Epilog

1992
Das war also der Tag. Paul Bobrov war früh aufgestanden, und vor sechs Uhr war er schon bereit, aus dem Haus zu gehen. Das »Aurora« war gar nicht übel. Es gab zwar bessere Adressen, sogar ein oder zwei Hotels von internationalem Rang, die den Strom westlicher Geschäftsleute aufnahmen, die nach Moskau kamen, um in diesem riesigen, unsicheren und trotzdem reizvollen Land Profit zu machen. Aber es gab auch schlechtere Hotels – die alten stalinistischen Gebäude, deren Hotelhallen wie Kathedralen wirkten und deren endlose Reihen kahler Zimmer wie aus den fünfziger Jahren übriggeblieben schienen.
Das »Aurora« gehörte der mittleren Kategorie an und lag in der Nähe des Roten Platzes. Es war eine relativ moderne, neunstöckige Betonstruktur, deren Räumlichkeiten von einem finnischen Unternehmen entworfen und ausgestattet worden waren. Die Betten waren schmal und hart.
Während Paul auf die Reihe der Aufzüge zuschritt, drang blasses Sonnenlicht durch die Fenster. Er sah auf die Uhr. In fünfzehn Minuten würde er auf dem Weg zum alten Besitz seiner Familie sein.
Paul Bobrov war dreiunddreißig, der zweite der zehn Enkel von Alexander und Nadeschda. Er war mittelgroß, und das leicht türkische Aussehen seiner Vorfahren war bei ihm etwas weicher ausgefallen.
Wie würde Alexander sich freuen, wüßte er von seinem, Pauls, Besuch! Seine Großmutter, mit ihren vierundneunzig Jahren immer noch schön, wenn auch recht gebrechlich, hatte ihm eine genaue Beschreibung des Ortes gegeben und ihm versprochen, sie werde auf keinen Fall sterben, bevor er zurückkäme und ihr berichte. Die kleine russische Gemeinde, der Paul Bobrov angehörte, lebte in einem Vorort nördlich von New York City. Es gab mehrere davon in der Gegend; ähnliche waren auch in London, Paris und anderen Großstädten zu finden. Aber sie hatten nichts mit der Masse russischer Juden zu tun, die um die Jahrhundertwende in diese Städte gekommen waren, auch nicht mit der nachfolgenden russischen Flüchtlingswelle während des Zweiten Weltkrieges und ebensowenig mit den geflüchteten Sowjets, die sich heutzutage an Orten wie Brighton Beach südlich von New York zusammendrängen. Paul Bobrovs Gemeinde bestand aus den russischen Emigranten der Adelsklasse, der, genaugenommen, sogar Nadeschda nur durch Heirat angehörte.
Sie waren eine eng miteinander verwobene Gruppe. Manche hatten Geld, viele hatten keines. Sie führten das bescheidene Leben der Mittelklasse in schattigen, von Bäumen gesäumten Straßen, und obwohl sie nach außen hin wie durchschnittliche Amerikaner wirkten, heirateten sie normalerweise nur untereinander, sprachen zu Hause Russisch und Englisch und, was selten in Emigrantengemeinden der Fall war: Sie behielten das geistige Leben ihrer Heimat bei.
Ihr Zentrum bildete die Kirche. Für Pauls Großvater Alexander war dies die natürliche Fortsetzung seines Lebens in Rußland. Für andere, die sich in der alten Heimat nicht um Religion gekümmert hatten, war die orthodoxe Kirche nun eine Orientierungshilfe, an der sie sich der eigenen Identität vergewissern konnten. Die orthodoxe Kirche, zu der sich Leute wie die Bobrovs bekannten, hatte bisher die Legitimität des Patriarchen von Moskau nicht anerkannt, da seine Priester jahrzehntelang unter der Knute des KGB standen.
Jeden Samstag brachten Gemeindemitglieder wie Paul, die bereits seit zwei Generationen fern von Rußland lebten, ihre Kinder in die Versammlungshalle der Kirche, wo sie einen halben Tag lang Unterricht in russischer Sprache und Geschichte erhielten. Sonntags konnte man den Träger eines stolzen alten russischen Namens in der Kirche Kerzen verteilen sehen, oder man konnte ihn mit schöner Baßstimme im Chor singen hören. Die alte Frau, die vor einer Ikone betete, einen Schal um den Kopf geschlungen wie eine babuschka, mochte eine russische Prinzessin sein. Die Kinder wurden gründlich getauft – sie wurden dreimal ins Becken getaucht.
Einmal im Jahr führte Paul seine Frau entweder auf einen russischen Adelsball – eine feierliche Angelegenheit, auf der ältere Herren sich mit zaristischen Orden zeigten – oder auf den flotteren Petruschka-Ball.
Auf diese Weise hielt die russische Gemeinde mit bemerkenswerter Zähigkeit weiterhin durch und wartete. Worauf? Auf das Ende des Sowjetregimes? Auf die Wiedereinsetzung des Zaren? Das waren Altherrenträume gewesen – bis zum vergangenen Jahr. Paul dachte wieder, daß wohl niemand den totalen Umbruch im August 1991 hatte voraussehen können: den Rückzieher des Militärs während des Putsches, den Fall Gorbatschovs, die Abspaltung der Ukraine von Rußland, den Zusammenbruch des gesamten Systems. Bewegte Tage waren das gewesen, gefährliche Tage. »Ganz Osteuropa kehrt zu Modellen zurück, die ich als Kind vor dem Ersten Weltkrieg gekannt habe«, erklärte Nadeschda. Von den vielen Möglichkeiten, die nun in dieser seltsamen neuen alten Welt auftauchten, war für einige Emigranten keine sehnlicher erhofft als der Traum von der Restauration.
Wenn auch die Familie des Zaren Nikolaus ermordet worden war, konnten die noch überlebenden Zweige der RomanovDynastie doch einen Erben hervorbringen. Wurde nicht der natürliche Anwärter auf den Thron, der vierundsiebzigjährige Großfürst Vladimir, bei seinem Besuch in dem wieder umbenannten St. Petersburg wie ein Held empfangen? Und nun, nach dem Tod des Großfürsten – hatte Jelzin nicht dessen Beisetzung in der Hauptstadt seiner Vorväter gestattet? Es war erstaunlich. Schloß sich die Geschichte zum Kreis?
»Eine konstitutionelle Monarchie«, sagten die Leute, »so wie in England. Das könnte die Dinge vielleicht ins Lot bringen.« Nun jedoch, da der Großfürst verschieden war, stand es mit der Nachfolge weniger eindeutig.
Paul verfolgte jeden Abend aufmerksam die Nachrichten im Fernsehen und sah, wie Boris Jelzin und die neue Demokratie um ihr Überleben in all der Verwirrung kämpften, und es fiel ihm schwer, sich einen Zaren in irgendeiner Rolle vorzustellen. Was seine eigene Person und die Gründe für seinen Aufenthalt in Moskau betraf, mußte Bobrov sich eingestehen, daß auch er höchst unsicher war. Wie viele andere Emigranten wollte er in erster Linie nur einmal wieder die Heimat sehen und eine Wallfahrt zum Familienbesitz machen. Aber wollte er nicht doch mehr? Einen Monat zuvor hatte diese beunruhigende kurze Unterhaltung stattgefunden. Es begann mit der sehr beiläufigen Frage eines Kollegen im Büro: »Würdest du wieder nach Rußland zurückkehren?«
Paul hatte daraufhin über seinen bevorstehenden Besuch gesprochen, aber der Mann hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, Paul, ich meine, ob du wieder dort leben möchtest.« Lächelnd dachte er daran. Hier leben? Sein angenehmes amerikanisches Dasein und seinen gutbezahlten Job aufgeben? Wie immer seine Gefühle für Rußland sein mochten – er war schließlich in dritter Generation Amerikaner. »Wenn sich die Dinge ändern, sich alles wirklich öffnet, dann wäre es wahrscheinlich gut, sich irgendwie zu integrieren«, hörte er sich murmeln. Aber war das die ganze Wahrheit? Oder gab es andere, tiefere Emotionen, die er nicht zugeben wollte?
Welch ein Glücksfall, daß er Sergej Romanov begegnet war! Sie hatten sich auf einer Handelsmesse in New York im letzten Jahr kennengelernt. Der Russe suchte nach Möglichkeiten, in Moskau Software-Programme für westliche Gesellschaften in Lizenz zu entwickeln. Er hatte gute Mitarbeiter, aber wenig Ahnung vom Geschäft, und Paul, der Arbeitsplatzcomputer vertrieb, freute sich, ihm von Nutzen sein zu können. Schon am nächsten Tag hatte Bobrov erwähnt, er hoffe, eines Tages zurückzukommen und den alten Familienbesitz zu besuchen. Die einzige Schwierigkeit bestehe darin, daß er nicht wisse, wie man hinkomme, da er nicht an einer Touristenroute lag. »Ein kleiner Ort namens Russka«, fügte er hinzu.
»Ach, Paul Michailovitsch«, hatte Romanov ausgerufen, »genau von dort ist mein Großvater gekommen. Ich bin selbst nie dort gewesen. Kommen Sie nach Moskau«, sagte er zuvorkommend, »wir fahren gemeinsam hin.«
Und nun war er da, und Romanov würde ihn gleich abholen. Sie hatten vereinbart, sich um sechs Uhr fünfzehn vor dem Hotel zu treffen. Es war noch zu früh für ein Frühstück im düsteren Restaurant, aber im fünften Stock gab es eine kleine Bar, die laut Plan um sechs Uhr öffnete. Dorthin lenkte Paul jetzt seine Schritte. Paul war um fünf Minuten nach sechs an der Eingangstür. Er sah, wie drinnen ein hübsches blondes, aber gelangweilt dreinblickendes, etwa zwanzigjähriges Mädchen die verschiedenen Dinge an ihren Platz stellte. Hinter ihr an der Theke prüfte eine große verdrossene Frau in den Fünfzigern das Brot und die Platten mit Käse- und Salamischeiben. Paul wollte die Glastür öffnen, aber sie war verschlossen.
Das Mädchen blickte zu dem frühen Gast hin und sagte etwas zu der älteren Frau. Die fühlte sich nicht einmal bemüßigt, ihm einen Blick zu schenken. Paul sah auf seine Uhr, klopfte an die Scheibe und deutete auf die angegebenen Öffnungszeiten. Die Frau wandte sich um und schrie: »Zakryt! Geschlossen!« Und das Mädchen lächelte. Mir ist langweilig. Sie leierte das täglich, stündlich wie eine Litanei herunter. Ludmilla Suvorin war intelligent; ihr Vater Peter war es ebenfalls gewesen, bis er zu trinken begann; und Peters Vater war der Komponist Suvorin gewesen. Bis vor einigen Jahren durfte man seinen Namen nicht erwähnen, denn er war in ein Arbeitslager deportiert worden. Sein Werk, die letzte Suite eingeschlossen, wurde inzwischen wieder aufgeführt, doch war diese Tatsache für sie eher nachteilig. Peter starb, als Ludmilla fünf Jahre alt war. Ihre Mutter hatte danach einen Eisenbahner geheiratet, und sie wohnten in einer öden Vierzimmerwohnung, die sie mit einer anderen Familie teilten, in einem großen bröckelnden Betonblock in einem tristen Außenbezirk der Stadt. Ludmilla war faul. Sie hätte etwas Besseres tun können als dies hier, aber das meiste war ihr zu lästig. Sie tanzte gern, sie hatte eine gute Figur, schlank und kräftig. Manchmal hatte sie daran gedacht, ihren Körper zu verkaufen wie die langbeinigen Mädchen in der Hotelhalle. Sie hatte es schließlich nicht getan. Und so war sie hier, mit ihrer Kollegin Varja.
Ludmilla beobachtete den Amerikaner leicht amüsiert. Varja hatte nämlich ihre eigenen Ansichten darüber, wie man eine Bar führte. In zwei Punkten war sie absolut unerbittlich, und der erste Punkt betraf die Öffnungszeiten.
Daß die Bar um sechs Uhr öffnete, bedeutete für Varja, daß sie um diese Zeit erschien. »Man bezahlt uns doch nicht dafür, daß wir zu früh kommen, oder?« meinte sie. »Wir öffnen um sechs, und dann machen wir erst einmal alles fertig.« Während sie die Speisen auf den Platten anordnete und den Kaffee aufbrühte, ließ sie natürlich keine Gäste ein. Deshalb gab sie jeden Morgen etwa zwanzig Minuten lang die gleiche Erklärung ab: »Die Bar ist offen, aber sie ist geschlossen.« Ähnlich verfuhr sie abends; wenn die Bar um neun Uhr schloß, wurden die Gäste zwanzig Minuten vorher nicht mehr bedient.
»Zakryt«, schrie sie deshalb, während Paul verärgert an die Tür klopfte. Erst dreizehn Minuten nach sechs erbarmte Varja sich und erlaubte Ludmilla, die Tür zu öffnen.
Der Amerikaner sprach außerordentlich gut Russisch. Es klang wunderschön. Selbst Varja bemühte sich sehr, seine Aussperrung wieder wettzumachen. Sie servierten ihm eine Tasse Kaffee, Salami und ein Ei. Und Brot. »Sind Sie Russe?«
»Ja«, lächelte er, »amerikanischer Russe.«
»Sie sind also zurückgekommen, um sich mal umzusehen?« Sie hatte schon einen oder zwei Emigranten im Hotel getroffen. Sie alle sprachen dieses wunderschöne Russisch. »Es ist nicht mehr viel von Ihrem Rußland übriggeblieben, heißt es«, sprach Ludmilla weiter. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn vielleicht noch länger zurückzuhalten. Er trank den Kaffee, biß in ein Stück Brot. Dann runzelte er die Stirn. Ludmilla lächelte. »Stimmt etwas nicht?«
Er verzog das Gesicht ein wenig. »Nichts Besonderes, nur das Brot ist ein bißchen altbacken. Haben Sie tatsächlich nichts Besseres hier?«
Ludmilla sah zu Varja hinüber. Varja hatte, wie gesagt, noch ein zweites merkwürdiges Prinzip. Irgendwann einmal war abends, als die Bar geschlossen wurde, noch viel Brot übriggeblieben. Jeder andere hätte das Brot mitgenommen oder es am nächsten Tag weggeworfen. Aus einem nur Varja selbst bekannten Grund hatte sie darauf bestanden, das alte Brot am folgenden Tag zu servieren, bis es ganz aufgebraucht war, was zufällig genau beim Schließen der Bar der Fall gewesen war. Das am Morgen jenes Tages gelieferte frische Brot lag deshalb noch unberührt in der Küche – und war nun wiederum altbacken. Am folgenden Tag spielte sich die gleiche Szene ab. In kürzester Zeit hatte sich aus einem kuriosen Vorfall ein System mit eigenen Regeln entwickelt. Niemandem war es gestattet, das Brot zu berühren. Die Regierung und die internationale Finanzwelt mochten von Reform und Veränderung reden, doch Varjas eisernes Regime wurde durch derart flüchtige Marotten nicht beeinflußt. Und so wurde in der Bar im fünften Stock konsequent Brot serviert, das einen Tag alt war.
Paul blieb nur noch zwei Minuten. Dann nickte er Ludmilla zu und eilte davon. Es kam keinem von beiden in den Sinn, daß sie verwandt sein könnten.
Es wurde eine angenehme Reise. Sergej hatte seine Frau Olga mitgebracht, eine zurückhaltende Person um die Dreißig, die einen weiten Pullover trug, der farblich zu ihrem braunen Haar paßte und zarte Hinweise auf die darunter befindliche Körperfülle gab, was Paul durchaus attraktiv fand. Sie saß hinten im Wagen, die beiden Männer vorn. Sergej war bester Laune.
Sie fuhren am Roten Platz vorbei, wo Vorbereitungen für die in Kürze stattfindenden Feiern zum Ersten Mai getroffen wurden. »Wissen Sie, daß dieses Jahr alles anders wird?« fragte Sergej. »Kein Militär mehr. Eine traditionelle russische Maifeier zur Begrüßung des Frühlings. Keine Tanks. Musik und Tanz.« Er lachte. Paul hatte alles darüber erfahren, selbst von dem erstaunlichen Projekt, anläßlich dieses Tages Reklameflächen auf den Kremlmauern an westliche Firmen zu vermieten.
»Stellen Sie sich das mal vor – kein Militär«, wiederholte Sergej, als ob er es selbst nicht glauben könnte.
»Aber das Militär schaut zu«, warf Olga eigensinnig dazwischen. »Wir sind erst richtig frei, wenn das Militär nicht mehr zuschaut.« Die breite Straße, die aus Moskau herausführte, ging bald in bescheidene zweispurige Landstraßen über. Innerhalb einer Stunde gab es nur noch eine Straße, breit genug, daß zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten. »Wir haben nicht Ihre Schnellstraßen«, meinte Sergej entschuldigend.
»Sie brauchen sie auch nicht«, antwortete Paul. Tatsächlich herrschte auf dieser Hauptstraße nur geringer Verkehr. Das Wetter war herrlich, der Himmel klar, blaßblau, wolkenlos, und über dem östlichen Horizont lag ein leichter Dunst. Zu beiden Seiten der Straße standen Birken.
Sergej Romanov hatte ein rundes Gesicht, schütteres, helles Haar. Er war zweimal im Westen gewesen und hoffte, wieder dorthin reisen zu können. Wie viele Russen seines Alters – Paul schätzte ihn auf Ende Dreißig – sprach er wenig über sich selbst, wollte jedoch möglichst alles über Bobrov erfahren. Auch Olga war Akademikerin, ihr Spezialgebiet war die russische Geschichte des Mittelalters. Paul stellte bald fest, daß Sergej und Olga, obwohl zwischen beiden eine echte Liebe bestand, sehr unterschiedliche Charaktere waren. Sergej hatte plötzliche Anwandlungen von Enthusiasmus, die von grüblerischer Nachdenklichkeit bis hin zur Depression, so vermutete Paul, abgelöst wurden. Olga ihrerseits schien, obwohl sie warmherzig und freundlich wirkte, das Leben mit einer Art skeptischer Schwermut zu sehen; von Zeit zu Zeit klang ihre Stimme von hinten wie eine klagende Glocke.
Paul führte eine ungezwungene Unterhaltung mit ihnen, erzählte von seiner Familie, seiner russischen Erziehung, von Kinderreimen und Volkssagen, die ihnen allen bekannt waren. Die beiden wiederum berichteten aus ihrem Leben.
Anscheinend hatten sie eine kränkelnde Tochter. »Sie war immer so müde, so blaß. Und nach Tschernobyl und der Strahlenverseuchung… Man weiß nie genau Bescheid mit den Lebensmitteln, wissen Sie. Wir hatten solche Angst.« Olga schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Aber Sergej traf einen Arzt aus dem Westen hier vor zwei Jahren, einen Kinderspezialisten. Er erklärte sich bereit, unsere Tochter zu untersuchen. Wissen Sie, was er gesagt hat? Sie sei nicht krank, sondern unterernährt. Unsere Ernährung ist sehr schlecht. Und dann sagte der Arzt noch: ›Das gibt es sehr häufig in Ländern der Dritten Welt, wie Ihres eines ist.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Dritte Welt – unser großes Rußland. Ich war entsetzt.«
»So schlimm ist das doch nicht«, meinte Sergej. »Doch. Wirklich, es ist schrecklich.« Einige Minuten später fuhr Olga fort: »Wissen Sie, ich brauche so viel Zeit, jeden Tag Stunden, um genug zu essen für meine Familie aufzutreiben; das macht mich ganz stumpfsinnig. Ich bin Akademikerin, aber mein einziges Gesprächsthema ist das Essen.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Wie eine Bäuerin.« Sie sprachen über anderes: über die Trennung der Ukraine von Rußland, den Streit um die Krim, die Möglichkeit, daß aus dem ehemaligen Königreich Georgien wieder ein souveräner Staat werden könnte. Und natürlich über die stets gegenwärtige Gefahr, daß alles zusammenbrechen und das Militär wieder in Rußland einschreiten könnte. »Man darf sich nicht täuschen«, sagte Sergej, »sie halten sich zwar von der Politik fern, aber die Männer an der Spitze der Armee sind außerordentlich unzufrieden.«
»Es wird einen Bürgerkrieg geben«, ließ Olga sich von hinten vernehmen, »das ist sicher.«
Paul runzelte die Stirn. »Die Leute sagen das, aber ich möchte doch wissen, wer im Fall eines Bürgerkriegs wen bekämpfen sollte – und weshalb.«
Sergej brach in lautes Gelächter aus. »Sie haben zu lange im Westen gelebt. So ist Rußland eben. Wir wissen auch nicht, wer wen bekämpft und warum. Wir wissen nur, daß es zum Kampf kommen wird.«
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin, ehe Sergej sagte: »Natürlich wollen wir auch mehr über Sie erfahren, denn wenn Rußland Menschen wie Sie verloren hat, haben wir den größten Teil unserer alten Kultur verloren, und wir wissen kaum, wie wir sie zurückgewinnen können. Wissen Sie, daß die Philosophie, die an russischen Schulen gelehrt wird, aus Hegel, Feuerbach und Marx besteht? Plato, Sokrates, Kant werden kaum erwähnt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen vor allem unsere eigene Geschichte«, fuhr er fort. »Stalin hat so vieles umgeschrieben, daß wir die Wahrheit überhaupt nicht kennen. Können Sie sich vorstellen, wie man sich dabei fühlt? Wenn man begreift, daß man keine Ahnung von dem hat, was tatsächlich geschehen ist, wie man zu der Person geworden ist, die man ist? Wir empfinden uns als verlorene Generation. Und wir wollen alles Verlorene zurückhaben.«
»Wie steht es mit der Kirche?« fragte Paul. »Ich bin Atheist«, erklärte Sergej offen. »Ich kann nicht glauben. Wenn andere das können, soll ihnen nichts im Wege stehen. Olga ist gläubig«, fügte er hinzu, und Paul bemerkte, daß Olga ihren Mann, während er sprach, sehr ernst ansah. Da lächelte Sergej. »Auch meine Mutter war gläubig. Sie besuchte geheime Messen in Privathäusern.«
Paul hatte von dieser verborgenen religiösen Betätigung gehört. Sie war als »Katakombenkirche« bekannt, in Anlehnung an die unterirdischen Gottesdienste der frühchristlichen Zeit. Er wußte aber auch, daß seit den Anfängen des Sowjetstaates Wanderpriester in ganz Rußland heimliche Messen für die Gläubigen lasen, in Hütten, Scheunen oder in Verstecken in den Wäldern. »Vielleicht werden Sie, falls es wieder eine russische Kultur gibt, auch ein echter Gläubiger«, meinte Paul lächelnd. »Das bezweifle ich.«
Sie fuhren ziemlich lang in Richtung Vladimir und wandten sich dann nach Süden. Des öfteren schien Sergej sich verfahren zu haben, doch schließlich fand er die schmale Straße nach Russka. Am späten Vormittag erreichten sie das Städtchen. Es war ein große Enttäuschung. Mit Hilfe der Informationen seiner Großmutter konnte Paul Bobrov Sergej und seine Frau herumführen. Das Städtchen war ziemlich verwahrlost. Der große Wachturm mit seinem hohen Zeltdach stand noch, wie auch die meisten Häuser, wobei Paul bemerkte, daß die größeren Häuser der Kaufleute in Wohnungen umgewandelt worden waren. Die Steinkirche am Marktplatz befand sich in einem traurigen Zustand und war offenbar seit Jahrzehnten nicht benutzt worden.
In einer der Fabriken wurden nun Fahrräder hergestellt. Die Textilfabriken standen noch; eine davon fabrizierte Wolldecken. Nach dem Rundgang durch den traurigen Ort führte Paul Sergej und seine Frau hinunter an den Fluß und weiter zu den Quellen. Hier wenigstens hatte sich nichts verändert, und die drei Besucher saßen eine Weile am moosigen Ufer und lauschten dem herabstürzenden Wasser.
Zuletzt wollte Paul unbedingt das alte Haus der Bobrovs sehen. Sie gingen zum Wagen zurück und fuhren über die Brücke auf der holprigen Straße weiter durch den Wald.
Das Dorf sah fast genauso aus, wie Nadeschda es beschrieben hatte. Es gab hier zwar keine Romanovs mehr, und Sergej hatte keine Ahnung, welches Haus seiner Familie gehört hatte, doch wieder erinnerte Paul sich an die Worte seiner Großmutter, und so konnte er das Ehepaar zu dem hübschen zweistöckigen Haus mit den geschnitzten Giebeln führen, in dem Boris Romanov einst gelebt hatte.
Während des Rundgangs blickte Paul immer wieder den Abhang hinauf, wo er das alte Haus der Bobrovs vermutete. Er konnte es nicht entdecken. Schließlich fragte er einen Ortsansässigen, wo jenes Haus sei.
Der Bursche antwortete: »Die Leute sagen, daß da oben auf dem Hügel mal ein Haus gestanden hat, aber ich habe es nie gesehen.« Und so war es. Als sie hinaufkamen, fanden sie nichts. Keinen Balken, kein Nebengebäude; nichts als einen schwachen Umriß auf dem Rasen und, etwas höher gelegen, einen überwucherten Weg zwischen Bäumen. Das Haus der Ahnen gab es nicht mehr. Pauls Verbindung zur Vergangenheit war verloren, begraben. Seine Reise war umsonst gewesen. Traurig wandte er sich ab. Sie fuhren weiter und näherten sich dem Kloster. Von außen wirkte es verlassen. Die Mauern bröckelten ab, der Glockenturm war eingestürzt. Die Gebäude im Inneren sahen aus, als hätten sie keine Fensterscheiben mehr. Doch da tauchten plötzlich zwei Mönche auf.
Sie waren jung und trugen einfache Soutanen. Einer war groß und schlank, hatte einen kleinen hellen Bart. Der andere hatte ein breites, intelligentes Gesicht und leuchtendblaue Augen. Lächelnd blickten sie dem Wagen entgegen.
Sergej hielt an und kurbelte das Fenster herunter. »Sind hier noch Mönche?«
Das berühmte Danilovkloster hatte seine Mönche an verschiedene Orte gesandt, aber Sergej hatte nicht gewußt, daß sie auch bis nach Russka gelangt waren.
»Seit drei Monaten wieder.« Der große Mönch lächelte. »Sind Sie getauft?«
»Selbstverständlich.« Paul Bobrov antwortete vom Beifahrersitz aus, und Olga nickte dazu.
»Gott hat Sie zu einem günstigen Zeitpunkt geschickt«, sagte der Mönch mit den blauen Augen. »Kommen Sie, und sehen Sie selbst!«
Es war ein unerwarteter Anblick. Ein Dutzend Mönche stand neben der Kapelle im Kreis. Außerdem standen etwa vierzig Bauersleute, meist Frauen, ehrerbietig beiseite. Neben dem Eingang zur Kapelle war ein Sarg, mit einem dunkelroten Tuch bedeckt, aufgestellt.
Die drei stiegen aus dem Wagen und standen leicht verlegen da; Sergej wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und Olga war offensichtlich entschlossen, die Kapelle zu betreten.
»Ich fürchte, wir stören«, sagte Paul. Doch die beiden Mönche wollten nichts hören und eilten davon, um gleich darauf mit einem etwa fünfzigjährigen Mann mit klugem Gesicht und forschendem Blick zurückzukehren, der sich, freundlich grüßend, verneigte und sagte: »Ich bin der Archimandrit Leonid. Darf ich fragen, warum Sie gerade jetzt hierher kommen?«
Als Paul ihm den Grund sagte, war der Archimandrit offensichtlich tief bewegt. »Sie sind ein Bobrov? Aus der Familie, die dieses Kloster gegründet hat? Und Sie heißen Paul? Unser Kloster heißt, wie Sie wissen, Peter-und-PaulsKloster.« Einen Moment schloß er die Augen. »So etwas betrachten wir als ein Zeichen«, meinte er leise. »Das ist kein Zufall. Bitte bleiben Sie noch ein wenig!«
Paul schien, daß es wirklich ein außergewöhnliches Zusammentreffen sei. Er, ein Bobrov, kam an ein eben wieder geöffnetes Kloster, und das nicht an irgendeinem beliebigen Tag; denn am Tag zuvor hatten die eifrig suchenden Mönche endlich das Grab ihres am meisten verehrten Kirchenältesten entdeckt, und an diesem Tag wurden seine Gebeine in der Kapelle erneut geweiht. Es handelte sich um den Ältesten Basilius, der im letzten Jahrhundert viele Jahre hinter den Quellen in der Gesellschaft eines Bären als Einsiedler gelebt hatte.
Der Ritus dauerte nicht übermäßig lang und wurde einfach gestaltet. Der Sarg mit den sterblichen Überresten des Eremiten wurde in die Nordostecke der Kapelle gebracht. Während der Archimandrit ein Meßgewand trug, waren die übrigen Mönche in einfaches Schwarz gekleidet. Die Leute, die hereindrängten, wirkten ärmlich. Es gab nichts an dieser schlichten orthodoxen Messe, was das Auge hätte erfreuen können.
Ein Psalm und eine Hymne wurden gesungen. Der Archimandrit predigte in schlichten Worten und mit dem Ausdruck großer Güte. Sie alle sollten dankbar sein für die Zeichen göttlicher Vorsehung, hieß es da, für Zeichen, die ihrer Natur nach unvorhersehbar seien. »Sie erinnern uns daran«, so führte er aus, »daß Gottes Weisheit groß ist und daß wir, selbst wenn wir eine Ahnung davon haben, nicht mehr davon kennen als einen unendlich kleinen Teil des göttlichen Planes. Wie sonst kann es sein«, meinte er, »daß zu dieser Stunde, an diesem Tag ein gewisser Paul, Nachkomme des Gründers dieses Klosters, zufällig an der Pforte erscheint, nachdem er Tausende von Kilometern gereist ist? Und ist es nicht bezeichnend«, fuhr der Archimandrit fort, »daß er auf der Suche nach seinem irdischen Haus, das nicht mehr steht, ohne es zu ahnen, zu seinem geistigen Haus gelangt ist?«
Paul sollte sich aber vor allem an das erinnern, was Leonid über Basilius selbst sagte.
»Viele Jahre lang lebte Basilius in seiner Einsiedelei, betete und gab geistige Anleitung; es werden ihm auch einige Wunder zugeschrieben. Doch heute, da wir seine gesegneten sterblichen Überreste vor uns haben, möchte ich auf den Beginn seines Einsiedlerdaseins zu sprechen kommen. Es wurde immer gesagt, Basilius habe eine besondere Hand für Tiere gehabt. Es ist überliefert, daß oft ein großer Bär bei ihm gewesen sei und der Älteste zu ihm gesprochen habe wie ein gütiger Vater zu seinem Kind. Doch diese Version ist nicht die ganze Wahrheit. Am Anfang seiner Zurückgezogenheit fürchtete Basilius sich sehr, als der Bär das erstemal kam, und zwar derart, daß er die ganze Nacht wach in seiner Klause kauerte. In der folgenden Nacht kam der Bär wieder, und Basilius hatte wieder große Angst. Erst in der dritten Nacht verstand der Älteste, was er zu tun hatte. Er blieb ruhig vor seiner Hütte sitzen. Dann betete er: ›Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich deines Sünders.‹ Er bat nicht um leiblichen Schutz. Was konnte ihm dieser Bär denn auch antun, ihm, der durch Gottes Gnade das ewige Leben hatte? So verlor er die Furcht vor dem Bären. Auch wir, meine Kinder, sind nicht ohne Furcht. Wir wissen, was in vergangenen Jahrzehnten im russischen Reich geschehen ist. Doch wenn wir nun dieses Kloster wiederaufbauen und an Basilius denken, wissen wir, daß wir den Bären nicht zu fürchten brauchen. Wir müssen ihn lieben. Und vollkommene Liebe läßt keine Furcht zu.« In diesem Augenblick sah Paul zu seiner Überraschung, daß sein Freund Sergej zitterte. Und ihm selbst liefen Tränen über die Wangen.
Die Mönche gaben ihnen etwas zu essen. Sie fuhren am Spätnachmittag ab. Lange Zeit fuhren sie gemächlich und schweigend nach Moskau zurück. Olga schlief ein. Erst nach einer Stunde begann Sergej zu sprechen. »Wir werden es tun. Wir werden Rußland wiederaufbauen. Natürlich müssen wir mit Fremdinvestitionen vorsichtig sein. Ich meine damit, wir dürfen nicht unsere gesamte Grundstoffindustrie in andere Länder geben, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Es muß ja nicht unbedingt ein Weggeben sein.«
»Ich glaube andererseits nicht, daß wir den reinen Kapitalismus wollen. Meiner Ansicht nach sind eine Menge Leute, die heute in Rußland Geld verdienen, einfach kriminell. Mafia.« Er nickte nachdenklich. »Vielleicht brauchen wir eine Art kombinierter Wirtschaft.«
»Ich glaube schon, daß das erreicht werden könnte«, meinte Paul. Sergej Romanov lächelte. »Es braucht nur die richtigen Männer an der Spitze«, sagte er. »Dann schaffen wir es.« Die Sonne ging unter, als Paul Bobrov wieder am Fenster seines Hotelzimmers saß und über die Dächer Moskaus blickte. Zu seiner linken sah er einen jener hohen klobigen Türme, mit denen Stalin die Stadt während seiner Diktatur hatte schmücken lassen: Symbole eines neuen Zeitalters, Symbole unbeugsamer Macht, wie die kahlen Kremlmauern.
Repräsentierten sie tatsächlich Rußland? Nein, Paul war nicht dieser Meinung. Auch wenn er nicht sagen konnte, was Rußland wirklich war. Es hatte sich durch all die Jahrhunderte einer klaren Definition widersetzt. War es ein Teil Europas, ein Teil Asiens – und was bedeuteten diese Begriffe überhaupt? Kein Kommentar, den er je gelesen hatte, hatte ihm erklären können, was dieses weite Land war oder was daraus werden könnte. Friede und Demokratie. Ein neuer Putsch. Bürgerkrieg. Ein autoritäres Regierungssystem. Anarchie. Niemand wußte es. Der Westen wußte es nicht, und die Russen wußten es mit Sicherheit auch nicht. Doch was auch das wirkliche, beständige Rußland sein mochte – Paul dachte, daß er an dem Tag in Russka eine Ahnung davon bekommen habe.
Es war Nacht geworden. Bobrov saß noch immer am Fenster, sah auf die schlafende Stadt und dachte nach. Hoch am sternenübersäten Himmel zogen von Zeit zu Zeit bleiche Wolken vorüber, leuchteten auf im Widerschein des wachsenden Mondes, der nun im Süden aufstieg. Sanft strich der Wind übers Land.