beim Bart. »Ein
schlauer Mönch«, sagte er nicht unfreundlich. Er lächelte dem Abt
zu. »Der Zar hält sein Wort. Ihr sollt das Land haben.« Unter
inbrünstigen Gebeten verneigten sich die beiden Mönche tief.
»Ich bleibe heute nacht hier«, fuhr Ivan fort. »Und wenn ich
abreise, werdet ihr mich von einer anderen Seite kennen.« Er wandte
sich um. Er lächelte, als er über den Schnee eine schwarzgekleidete
Gestalt herbeieilen sah. »Ach, da kommt er ja«, rief er, »ein
treuer Diener. Boris Davidov, du wirst diesen schlauen Mönchen
helfen, mich wirklich kennenzulernen.« Dann wandte er sich an den
Abt: »Kommt, es wird Zeit für die Vesper.«
Draußen war es bereits dunkel, als die zitternden Mönche
inmitten des Glanzes aller Kerzen, die sie hatten auftreiben
können, die Vespergesänge anstimmten. Vor ihnen stand Zar Ivan,
angetan mit dem golddurchwirkten Ornat für die höchsten Feiertage,
und dirigierte mit seinem Stab. Um seine Lippen lag ein merkwürdig
hartes Lächeln.
Nach dem Gottesdienst zogen sich die Mönche in ihre Zellen
zurück, und Ivan begab sich ins Refektorium, wohin er Essen und
Getränke für sich, Boris und die übrigen opritschniki
bringen ließ. Er schickte auch nach dem Abt und nach Daniel. Voller
Furcht kamen sie und mußten neben der Tür stehenbleiben. Daniel
erkannte, daß Seltsames im Zaren vorging, als er sich zum Mahle
setzte. Da war etwas Drohendes in seinen Augen. Sie waren
blutunterlaufen und sahen in die Ferne, so als befinde er sich in
einer anderen Welt.
Man hatte ihm den besten Wein kredenzt und alles Eßbare, was
aufzutreiben war. Eine Zeitlang aß und trank er, in Gedanken
versunken; die opritschniki neben ihm kosteten alles vor, um
sicherzugehen, daß nichts vergiftet war. Die übrigen Schwarzhemden
aßen schweigend, auch Boris, der dem Zaren gegenübersaß. Nach einer
Weile blickte Ivan auf. »Nun, Abt, du hast mich um mehr als vierzig
Hektar guten Landes gebracht«, sagte er gefährlich ruhig. »Du und
dieser behaarte Kerl neben dir«, fuhr Ivan fort. »Ihr sollt wissen,
daß der Zar gibt und nimmt.« Verächtlich blickte er sie an. »Auf
meinem Weg hierher war ich hungrig«, sprach er weiter, »und doch
fand ich in den Wäldern kein Wild. Warum nicht?«
»Es gab wenig Wild diesen Winter. Die Leute haben
Hunger…«
»Ihr bezahlt eine Strafe von hundert Rubel«, sagte Ivan leise.
Dann wandte er sich an Boris. »Gibt es denn hier keine
Unterhaltung, Boris Davidov?«
»Da ist ein Bursche mit einem Tanzbären«, meinte Boris
zögernd, »aber er ist nicht besonders gut.«
»Ein Bär?« Die Miene des Zaren hellte sich auf. »Das ist gut.
Nimm einen Schlitten und bringe die beiden her, Boris Davidov.«
Boris wollte schon gehen, als der Zar rief: »Halt! Nimm zwei
Schlitten. Meinen und noch einen. Setze den Bären in meinen
Schlitten, ziehe ihm meine Pelze an und setze ihm den Zarenhut
auf.« Damit warf Ivan Boris seinen hohen Hut zu. »Der Zar aller
Bären statte dem Zaren aller Russen einen Besuch ab.« Er brach in
schallendes Gelächter aus, und die opritschniki knallten
fröhlich grölend ihre Teller auf den Tisch. »Und nun«, wandte Ivan
sich an den Abt, und mit einemmal war alle Heiterkeit aus dem
Gesicht des Zaren verschwunden, »sag diesem Gauner neben dir, daß
er mir einen Topf voller Flöhe bringen soll.«
»Flöhe, Herr?« wiederholte der Abt unsicher. »Wir haben keine
Flöhe.«
»Einen Topf mit Flöhen, sage ich!« Der Zar stand plötzlich auf
und stieß seinen Stock heftig auf den Boden. »Flöhe!« brüllte er.
»Es ist Verrat, den Befehlen des Zaren nicht zu gehorchen. Flöhe!
Siebentausend – und keinen weniger!«
Es gehörte zu Ivans liebsten Praktiken, Unmögliches als
selbstverständlich zu verlangen. Der Abt wußte nicht, daß der Zar
diesen Befehl schon früher gegeben hatte, und zitterte am ganzen
Körper. »Wir besitzen keine, Herr«, sagte nun auch Daniel. Seine
Stimme sollte fest klingen, doch er brachte nur ein heiseres
Flüstern zuwege.
»Dann hast du hundert Rubel Strafe zu bezahlen, Bruder
Daniel«, antwortete Ivan gelassen.
Eigentlich wollte Daniel protestieren, doch er erinnerte sich,
daß der Zar kürzlich einen Mönch rittlings auf ein Pulverfäßchen
hatte binden und dann anzünden lassen. So zog er es vor zu
schweigen.
Zar Ivan ging an den Tisch zurück und bedeutete den beiden
Mönchen, auf ihren Plätzen zu bleiben. Ohne sie weiter zu beachten,
begann er mit den schwarzgekleideten opritschniki zu
scherzen. Eine halbe Stunde verstrich. Der Zar trank stetig, blieb
jedoch offenbar Herr seiner Sinne. »Bringt mehr Kerzen«, befahl er.
Er mißtraute der Dunkelheit.
Aus der Kirche wurden Kerzenständer gebracht und in den Ecken
aufgestellt. In diesem Augenblick meldete einer der
opritschniki die Ankunft des Bären. Alle drängten zur Tür,
voran der Zar. Es war ein grotesker Anblick. Vier Männer mit
brennenden Fackeln eilten dem Schlitten voraus, in dem der Bär saß
– angetan mit dem herrlichen Zobelmantel, auf dem Kopf den
Zarenhut. Um seinen Hals hatte Boris ein goldenes Kreuz aus der
Kapelle gehängt. Der verängstigte Michail brachte den Bären dazu,
auf den Hinterbeinen ins Refektorium zu tapsen.
»Verneigt euch!« schrie Ivan die Mönche an. »Verneigt euch vor
dem Zaren aller Bären!« Er führte den Bären eigenhändig zu seinem
Stuhl und brachte das Tier dazu, sich zu setzen. Dann mußten sich
alle, auch der Abt, in einer lächerlichen Zeremonie vor dem Bären
verneigen, ehe man ihm Mantel und Hut abnahm. »Komm jetzt, Bauer«,
sagte der Zar schroff zu Michail, »er soll seine Kunststücke
vorführen.«
Das Repertoire des Bären war nicht gerade umfangreich: Das
magere Tier richtete sich auf, machte ein paar plumpe Tanzschritte,
schlug die Tatzen gegeneinander. Nach kurzer Zeit wurde Ivan der
traurige Anblick langweilig, und er schickte Michail und das Tier
in die Ecke.
Draußen wurde es dunkler. Vereinzelt glitzerten ein paar
Sterne. Drinnen saß Ivan in Gedanken versunken und gab Boris von
Zeit zu Zeit ein Zeichen, ihre beiden Pokale mit Wein zu füllen.
»Es heißt, ich trete zurück und werde Mönch. Hast du davon
gehört?«
»Ja, Herr. Deine Feinde behaupten das.«
Ivan nickte langsam. »Jenen, die Gott ausersehen hat, über
Menschen zu herrschen, ist keine Freiheit gegeben, sondern eine
schreckliche Bürde. Sie leben nicht in einem Palast, sondern in
einem Gefängnis. Kein Herrscher ist sicher, Boris Davidov.
Vielleicht ist das Leben eines Mönchs besser.« Auch Boris hatte
reichlich getrunken. Sein Kopf war noch klar, aber er fühlte
sentimentale Traurigkeit in sich aufsteigen, während er in die
zwiespältige Welt des verehrten Herrschers eintauchte. Auch er
wußte auf seine schlichte Art, was es heißt, von Angst vor Verrat
und nächtlichen Alpträumen geplagt zu werden. Sie werden ihn töten,
dachte er, wenn er sie nicht zuerst tötet. Wie gern hätte er seine
heimlichen Ängste mit dieser mächtigen Persönlichkeit geteilt, die
in die Herzen der Menschen sah und ihm nun wieder tiefstes
Vertrauen zeigte.
»Sag mir, Boris Davidov, was sollen wir mit diesem Spitzbuben
von Priester anfangen, der dem Zaren Land gestohlen hat?« fragte
Ivan schließlich.
Boris überlegte. Er fühlte keine Zuneigung zu Daniel, und doch
mußte er eine kluge Antwort geben. »Er ist nützlich«, meinte er
zögernd, »er liebt das Geld.«
»Das ist eine gute Antwort.« Ivan lächelte grimmig. »Prügeln
wir ein bißchen Geld aus ihm heraus.« Er winkte zwei
opritschniki herbei und flüsterte ihnen Anweisungen zu. Sie
schleppten Daniel eilig hinaus.
Boris wußte, was nun folgen würde. Daniel wurde aufgehängt,
wahrscheinlich mit dem Kopf nach unten, und so lange geschlagen,
bis er verriet, wo das Geld des Klosters versteckt war. Boris
fühlte kein Mitleid.
Damit hatte der lange Abend des Zaren eigentlich erst
begonnen. Boris sah am leichten Zucken von Ivans linkem Auge, was
jetzt kommen würde. Einer der opritschniki hatte ihm
verraten: Wenn dieses Auge zuckte, gelüstete es den Zaren zu
strafen. »Sag mir, Boris Davidov«, sagte er mit weichem Tonfall,
»wem von diesen ist nicht zu trauen?« Boris schwieg.
»Denk an deinen Eid«, murmelte Ivan. »Du hast geschworen,
deinem Zaren alles zu erzählen, was du weißt.«
»Es heißt, es gebe einen, der sich der Ketzerei schuldig
macht«, sagte Boris.
Stefan war höchst erstaunt, als die vier opritschniki
in seine Zelle einbrachen.
Sie leisteten gründliche Arbeit. Durch lange Praxis geübt,
durchwühlten sie systematisch den Kasten, der seine wenige Habe
enthielt; sie untersuchten die Wände, und einer entdeckte zwischen
den dicken Bohlen das, wonach sie suchten – das Pamphlet. Seltsam,
Stefan hatte das englische Traktat fast vergessen, hatte seit
Monaten nicht hineingesehen. Er hätte behaupten können, es nicht zu
kennen, aber an dem Tag, als Wilson es ihm gegeben hatte, hatte er
die Übersetzung des Engländers am Rand notiert, um den Wortlaut
nicht zu vergessen.
Sie schleppten Stefan ins Refektorium und zeigten dem Zaren
das Papier. Ivan las es Wort für Wort vor. Von Zeit zu Zeit hielt
er inne und wies Stefan auf die Schwere der Ketzerei hin, die er
mit eigener Hand geschrieben hatte.
Wenn er auch einige Protestanten wie die englischen Kaufleute
geduldet hatte, weil sie Ausländer und immer noch besser als
Katholiken waren, war Ivan doch empört über die anmaßenden
antiautoritären Argumente des Pamphlets, die sich indirekt auch
gegen ihn richteten.
Als er geendet hatte, starrte er Stefan finster an. »Was hast
du dazu zu sagen?« hob er an. »Glaubst du diese Dinge?«
»Es sind die Ansichten von Fremden«, antwortete Stefan. »Aber
du bewahrst sie in deiner Zelle auf?«
»Als eine Rarität.« Das stimmte, wenigstens fast. »Eine
Rarität.« Der Zar wiederholte das Wort verächtlich. »Wir werden
sehen, Mönch, welch eine Rarität wir für dich haben.« Er blickte
zum Abt hin. »Du hast seltsame Mönche in deinem Kloster«, bemerkte
er.
»Ich wußte nichts davon, Herr«, war die klägliche Antwort.
»Aber mein getreuer Boris Davidov wußte davon. Du scheinst sehr
nachlässig zu sein in der Erfüllung deines Amtes, Abt! Du hast wohl
daran getan, Boris«, seufzte Ivan, »dieses Monster zu entlarven.
Wie sollen wir ihn bestrafen?« Der Zar sah sich im Raum um. Als er
entdeckte, was er suchte, erhob er sich. »Komm, Boris, hilf mir
beim Strafvollzug«, sagte er.
Langsam ging Ivan auf Michail zu, nahm ihm die Kette aus der
Hand, an der der Bär geführt wurde, und brachte das Tier zum
Priester. Auf seinen Wink befestigte Boris das andere Ende der
Kette an Stefans Gürtel, so daß der nun in einem Abstand von zwei
Schritten mit dem Bären zusammenhing.
Der Zar legte seinen Arm um Boris' Schultern, führte ihn an
den Tisch zurück und rief den übrigen opritschniki zu:
»Jetzt soll der Zar der Bären sich mit dem Ketzer befassen!« Stefan
bekreuzigte sich und stand mit gesenktem Kopf in stummem Gebet vor
dem Tier, das hilflos seinen Kopf hin und her drehte.
»Nehmt meinen Stock«, befahl Ivan. Die Schwarzhemden bildeten
einen Kreis und trieben den Bären mit dem spitzen Stock des Zaren
an.
»Hojda, hojda!« schrie dieser. So feuerten seine Kutscher die
Pferde an. Schließlich begann der Bär vor Wut und Schmerz Stefan
mit den Tatzen zu bearbeiten. Der Priester versuchte, die Schläge
abzuwehren, die ihm blutende Wunden verursachten. »Hojda«, rief der
Zar erneut, »hojda!«
Der Bär setzte sein grausames Tun fort, bis Ivan seinen
Männern schließlich befahl, das zerfetzte Bündel Mensch
hinauszubringen und die Hinrichtung auf dem Hof zu vollenden. Doch
die Nacht war noch nicht zu Ende, und der Zar war noch immer nicht
befriedigt. »Mehr Wein«, befahl er Boris. »Setze dich neben mich,
mein Freund.« Es war, als habe der Zar die anderen vergessen. Er
betrachtete versonnen die Ringe an seinen Fingern. »Siehst du, dies
ist ein Saphir«, erklärte er. »Saphire beschützen mich. Hier ist
ein Rubin. Rubine reinigen das Blut.«
»Du hast ja keine Diamanten, Gosudar«, bemerkte Boris. Ivan
nahm Boris' Hand und lächelte ihm liebevoll zu. »Weißt du, es
heißt, Diamanten halten Zorn und Wollust vom Menschen fern. Genau
das habe ich nie gewollt. Vielleicht sollte ich?« Boris wußte
nicht, ob er wachte oder träumte. War es möglich, daß der Zar ihm
zur Seite saß und wie ein Bruder zu ihm sprach? Plötzlich sah Ivan
ihn direkt an und fragte: »Warum hast du denn den Priester gehaßt?«
Die Frage klang nicht unfreundlich, im Gegenteil.
Boris hielt den Atem an. »Woher wußtest du das, Herr?«
»Ich habe es dir angesehen, mein Freund, als sie ihn
hereinbrachten.« Er lächelte wieder. »Er war wirklich ein Ketzer,
weißt du. Er hat den Tod verdient. Für dich hätte ich ihn auf alle
Fälle töten lassen.«
Boris starrte vor sich hin. Es stimmte, er hatte kein Mitleid
mit Stefan gehabt. Nun wurde er von Gefühlen nahezu überwältigt.
Der Zar, mochte er auch schrecklich sein, war sein Freund. Es war
schier unfaßbar. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er fühlte
plötzlich, wie einsam er in all den Jahren gewesen war. Und nun
empfand er den Wunsch, dem Zaren, der ihm gewogen war, seine
unseligen Geheimnisse anzuvertrauen. Wem sonst sollte er sich
mitteilen, wenn nicht Gottes Stellvertreter auf Erden, den
Beschützer der einzig wahren Kirche?
»Du hast einen Sohn, Gosudar, der deine Herrschaft fortsetzen
wird«, begann Boris. »Ich habe keinen Sohn.«
Ivan runzelte die Stirn. »Hast du wirklich keinen Sohn?«
fragte er erstaunt.
Boris schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe einen Sohn, und
doch glaube ich, daß ich keinen habe.«
Ivan betrachtete ihn aufmerksam. »Du meinst… der
Priester?«
Boris nickte. »Ja, ich glaube schon.«
Ivan schwieg eine Weile. Dann erhob er sich. Boris wollte das
gleiche tun, doch der Zar bedeutete ihm mit einer ausholenden
Gebärde, sich vor ihm auf den Boden zu werfen. Dann hob er den Saum
seiner langen Robe und legte ihn über Boris' Kopf, so wie der
Bräutigam seine Braut bei der Brautmesse bedeckt.
»Der Zar ist dein einziger Vater«, sagte er leise. Dann wandte
er sich zu den übrigen opritschniki und rief: »Bringt uns
unsere Mäntel und wartet hier auf uns.« Ivan zog seinen Zobelmantel
an, setzte seinen hohen Pelzhut auf und befahl Boris leise, ihm zu
folgen.
In der tiefen Nacht waren nun mehr Sterne zu sehen. Graue,
zerrissene Wolken trieben am Himmel, als Zar Ivan über den Hof ging
und sein langer Stock auf den gefrorenen Schnee klopfte. Boris
folgte ihm durch das Tor zum Fluß hin.
Wie still es war! Der hohe Turm zeichnete sich mit seinem
Zeltdach gegen den sternenbestickten Himmel ab. Wortlos führte Ivan
den anderen vom Fluß weg zum großen Stadttor. Das kleine Seitentor,
mit einem Nachtwächter davor, war noch offen. Ivan ging hindurch
auf den sternenhellen Marktplatz. Dort wandte er sich an
Boris:
»Wo ist dein Haus?«
Boris deutete in die Richtung, wollte die Führung übernehmen,
doch der Zar war schon unterwegs. Nichts war zu hören außer seinem
Stab und dem leisen Rascheln seiner langen Robe.
Boris lief, um die Tür seines Hauses zu öffnen, aber Ivan
blieb stehen. »Ruf deine Frau. Sie soll unverzüglich
herunterkommen«, befahl er mit tiefer Stimme.
Boris ahnte nicht, was folgen würde. Oben brannte eine Lampe
in der Ecke. Elena döste vor sich hin, das Kind im Arm. Da sah sie
plötzlich Boris' bleiches, völlig verstörtes Gesicht an der Tür.
Noch ehe sie ein Wort wechseln konnten, klang die Stimme des Zaren
von unten: »Sie soll sofort herunterkommen. Der Zar wartet.«
»Komm«, flüsterte Boris.
Noch halb im Schlaf und ganz verwirrt stand Elena auf. Sie
trug nur ein langes Wollhemd und Filzpantoffeln. Unsicher tappte
sie mit dem Kind die Treppe hinunter.
»Komm her zu mir«, ertönte die leise Stimme des Zaren. Elena
spürte die eisige Nachtluft auf ihrem Gesicht und versuchte das
Kind zu bedecken. Sie ging auf die hohe Gestalt zu und wußte nicht,
wie sie sie begrüßen sollte. »Laß mich das Kind sehen«, sagte Ivan.
»Gib es mir.« Zögernd reichte sie ihm den Knaben, der sich im
Schlaf bewegte. »Nun, Elena Dmitrieva, wußtest auch du, daß der
Priester Stefan ein Ketzer war?«
Elena fuhr zusammen. Einen Augenblick lang öffnete sich die
Wolkendecke. Die Mondsichel kam zum Vorschein und sandte ein
bleiches Licht auf die Straße hinunter.
Ivan konnte das Gesicht der Frau deutlich sehen. »Der
ketzerische Priester ist tot. Nicht einmal die Bären hielten zu
ihm«, fuhr er fort. Es gab keinen Zweifel: In ihrem Gesicht stand
nicht nur das Entsetzen einer schwachen Frau über einen
schauerlichen Tod – sie hatte ihn geliebt.
»Freust du dich nicht, daß ein Feind des Zaren tot ist?« Sie
konnte nicht antworten.
Ivan betrachtete das Kind. Es war klein und blond, nicht
einmal ein Jahr alt. Es schlief immer noch. Sein Aussehen gab
keinerlei Aufschluß. »Wie heißt das Kind?« fragte er
schließlich.
»Fedor«, flüsterte sie.
»Fedor.« Der Zar nickte. »Und wer ist der Vater des Kindes?
Mein treuer Diener oder ein ketzerischer Priester?«
»Ein Priester? Wer sollte der Vater sein, wenn nicht mein
Ehemann?«
Sie sah unschuldig aus, aber wahrscheinlich log sie. Viele
Frauen betrogen ihre Männer. Ihr Vater war ein Verräter, erinnerte
sich Ivan. »Den Zaren darf man nicht belügen«, betonte er. »Ich
frage dich noch einmal: Hast du Stefan, den ketzerischen Priester,
den ich mit gutem Grund habe töten lassen, nicht geliebt?« Sie
wollte widersprechen. Doch weil sie den Priester wirklich geliebt
hatte, machte diese hohe Gestalt ihr angst. Sie war keines einzigen
Wortes fähig.
»Boris soll entscheiden«, meinte der Zar. »Nun, mein Freund,
was ist dein Urteil?«
Boris schwieg. Vorstellungen und Empfindungen wirbelten in
seinem Kopf durcheinander. Bot Ivan ihm einen Ausweg an, vielleicht
die Scheidung? Was also glaubte er? Er wußte es selbst kaum. Sie
hatte den Priester geliebt. Sie hatte sich von ihrem Mann
zurückgezogen, hatte ihn gedemütigt, versucht, seinen Stolz zu
brechen. Plötzlich kam der jahrelange Groll gegen sie wie eine
riesige Welle nach oben. Er würde sie bestrafen. »Es ist nicht mein
Kind«, sagte er endlich. Ivan sprach kein Wort. Den Stab in der
Rechten, das Kind, das nun zu weinen begann, auf dem linken Arm,
ging er aufs Tor zu. Boris folgte ihm in einigem Abstand.
Was geschah da? Erst allmählich begriff Elena in ihrer
Verstörung und Furcht, was gesprochen worden war. Frierend starrte
sie hinter den anderen her. »Fedor!« Ihr Schrei hallte über den
eisigen Marktplatz. Stolpernd rannte sie vorwärts.
Am Tor verneigte sich der erschrockene Wächter tief, die Hand
auf dem Herzen. Ivan zeigte auf die Tür des Turmes. »Öffne!« Das
Kind auf dem Arm, stieg er die Stufen im Innern hinauf.
Boris und der Wächter versperrten Elena den Weg. Wie ein
wildes Tier wehrte sie sich, riß sich los, schlug die Tür von innen
zu und verriegelte sie.
Sie konnte den Zaren in der Dunkelheit hören, das Knarren der
Stufen unter seinen Schritten, das Geräusch seines Stabes. Sie
hörte ihr Kind weinen. »Gott steh mir bei!« flüsterte sie.
Als sie die Stelle erreichte, wo die Stufen hinaus zur
Brustwehr führten, vernahm sie keinen Laut mehr von oben. Ivan
stand dort unterm Dach, wo die Fenster sich hinaus auf die endlose
Ebene öffneten. Elena sah den dreieckigen Schatten des Holzdaches
über sich. Und da hörte sie den Schrei ihres Kindes, sah zwei
Hände, die ein kleines weißes Bündel in die Nacht hinaus
schleuderten.
»Fedja!« Elena warf sich gegen die Brustwehr, streckte ihre
Arme weit in dem ohnmächtigen Versuch, das Bündel aufzufangen, das
an ihr vorbeifiel in die tiefen Schatten dort unten. Sie hörte den
leichten Aufprall auf dem Eis.
In der Morgendämmerung reiste der Zar ab. Zuvor jedoch bestand
er auf dem traditionellen Segen durch den Abt. Seinem Zug wurden
zwei Schlitten hinzugefügt; der eine enthielt eine ansehnliche
Menge von Münzen und Geschirr aus dem Kloster, der andere
beförderte die Glocke, die das Kloster einst von Boris' Familie
erhalten hatte. Dies alles sollte zur Herstellung von zusätzlichen
Geschützen umgehend eingeschmolzen werden.
Bald danach kam die Nachricht, daß die Krim-Tataren sich
tatsächlich den russischen Landen näherten. Der Zar, der wieder
einmal den Glauben schürte, er sei ein physischer Schwächling,
setzte sich in den Norden ab. Die Umgebung von Moskau wurde
verwüstet.
Zwei Wochen nach dem Tod ihres Kindes stellte Elena fest, daß
sie wieder schwanger war. Der Vater des Kindes, das sie trug, war
auch diesmal Boris.
Mit Erstaunen bemerkte die Gemeinde während der Ostervigil im
Kloster St. Peter und Paul im Jahre 1571 – wobei der größte Teil
der verminderten Bevölkerung von Russka und Sumpfland anwesend war
–, wie gleich nach Beginn der Feier eine einzelne Gestalt lautlos
durch den hinteren Kircheneingang hereinkam: Boris Davidov.
Während der Fastenzeit hatte er sich nicht blicken lassen.
Niemand wußte, was geschah. Es hieß, er faste allein. Andere
behaupteten, seine Frau wolle ihn nicht mehr sehen. Wieder andere
hatten angeblich gehört, wie er sie angesprochen habe. Einige
meinten, er habe versucht, den Zaren an der Ermordung seines Sohnes
zu hindern; es gab auch die Ansicht, er habe ihm dabei geholfen. So
war es kaum verwunderlich, daß die Leute sich immer wieder
neugierig nach ihm umsahen.
Boris stand da mit gesenktem Haupt. Er bewegte sich nicht aus
diesem Teil der Kirche weg, der den Büßern vorbehalten war, er
blickte nicht auf, und er bekreuzigte sich auch nicht an den
Stellen, wo es in der Messe vorgeschrieben war.
Die Ostervigil der orthodoxen Kirche, in der die Auferstehung
Christi gefeiert wird, ist ein Fest voller Freude und innerer
Bewegung. Nach der langen Fastenzeit befindet sich die Gemeinde in
jenem Zustand von körperlicher Schwäche und spiritueller Läuterung,
wie es einem geistigen Fest zukommt. Die Vigil beginnt mit der
Nachtmette. Um Mitternacht werden die prächtigen Türen der
Ikonostase geöffnet, damit das leere Grab sichtbar wird. Die
Gläubigen gehen, mit Wachskerzen in den Händen, in einer Prozession
um die Kirche herum. Dann beginnt die Frühmette mit den österlichen
Stundengebeten, auf deren Höhepunkt der Priester ausruft: »Christ
ist erstanden!« Das Volk antwortet: »Er ist wahrhaft erstanden!«
Ein junger Priester nahm nun Stefans Platz ein. Er stand zum
erstenmal mit dem Kreuz in der Hand vor den heiligen Türen. Auch
seine Knie zitterten, weil das Fasten ihn geschwächt hatte. Doch
als er die Gemeinde und die brennenden Kerzen sah und den
intensiven Weihrauchduft wahrnahm, der in alle Winkel der Kirche
drang, erfüllte ihn ein erhebendes Gefühl. »Christ ist erstanden!«
rief er wieder aus.
Und auch diesmal antwortete die Gemeinde: »Er ist wahrhaft
erstanden!«
Der junge Priester sah, daß die einsame Gestalt die Lippen
bewegte. Er konnte nicht wissen, daß kein Laut aus Boris' Kehle
drang. Dann kam der Osterkuß, und die Gläubigen stellten sich auf,
und einer nach dem anderen küßte das Kreuz, die Evangeliare, die
Ikonen und dann den Priester. Zum Schluß küßten die Menschen
einander – es war Ostern, und dies war die einfache, liebevolle Art
der orthodoxen Kirche, das hohe Fest zu feiern. Boris ging als
einziger nicht nach vorn.
Nach dem Osterkuß hielt der Priester eine wundervolle Predigt
über Johannes Chrysostomus und über das Vergeben. Er erinnerte
daran, daß Gott ein Fest, eine Belohnung vorbereitet habe. Und
ebenso sprach er von der Fastenzeit, von Reue und Buße. »Wenn einer
ernsthaft gefastet hat, soll er jetzt seine Belohnung erhalten«,
las der Priester mit sanfter Stimme vor. »Wenn einer nachlässig
war, heißt es, so verzweifle er nicht. Denn das Fest des Herrn wird
den Sündern nicht vorenthalten, wenn sie nur zu ihm kommen. Denn er
gewährt Gnade den letzten wie den ersten. Wenn jemand sein Eisen in
der ersten Stunde geschmiedet hat«, las er laut, »soll er belohnt
werden. Wenn einer in der dritten Stunde kommt, ebenfalls. Wenn
einer erst in der sechsten Stunde kommt, soll er keine Furcht
haben. Wenn einer bis zur neunten Stunde gesäumt hat, soll er näher
treten. Wenn einer gezögert hat…«, der Priester blickte nach
hinten, »selbst bis zur elften Stunde, er möge kommen…«
Was ihm auch durch den Kopf gehen mochte – ob er nun begriffen
hatte, daß seine Frau unschuldig war, ob er sich schuldig fühlte am
Tod Stefans und Fedors oder ob er die Last des Bösen nicht länger
tragen konnte, die sein Stolz ihm aufgebürdet hatte: Boris sank bei
den wundervollen Worten weinend in die Knie. Im Jahre 1572 wurde
die geschwächte opritschnina offiziell aufgelöst. Jeder
Hinweis auf ihre Existenz wurde untersagt. Das Jahr 1581 war das
erste der »Verbotsjahre«, in denen es Bauern nicht gestattet war,
ihren Herren zu kündigen, nicht einmal am Sankt-Georgs-Tag.
Im selben Jahr brachte Zar Ivan in einem Wutanfall den eigenen
Sohn um.