Der Tatar

1237
Es wehte ein eisigkalter Dezemberwind. Der gelbhäutige Reiter zog den dicken Pelz fester um sich und drückte die Fellmütze tiefer in die breite Stirn.
Mengu war erst fünfundzwanzig, doch Wind und Wetter, Kämpfe und das harte Leben in der Steppe hatten seine Haut gegerbt und sein Alter schwer bestimmbar gemacht. Zudem hatte vier Jahre zuvor ein Speer sein linkes Auge nur knapp verfehlt und eine klaffende Wunde vom hohen Jochbein über die Seite des Kopfes gerissen und ein Ohr abgeschlagen – nur noch ein ausgefranster Rest davon war übrig.
Am Gürtel war ein lederner Trinkbeutel befestigt, der Kumyß enthielt, ein alkoholhaltiges Getränk aus vergorener Stutenmilch, das sein Volk sehr schätzte. Am Sattel hing ein Beutel mit Trockenfleisch. Als mongolischer Krieger hatte er immer alles bei sich, was er brauchte. Dazu gehörte auch seine Frau; sie ritt mit dem Baby hinter ihm in dem langen Kamelzug, der das Gepäck beförderte.
Langsam zog das große Heer über die gefrorene Steppe. Wie gewöhnlich war es in fünf etwa gleich große Einheiten aufgeteilt: an jedem Flügel zwei – eine Vorhut und eine Nachhut – und in der Mitte eine einzige Division.
Mengu befehligte den rechten Flügel. Hinter ihm ritten seine hundert Mann. Es war leichte Reiterei, jeder hatte zwei Bogen und zwei Köcher voller Pfeile, die er aus vollem Galopp abschießen konnte – bis zu hundert Meter weit. Zu Mengus Linker befand sich schwere Kavallerie. Die Männer führten Säbel und Lanzen, eine Streitaxt oder Keule, je nach Belieben, und ein Lasso mit sich. Mengu selbst ritt einen pechschwarzen Rappen, was ihn als Angehörigen der schwarzen Brigade der fürstlichen Wachelite kennzeichnete.
Er freute sich, daß seine Frau und sein Erstgeborener dabei waren: Sie sollten den Triumph miterleben. Es war sein erstes Kommando. Die Mongolenarmee spiegelte in ihrem Aufbau das Dezimalsystem wider. Die kleinste Kommandoeinheit umfaßte zehn Mann, die nächste über hundert. Die älteren Männer befehligten eintausend Mann, die Generäle zehntausend. Mengu führte den Befehl über hundert. »Nach diesem Kampf werde ich tausend führen«, versprach er seiner Frau. Wie sehr wünschte er sich eine Beförderung! Aber man mußte umsichtig vorgehen.
Wenn auch alle Männer im Dienste des Großen Khan gleich waren und jede Beförderung nach Verdienst erfolgte, waren schnelles Urteilsvermögen und Taktgefühl wohl die angesehensten Eigenschaften. Es war natürlich auch nützlich, für den Aufstieg einem erfolgreichen Clan anzugehören. Ich bin, so überlegte Mengu, vom gleichen Stamm wie zwei Generäle. Das verschaffte ihm den Eintritt in die fürstliche Wache. Ein anderer Faktor konnte ihn vielleicht noch schneller vorwärtsbringen. Bei einer der Schönheitskonkurrenzen, die der Große Khan regelmäßig abhielt und zu der alle prominenten Mongolen ihre Töchter schickten, war Mengus Schwester dem Batu Khan persönlich als erste Konkubine zugewiesen worden.
Sie wird Mittel und Wege finden, ihn auf mich aufmerksam zu machen, dachte er zuversichtlich, während sein Gesicht unbeweglich dem Horizont zugewandt war. Bald würden sie den Waldrand erreichen.
Im zwölfjährigen Tierkalender der Mongolen waren es noch zwei Jahre bis zum Jahr der Ratte. Am Ende jenes Jahres würde das Land der Rus erobert sein – so sicher, wie die Sonne aufgeht und die Sterne scheinen. Denn sie, die Mongolen, würden sich die Welt unterwerfen. Mengu war davon überzeugt. Tschingis Khan hatte es ihnen gesagt. Tschingis Khan, der 1206, nur dreißig Jahre zuvor, alle mongolischen Stämme unter sich vereinigt und von den alten türkischen Reichen der asiatischen Ebene den Titel »Kagan« oder »Khan« übernommen hatte. »Tschingis« bedeutete »der Allmächtige«.
Aus ihrer Heimat in den Weidegründen oberhalb der Wüste Gobi stießen diese Reiterkrieger südwärts über die Große Mauer nach China vor, dann westwärts gegen die türkischen und moslemischen Staaten von Zentralasien und Persien. Es gab ungeheure Schlachten, und Tschingis zermalmte alles. Innerhalb weniger Jahre war die Stadt Peking gefallen; um 1220 gehörte Tschingis der größte Teil von Persien. Nun überquerten die Mongolen die Berge und ritten hinunter in die weite Ebene Nordeurasiens. Es war Tschingis Khans Ziel, nicht nur die wichtigen Karawanen-Straßen nach Westen zu kontrollieren, sondern einen Staat zu gründen, von dem aus die gesamte Welt zu regieren war. Sein Ziel – was die Geschichtsschreibung nicht ohne Grund gern übersieht – war der Weltfrieden. Die Gesetze für diese neue Weltordnung waren von Tschingis Khan in seinem Kodex, der großen »Yasa«, festgelegt. »Alle Menschen sind gleich«, hieß es da, »und alle sollen, jeder auf seine Weise, dem Großen Khan dienen.« Das Imperium des Tschingis Khan war eine Art Wohlfahrtsstaat. Er gestattete auch umfassende Religionsfreiheit. Es galt die Losung: »Es gibt einen Gott im Himmel und einen Herrscher auf Erden – den Großen Khan.«
Tschingis starb 1227, doch sein Imperium wankte nicht. Dieses Imperium, das er seinen Söhnen und Enkeln vermachte, war viergeteilt. In der orientalischen Welt war jeder der vier Himmelsrichtungen eine Farbe zugeordnet: dem Norden Schwarz, dem Süden Rot, dem Osten Blau und dem Westen Weiß. Und der herrschenden Mitte war Gold vorbehalten. So wurden die Nachfahren des Tschingis der »Goldene Stamm« genannt.
Seinen Söhnen hatte der Khan den Befehl gegeben, das Reich auszudehnen. Das große Heer, das 1237 in die westliche Welt vordrang, wurde von Batu Khan, einem Unterherrscher und Enkel von Tschingis, angeführt. Ihm zur Seite stand der große Mongolengeneral Sübödäi. Das Heer umfaßte schätzungsweise 150000 Mann; den Kern bildeten Mongolen, die übrigen waren hauptsächlich Türken aus den eroberten Gebieten Zentralasiens. Die Geschichtsschreibung hat seither diese Armee und das weite westliche Imperium im allgemeinen als die »Goldene Horde« bezeichnet. Tatsächlich jedoch ist dieser Begriff auf die Fehlinterpretation eines Jahrhunderte später verfaßten Textes zurückzuführen. Die riesigen westlichen Mongolengebiete wurden nicht die goldenen genannt; da sie im Westen lagen, war ihnen die Farbe Weiß zugeordnet. Und die Horde innerhalb dieses großen weißen Teilgebiets hieß die »Große Horde«.
»Es wird kein langer Kampf werden«, hatte Mengu seiner Frau vorausgesagt. Tatsächlich hatte der Mongolenrat die Eroberung des Landes der Rus auf drei Jahre angesetzt. Um Form und Natur des damaligen russischen Staates zu verstehen, braucht man sich nur die Linien seiner größten Flüsse zu vergegenwärtigen. Sie bildeten zusammen, grob gesagt, ein R. Zuerst einmal war da das große, von Norden nach Süden reichende Netz der Wasserwege, und zwar von den kalten Gebieten um die Ostsee hinunter zum breiten Dnjepr, weiter durch schönen Wald über die gefährliche südliche Steppe bis hin zum Schwarzen Meer. Das war der senkrechte Balken des R mit Novgorod im Norden, Smolensk in der Mitte und Kiev unmittelbar oberhalb der südlichen Steppe.
Den Schwanz des R – von der Mitte aus nach Südosten, weiter über die Steppe und hinunter bis in die Nähe der Kaspischen Senke und der Siedlung Tmutorokan – bildete der große Don. Die Schleife des R formten zwei Flüsse: den oberen Teil die mächtige Wolga, die ihre Reise mit einem riesigen Bogen durch den dunklen Wald im Nordosten beginnt, bevor sie sich nach Süden wendet, und den unteren Teil die träge Oka, die sich weiter nördlich mit der Wolga vereinigt. Von diesem Punkt aus halbwegs nach oben auf der Schleife fließt die Wolga wieder nach Osten weg und setzt ihre Reise durch die endlose Eurasische Ebene fort. Innerhalb dieser weitgespannten Schleife – einem Land der Wälder und Marschen, wo die finnische Urbevölkerung seit undenklichen Zeiten ihren Lebensraum hatte – entstanden nach und nach Städte: Suzdal, auch Suzdalj genannt, in der mittleren Region, Rostov weiter im Norden und an der Außenseite der Schleife, an der Oka, die Städte Rjazan und darüber Murom.
Vier Hauptflüsse: Dnjepr, Wolga, Oka und Don. Vom eisigsten Norden zum warmen Schwarzen Meer – an die tausend Meilen. Von West nach Ost, quer durch die Schleife – etwa fünfhundert. Das war das R der russischen Flüsse, die Gestalt des Staates der Rus.
Im Jahrhundert nach der Regierung Vladimir Monomachs in Kiev vollzog sich eine große Wende in diesem Staat. Die Führer zeigten wachsendes Interesse an dem Land innerhalb der Schleife jenes R. Neue Städte wie Jaroslavl und Tver entstanden. Monomach selbst hatte in Suzdal eine wichtige Stadt gegründet und ihr seinen Namen gegeben: Vladimir. Mittlerweile verloren die südlichen Handelswege zum Schwarzen Meer an Bedeutung, und die große Stadt Kiev war im allmählichen Abstieg begriffen.
Als Folge dieser Entwicklungen verlagerte sich der Schwerpunkt im Staate der Rus nach Nordosten in die R Schleife. Das älteste Mitglied des Herrscherclans nannte sich nun Großfürst von Vladimir; und Kiev wurde zu einem Besitz, mit denen sich reiche und mächtige Fürsten zu brüsten beliebten.
Die Großfürsten von Vladimir hatten normalerweise die Kontrolle über Novgorod und seinen ausgedehnten Handel mit den deutschen Hansestädten und weit darüber hinaus. Sie nahmen die wichtigen Karawanen in Empfang, die über die Steppe und durch die Wälder aus den Ländern der Wolgabulgaren und aus dem Orient kamen.
Um den religiösen Standort der neuen nördlichen Hauptstadt zu bestimmen, brachten die Fürsten eine geweihte Ikone der Gottesmutter aus Griechenland in die neue Kathedrale von Vladimir. Eine grundsätzliche Schwäche hatte der Staat der Rus: Er war nicht geeint. Obwohl die Gesetze der brüderlichen Erbfolge auf die Position des Großfürsten noch Anwendung fanden, wurden einzelne Städte mit der Zeit zu Machtzentren verschiedener Zweige zahlreicher Herrscherhäuser. Kein Herrscher in Vladimir brachte sie je zu einer Einheit zusammen. Die Mongolen wußten das sehr wohl.
1239
Yanka erwachte in der Morgendämmerung. Der Himmel färbte sich blaß. Lautlos glitt sie vom warmen Wandbord über dem Ofen und ging zur Tür. Sie hörte ihre Eltern und den Bruder Kiy atmen. Keiner bewegte sich. Sie zog den Pelz und ihre dicken Filzstiefel über, schob den Türriegel zurück und trat hinaus in den knirschenden Schnee.
Das Dorf lag grau im Dämmerlicht. Es war windstill. Yanka nahm nur den angenehmen Geruch der Holzfeuer wahr, der aus den kaminlosen Häusern drang. Kein Mensch war zu sehen, als sie sich auf den Weg machte.
Sie war sieben Jahre alt, ein ruhiges, selbstsicheres kleines Mädchen mit braungesprenkelten blauen Augen und strohblondem Haar. Yankas Mutter hatte eine ansehnliche Mitgift eingebracht, darunter mehrere Bienenstöcke. Sie war eine fröhliche, kluge Frau, hatte von ihren Vorfahren das dichte schwarze Haar und den gedrungenen Körperbau geerbt.
Gleich würde die Sonne aufgehen. Yanka wanderte weiter. Ich will die Sonne über der Steppe aufgehen sehen, dachte sie, bevor ich wieder heimgehe.
Um Russka war es in letzter Zeit einsam geworden. Das Fort gab es zwar noch, aber es war kaum besetzt, da in Perejaslavl kein Fürst saß. Die Familie des Bojaren war dem Dorf seit langem fremd geworden. Ivanuschkas Enkel mit Namen Ivan hatte ein kumanisches Mädchen geheiratet, und ihr Sohn, ein seltsamer hellhaariger Bursche namens Milej, hatte kein Interesse an Russka. Die Familie des Bojaren besaß auch große Ländereien im Nordosten, jenseits der Oka. Der Bojar selbst lebte in Murom. Sein Verwalter inspizierte den Ort von Zeit und Zeit und kassierte, was seinem Herrn vom Honigertrag zustand. Die Familie unterhielt außerdem auch die kleine Kirche.
Während Yankas kurzem Leben hatte sich in Russka sorglose Apathie breitgemacht. Die Bewohner holten die Ernte ein und sammelten den Honig, betrogen den abwesenden Bojaren und sangen an den warmen Abenden am Rand der südlichen Steppe. Es gab nur Gefahr am Horizont. Im Norden hatte sich im vergangenen Jahr ein schlimmer Überfall ereignet. Die Rumänen, oder wer es gewesen sein mochte, hatten großen Schaden angerichtet. Und im Herbst war der Verwalter des Bojaren nicht erschienen. Als Yanka zum Waldrand kam, war die Sonne eben über dem Horizont aufgetaucht. Vor ihr schienen sich die Schneefelder endlos nach Osten auszudehnen. Etwa eine Meile entfernt bezeichnete eine kleine Erhebung die Stelle des ehemaligen kurgan. Yanka trat zwischen den Bäumen hervor. Lächelnd atmete sie die eisige Luft ein. Jetzt konnte sie wieder nach Hause gehen. Als sie sich eben umwenden wollte, entdeckten ihre scharfen Augen fern am Horizont einen winzigen Punkt. Sie blickte unverwandt hin, schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Der Punkt schien sich nicht zu bewegen. Wurde er größer? Yanka war nicht der Meinung. Sie machte sich auf den Heimweg, während die Sonne vom Tag Besitz ergriff.
Mengu beobachtete das Mädchen. Im ersten Licht war er vom Lager fortgeritten und bald auf eine kleine Erhebung gelangt, von der aus er einen guten Überblick hatte. Jenseits der offenen Steppe konnte er etwa zehn Meilen entfernt den Waldrand sehen und auch die kleine Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat. Yankas Augen waren zwar scharf, doch die des Mannes aus der Steppe waren schärfer. An einem klaren Morgen, ehe Staub oder Dunst sich erheben, konnte er einen Menschen auf eine Entfernung von fünfzehn Meilen oder mehr ausmachen. Mengu lächelte. Wie einfach es doch gewesen war! Die Städte im Norden – Rjazan, Murom, Vladimir – hatten sie im Handstreich genommen. Der Großfürst und seine Armee waren geschlagen. Es war schade, daß das Frühlingswetter sie zum Rückzug gezwungen hatte, bevor sie Novgorod erreichten. Nun waren sie im Winter zurückgekommen, um den Süden zu erobern. Und auch dabei hatte sich ihre Umsicht gezeigt. Der Winter war die beste Zeit, Rußland anzugreifen. Im Frühling und Herbst machte der Schlamm das Land unpassierbar, und im Sommer mußten breite Flüsse überquert werden. Im Winter jedoch waren die Flüsse fest zugefroren – man muß sich nur auf die Kälte einrichten und wissen, wie man sich auf Schnee bewegt. Die Mongolen mochten die strengen Winter gern.
Der Feldzug war recht zufriedenstellend verlaufen. Nur daß er bisher die Aufmerksamkeit des Generals nicht hatte erregen können, ärgerte Mengu.
Seine Schwester hatte bei Batu Khan für ihren Bruder gesprochen. Doch der große Mann hatte lediglich geantwortet: »Soll er sich hervortun!«
Mengu brauchte endlich eine Chance – selbst ein kleines Geplänkel würde genügen, wenn es sich nur unter den Augen des Generals abspielte! Wieder ging sein Blick aufmerksam über die Wälder hin. Das Mädchen war am Waldrand entlanggegangen, also mußte sich ein Dorf in der Nähe befinden. Gegen Mittag würden sie es erreichen.
Als Yanka erwachte, wurde ihr Gesicht schreckensbleich. Sie waren überall, und sie, Yanka, war allein. Sie stand, zitternd am ganzen Körper, am Fenster. Sie konnte den Geruch der schweißnassen Pferdeflanken wahrnehmen, die Tiere fast berühren, als die Reiter in dicken Pelzen, große Bogen auf dem Rücken, vorbeizogen und dabei die Dachtraufen streiften. Einige trugen brennende Fackeln.
Sie wandte sich um. Die Hütte war leer. Sie versuchte sich zu beruhigen. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater die Mähre angeschirrt hatte und mit dem Schlitten auf dem zugefrorenen Fluß zum nächsten Ort gefahren war. Der klare Himmel der Dämmerung war verschwunden. Als ihr Vater losfuhr, lag das Dorf in rötlichbraunem Licht. Ihre Mutter hatte beschlossen, zum Fort hinüberzugehen. Yanka war zu Hause geblieben und eingeschlafen.
Sie hatte das Geschrei nicht gehört. Nun war sie aufgewacht und fühlte sich wie in einem Alptraum.
Yanka wußte es nicht, aber seit die Dorfbewohner geflohen waren, war erst eine Minute vergangen. Alles war so schnell gegangen. Plötzlich war am anderen Ende des großen Feldes ein Reiter aufgetaucht, dann waren es drei; als die Leute zu schreien begannen, einhundert. Lautlos sickerte die Mongolenarmee durch die Wälder, fünf riesige Trupps auf einer Breite von drei Meilen. Die Bewohner waren auf den Überfall nicht vorbereitet, ihnen blieb nichts übrig als fortzulaufen. Drei Leute hatten an Yankas Tür gehämmert, bevor sie losstürmten. Als keine Antwort kam, dachten sie wohl, die Hütte sei leer. Sie liefen über den zugefrorenen Fluß und suchten nach einem Unterschlupf. Einige nahmen Zuflucht in der Kirche, andere im Fort oder in den Wäldern. Als sie den Lärm hörte, schaute Yankas Mutter aus dem Tor des kleinen Forts. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die Bewohner aus dem Dorf strömen sah. Gleich darauf sah sie die Linie der mongolischen Krieger am Fluß. Yanka konnte sie unter den Fliehenden nicht entdecken.
Sie lief den Hügel hinunter zum Fluß, auf den mongolischen Reiter zu, der das gegenüberliegende Ufer bereits erreicht hatte. Sie merkte nicht, daß die Dorfbewohner gedankenlos das Tor der Festung hinter ihr schlossen.
Mengu konnte sein Glück kaum fassen, als der General auf ihn zuritt. Er war ein stämmiger, sehr bestimmender, wortkarger Mann. Mit seiner Peitsche deutete er über den Fluß: »Nimm das Fort!«
Das war seine Chance! Sofort wandte er sein Pferd und ließ die am nächsten stehenden Schwadronen in zwei Linien ausscheren. Sie ritten über das Eis, um Fort und Kirche einzukreisen. Mengu winkte den Anführer einer Abteilung herbei. »Eine Belagerungsmaschine! Einen Katapult!« Die Leute brachten die Maschinen weiter nördlich in Stellung, wo der Wald nicht so dicht war. Mengu betrachtete das armselige kleine Fort aus Holz. Wie dumm von den Leuten, die Tore zu schließen! Die Soldaten wären nie auf die Idee gekommen, das Fort niederzubrennen, wären die Tore offen gewesen. Yanka zögerte. Die Reiter verließen das Dorf. Sie hatten zwei Hütten angezündet, sich jedoch nicht weiter aufgehalten. Auf einen lauten Befehl hin kamen sie eiligst zum Fluß. Plötzlich war es still. Vielleicht war Yankas Familie irgendwo dort draußen. Was sollte sie machen? Sie fürchtete sich vor den Reitern, aber noch mehr vor dem Alleinsein. Sie ging hinaus. Die Reiter waren am Fluß angekommen. Yanka sah, wie die zwei Kavallerieabteilungen über das Eis ritten, um das Fort zu umzingeln. Zu ihrer Linken war eine Infanterieeinheit von etwa dreihundert Mann. Rechts warteten sechs Reiter ungeduldig am Ufer, und unmittelbar am Rand des Eises gab ein einzelner Reiter Befehle.
Der neunjährige Kiy und sein Vater Sawa waren auf dem Heimweg und nahmen gerade die letzte Biegung auf dem zugefrorenen Fluß, als der Vater plötzlich fluchte: »Hol's der Teufel! Ein Überfall der Rumänen!« Er riß an den Zügeln. Der Schlitten schwenkte herum. »Was ist hinter uns los?«
Kiy blickte sich um. »Auch Soldaten. Sie überqueren den Fluß. Was ist wohl mit Mutter und Yanka?«
Sawa schlug wie wild mit den Zügeln auf die Mähre ein. Sie rasten auf die Biegung zu. »Gott bewahre, daß sie nicht auch vor uns sind!« murmelte der Bauer. Doch da standen sie vor den mongolischen Kriegern.
Die Reiter überquerten vor ihnen das Eis. Kiy sah seine Mutter nirgends, doch als Sawa den Schlitten herumriß und auf den Wald zur Rechten losfuhr, schrie der Junge: »Schau, dort ist Yanka! Am Ufer! Sie hat uns gesehen!«
Das Mädchen lief auf die Mongolen zu. Sie hatte nicht nur die Soldaten gesehen, sondern auch ihre Mutter, die zwischen den Linien der Reiter über das Eis kam. Yanka wollte schreien, doch nur ein Flüstern kam über ihre Lippen. Da entdeckte auch die Mutter ihre Tochter, und das kleine Mädchen fühlte eine ungeheure Erleichterung. Es lief geradewegs auf die Mutter zu, ohne auf den Reiter zu achten, der ihnen im Weg stand. Mengu konnte es kaum erwarten, bis die Belagerungsmaschine in Position gebracht wurde. Er ließ seinen Blick über seine Truppe wandern. Die Umzingelung des Forts war fast geschlossen. Das würde sein großer Tag werden. Mengu fühlte Erregung in sich aufsteigen. Aber was kam denn da für eine Bäuerin auf ihn zu? Es fiel ihm die Geschichte ein, die er einige Monate zuvor gehört hatte. Eine Bäuerin hatte einen jungen Hauptmann angegriffen, als die Stadt Rjazan niedergebrannt wurde, und ihn mit einem Messer getötet. Mengu runzelte ärgerlich die Stirn. Er würde sich seine Karriere nicht von einer russischen Bäuerin zerstören lassen! Die Frau war schon ganz nah. Auf Mengus Schenkeldruck stampfte das Pferd vorwärts, und der Mongole schlitzte der Frau mit seinem Säbel die Brust auf. Sie strauchelte und schlitterte übers Eis. Mengu drehte sich zur Belagerungsmaschine um. »Mama!« Bei diesem Schrei wirbelte Mengu herum. Ein blasses kleines Mädchen kniete neben der Frau, aus deren Wunde Blut spritzte. Die Frau blickte das Kind an, wollte etwas sagen. Einen Augenblick lang vergaß Mengu alles andere. Er sah nur die Gesichter von Mutter und Kind. »Yanka!« Dieser Ruf kam von einem Jungen neben einem Bauern auf einem Schlitten, etwa zweihundert Meter entfernt. Die beiden wußten offenbar nicht, was sie tun sollten angesichts einiger hundert Bogenschützen, die sie in Sekundenschnelle hätten töten können.
Die Augen der Frau wurden starr. Es war vorbei. Das Eis auf dem Fluß knackte, als der Mongole das kleine Mädchen an einem Arm hochzog. Das Pferd stürmte auf den Schlitten zu, wo der Mann das Kind achtlos zu Boden ließ. Mit einer verächtlichen Handbewegung scheuchte der Mongole die drei weg, und gleich darauf verschwand ihr Schlitten zwischen den Bäumen. Es war nicht Taktik der Mongolen, die Bauern einer eroberten Region zu töten. Die Bauern bebauten das Land, zahlten Tribut und stellten Rekruten. Getötet wurden nur jene, die so töricht waren, sich ihnen zu widersetzen. Mengu machte kehrt. Der Zwischenfall hatte kaum eine Minute gedauert. Die Truppen waren alle an Ort und Stelle. Der Katapult wurde herangeschafft, und ein Mechaniker erwartete Mengus Anweisungen. Mit einem kurzen Nicken erklärte Mengu den Katapult für einsatzbereit.
Die Bewohner Russkas hatten nie vorher einen solches Gerät gesehen. Es konnte mit einem Stein geladen werden, den vier Männer tragen mußten, und dann schleuderte es ihn mit todbringender Genauigkeit eine Viertelmeile weit. Der erste Stein brachte die Brustwehr über dem Tor zum Einsturz. Der zweite zertrümmerte das Tor. Auf Mengus Befehl stürmten die Mongolen ins Fort. Jede Tür wurde aufgestoßen, jeder Raum, jeder Winkel durchsucht. Alle, Männer, Frauen, Kinder, wurden niedergemetzelt.
Innerhalb des Forts fanden die Krieger tonnenweise Getreidevorrat, die in Karren aus dem Dorf transportiert wurden. Die Toten ließ man liegen, und Gebäude wie auch die hölzernen Wälle wurden niedergebrannt. Bald darauf stand das ganze Fort in Flammen. Mengu wandte sich an einen Anführer: »Zwanzig Bogenschützen mit Feuerpfeilen umstellen die Kirche«, befahl er. Die Mongolen umzingelten die Kirche und entzündeten ihre langen, schweren Pfeile, deren dicke, mit Tuch umwickelte Spitzen in Pech getaucht waren. Auf den Feuerbefehl hin krachten die Pfeile durch die schmalen Kirchenfenster. Zuerst stieg Rauch auf, dann schlugen Flammen heraus.
Mengu wartete, ob Menschen herauskämen. Doch obwohl der Feuersturm drinnen die Tür zum Erzittern brachte, blieb sie geschlossen. Schon fiel die kleine Kuppel in sich zusammen und stürzte krachend ins Innere. Niemand kann das überlebt haben, dachte Mengu. Die Hitze war glühend wie in einem Schmelzofen.
Eine Mauer nach der anderen fiel. So war es gut. Falls der General ihn im Fall des Mädchens für zu weich gehalten haben sollte, wollte Mengu ihm nun beweisen, daß er auch hart sein konnte. An jenem Abend fanden ein paar Überlebende, die aus dem Wald gekrochen kamen, anstelle des Forts und der kleinen Kirche nur noch rauchgeschwärzte Ruinen vor.
Der Bericht des Generals an den mächtigen Batu Khan war klar und deutlich: »Er verlor den Kopf, als eine Frau auf ihn zulief. Er hätte seinen Männern Befehl geben sollen, sie niederzumachen. Aber er wartete, bis sie vor ihm stand, dann tötete er sie. Er war nicht auf seine eigentliche Arbeit konzentriert.«
»Und dann?«
»Da war ein kleines Mädchen. Er hob sie auf, warf sie dann wieder auf den Boden.«
»Zeitverschwendung. Und dann?«
»Er stürmte das Fort. Brannte es nieder.«
»Sehr gut. Sonst noch etwas?«
»Er brannte die Kirche nieder.«
»Wurde sie verteidigt?«
»Nein.«
»Das ist schlecht. Der Große Khan respektiert alles Religiöse.«
»Ich glaube nicht, daß er einen kühlen Kopf bewahren kann«, schloß der General.
In jener Nacht änderte der mächtige Batu Khan seine Meinung und schlief nicht mit Mengus Schwester.
In derselben Nacht erinnerte sich Yanka, die sich in dem Unterschlupf, den ihr Vater und der Bruder im Bienenwald vorbereitet hatten, in den Schlaf wiegte, an eine Besonderheit des Mongolen, der ihre Mutter getötet hatte: Er hatte eine häßliche Narbe im Gesicht, und ein Ohr fehlte ihm. Sie würde das nie vergessen, niemals.
1246
Leise glitt das Floß durch den Morgennebel des Augusttages. Noch im letzten Monat waren sie aus Furcht vor Entdeckung nur nachts flußaufwärts gefahren, hatten jedes Dorf auf Patrouillen hin beobachtet. Auf diese Weise hatten sie in drei Monaten an die fünfhundert Meilen zurückgelegt.
Vor Wochen hatten sie das erste Flußnetz verlassen und waren über Land zum nächsten gezogen. Der ausgehöhlte Baumstamm, in dem sie bis dahin gereist waren, war zu schwer zum Tragen. So ließen sie ihn zurück und bauten sich am nächsten Fluß ein Floß. Ihre Stimmung besserte sich. Jetzt konnten sie bei Tag fahren. Aber sie blieben vorsichtig: Yanka, ihr Vater Sawa und einige Begleiter waren auf der Flucht vor den Tataren.
Die Tataren. Noch immer verstanden die meisten Russen nicht so recht die Natur des Reiches, dessen Teil sie gerade geworden waren. Da sie das Wesen und die Bedeutung der mongolischen Elite nicht einzuschätzen vermochten, setzten sie sie gleich mit den unterworfenen Türken, die unter den Mongolen kämpften, und gaben folglich der Horde auch einen türkischen Namen, der sich über die Zeiten hinweg erhalten hat: Tataren. Die Schätzung des mongolischen Kriegsrates traf genau zu: Innerhalb von drei Jahren war Rußland überwältigt worden. Die große Armee, die durch Russka gezogen war, hatte auf dem weiteren Feldzug Perejaslavl vollständig zerstört. In den folgenden zwölf Monaten fiel Tschernigov, Kiev wurde zur Geisterstadt. Das ehemalige Land Rus lag darnieder. Der Einfachheit halber teilten die Mongolen es in zwei Teile auf; der südliche – das Gebiet um Kiev und die südliche Steppe – wurde der mongolischen Herrschaft direkt unterstellt, der nördliche – das Land in der großen R-Schleife und die weiten Wälder dahinter – blieb unter der nominellen Kontrolle der russischen Fürsten. Die regierten seither aber lediglich als Repräsentanten des Großen Khan. Der Großfürst wurde in die Mongolei zitiert, um die Urkunde seiner Gnade entgegenzunehmen: Er verdankte sein Amt nur einer Laune des Khan. Den Fürsten wurde eingeschärft, nie zu vergessen, daß sie nun zu den Mongolen gehörten. Ungehorsam wurde nicht geduldet. Wenn ein waghalsiger Fürst aus dem Südwesten sich vor einem Idol des Großen Khan nicht beugen wollte, wurde er unverzüglich hingerichtet.
Vielleicht wäre ganz Europa zu diesem Zeitpunkt den Mongolen zugefallen, hätten sie nicht nach der Wahl eines neuen Großen Khan eine Zeitlang Ruhe eintreten lassen. Der neue Khan nämlich beschloß, sein Reich zunächst nach Westen zu festigen: Er ließ eine neue Hauptstadt, Sarai, an der südlichen Wolga errichten. Die Heerführer hatten den Befehl, abzuwarten. Auch hierin zeigte sich die politische Intelligenz der Mongolen. Sie hatten schnell die Bedeutung der Tatsache erkannt, daß Rußland orthodox war, der Westen aber katholisch. In den Tagen des Monomach hatte die Differenz zwischen Rom und der Ostkirche in liturgischen Feinheiten bestanden. Seither jedoch hatte sich die Kluft vertieft. Nun spielten Fragen der Autorität eine Hauptrolle. Waren der Patriarch von Konstantinopel oder seine Kollegen im Osten willens, sich der Autorität des Papstes zu beugen? Hatte die Ostkirche gebührendes Interesse an den Kreuzzügen des Papstes gezeigt? Als die Russen verzweifelte Appelle an ihre christlichen Brüder im Westen um Unterstützung gegen die heidnischen Mongolen richteten, herrschte dort Schweigen. So kam es, daß die Russen dem Westen zunehmend mißtrauten. Und die mongolische Führerschaft wägte klug ab, Rußland zuerst zu vereinnahmen und sicheren Bestandteil Asiens werden zu lassen. Der Westen konnte noch warten.
Sawa war ein gutaussehender Mann, von etwas überdurchschnittlicher Größe, hellhäutig, Bart- und Haupthaar waren schütter. Aus dem schmalen, regelmäßigen Gesicht blickten die blaßblauen Augen meist freundlich.
Manchmal schlug er Yanka, wenn sie nicht pariert hatte. Dann war er streng, und sie hatte Angst vor ihm. Immerhin war er, das wußte sie, weniger streng als andere Väter im Dorf. Er selbst meinte, daß er sich in früheren Jahren weniger um sie als um seinen Sohn Kiy gekümmert habe. Doch seit den schrecklichen Ereignissen während der Tatareninvasion hatte sich das geändert, und im Verlauf ihrer Wanderung wurde ihm bewußt, daß er sie hauptsächlich Yankas wegen unternommen hatte. Zuerst war, nach der schlimmen Zerstörung, eine seltsame Stille über das Dorf gekommen. Die Nachrichten vom Fall Perejaslavls und Kievs kamen, dann hörten sie nichts mehr. Auch vom Bojaren im Norden kein Wort. Es vergingen Saatzeit und Ernte in dem zerstörten Ort. Sawa tat sich mit einer handfesten, dunkelhaarigen Frau zusammen, doch er heiratete sie nicht. Sie brachte Yanka das Sticken bei. Kiy wurde ein geschickter Holzschnitzer. Und dann kam im vergangenen Herbst der große Schlag. Ein kleiner Tatarentrupp unter Führung eines Funktionärs des neuernannten Gouverneurs der Region, des baskak, marschierte im Dorf ein. Die Bewohner mußten sich in einer Reihe aufstellen und wurden gezählt, was bislang nie geschehen war. »Das ist eine Erhebung«, erfuhren sie. »Der baskak zählt jeden Kopf.« Man befand auch, daß dem Ort eine neue Bedeutung zukomme. Der Postdienst verband alle Teile des großen Khan-Reiches. Jeweils im Abstand von fünfundzwanzig Meilen befand sich eine Station, wo Pferde und Schafe für Kumyß und Fleisch gehalten wurden, ebenso auch eine Anzahl Ersatzpferde. Der baskak befand, daß sich das zerstörte Fort sehr gut alsyam, als Poststation, eigne. Ein dort stationierter Beamter würde auch das Dorf überwachen.
Zuletzt fragte der Gesandte den Dorfältesten, wer die besten Holzschnitzer am Ort seien. Er ließ sie der Reihe nach aufrufen und nahm Kiy, mit fünfzehn Jahren der Jüngste, mit. Der Große Khan hatte nach Handwerkern verlangt. Noch lange starrte Yanka an jenem Abend traurig und verzweifelt hinter der Gruppe her, die sich allmählich am Steppenhorizont verlor.
Danach führten Sawa und seine Tochter ein elendes Dasein. Die Frau hatte ihn verlassen. Einige Male hatte er versucht, seine Trauer im Alkohol zu ertränken. Das hatte dem Mädchen Angst und Schrecken eingejagt. Yanka wurde in ihrem Unglück immer dünner in jenem Winter, aß wenig, sprach kaum.
Als sich auch im Frühjahr keine Anzeichen von Besserung zeigten, wußte der Vater sich nicht mehr zu helfen. Da hörte er von einer Familie aus dem Nachbardorf, die in die nördliche Taiga ziehen wollte. Sie hatten vor, die Wolga zu überqueren und dort zu leben, wo die Menschen frei waren, ohne einen Gebieter über sich.
Das war das sogenannte Schwarze Land. Es lag zwar auf dem Territorium des Fürsten, und die Siedler zahlten eine kleine Pacht, doch je weiter man nach Norden und Osten kam, desto mehr weigerten sich die Siedler, eine Obrigkeit anzuerkennen.
»Wir ziehen mit«, beschloß Yankas Vater.
Zuerst fuhren sie langsam den Dnjepr hinauf, dann wandten sie sich ostwärts, bis sie nach kurzer Überlandwanderung auf einen kleinen Fluß trafen, der sie zur träge dahinfließenden Oka brachte. Hier befanden sie sich auf dem Territorium des Großfürsten.
Wie angenehm sie nun endlich auf der Oka dahintrieben! Fisch gab es zur Genüge. Endlich vergaß Yanka ihren Kummer um den Bruder und begann wieder zu essen.
Ein allmählicher Wandel in der Vegetation zeichnete sich ab. »Wir erreichen jetzt das Land der alten finnischen Stämme«, erläuterte ihr Anführer, »wie etwa der Mordvinen. Die Orte haben auch finnische Bezeichnungen.« Die Oka selbst war dafür ein Beispiel, ebenso die Städte Rjazan und Murom.
Sawa war sehr angetan von dem Gedanken an diese fernen freien Länder, aber er wußte auch, daß das Siedlerleben sehr hart sein konnte. Daher hatte er den ansehnlichen Geldbetrag, den er bei sich trug, wohl verwahrt. Und vielleicht, wer weiß, konnte er ja noch mehr aus einem Grundbesitzer herausholen, der einen Pächter brauchte. »Wenn wir in Murom sind«, beschloß er, »suche ich den Bojaren Milej. Vielleicht hilft er uns. Wenn nicht, versuchen wir es im Norden.«
Milej war ein großer Mann, stark und schlau. Als acht Jahre zuvor die Nachricht vom Mongolenangriff auf Rjazan flußaufwärts drang, hatte er nicht abgewartet, bis er zum Kampf gerufen wurde. »Der Großfürst von Vladimir wird uns auffordern, mit ihm ins Feld zu ziehen, wenn es um seine Sache geht«, erklärte er. »Aber wird er etwas für uns tun, wenn die Plünderer nach Murom kommen? Nein, bestimmt nicht!«
Und damit hatte er recht. Das kleine Fürstentum Murom lag an der östlichen Kante der R-Schleife. Westlich davon erstreckte sich das weite Gebiet von Suzdal, das der Großfürst von Vladimir beherrschte.
Einst war Murom eine bedeutendere Stadt gewesen, aber nun taten die Fürsten von Murom ohne Murren alles, was der Großfürst von ihnen forderte. Deshalb hatte sich Milej mit seiner Familie heimlich aus dem Staub gemacht, und zwar zu den entferntesten und unbekanntesten seiner Ländereien, wo er klugerweise bis zum folgenden Jahr blieb.
Die große Schleife des R wird von einem hübschen kleinen Fluß, der nach Osten fließt, horizontal in zwei Hälften geteilt: der Kljasma. Zwischen ihr und der Oka lag der Besitz des Bojaren Milej. Seinem Großvater, dem man dieses Stück Land übergeben hatte, gefiel der barbarische finnische Name nicht, und so gab er dem kleinen Fluß und der Siedlung Namen aus der Region im Süden, der er sich verbunden fühlte: Das Flüßchen hieß nun Rus und der Ort Russka.
In jenem Winter, den Milej hier verbrachte, entdeckte er, daß man da wirklich etwas erwirtschaften konnte. Er brauchte nur mehr Leute.
Im nächsten Frühjahr fand er bei seiner Rückkehr nach Murom sein Haus, das außerhalb der Mauern gestanden hatte, niedergebrannt, doch das Versteck mit den Münzen tief unter dem Fußboden war unangetastet.
Fürs erste gab es eine Menge zu tun, denn die Mongolen hatten vieles zerstört. Doch das Dörfchen Russka ging Milej nicht mehr aus dem Sinn. Im Spätsommer des Jahres 1246 standen plötzlich zu seiner Freude zwei Bauern von seinem Besitz im Süden vor ihm.
Bisher hatte er nur drei Familien der Mordvinen in die Siedlung holen können.
Als Yanka nun zu diesem großen Mann mit dem leicht ergrauten Bart und dem breiten Türkengesicht hochsah, entdeckte sie darin große Freundlichkeit. Seine stahlblauen Augen leuchteten. »Ich habe den richtigen Platz für euch«, versprach er. »Das Russka des Nordens.«
»Ich habe aber kein Geld«, log Sawa.
Der Bojar musterte ihn, ließ sich keine Sekunde täuschen. »Ich habe mehr davon, wenn ich dir Land gebe, das du bearbeitest, als daß ich gar nichts bekomme«, war die Antwort. »Du kannst dir ein Haus bauen – die Leute hier werden dir helfen. Mein Verwalter wird dich mit allem Nötigen versorgen. Im Lauf der Zeit zahlst du deine Schulden an mich zurück.«
Er machte auch der anderen Familie ein Angebot. Doch die lehnte ab. »Das Angebot ist gut«, meinte der Reisebegleiter zu Yankas Vater, »aber ich will keinen Grundeigentümer über mir. Komm doch mit uns«, drängte er.
»Nein.« Sawa schüttelte den Kopf. »Wir bleiben lieber hier. Aber viel Glück euch!«
Dieses nördliche Russka war sehr verschieden von dem Dorf im Süden, das sie hinter sich gelassen hatten. Es lag aber, wie die meisten russischen Dörfer, an einem Fluß, der an dieser Stelle eine langgezogene S-Kurve machte. Das Westufer war höher als das östliche, und so bildete es eine schützende Anhöhe und stand wie ein Wall um das Grasland, das angelegt worden war. Früher hatte sich dort eine Siedlung befunden, doch mit der Zeit hatte man sie aus Gründen der Sicherheit auf die Anhöhe verlegt, wo nun ein Dutzend Holzhütten standen, umgeben von einem starken Zaun. Ein paar Gemüsefelder lagen abgeerntet daneben, und durch die Bäume hindurch sah man auf zwei armselige Äcker. Eine Kirche gab es nicht. Der nächste Ort lag einige Meilen entfernt im Südosten, ebenfalls am Flüßchen Rus. Hinter diesem Ort erhob sich ein niedriger bewaldeter Hügel, und unterhalb war Marschland. Daher nannten die ersten slawischen Siedler diese Gegend Sumpfloch, und der Name blieb. Von hier aus waren es noch einmal sieben Meilen bis zur nächsten Ansiedlung.
Die Häuser bestanden aus Holz. Lehmwände und strohgedeckte Dächer, wie Yanka sie aus dem Süden kannte, gab es hier nicht. Aber vor allem die Menschen waren ganz anders. »So still sind sie«, flüsterte sie ihrem Vater zu, als sie am ersten Morgen durch den Ort gingen. »Als wären sie erfroren.«
Die Bewohner waren von unterschiedlicher Abstammung. Bevor die Familie des Bojaren den Ort erwarb, gehörten die meisten Leute zu den Slawen des Vjatitschen-Stammes. Jetzt gab es noch sechs Familien dieser Herkunft. Außerdem lebten hier drei Familien, die eine Generation zuvor aus dem Süden gekommen waren, und schließlich die drei MordvinenFamilien, die der Bojar hergebracht hatte.
Auf Anordnung des Verwalters erschienen am Mittag sechs Männer mit Äxten. »Wir bauen euch eine Hütte.« Zusammen gingen sie ans südliche Ende des Weilers und machten sich an die Arbeit. Kleine kräftige Pferde zogen Baumstämme herbei, aus denen man fast hätte Boote fertigen können. Für das Fundament wurden dicke Eichenbohlen verwendet, für das übrige das weiche, leicht zu verarbeitende Kiefernholz.
Die Hütte wurde ähnlich der im Süden angelegt: ein Eingangskorridor in der Mitte, viel Platz zur Aufbewahrung der Gerätschaften auf der einen Seite, ein Raum auf der anderen. Der Ofen wurde aus Lehm geschichtet.
Yanka war nicht nur überrascht von der sauberen Arbeit, sondern auch von der Schnelligkeit der Leute. Sie arbeiteten ohne Unterbrechung bis in die Dämmerung. Dann brachten die Frauen Fackeln und entfachten Feuer zur besseren Sicht. Nachts war alles fertig, nur der Ofen und das Dach fehlten noch. Yanka und ihr Vater fanden in dieser Nacht Unterschlupf beim Verwalter. Am nächsten Mittag war das Werk vollendet.
So sah die Hütte des Nordens aus – die russische isba. Der überdimensionale Ofen und die festgefügten Wände brachten die Bewohner wohlig warm durch den kältesten Winter – deshalb auch die Bezeichnung isba, was soviel bedeutet wie »heißer Raum«. Nachdem sich die beiden bei den Männern bedankt hatten, führte der Verwalter sie hinaus zu dem Stück Land, das er für sie bestimmt hatte. Das Land, das zu beiden Seiten des Flüßchens lag, war von mittlerer Größe, wie der Verwalter ihnen erklärte: etwa vierhundert dessjatina, das sind ungefähr vierhundert Hektar. Nur ein Teil davon war bearbeitet.
»Milej will noch mehr Leute herbringen und etwas aus diesem Ort machen«, fuhr der Verwalter fort. »Und einen Teil des Landes will er selbst übernehmen. Wenn auch jetzt alles noch klein ist – das wird sich bald ändern.«
Sosehr ihr alles gefiel, eines störte Yanka. »Wir sind Christen. Sind denn alle Menschen hier Heiden?«
»Die Slawen aus dem Süden sind Christen«, sagte der Verwalter. »Die Mordvinen sind eben Mordvinen.« Er lachte. »Und die Vjatitschen sind zwar Slawen, aber auch Heiden.«
»Wird einmal eine Kirche gebaut?«
»Der Bojar hat es vor.«
Danach kehrte Yanka in die Hütte zurück, während Sawa und der Verwalter das Land begutachteten. Es war die übliche Parzelle des Bauern, die rund vierzehn Hektar umfaßte. Aber es war karges Waldland, das gerodet werden mußte. Dafür würde Yankas Vater nur eine kleine Pacht zu zahlen haben, im ersten Jahr überhaupt nichts. Der Verwalter wollte ihm eine geringe Summe vorstrecken, dafür, daß er leichte Arbeit für den Bojaren verrichten sollte. Für Yanka kam nun eine Zeit der Entdeckungen. Es war ein langer Sommer, die warmen Tage dauerten bis weit in den Herbst hinein, in den Altweibersommer, den die Russen »Sommer der Großmutter« nennen. Yanka wanderte viel in der Gegend umher, manchmal allein, manchmal auch mit der Frau des Verwalters. Diese zeigte ihr, wo Kräuter zu finden waren und wo heilkräftige Farne wuchsen. In einem Kiefernwäldchen oberhalb des Flusses fanden sie auf moosigem Grund Blaubeeren und Preiselbeeren. Auch sonst war es eine Zeit der Veränderungen: Yanka wurde eine Frau. Eine Zeitlang zeigte ihre Haut Flecken und Pickel, das Haar fühlte sich strähnig an. Da wurde ihr Mund noch schmaler, sie legte die Stirn in Falten und blieb am liebsten zu Hause. Doch nicht lang, und sie hatte auch ihren wundervollen blassen Teint wieder und die lockigen Haare. Und mit ihrem Körper war sie zufrieden. Sie hatte im Sommer zugenommen, und sie hoffte, daß eines Tages ein Mann sich an den sanften Rundungen erfreuen würde.
Als der Winter näher rückte, bemühte sie sich, ihrem Vater ein gemütliches Heim zu schaffen. Sie webte, legte einen Vorrat an Lebensmitteln an, räucherte Fisch und machte sich überall nützlich. Manchmal sagte der Vater bei seiner Heimkehr am Abend: »Was für ein schönes Nest du uns baust, mein Vögelchen.« Er war jetzt besser gelaunt. Die harte Arbeit, das neue Leben waren eine Herausforderung für ihn. Neue Kräfte erwachten in ihm, und Yanka war froh darüber. Wenn sie ihn heimkommen sah, dachte sie: Das ist mein Vater, auf den ich stolz sein kann. Sie hatte keine Augen für einen anderen Mann im Dorf. Das hatte aber seinen Grund. Ihr Vater war nach dem ersten Rundgang nach Hause gekommen, hatte sich gegen den warmen Ofen gelehnt und gerufen: »Hast du ihre Felder gesehen? Sie schlagen darauf herum und brennen sie ab. Mordvinen! Heiden! Sie haben nicht mal einen ordentlichen Pflug.«
»Keinen Pflug?«
Seine Antwort war nur ein verächtliches Schnauben. »Bei diesem Boden nutzt er sowieso nichts.«
Yankas Vater hatte eines der Hauptprobleme entdeckt, Rußlands Geißel durch alle Zeiten hindurch. Das Land im Norden ist sehr karg, der Boden ist ausgelaugt. Es kommt daher, daß das Wasser in diesen Böden nicht schnell genug versickert und wichtige Salze auswäscht, wodurch eine magere, säurehaltige Oberschicht von geringem Nutzungswert entsteht. Dieser Boden heißt im Russischen podzol – wörtlich »Aschenboden«.
Während die tiefschwarze Erde des Südens, der tschernozem, sehr gehaltvoll und landwirtschaftlich nutzbar ist, ist der Boden in der großen R-Schleife, nordwärts bis in die Bereiche des torfigen, mit Wasser vollgesogenen Bodens der Tundra, wenig ertragreicher podzol – die Ursache für die mindere Landwirtschaft Nordrußlands. Diesen Boden bearbeiteten die Bauern im Norden mit dem soka, einem leichten Holzpflug mit einem einfachen Metallstück am Ende, mit dem die unfruchtbare Erde nur an der Oberfläche aufgekratzt wurde. Dieser armselige Pflug auf dieser unergiebigen Erde – darüber hatte Yankas Vater sich empört. Schlimmer war jedoch die Methode, mit der die Bauern ihre Felder bestellten. Anstatt im Wechsel zwei oder drei große Felder abzuernten, wendeten sie immer noch das alte Verfahren des Abholzens und Abbrennens von Waldland an, kultivierten dann den verkohlten Boden einige Jahre lang, ehe sie ein neues Stück Land auf diese Weise bearbeiteten und das alte dem Wildwuchs überließen. Dies war eine althergebrachte Form des Ackerbaus für den Eigenbedarf. »Heiden!« urteilte Sawa über die Dorfbewohner – und damit hatte Yanka jegliches Interesse an ihnen verloren. Wen ich auch einmal heirate – von hier wird er nicht kommen, war ihre Überzeugung.
Bald machte Sawa eine Entdeckung, die ihn erneut in Rage brachte. »Es gibt doch guten Boden, tschernozem. Aber ich darf ihn nicht bearbeiten.«
»Wo?«
»In der Nähe des Dorfes, das sie Sumpfloch nennen. Ich war heute mit diesen verdammten Mordvinen dort.« Denn die Natur oder, genauer gesagt, die sich nach der letzten Eiszeit zurückziehenden Gletscher hatten hier und da in dem Gebiet des sandigen podzol schmale Streifen guten grauen Bodens zurückgelassen. Beispielsweise östlich von Russka. Das Stück war dreigeteilt, das nördlich gelegene gehörte dem Großfürsten selbst. Der Teil nach Osten hin war »Schwarzes Land«, nominell im Besitz des Fürsten von Murom, doch an freie Bauern vergeben. Und das am nächsten liegende kleine Stück gehörte dem Bojaren Milej. Bei Milejs Begegnung mit Yanka und Sawa war davon nicht die Rede gewesen. Ein einzelner Mann und ein Mädchen waren kaum erwünschte Pächter für das beste Land. Inzwischen bearbeitete er einen Teil des guten Landes mit einigen Sklaven, die er irgendwo aufgetrieben hatte.
Das warme Wetter dauerte in diesem Jahr bis Mitte Oktober an. Yanka gewöhnte sich allmählich an den ruhigen Rhythmus des Ortes. Sie ging mit den anderen Frauen in den Wald zum Nüssesammeln; und als die Männer eines Tages einen Elch erlegten, half sie den Frauen bei den Vorbereitungen für ein großes Fest. Und doch fand Yanka die trübe Jahreszeit bedrückend. Es war besonders schlimm, als sie einmal, nachdem es aufgehört hatte zu regnen, in das nahe gelegene Dorf Sumpfloch ging. Was war das nur für ein Nest! Ein paar Hütten standen am Flußufer eng beieinander. Das hier war Schwarzes Land wie das nördliche Territorium, und so waren die Bauern praktisch frei. Besser noch: Das zum Ort gehörige Land lag unmittelbar auf dem tschernozem. Trotzdem war es trostlos. Das Flußufer war ganz flach. Der Boden war morastig, die Luft roch modrig.
Yanka war froh, als sie wieder zu Hause war, und gleich legte sie Holz nach.
An diesem Abend kam Sawa mit einem wunderschönen Mantel zurück, den eine Mordvinin aus dem Fell eines Bären gefertigt hatte, den er eigens für seine Tochter erlegt hatte. Er hatte es bis dahin als Geheimnis bewahrt. Nun übergab er ihr den Mantel und lächelte.
»Du hast einen Bären getötet – für mich?« Yanka war halb entzückt, halb betroffen. »Er hätte dich zerreißen können.«
»Der Mantel wird dich warm halten hier im kalten Norden«, sagte der Vater nur. Da küßte sie ihn.
Drei Tage später setzten die Schneefälle ein. Es war sehr kalt; im Haus aber war es wunderbar warm.
Wie nun der Winter das Dörfchen völlig abgeriegelt hatte, langweilte sich Yanka doch sehr. Sie hatte keine Freunde. Sie traf nicht oft mit den Nachbarn zusammen, und manchmal sprachen sie und ihr Vater tagelang mit keiner Seele. Nicht einmal eine Kirche gab es, in der man sich hätte versammeln können. Zum Zeitvertreib begann sie mit einer Handarbeit. Auf weißen Grund stickte sie in leuchtendem Rot Vögel in der Art, wie sie es in ihrer Kindheit von den Dorffrauen gelernt hatte. Der November verstrich ohne bemerkenswerte Ereignisse. Doch in der ersten Dezemberhälfte veränderte sich Yankas Leben ganz plötzlich. Sawa war in letzter Zeit sehr liebevoll zu ihr gewesen. Er wußte, daß sie sich vor ihm fürchtete, wenn er zuviel trank, und so hatte er seit dem Herbst kaum einen Becher Met angerührt. Eines Abends jedoch sah sie wieder die verräterische leichte Rötung auf seinem Nacken. Sie blickte ihn unruhig an. Dann passierte ihr ein Mißgeschick. Sie hatte rotes Färbemittel für den Faden erhitzt. Es war kochend heiß, als sie es nahm und an ihrem Vater vorbeiging, der schweigend am Tisch saß. In diesem Augenblick stolperte Yanka, und dabei wurde ein Teil der brühend-heißen Flüssigkeit auf dem Tisch verschüttet.
»Hol's der Teufel!« Der Vater sprang zurück, und die Bank stürzte um.
Sie starrte ihn entsetzt an. »Deine Hände?«
»Du willst mich wohl bei lebendigem Leib verbrühen?« Er verzog schmerzlich das Gesicht.
Yanka stellte den Topf zurück. »Laß sehen. Ich verbinde sie.«
»Du unachtsame Idiotin!« Sawa schrie. »Warte nur ab«, sagte er plötzlich sehr leise.
Sie fühlte Kälte in sich aufsteigen. Sie kannte diesen Ton aus ihrer Kindheit und wußte, daß das Schläge bedeutete. Sie zitterte. In einem einzigen Augenblick war die schöne Beziehung der vergangenen Monate zerstört. Sie war wieder das kleine Mädchen. Und das war demütigend für sie. Ihre Knie bebten. Andererseits war sie fassungslos, daß sie ihm weh getan hatte. Sie hatte es wohl verdient, bestraft zu werden. »Geh zur Bank!«
Sie legte sich darauf, hörte, wie er seinen Gürtel löste, spürte, wie er ihr Hemd hochschob. Sie erwartete den Schmerz. Doch nichts geschah.
Yanka schloß die Augen, wartete. Dann fühlte sie zu ihrer Überraschung seine Hände, seinen Atem neben ihrem Ohr. »Diesmal werde ich dich nicht bestrafen, mein Frauchen«, sagte Sawa sanft. »Aber du kannst etwas für mich tun.« Seine Hände strichen an ihren Beinen nach oben. Sie überlegte. Was wollte er nur? »Ganz still!« Er atmete schwer. »Ich tu dir nicht weh.« Sie begriff nicht, was vor sich ging. Seine Hände tasteten sich vor. Sie fühlte sich nackt wie nie zuvor. Sie wollte schreien, fortlaufen, doch ein Gefühl heißer Scham lähmte sie. Und plötzlich bäumte sich ihr Körper auf, und sie hörte Sawa keuchen. »Ja, so ist's gut, meine kleine Frau.« Augenblicke später empfand sie einen heftigen Schmerz, der Vater stöhnte: »Ach, mein Vögelchen, du hast es gewußt. Du hast es immer schon gewußt.«
Hatte sie es wirklich gewußt? Hatte eine leise Stimme in ihr vorausgesagt, daß sie einmal ein solches Geheimnis mit ihm teilen sollte? Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie konnte ihn nicht einmal hassen. Sie mußte ihn lieben. Er war ja alles, was sie hatte. Einige Tage später geschah es noch einmal, dann wieder und wieder.
Yanka war über sich selbst erstaunt. Anfangs hatte sie versucht, sich zu widersetzen, aber er war ja viel stärker als sie. Und er tat ihr niemals weh, er hielt einfach ihre Arme so fest, daß sie sie nicht bewegen konnte. Da war Widerstand sinnlos. Und ob sie wollte oder nicht – ihr Körper reagierte auf die Zärtlichkeiten. Sawa nannte sie nicht mehr »kleine Frau«. Er legte auch in der Öffentlichkeit nicht mehr den Arm um sie wie früher. Sie aber sah ihn nun so, wie eine Frau ihren Ehemann sieht. Sie liebte ihn. Auf eine neue Art wurde sie sich der Bewegungen seines Körpers bewußt. Wenn sie seinen angespannten Nacken oder seine ineinander verschränkten Hände sah, tat er ihr leid, aber anders als früher. Während der Wintermonate spann sich ein neues Band zwischen ihnen. Wenn die Tür zu ihrer isba offenstand, waren sie nichts als Vater und Tochter. Falls man im Dorf etwas vermutete – keiner verlor ein Wort darüber.
Dann trat ein, was sie insgeheim befürchtet hatte: Sie gab sich ihm mehrmals mit Vergnügen hin. Seit langem hatte sie mit keinem Priester gesprochen, aber sie wußte, daß der Teufel sie in seiner Gewalt hatte. Sie hatte nicht nur gesündigt, sie hatte es sogar mit Freuden getan. Sie empfand Abscheu vor sich selbst. Wenn sie allein war, wandte sie sich in ihrem Elend an die traurige Maria auf der Ikone in der Ecke und betete: »Errette mich, Mutter Gottes, von meinen Sünden. Zeige mir den Weg aus dieser Dunkelheit.«
Milej der Bojar war mißtrauisch und schlau. Und wenn er auch der fürstlichen Familie des kleinen östlichen Territoriums von Murom diente, er hatte doch seine eigenen Gedanken. Er gedachte seine drei Töchter und zwei Söhne reich zu machen. Die bedeutenden Bojaren gingen seit langer Zeit, obwohl sie dem Gesetz nach ihrem Fürsten in allen Fällen zur Verfügung zu stehen hatten, auch eigene Wege. Vor allem in dem größeren Territorium um Rjazan waren sie dafür bekannt. Anders als in Kievs großer Zeit, als jeder Fürst über ausgedehnte Ländereien herrschte, hatten manche von ihnen nur noch kleinere Städte, ihre Kinder und Enkel vielleicht sogar weniger Land als die einflußreichen Bojaren. Dies führte dazu, daß ein Bojar wie Milej seinen Status möglicherweise für höher ansah als den solcher Fürsten. Was die Fürsten in der alten Stadt Murom anlangte, so waren sie seiner Meinung nach Marionetten des Großfürsten, dem nicht zu trauen war. Wo also lagen seine Möglichkeiten? Wie konnte er zu Reichtum gelangen? Milej war nicht entgangen, daß der Tataren-Khan, anders als die russischen Fürsten, seine eigenen Münzen prägte. »Von jetzt ab haben die Tataren ihre Hand auf dem Geldsack«, erklärte er seinen Söhnen. »Sie werden nicht den gesamten Handel ruinieren – warum sollten sie auch –, aber sie stecken die großen Gewinne ein.« Seit der Invasion lag die Provinz darnieder. Wenn auch Milejs Sklaven Waren herstellten, die er verkaufen konnte, wenn er auch aus seinen Dörfern feingewebtes Tuch und zahlreiche Felle erhielt – er sah zu der Zeit keine Möglichkeit zur Expansion. »Wir müssen uns mehr um unser Land kümmern«, beschloß er im Kreis seiner Getreuen.
Einige Bojaren hatten, wie er wußte, Monate auf ihren Ländereien verbracht. »Weißt du«, sagte einer von ihnen, »es sind zwar keine Silbermünzen, aber wenn einer meiner Bauern mit zwei Sack Getreide, einem riesigen Laib Käse, fünfzig Eiern und einer Wagenladung von Brennholz als Pacht ankommt, erfreut mich dieser Anblick. Wenn ich draußen auf dem Land bin, sehe ich vielleicht auch aus wie ein Bauer, aber ich lebe gut«, lachte er. Daraufhin machte Milej sich ernsthaft Gedanken über Russka.
Wie groß war sein Grund überhaupt? Das konnte er nur schätzen, denn wie die meisten solcher Dokumente in diesem riesigen, nicht registrierten Land legten die Eigentumsurkunden keine genauen Grenzen fest. Aber im Grunde war Milej nur an dem östlichen Teil jenseits des Flusses interessiert, wo der tschernozem reiche Erträge brachte. Da der Fürst von Murom im Augenblick keinen Anlaß sah, Milej das Land zu übergeben, hatte dieser einige Male angeboten, Sumpfloch zu kaufen, doch damit war er bisher nicht weitergekommen. Von seinem Verwalter erfuhr er allerdings, daß der in seinem Besitz befindliche tschernozem erst teilweise kultiviert war.
»Schicke mir noch Sklaven«, sagte der Verwalter, »dann kann ich dir mehr herauswirtschaften.«
Solche Gedanken gingen Milej durch den Kopf, als er Ende August jenes Jahres Russka einen Besuch abstattete. Er sah das Heu schon stapelförmig aufgeschichtet, als er in die Siedlung einritt. Milej hatte sich gebührend angekündigt, und eine solide neue Hütte mit einem hohen, steilen Dach und einem eingefriedeten Stück Land darum herum erwartete ihn. Er hatte nur einen Diener dabei und ließ sogleich seine zwei prächtigen Pferde versorgen. Er selbst nahm eilig ein Mahl ein und begab sich danach sofort zur Ruhe. In der Dämmerung des nächsten Morgens inspizierte er bereits die Ländereien. Er nickte den Bauern kurz zu, als sie hinaus auf die Felder gingen. Die wichtigste Ernte, der im Frühjahr gesäte Roggen, war bereits im Juli eingebracht. An jenem Tage stand die Gerstenernte an.
Auf seinem Ritt, den Verwalter beflissen an seiner Seite, richtete Milej sein besonderes Augenmerk auf den tschernozem. »Wir bauen keinen Weizen an?«
»Zur Zeit nicht, Herr.«
»Wir sollten es versuchen.« Sein kurzes Lachen klang hart. »Dann könnt ihr Brot für die Kommunion backen.« Brot für die Kommunion? Also meinte der Bojar wohl, sie wollten eine Kirche haben. Der Verwalter lächelte. Das sah nach Geschäft aus.
Er machte noch weitere Vorschläge. Als er ein Junge war, bauten sie im Süden Buchweizen an. Er wollte das ebenfalls in Russka versuchen. »Ich möchte auch Erbsen und Linsen. Und Hanf könnt ihr zusammen mit den Erbsen anbauen.«
Milej zeigte sich zufrieden mit dem Flachs, aber er wollte mehr davon. Diese Faser war das Grundprodukt der nordrussischen Landwirtschaft und konnte mit großen Gewinnen auf dem Markt verkauft werden.
Nachmittags kehrte der Bojar zurück. Nach dem Essen ruhte er ein wenig, und am frühen Abend besichtigte er die Dorfhütten und ihre Bewohner.
Er war keineswegs erfreut. »Schmutziges, armseliges Pack«, schimpfte er dem Verwalter gegenüber. Doch seine Laune besserte sich sichtlich, als er schließlich zu Sawas Hütte kam. »Endlich eine saubere isba«, stellte er zufrieden fest.
Es war mehr als das. Über dem Herd hingen an einer Strohschnur frische Kräuter. Der Pokal in Form einer Ente auf dem Tisch war ein kleines Kunstwerk. In einer Ecke brannte eine Kerze vor der Ikone; in der Ecke gegenüber hingen drei wunderschön bestickte Tücher. Diese hatte Yanka in acht Monaten schwerster innerer Qual geschaffen.
Vor dem Bojaren standen nun ein idealer Vater mit seinem Kind, so schien es ihm zumindest. Obwohl Sawa den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet hatte, war sein spärlicher brauner Bart ordentlich gekämmt. Er hatte zu Ehren des Bojaren eine frische Bluse angezogen; sein Lächeln war respektvoll und stolz zugleich. Das Mädchen war ein Juwel. Ordentlich, sauber, ja sogar hübsch. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie sich tatsächlich herausgemacht. Sie war noch schlank, doch die ersten weiblichen Rundungen machten sich angenehm bemerkbar. Sie hatte eine makellose, wenn auch etwas blasse Haut.
Bei seinem nächsten Besuch Ende September wurde Milej von vier Booten begleitet, die seine Männer mit Seilen stromaufwärts zogen. Im ersten saß eine Familie von Sklaven. »Mordvinen, fürchte ich, aber du wirst sie schon zum Arbeiten bringen«, war der Kommentar des Bojaren seinem Verwalter gegenüber. In den anderen waren Kälber, die Milej in der Gegend um Rjazan gekauft hatte. »Gib zwei davon dem neuen Mann mit der Tochter; sie sollen sich den Winter über um sie kümmern.«
Er richtete sich in seinem Haus ein. Er wollte eine Woche lang bleiben und am Ende die Pacht eintreiben. »Dann mache ich Geschäfte in Novgorod«, erklärte er dem Verwalter. »Im Frühjahr komme ich von dort zurück.« Diesmal machte er keine Inspektion, er spazierte lediglich umher und sah den Bewohnern bei der Arbeit zu.
Was ihn besonders beeindruckte, waren die Drescharbeiten. Der Dreschplatz war eine gerodete Stelle, daneben hatte man kleine Öfen aufgestellt, in denen das Korn durch Rauch getrocknet wurde. Die Bündel wurden mit Stöcken und Dreschflegeln weich geklopft; das war Männersache. Bei der feineren Methode, die die Frauen ausführten, wurde ein an beiden Seiten aufgehängter Balken benutzt. Das Bündel wurde gegen den Balken geschlagen. Das Korn fiel heraus, und das lange Stroh blieb zum Weben und Flechten zurück.
Während Milej auf und ab ging, mitunter stehenblieb, wanderte sein Blick offenbar frei umher, doch Yanka spürte bald, daß sie der Gegenstand seines Interesses war. Als Milej am zweiten Tag kam, war sie noch hübscher gekleidet als sonst: Ihr Kittel zeigte vorn ein gesticktes Vogelmuster, und sie hatte ihren Gürtel ein bißchen enger gebunden, so daß der Bojar, wenn sie die Arme hob und senkte, sehr wohl die Umrisse ihres Körpers sehen konnte. Obwohl Milej ein nüchtern denkender Mensch war, hatte dieses hübsche junge Geschöpf zwischen den anderen arbeitenden Frauen große Anziehungskraft für ihn. Dieses Mädchen war anders als die übrigen. Sie sprachen nicht miteinander, doch einer war sich der Aufmerksamkeit des anderen sehr wohl bewußt. Einen Tag vor seiner Abreise lieferte man dem Bojaren die Pacht ab: Säcke voller Korn und kleine Ferkel, Lämmer und Zicklein. Eine Familie brachte ihm einen Stapel Kaninchenhäute mit einem amtlichen Stempel darauf; das galt an jenem Ort als Kleingeld. Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich der Bojar, sehr zufrieden mit den Pachterträgen, und gab dem Verwalter ein Zeichen, daß er allein sein wollte. Er verließ den Weiler und ging ein letztes Mal am Flußufer spazieren, etwas wehmütig darüber, daß er den Ort nun verlassen sollte.
Da entdeckte er zu seiner Freude das Mädchen; sie kam ihm auf dem Pfad entgegen. Unter ihnen lag der ruhige, glasklare Fluß. Milej merkte, daß Yanka etwas sagen wollte, und blieb stehen. Sie sah ihn mit ihren seltsam traurigen Augen direkt an. »Nimm mich mit, Herr.« Er starrte sie an. »Wohin denn?«
»Nach Novgorod, oder gehst du nicht dorthin?« Er nickte. »Gefällt es dir hier nicht?«
»Ich muß weg.«
»Ist dein Vater nicht gut zu dir?«
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Was kümmert dich das?« Sie holte tief Atem. »Nimm mich mit!«
»Was würde dein Vater sagen?« Sie zuckte die Achseln.
So war das also. Er sah sie ruhig, ganz offen an. »Und was würdest du für mich tun, wenn ich dich mitnehme?« Sie blickte ihm ebenso ruhig in die Augen. »Alles, was du möchtest.« Es war ihre einzige Chance. Sie würde sich umbringen, wenn er ablehnte. »Also gut«, sagte er.
Es war eine lange Reise – fast vierhundert Meilen nordwestlich in die Länder am Baltischen Meer. Der Bojar hatte die Boote wieder flußabwärts geschickt, und so mußten sie nach Novgorod reiten. Doch die Anstrengungen schreckten Yanka nicht. Es war gut, unterwegs zu sein. Der Bojar war eine große, eindrucksvolle Figur, vor allem auf seinem prächtigen Pferd. Er trug einen pelzbesetzten Mantel und eine ebensolche Mütze mit aufgesetzten Diamanten. Stolz dachte Yanka: »Das ist mein Bojar.«
Schon in der ersten Nacht, nachdem sie das Dorf verlassen hatten, schlief er mit ihr. Sie hatte zuerst ein wenig Angst vor diesem großen Mann, mit dem sie das Zelt teilte, doch er erwies sich als liebevoll und zärtlich. Mit ein paar Fragen hatte er ihr die Geschichte mit ihrem Vater entlockt und tröstete sie. »Ich verstehe, daß du weg wolltest«, meinte er sanft. »Aber denke nicht zu schlecht von ihm, auch nicht von dir. In diesen kleinen abgelegenen Orten ist das nichts Ungewöhnliches, das versichere ich dir.« Ihr Vater hatte zu Yankas Überraschung keine Einwände gegen ihre Abreise erhoben. Da sie, strenggenommen, freie Bauern waren, konnte Milej Sawa nicht befehlen, seine Tochter gehen zu lassen. Doch der mächtige Bojar rief den Vater zu sich, um ihm seine Entscheidung mitzuteilen, und warf ihm einen derart durchdringenden Blick zu, daß Sawa rot anlief.
Trotzdem verlor er seine Fassung nicht. »Das Mädchen ist mir eine große Hilfe, Herr«, meinte er vorsichtig. »Ich werde ärmer sein ohne sie.«
Milej verstand. »Um wieviel ärmer?«
»Mein Land ist karg. Und sieh, ich bin ein guter Arbeiter. Gib mir etwas vom tschernozem.«
Milej überlegte. Der Bursche würde das Land sicher gut bestellen. »Also schön. Du bezahlst eine angemessene Pacht. Sprich mit dem Verwalter.« Und damit entließ er ihn. Als Yanka sich von Sawa verabschiedete, hatte er Tränen in den Augen. Nach zehn Tagen wandten sie sich, kurz vor dem Städtchen Moskau, nach Nordwesten. Sie wurden vom Regen überrascht, als sie am Ufer der oberen Wolga eine andere kleine Stadt erreichten, Tver. Dort warteten sie in einem Gasthaus weitere zehn Tage ab. Da setzten die Schneefälle ein.
Eine Woche später begann der letzte Teil der Reise, nun in einem bequemen Schlitten. Tagelang tobten eisige Winde und Schneestürme, dann wieder glitzerte die nördliche Landschaft in der Novembersonne. Rasch glitt der Schlitten das abfallende Gelände bei Tver hinunter und über die gefrorene Wolga. Die Fahrt ging bald an Flüssen entlang, bald durch dunkle Wälder. Allmählich veränderte sich die Landschaft. Weite Ebenen öffneten sich, durchsetzt von niedrigem Wald und schmalen Getreidefeldern.
Milej war in bester Stimmung. Er sang die Weise von Sadko, dem Kaufmann aus Novgorod, und lächelte vor sich hin, während sie über das offene Land dahinflogen. Eines Nachmittags deutete er nach vorn. »Der große Herr Novgorod!«
Von weitem wirkte die Stadt nicht besonders eindrucksvoll, weil die Zitadelle den Fluß nur wenig überragte, doch beim Näherkommen sah Yanka, wie weitläufig das mächtige, am träge dahinfließenden Volchov gelegene Novgorod war. Die Stadtteile zu beiden Seiten des Flusses, von gewaltigen Holzpalisaden umgeben, waren durch eine große Holzbrücke verbunden. Inmitten der westlichen Hälfte erhob sich eine wehrhafte Zitadelle aus dicken, glatten Mauern. Die Reisenden durchquerten von Osten her das östliche Viertel und fuhren über die hohe Brücke.
Als sie durch ein großes Tor kamen, lag vor ihnen eine majestätische Kathedrale. Sie ließen auch das nördliche Stadtviertel hinter sich und gelangten schließlich an ein großes, aus Holz errichtetes Gasthaus.
Yanka staunte: Alle Straßen bestanden aus Holzplanken. Die erste Zeit in Novgorod war eine glückliche. Milej war beschäftigt, und wenn sie auch den Status einer Dienerin hatte, durfte sie doch oft hinter ihm gehen, und er machte sie auf die Schönheiten der Stadt aufmerksam.
Der westliche Teil mit der Zitadelle hieß wegen der Kathedrale »Sophien-Seite«. Er bestand aus drei Stadtvierteln, den »Enden«. Im Norden lag das Ende der Lederverarbeiter, dann kam das Zagorod-Ende, wo die reichen Bojaren ihre Häuser hatten, und schließlich das Ende der Töpfer.
Neben den schönen Holzhäusern gab es zahlreiche Kirchen aus Holz und auch Dutzende von Steinkirchen.
Die Straßen waren meist nicht mehr als drei Meter breit, aus großen, der Länge nach gespaltenen Stämmen gefertigt, die mit der flachen Seite nach oben auf darunter liegenden Schwellen befestigt waren. Jede Straße war von soliden Holzwänden in der Art von Palisaden gesäumt.
Yanka deutete auf ein palastartiges Gebäude aus Holz: »Wohnt hier der Fürst?«
»Nein. Die Leute in Novgorod wollen nicht, daß der Fürst in der Stadt wohnt. Er muß in seiner eigenen kleinen Festung im Norden leben. Dies ist der Palast des Erzbischofs. In Novgorod regieren der Erzbischof und das vetsche des Volkes. Der Fürst sorgt für die Verteidigung, und das vetsche bestimmt, ob ein Fürst akzeptiert wird oder nicht.«
Yanka hatte zwar gehört, daß die Stadt Novgorod eine freie Stadt war, aber sie hatte sich nie vorstellen können, daß solche Macht beim Volk liegen könne.
Von der Zitadelle aus fuhren sie über die Holzbrücke. Unter ihnen lag der vereiste Volchov und vor ihnen das Marktviertel.
»Hier gibt es zwei Enden«, erklärte Milej, »das slovenische und das der Zimmerleute. Dazwischen liegt der Markt, und da gehen wir jetzt hin.«
Yanka hatte so etwas nie gesehen. Neben einer imposanten Kirche breitete sich ein riesiges offenes Areal bis ans Flußufer mit den Lagerhäusern hin. Der Platz war schneebedeckt, und trotzdem standen lange Reihen bunter Stände da; Yanka schätzte, es müßten tausend sein.
Milej hatte Geschäfte zu tätigen, also zog Yanka den ganzen Morgen allein umher. Die Menschen waren von überall gekommen; es waren nicht nur Slawen, sondern Deutsche, Schweden und Händler aus den baltischen Staaten. Ein Mann, der gepökelten Fisch verkaufte, erzählte, daß er in seiner Jugend mit Heringsflotten sogar bis nach England gekommen sei.
Was es da alles gab! Große Töpfe mit Honig, Salzfässer, Fischtran; Fische im Überfluß, selbst jetzt im Winter: Aal, Hering, Kabeljau, Brasse und Steinbutt. Stapel von Fellen lagen da: Bär, Biber, Fuchs, sogar Zobel. Glänzende Töpfereien und schön verarbeitete Lederwaren. Da gab es fein geschnitzten Zierat aus Knochen und Rentiergeweih aus den nördlichen Wäldern und auch Walroßzähne. Und natürlich waren da die Ikonen. Es gab Gewürze, die für den Westen bestimmt waren, und Kämme, jede Art von Perlen und glänzende Seide aus dem alten Konstantinopel, die sich wunderbar anfühlte. Als Yanka einem Mann zusah, wie er einen Stapel gestempelter Eichhörnchenfelle zählte, die auch in Novgorod als Kleingeld dienten, sah sie, daß er sich Notizen auf eine kleine Wachstafel machte. Milej tat das auch, aber dies hier war ein ganz gewöhnlicher kleiner Kaufmann. Sie ging weiter zu den anderen Ständen. Auch hier hatten die Händler, sogar die Handwerker oft Wachstäfelchen oder kleine Stücke von Birkenrinde, auf die sie schrieben oder etwas zeichneten.
»Kannst du auch lesen und schreiben?« fragte sie eine Fischverkäuferin.
»Ja, mein Täubchen. Die meisten Leute hier können es«, war die Antwort. Yanka war tief beeindruckt. In Russka konnte das niemand. Als sie sich auf dem weiten Platz umsah, auf dem auch das vetsche zusammentrat, bekam sie allmählich eine Vorstellung von der zielstrebigen, kühnen Macht des baltischen Nordens. In dieser Nacht lud Milej sie im Gasthaus ein, mit ihm allein zu essen. Er war in bester Stimmung. Die Geschäfte waren offenbar gut gegangen.
Yanka hatte noch nie so köstlich gegessen: Fisch, Wild, Delikatessen und Süßigkeiten. Auch eine Schale mit glänzendem Rogen wurde vor sie hingestellt. »Was ist denn das?« fragte sie. »Kaviar«, lächelte Milej, »von einem Flußbarsch. Probiere ihn.« Sie hatte zwar gehört, daß Kaviar vom Flußbarsch, Stör und anderen Fischen kam, aber gekostet hatte sie ihn nie. Das war die Speise der Bojaren. Milej schenkte ihr häufig Met nach und sah mit Vergnügen, wie ihr Gesicht sich allmählich rötete. Schließlich öffnete sich die Tür, und ein schmächtiger alter Mann sah fragend herein. Der Bojar forderte ihn auf einzutreten. Es war ein Spielmann, ein skazitel. Er trug ein gusli, ein dreiseitiges Zupfinstrument, und sang zwei Lieder, eines aus dem Süden, eines aus dem Norden. »Das erste«, er lächelte verlegen, »habe ich selbst gemacht. Es heißt ›Fürst Igor‹.«
Yanka lächelte. In ihrer Kindheit hatte sie einige Geschichten über den edlen Igor gehört, einen Fürsten aus dem Süden, der einen harten Kampf gegen die Kumanen aus der Steppe geführt hatte. Das kühne Unternehmen war erfolglos, und Fürst Igor fand den Tod. Jeder Russe kannte diese Geschichte.
Die Botschaft des Liedes war schlicht: Wären die russischen Fürsten vereinigt, könnten ihnen die Männer der Steppe nichts anhaben. Das trifft, dachte Yanka, auch auf den Einfall der Tataren zu. Sie sah, daß Milej gedankenversunken in die Ferne blickte. Hatten nicht seine eigenen Vorfahren, die Rus und die Kumanen, auf der Steppe gegeneinander gefochten?
Doch dann holte Milej aus einem Ledersack einen kleinen Stoffballen und legte ihn auf den Tisch. Es war feinste orientalische Seide. »Ein Geschenk für dich«, sagte er zu Yanka. Und den Spielmann forderte er auf: »Singe jetzt das andere Lied!« Es war das Lied vom reichen Kaufmann Sadko aus Novgorod, gewissermaßen die russische Version der Orpheus-Sage: Der singende Kaufmann bezaubert den finnischen Meergott in seinem Palast auf dem Meeresgrund und kann wieder ins Leben zurückkehren. Das Lied erinnerte an den Kaufmann, der in Novgorod gelebt hatte.
Yanka lag zu Milejs Füßen und ließ die weiche schimmernde Seide durch die Finger gleiten. Sein Kaftan stand am Hals offen. Sie blickte auf das helle lockige Haar auf Milejs Brust und auf die kleine Metallscheibe an einer Kette, die den dreizackigen tamga seines Clans eingeritzt trug. Sie blickte ihn lächelnd an, bis auch er schließlich lächelte und den Spielmann mit einer Handbewegung fortschickte.
Yanka gab sich dem Bojaren in dieser Nacht ganz hin. Alles war gut, so wie es war. Danach hatte sie das Gefühl, daß etwas in ihr sich weiter als sonst geöffnet habe und daß sie mit Sadko im Palast auf dem Grund des Meeres gewesen sei.
Yanka fragte häufig, ob sie den großen Fürsten Alexander einmal sehen würden. Sie hatte nie vergessen, was ihr Bruder von diesem Fürsten von Novgorod erzählt hatte, der die bösen Schweden und die deutschen Ritter in die Flucht geschlagen hatte. Aber niemand gab ihr eine klare Antwort. Manche sagten, er sei wohl in seiner Residenz flußabwärts, andere meinten, er halte sich in einer benachbarten Stadt auf. Und viele reagierten auf diese Frage nur mit einem müden Schulterzucken. Wenn sie Milej auf ihre schlichte Art Fragen zur politischen Situation stellte, lachte er nur. Das wurde anders mit dem Abend, an dem der Bojar ein Fest gab für Männer, mit denen er Geschäfte machte. Yanka durfte dabeisein, um zu bedienen.
Es waren etwa ein Dutzend Männer, alle groß und bärtig und in kostbare Seidenkaftane gehüllt. Einige waren Bojaren, andere wohlhabende Kaufleute, zwei gehörten der mittleren Kaufmannsklasse an.
Ihren Gesprächen konnte Yanka entnehmen, wie reich und groß Novgorod tatsächlich war. Man unterhielt sich über Grundstücke, die Hunderte von Meilen entfernt in Wäldern und den Marschen des Nordostens lagen. Sie sprachen von großen Eisen- und Salzvorkommen, von riesigen Rentierherden am Rand der Tundra. Mancher Bojar besaß Land, das er noch nie gesehen hatte, und mancher bekam Felle als Tribut von Pelzjägern, die hundert Meilen zu einem Sammelplatz reisten und selber nie im Leben eine Stadt gesehen hatten. Ja, das war das Land der mächtigen, endlosen Taiga. Dann begannen die Männer über Politik zu reden, und Yanka hörte mit wachsender Aufmerksamkeit zu.
»Die Frage ist, was man gegen die Tataren unternehmen will«, fragte Milej. »Wollt ihr euch unterwerfen oder sie bekämpfen?«
»Die Situation ist heikel«, antwortete ein älterer Bojar. »Der gegenwärtige Großfürst wird sich bestimmt nicht lang halten.« Der letzte Großfürst von Vladimir, der Vater des großen Fürsten Alexander von Novgorod, war kürzlich auf dem Rückweg von einem Höflichkeitsbesuch in der Mongolei gestorben. Sein Bruder war ihm in der Herrschaft gefolgt und hatte seinen Neffen Alexander als Herrscher über Novgorod bestätigt. Der neue Großfürst wurde jedoch allgemein für schwach gehalten.
»Der wirkliche Machtkampf«, sagte ein anderer, »findet zwischen Alexander und seinem jüngeren Bruder Andrej statt.«
»In diesem Fall müssen wir Stellung beziehen«, war die Ansicht eines alten Bojaren.
»Einige von uns halten beide für Verräter«, äußerte sich ein junger Mann.
Verräter? Fürst Alexander, der tapfere Bezwinger der Schweden und der Deutschen, ein Verräter? Zu Yankas Erstaunen widersprach niemand.
»Es stimmt, daß Alexander nicht beliebt ist«, seufzte ein dicker Bojar. »Die Leute meinen, er habe die Tataren allzugern.«
»Hat er, wie es heißt, in seiner Schlacht gegen die deutschen Ritter tatsächlich Tataren als Bogenschützen eingesetzt?« fragte Milej. »Man sagt es, aber ich glaube es nicht«, erwiderte der dicke Bojar.
»Ihr müßt aber bedenken, daß man nicht nur seine Freundschaft mit den Tataren kritisiert. Es gibt genügend Leute hier in der Stadt, die am liebsten die Deutschen bei uns am Ruder sähen. Als Alexander nach Novgorod zurückkam, ließ er die Sympathisanten der Deutschen hängen. Wenn also jemand noch dieser Ansicht ist, wird er sie wohl nicht äußern.«
»Es geht das Gerücht, daß der junge Fürst Andrej heimlich die katholischen Deutschen und die Schweden begünstigt«, ließ sich der junge Kaufmann vernehmen. »Ich fürchte, daß es keinen ehrlichen russischen Fürsten gibt.«
So ging die Diskussion eine Zeitlang weiter. Schließlich wandte der dicke Bojar sich an Milej: »Nun hast du also gehört, daß wir uns nicht einig sind, was wir tun sollen; was sagt denn der Bojar aus Murom?«
Alle blickten Milej erwartungsvoll an.
»Vor allem«, begann der Angesprochene, »verstehe ich das katholische Lager. Ihr seid nahe an Schweden, Polen und an den deutschen Hansestädten. Sie alle sind katholisch und ziemlich stark. Ebenso denkt der Fürst von Galizien unten im Südwesten, er könne sich mit Hilfe des Papstes die Tataren vom Leibe halten. Das katholische Lager täuscht sich jedoch. Und warum?« Er blickte in die Runde. »Weil die Tataren viel stärker, der Papst und die katholischen Mächte unzuverlässig sind. Jedesmal wenn der Fürst von Galizien sich durchzusetzen versucht, wird er von den Tataren überwältigt.«
Es gab beifälliges Gemurmel.
»Novgorod ist mächtig«, fuhr Milej fort, »doch verglichen mit den Tataren ist Novgorod geradezu kümmerlich. Sie könnten eure Befestigungen innerhalb von Tagen schleifen, wenn sie nur wollten, wie sie es mit Vladimir, Rjazan, selbst mit Kiev gemacht haben. Ihr könnt froh sein, daß sie sich zum Rückzug entschlossen haben.«
»Die Tataren werden untergehen wie die Avaren, die Hunnen, die Petschenegen und die Rumänen«, wandte einer ein.
»Nein«, widersprach Milej, »das ist genau der Fehler, den die Hälfte eurer russischen Fürsten macht. Aber die Wahrheit ist nicht weniger wahr, wenn man sie ignoriert. Die Tataren sind nicht wie die Rumänen. Sie haben ein Imperium geschaffen, wie die Welt es noch nicht gesehen hat.«
»Du denkst also«, der junge Kaufmann schien bekümmert, »Fürst Alexander hat recht, und wir sollten uns den Heiden unterwerfen?« Milej sah den jungen Mann mit leisem Spott an. »Ich glaube«, sagte er sehr ruhig, »daß die Tataren die besten Freunde sind, die wir haben. Natürlich hat Alexander recht. Wir haben keine Wahl. Denkt an meine Worte: In ein paar Jahren werden sie über uns alle herrschen. Das ist jedoch nicht der Punkt. Wer führt die Karawanen, mit denen ihr Handel treibt, vom Osten her? Die Tataren. Wer prägt die Münzen, und wer hält die Steppen frei von Rumänen? Die Tataren. Wo finden unsere Söhne gewinnbringenden Kriegsdienst und Beute? Bei den Tataren, genau wie meine Alanen-Vorfahren den Chazaren dienten, ehe der Staat der Rus existierte. Und welche Alternative gibt es? Die Fürsten von Rus? Die Großfürsten, die nie einen Finger gerührt haben, Rjazan oder Murom gegen den Einfall der Tataren zu unterstützen? Die Tataren sind stark, und sie haben größtes Interesse an gewinnbringendem Handel. Also werde ich mit ihnen zusammenarbeiten.«
Yanka erschrak. In diesem Augenblick sah sie ihre sterbende Mutter vor sich und den Tataren, dem ein Ohr fehlte. Und sie erinnerte sich an ihren Bruder, wie er in die abendliche Steppe verschwand. Milej sprach also für die Tataren. Sie als armes slawisches Bauernmädchen hatte das nicht ahnen können. Wie sollte sie auch wissen, daß mehr als tausend Jahre lang die Sarmaten, Chazaren, Vikinger und Türken, die Männer der Steppen, Flüsse und Meere – daß sie alle im russischen Land und seinem Volk nur Mittel für ihre Zwecke gesehen hatten und daß sie die Herrschaft nur des Profits wegen anstrebten. Die Älteren nickten weise.
Ein Glück, daß Yanka völlig unbeachtet in einem Winkel stand und zu betroffen war, um auch nur ein Wort zu äußern. Denn in diesem Augenblick fühlte sie sich durch die Nächte mit Milej mehr befleckt als je durch die Nächte mit ihrem Vater.
Eine Woche später hatte sie zum erstenmal die Vermutung, sie sei schwanger. Sie sagte Milej nichts. Was sollte sie tun? Jeden Tag lief sie durch die Stadt und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie suchte nach stillen Plätzen außerhalb der lärmenden Geschäftigkeit, sie ging zu den umliegenden Klöstern, in die fürstlichen Jagdgebiete im Norden der Stadt. So wurde sie sehr vertraut mit der Gegend, doch je besser sie Novgorod kennenlernte, desto weniger gefiel es ihr. Täglich wurde ihr deutlicher, daß hier nichts anderes zählte als Geld. Diese harte, unnachgiebige Welt widerte sie an. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie. Ich will hier nicht bleiben.
Aber sie trug das Kind des Bojaren. Was sollte sie nur machen? Er würde sicher für das Kind sorgen, aber was würde aus ihr werden, wo sollte sie denn leben? Würde sie je einen Ehemann bekommen? Wenn auch die verheirateten Frauen in slawischen Dörfern nach einer wüsten Festnacht es mit den Männern trieben, war es doch für jeden Mann eine Schande, festzustellen, daß seine Braut keine Jungfrau mehr war. Eine unverheiratete Frau mit Kind hatte kaum Chancen.
Sie begann Milej zu hassen. Es war sein Kind, und sie trug diese Last gegen ihren Willen.
Im Januar beschloß sie, das Kind abzutreiben. Verzweifelt begab sie sich auf die Suche nach einer Frau, die in solchen Sachen Bescheid wüßte. Schließlich sprach sie eines Nachmittags mit einer alten Frau, die ein hartes Gesicht hatte und eine Warze auf der Hand. Sie verkaufte an einem Stand in der Nähe des Flusses getrocknete Kräuter. Als Yanka ihre Sache vortrug, war die Alte keine Sekunde überrascht. Sie musterte das Mädchen nur kalt mit ihren kleinen braunen Augen.
»Im wievielten Monat?« Yanka gab Auskunft.
»Schön. Aber das kostet dich zwei grivna.« Yanka schluckte. Das war ein kleines Vermögen. »Ist deine Methode auch sicher?«
»Du kriegst kein Kind, und dir passiert nichts.« An diesem Nachmittag verkaufte Yanka den Ballen Seide, den Milej ihr geschenkt hatte, für zwei Rubel.
»Komm heute abend, wenn es dunkel wird«, hatte die Alte gesagt. Als die Sonne hinter dem gefrorenen Sumpfland unterging, folgte Yanka der schlurfenden Alten auf einem Pfad an den südlichen Stadtrand. Zur Rechten standen Hütten, zur Linken lag der zugefrorene Fluß.
Die Alte führte Yanka zu einer isba am Ende einer Gasse und öffnete eine Seitentür. In dem kleinen Raum befanden sich ein paar Säcke, ein Tisch mit kleinen Töpfen, die seltsam riechende Kräuter enthielten, und eine Bank. Es war kalt.
»Setz dich und warte«, sagte die Frau und verschwand. Sie kam mit einer kleinen Wanne zurück, die sie vor Yanka hinstellte. Dann ging sie wieder hinaus.
Es dauerte einige Zeit, bis sie zurückkehrte. Aus einem großen Kübel goß sie heißes Wasser in die Wanne. Eine Dampfwolke stieg auf. Diesen Vorgang wiederholte sie, bis die Wanne halb voll war. Dann schüttete sie verschiedene Kräuter ins Wasser und rührte mit einem langen Holzlöffel um. Ein scharfer, fast beißender Geruch begann den Raum zu füllen. »Was ist das?«
»Das soll dich nicht kümmern. Zieh die Stiefel aus, nimm dein Hemd hoch und stell deine Füße in die Wanne«, befahl die Alte. Als Yanka der Anweisung folgte, schrie sie vor Schmerz auf. Das Wasser war kochend heiß.
»Du gewöhnst dich dran«, meinte die Frau und drückte Yankas Füße wieder in die Wanne. »So, jetzt steh auf.«
Der Schmerz war so furchtbar, daß Yanka wankte. Ihr war, als würde sie verbrüht. Dann wurden die Beine fast empfindungslos.
Yanka gewöhnte sich auch an den penetranten Geruch. Doch gegen Ende der grausamen Prozedur fiel sie in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, rieb die Alte ihr die Füße mit einer Paste ein. »Es tut noch eine Zeitlang weh, aber die Haut fühlt sich nur verbrüht an, sie ist es nicht wirklich.«
»Und das Kind?«
»Komm übermorgen zu mir auf den Markt, bei Sonnenuntergang.«
Am nächsten Morgen schlief Yanka lange, und am Tag darauf ging sie, wie vereinbart, zum Stand der Frau und berichtete, daß alles in Ordnung sei.
»Das sagte ich dir doch«, war der lapidare Kommentar der Alten.
Yanka ging Milej aus dem Weg aus Furcht, sie könnte wieder schwanger werden.
Es lag immer noch Schnee, und sie wußte, daß der Bojar bald wieder den Weg zurück in den Osten nehmen wollte. Doch wohin sollte sie?
Auf einer ihrer Wanderungen durch Novgorod entdeckte sie eine Holzkirche, dem heiligen Blasius geweiht; sie lag im Viertel der Töpfer. Blasius war der Schutzheilige der Tiere und hatte den alten Slawengott Volos ersetzt, den Gott der Rinder, des Wohlergehens und des Reichtums.
In diesem Holzgebäude mit seinem hohen, steilen Dach fühlte sich Yanka geborgen. Stundenlang stand sie vor der Ikone des Heiligen, und in ihr wuchs das Gefühl, daß es auch für sie, in ihrem elenden und sinnlosen Dasein, Hoffnung gebe. Sie betete voller Inbrunst.
Einige Tage darauf traf sie hier einen jungen Mann. Sie schätzte ihn auf etwa zweiundzwanzig, er war etwas mehr als mittelgroß. Sein Gesicht mit den hohen Backenknochen umrahmte ein brauner Bart. Yanka fielen sogleich seine Hände auf, schwielige Hände eines Arbeiters, doch seine Finger waren feingliedrig und die Nägel gepflegt. Seine braunen Mandelaugen blickten ernst und nachdenklich, während er, ins Gebet versunken, vor einer Ikone stand. Als sie auf die Tür zuging, unterbrach er sein Gebet unverzüglich und folgte ihr.
»Du nimmst wohl an, daß du den gleichen Weg hast wie ich?« lächelte sie.
»Nur zu deinem Schutz. Wohin gehst du denn?«
»Ins Viertel der Lederarbeiter.«
»Ich auch. Mein Herr wohnt dort.«
Sie erfuhr, daß er ein Sklave war, ein Mordvine, der im Alter von zwölf Jahren nach einem Überfall gefangengenommen worden war. Er hieß Purgas. Mit fünfzehn Jahren war er zu einem reichen Kaufmann gekommen, der ihn das Handwerk des Zimmermanns hatte erlernen lassen.
Als sie sich trennten, sagte Yanka, daß sie jeden Tag in die Kirche komme.
Sie erwartete natürlich, ihn am folgenden Tag wiederzutreffen; aber sie war doch höchst überrascht, als er ein kleines, aus Birkenholz geschnitztes Boot mit Ruderern und einem Segel hervorzog, das er gemacht hatte – eine wunderschöne Arbeit, die er ihr zum Geschenk machte. An diesem Tag begleitete er sie nach Hause. Danach trafen sie einander häufig. Er war immer liebenswürdig, ruhig und auch ein wenig schüchtern, was ihr gefiel. Wenn sie durch die Straßen gingen, blieb er von Zeit zu Zeit stehen und machte sie auf eine Besonderheit an den Häusern aufmerksam: eine Schnitzerei, ein Fenstergitter oder wie die schweren Balken an den Ecken ineinandergefügt waren. Yanka spürte, daß er, obwohl er diese Stadt gern hatte, sich nach den Wäldern seiner Kindheit sehnte.
»Wir lebten in den Wäldern draußen an der Wolga«, erzählte er und sprach von den Bäumen und Pflanzen seiner Heimat. Dabei trat ein verträumter, abwesender Blick in seine Augen.
Als sie sich wieder einmal in der Kirche trafen, erlebte Yanka eine große Überraschung. Sie standen vor einer Ikone, auf der Christus mit einem offenen Buch dargestellt war.
»Richte nicht nach dem Äußeren, sondern richte nach der gerechten Einsicht«, las ihr Begleiter vor. Yanka sah ihn belustigt an. »Lesen kannst du also auch?«
»Ja, das habe ich hier in Novgorod gelernt.« Ein Mordviner, ein einfacher Finne aus den Wäldern, der lesen konnte!
In diesem Augenblick faßte Yanka ihren Entschluß. Am Abend sprach sie mit Milej. Zu ihrem Erstaunen lächelte er freundlich. »Jetzt sage mir noch mal den Namen dieses Kaufmanns und wo er wohnt.« Nach einer Pause fragte er: »Du weißt nicht genau, ob der junge Mann dich…?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube schon.« Am folgenden Morgen schon regelte Milej die Angelegenheit. »Das kostet mich allerdings einen Batzen Geld«, bemerkte er mit schiefem Lächeln.
Am gleichen Nachmittag fragte Yanka Purgas vor der Kirche: »Willst du mich heiraten? Mein Herr kauft dich frei, wenn du willst.« Er stand wie vom Donner gerührt. »Ich wollte dich schon fragen«, gab er zu, »aber als Sklave fürchtete ich…«
»Es gibt Bedingungen«, fuhr sie fort. Sie hatte sich alles genau überlegt. Und tatsächlich hatte ihr Milej, wenn auch zögernd, Vorschläge gemacht.
»Wir wohnen dann in der Nähe meines Heimatdorfes, aber nicht als Bauern eines Bojaren«, fügte sie rasch hinzu. »Wir sind frei. Wir leben auf der Schwarzen Erde und zahlen nur dem Fürsten Tribut.« Yanka wollte in der Nähe ihres Vaters sein. Falls irgend etwas geschähe, wäre wenigstens er da. Aber sie wollte nicht im selben Ort wohnen, und sie wollte auch Milej nicht mehr als Grundherrn haben. »Geht also ins Schwarze Land«, sagte Milej. »Dort gibt es guten Boden – tschernozem – gleich bei Russka. Der Fürst ist froh, wenn er Bauern auf sein Land bekommt.«
Als Purgas das hörte, lachte er, sehr zur Erleichterung Yankas. Es gab nichts auf der Welt, was ihm lieber gewesen wäre. »Das ist in Ordnung«, meinte er.
»Da ist noch etwas anderes«, begann sie zögernd, den Blick auf den Boden gerichtet. Er wartete.
»Einmal, vor sehr langer Zeit…« Sie hielt inne. »Als ich noch ein Kind war… Es war ein Tatar, er kam ins Dorf.« Purgas starrte sie an. Dann zog er sie sanft an sich und küßte sie auf die Stirn.
Sie fuhren zwei Tage später ab und folgten Milej mit dessen Erlaubnis in einem zweiten Schlitten.
Als sich ihre Wege trennten und sie Abschied nahmen, steckte Milej Yanka zwei grivna zu. »Tut mir leid wegen des Kindes«, murmelte er. Dann verließ er sie.
1262
Milej wartete. Er wartete in Russka auf den Tataren. Das Jahr über war die Lage immer brisanter geworden. Jeden Augenblick fürchtete er eine Explosion.
An diesem Morgen wäre es fast dazu gekommen. Wäre er nicht dagewesen, so wären die beiden moslemischen Tributeinnehmer jetzt vermutlich tot. Erst als er den Dorfbewohnern gedroht hatte, sie von seinem Land zu vertreiben, hatten sie sich beruhigt. »Es ist fatal, daß die Tributeinnehmer Moslems sind«, seufzte er. Die Tataren hatten den Nordosten genommen. Zwar gestatteten sie den Fürsten, weiterhin zu regieren, doch wurden Volkszählung und Aushebung von Soldaten eingeführt. Niemand konnte etwas dagegen unternehmen.
Selbst Novgorod mußte sich damit abfinden, daß es besteuert wurde. Fürst Alexander war mit den tatarischen Tributeinnehmern gekommen und hatte geholfen, den Tribut für die Tataren zu erheben. Jeder Widerstand der Bewohner wurde von ihm niedergeschlagen.
Milej lächelte. Wie schlau Alexander doch war! Er hatte herausgefunden, wie er die Tataren auf seine Seite ziehen konnte, und hatte sie benutzt, um seinen Onkel und seinen Bruder abzuschieben. So war er nun endlich der größte Fürst in allen russischen Landen. Er trug sogar einen orientalischen Helm, den der Tataren-Khan ihm geschenkt hatte. Das russische Volk liebte ihn wohl nicht, doch seine Politik war geschickt und klug. Die Russen allein konnten die Tataren nicht zurückschlagen.
»Seht doch, was seinem Bruder Andrej passiert ist«, erklärte Milej jenen, die Alexander einen Verräter nannten. »Er hat versucht, gegen die Tataren zu kämpfen; doch sie schlugen ihn vernichtend und plünderten die Hälfte der Städte im Fürstentum Vladimir-Suzdal.«
Das, was zehn Jahre früher geschehen war, war keineswegs vergessen worden. Was aber wäre, wenn die Russen Hilfe außerhalb suchten?
»Denkt doch nur an diesen einfältigen Fürsten von Galizien«, sagte Milej eindringlich. Der Fürst im Südwesten, der mit dem Papst liebäugelte, hatte noch dümmer taktiert, als Milej es vorausgesagt hatte. Zuerst hatte er eine Krone durch den Primas erhalten. Dann sah er sich nach Verbündeten um. Wer blieb ihm außer den heidnischen litauischen Stämmen im Norden, die in die westlichen Gebiete Rußlands vordrangen, um den deutschen Ordensrittern zu entgehen? Der litauische Führer war der römisch-katholischen Kirche beigetreten und forderte, zusammen mit dem galizischen Fürsten, die Tataren heraus. Und was war das Ergebnis? Die Tataren schlugen die Galizier und zwangen sie, die Litauer anzugreifen. Dann mußte der galizische Fürst alle seine Festungen schleifen lassen. Die katholischen Westmächte taten nichts, wie gewöhnlich, der litauische König wurde wieder Heide. Milej hatte gehört, daß in jenem Sommer das heidnische Litauen seinerseits das inzwischen ziemlich wehrlose Galizien angegriffen habe. »Dieses arme Land ist erledigt. Wenn Alexander je etwas Ähnliches versucht hätte«, sagte Milej immer, »hätten ihm die Tataren die Hälfte seiner Ländereien abgenommen und die Deutschen die andere Hälfte.«
Alexander war weise und handelte geschickt. Es gehörte zur Politik der Tataren, sich nie mit der Kirche anzulegen. Alexander, der den Tataren diente, hatte den Metropoliten Kyrill zu seinem engen Freund gemacht.
»Jetzt hat er jeden Priester und Mönch im ganzen Land auf seiner Seite. Das Volk haßt Alexander, aber in der Kirche hören sie ständig das Loblied auf diesen Nationalhelden. Die Priester nennen ihn jetzt sogar Alexander Nevskij, als habe das Scharmützel, das er als junger Mann mit den Schweden an der Neva hatte, ganz Rußland gerettet.«
Ja, Milej hatte recht behalten: Die Tataren waren die Herren, und es war höchst unklug, die Zusammenarbeit mit ihnen abzulehnen. Er, Milej, arbeitete seit mehr als einem Jahrzehnt mit den Tataren und Alexander Nevskij. Allerdings waren die Dinge kürzlich schwierig geworden. Solange Batu Khan in Sarai regierte, gab es für Milej keine Probleme. Nun aber führte dort ein neuer Khan, ein Moslem, das Ruder.
Dieser Khan unterdrückte die russische Kirche in keiner Weise, doch gestattete er den moslemischen Kaufleuten, das Land von Suzdal gegen Tribut zu vergeben, und diese Leute nützten ihr Vorrecht schamlos aus. Viele der Unglücklichen, die den geforderten Tribut nicht bezahlen konnten, wurden zu Sklaven. In der ganzen Region von Vladimir bis Murom kam es zu Revolten. Diesmal hatte Milej durchaus Verständnis für das Volk. Aber Geschäft war schließlich Geschäft. »Ihr seht zu, daß die Besitzungen von Murom alle Forderungen bezahlen«, wies er seine Söhne an. »Ich kümmere mich um Russka.«
Er befand sich jedoch noch aus einem anderen Grund an diesem Spätjulitag in Russka: Mit etwas Glück würde er heute das größte Geschäft seines Lebens machen. Wenn ihm das gelänge, wollte er sich zur Ruhe setzen. Er wurde schließlich alt. Ungeduldig erwartete Milej den Tataren.
Dieser kam gegen Abend: Ein ruhiger Mann in den besten Jahren. An seiner kostbaren Kleidung – er trug einen Kaftan aus dunkelroter Seide und einen breitkrempigen chinesischen Hut – und dem prächtigen Pferd war er sofort als reicher und bedeutender Mann zu erkennen; trotzdem kam er ohne jede Begleitung, hatte nur einen mongolischen Bogen dabei und hinter sich auf dem Pferd ein Lasso. An seinem Hals hing ein silbernes Kreuz an einer Silberkette: Peter, der Tatar, war Christ.
Das war an sich keineswegs überraschend. Denn der Mongolenstaat hatte keine offizielle Religion. Auf ihrem Vormarsch von der Mongolei über die Eurasische Ebene waren die Mongolen vielen mächtigen Religionen begegnet, vom Buddhismus im Osten über den Islam bis zum Katholizismus im Westen. In Rußland hatte so mancher Tatar den orthodoxen christlichen Glauben angenommen. Es gab auch einen russisch-orthodoxen Bischof in Sarai, und es war allseits bekannt, daß der höchste tatarische Beamte im nördlichen Rostov und seine gesamte Familie Christen waren. Und doch war Milej überrascht gewesen, bei seiner letztjährigen Begegnung mit dem neuen tatarischen Beamten festzustellen, daß der baskak ebenfalls zum orthodoxen Glauben übergetreten war. Der Bojar hatte schon früher geschäftlich mit dem Beamten zu tun gehabt und hielt ihn für einen schlauen, schweigsamen Mann. »Es wäre zu überlegen, wie wir uns diesen christlichen Tataren gewogen machen können«, hatte er zu seinen Söhnen gesagt. Als er erfuhr, daß der Tatar eine unverheiratete Tochter hatte, kam ihm eine Idee. Milejs ältester Sohn war verheiratet und hatte zwei Töchter. Doch der jüngere, David, ein hübscher Neunzehnjähriger, war noch ledig.
»Ich habe das Mädchen gesehen. Sie sieht nicht schlecht aus, und dieser Tatar scheint ziemlich wohlhabend zu sein. Es heißt, er habe auch gute Verbindungen«, erzählte er seinem Sohn. »Was denkst du – willst du das Mädchen heiraten?«
Es hatte bis dahin schon verschiedentlich Ehen zwischen russischen Fürsten und adligen Tatarinnen gegeben. So hatte die Hochzeit stattgefunden.
Heute nun traf Milej den Tataren aus einem anderen Grund. Zwei Monate zuvor, bei Sommeranfang, hatte Peter erklärt: »Ich habe die Absicht, ein kleines Ordenshaus für ein paar Mönche und eine Kirche zu stiften. Weißt du einen geeigneten Platz dafür?« Ein Kloster! Milej hatte weder geahnt, daß der Tatar so reich war, noch daß er die Religion so ernst nahm. »Gib mir zwei Wochen Zeit«, hatte er geantwortet, »wahrscheinlich habe ich die richtige Stelle für dich.«
Seitdem hatte er eifrig kalkuliert und fieberhaft gearbeitet. Genau das war es, was er für Russka brauchte.
All die Jahre hatte er sich bemüht, den Ort in Schuß zu bringen, aber es war schwer. Jetzt gab es dort eine einfache kleine Holzkirche, aber die Bevölkerung hatte sich verdoppelt. Und die Probleme mit den Tataren in den vergangenen zehn Jahren hatten es fast unmöglich gemacht, zuverlässige Siedler zu finden. Ein Kloster würde Leute und, früher oder später, Handel bringen. Milej hatte einen Großteil des Landes, auch ungenutzten Wald, in der Gegend gekauft. Sein erster Gedanke war gewesen, Peter davon etwas zu verkaufen.
»Aber das genügt ihm sicher nicht«, meinte er zu David. »Er sagte mir, er wolle gutes Land, und das einzige gute Land in Russka ist der tschernozem am Ostufer.«
Da kam dem Bojaren die rettende Idee. Er sandte eilig einen Boten zum Großfürsten Alexander Nevskij und ließ ihn, unter Hinweis auf erwiesene Dienste, bitten, er möge ihm gutes Land verkaufen. Die Bitte wurde erfüllt.
»Denk dir«, setzte Milej seinem Sohn auseinander, »er verkauft mir ein Stück seines tschernozem nördlich vom Sumpfloch zu einem sehr günstigen Preis, und das ist doppelt so groß wie unser Land in Russka.« Er rieb sich die Hände. »Wenn ich dem Tataren mein Land zu einem guten Preis für sein Kloster verkaufen kann, kann ich den Handel mit dem Großfürsten tätigen, ohne eigenes Geld auszugeben.«
Mit begreiflicher Freude begrüßte er nun den Tataren und führte ihn in sein Haus. »Ich zeige dir die Stelle morgen früh«, sagte er. »Ich glaube, du wirst zufrieden sein.«
Am nächsten Morgen inspizierten sie das Land. Milej zeigte Peter den reichen tschernozem am Ostufer voller Stolz. Der Tatar ging um das ganze Dorf herum und sah, daß Milej ihm tatsächlich sein bestes Land angeboten hatte. »Es ist ein guter Platz für ein Kloster«, stimmte er zu. »Ich stifte eine kleine Kirche und denke für den Anfang an etwa sechs Mönche. Es wird sich mit der Zeit vergrößern.«
Milej nickte lächelnd. »Heißt das, du willst kaufen?«
»Der Preis?«
Milej war klug genug, nicht geldgierig zu erscheinen, und nannte eine akzeptable Summe.
Peter willigte ein. Zu Milejs großer Freude zog er einen Beutel heraus und bezahlte auf der Stelle mit Goldmünzen. »Jetzt gehört das Land mir«, sagte der Tatar und stieg aufs Pferd. »Willst du nicht bleiben?«
Der Tatar schüttelte den Kopf. »Bei den Schwierigkeiten… Ich möchte morgen wieder in Murom sein.«
Milej nickte. »Jedenfalls stelle ich eine Besitzurkunde aus«, meinte er. Das war für ihn etwas Selbstverständliches. Doch Peter fragte verwundert: »Eine Urkunde? Was ist das?« Milej wollte zunächst etwas erwidern, doch dann schwieg er lieber. Konnte es sein, daß der Beamte nicht wußte, daß im Land der Rus jeder Landbesitz urkundlich verbrieft war?
Milej überlegte. Der Apparat des mongolischen Staates funktionierte vollkommen unabhängig vom russischen System. Die Tataren führten Volkszählungen durch, was kein russischer Herrscher je getan hatte, sie teilten das Land in Hunderte und Zehnte und sie erhoben Steuern. Aber sie befaßten sich nicht mit den Gesetzen der tributpflichtigen Völker. So kam es wohl, daß dieser intelligente Tatar, dieser Christ, dessen Tochter einen Russen geheiratet hatte, immer noch ein Fremder in diesem Land war. Er wußte nichts von russischen Landtransaktionen und von Gesetzen. Nun hatte er zwar für das Land bezahlt, besaß jedoch keine Urkunde. Folglich gehörte ihm das Land gar nicht. Ich muß ihm das Land geben, dachte Milej rasch. Aber wenn er je herausfindet, daß ich ihm eine Urkunde hätte geben sollen… Kann ich noch etwas aus dieser Transaktion herausholen? Ich muß darüber nachdenken.
»Reite zurück nach Murom«, sagte er mit einem warmen Lächeln. »Wir reden später übers Geschäft.« Peter wendete das Pferd.
»Sei streng mit diesen verdammten Leuten«, rief Milej ihm nach, dann ging er mit seinem Beutel voll Gold ins Dorf zurück.
Die beiden moslemischen Kaufleute hatten ein Dutzend Männer und drei große Wagen dabei. Sie kamen im Morgengrauen und waren sichtlich schlecht gelaunt. Die mongolische Verwaltung hatte ihnen gestattet, so viel einzutreiben wie möglich gegen einen Festbetrag, den sie an den Khan abzuführen hatten. Aber ihr Besuch in Russka tags zuvor war nicht zufriedenstellend verlaufen. Heute mußten sie ihre gestrige Schlappe wieder wettmachen. Dafür schien ihnen diese unbedeutende kleine Gemeinde freier Bauern in Sumpfloch genau das richtige. Sie hatten sich geeinigt, das Dorf auszunehmen.
Der Weiler war auf fünfzehn Haushalte angewachsen und hatte den Status eines volost, einer Kommune. In den letzten Jahren hatte sich bescheidener Wohlstand eingestellt, und das hatte man dem gewählten Dorfältesten zu verdanken: Purgas, Yankas Mann. Alle respektierten ihn. Er war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte.
Auch Yanka wußte dies. Doch bis auf den Grund seiner Seele konnte auch sie nicht sehen. Im Lauf ihrer Ehe hatte er sie immer wieder durch unerwartetes Verhalten überrascht – und nicht immer hatten ihr diese Überraschungen gefallen. Sie erinnerte sich gut an das erste Erlebnis dieser Art. Sie hatte in einer Ecke ihrer neuen isba eine Ikone angebracht. Kurz darauf hängte er kommentarlos ein Kränzchen aus Birkenlaub darüber.
»Warum tust du das?« fragte sie. »Das machen doch nur die Heiden.«
»Ich bin kein Christ«, gestand er.
»Aber ein Priester hat uns doch getraut.« Das war in Novgorod geschehen, kurz vor ihrer Abreise.
Er lächelte leicht. »Ich dachte, es sei nicht so wichtig. Ich bin dir damals in die Kirche gefolgt.«
»Das hättest du mir früher erzählen müssen«, sagte sie und war ein wenig aufgebracht.
»Ich hatte Angst, ich würde dich sonst verlieren«, murmelte er entschuldigend.
Sie dachte daran, daß auch sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. So hatten sie beide gelogen, um die Liebe des anderen nicht zu verlieren.
»Du mußt jetzt Christ werden«, verlangte sie. Doch zu ihrem Erstaunen weigerte er sich.
»Unsere Kinder können Christen werden, aber laß mir meinen eigenen Weg«, war seine Antwort. »In Novgorod habe ich lange genug unter Christen gelebt«, fügte er gedankenvoll hinzu. Sie verstand ihn. Seine Flucht mit ihr aufs Land war für ihn eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Er hatte eine starke Liebe zum Wald und zum Fluß, die Yanka nicht kannte. Für ihn war ein Baum wie ein lebendiges Wesen.
Der Fetischismus war in den nördlichen Wäldern seit je eine Art Religion gewesen, und Yanka versuchte klugerweise nicht, ihren Mann davon abzubringen.
Sie war froh, daß er nichts dagegen hatte, wenn sie die Kinder in die Holzkirche mitnahm.
Ihr Vater hatte sich glücklicherweise wieder verheiratet. Kurz nachdem sie in Sumpfloch angekommen waren, hatte er sie aufgesucht, sie beiseite genommen und ihr den Beutel mit Silbergeld in die Hand gedrückt, das er aus dem Süden mitgebracht hatte. »Ich glaube nicht, daß Kiy je zurückkommt«, sagte er. »Das gehört alles dir.«
Sie verstand, daß er damit Vergangenes wiedergutmachen wollte, und seither waren sie Freunde.
Sie zeigte Purgas die Münzen, und er untersuchte sie sorgfältig. Einige kämen aus Konstantinopel und seien sehr alt, erklärte er ihr. Andere waren russisch, aus Monomachs Zeit. Sie versteckten sie unter den Fußbodenbrettern.
Purgas war nicht nur ein Jäger; er arbeitete fleißig auf ihrem Stück Land, und bald ging es ihnen gut. Yanka hatte nicht zu klagen. Sie liebte ihn, und er machte sie sehr glücklich. Sie hatten drei Kinder. Wenigstens einmal im Jahr unterbreitete der Verwalter Milejs immer verlockendere Angebote, um Pächter nach Russka zu werben. Sie lehnten stets ab. »Wir sind Leute vom Schwarzen Land«, sagte Yanka einfach. »Hier sind wir unsere eigenen Herren.« Am Vorabend nun hatten die Männer des Dorfes erfahren, was die Tributeinnehmer in Russka erlebt hatten. Sie beschlossen, ihnen aufzulauern und sie hinterrücks zu töten. Purgas war auf ihrer Seite. Schon Tage zuvor waren Nachrichten von den Schwierigkeiten in den nördlichen Städten flußabwärts gedrungen. Die freien Bauern des Ortes waren höchst erregt. »Ihr seid verrückt«, sagte Yanka. »Russka hat nicht revoltiert.«
»Aber nur, weil der Bojar mit den Tataren im Bunde ist«, meinte einer der Männer.
»Sie werden kommen und uns alle umbringen«, drohte Yanka und blickte finster drein.
»Wir fürchten uns nicht!« riefen die jungen Männer.
»Sie werden uns alle vernichten«, erklärte sie. »Sie werden nie nachgeben.«
»Du bist also jetzt auf der Seite des Bojaren«, sagte Purgas leise.
Yanka wollte erst widersprechen, doch sie schwieg. Sie dachte an jenen Abend im Gasthaus: Wie hatten Milejs Worte sie entsetzt!
Inzwischen war sie aber älter geworden und hatte erlebt, wie die Tataren auch den Norden nahmen. Milej hatte tatsächlich recht behalten.
»Versteckt, soviel ihr könnt«, riet sie den Männern. »Bezahlt die Leute, aber tut so, als hätten sie euch ruiniert. Sonst sind wir erledigt.«
Schließlich hatte sie sie überzeugt. Selbst Purgas versprach, nach ihrem Rat zu handeln.
Es kam so, wie Yanka es vorausgesagt hatte. Die Tributeinnehmer waren in der Morgendämmerung gekommen in der Annahme, die Leute zu überrumpeln. Sie plünderten in aller Eile die Hälfte des Getreidevorrats und trieben fast das gesamte Vieh weg. Doch schon vor der Morgendämmerung hatten Purgas und die Männer die meiste Habe im Sumpfland versteckt, wohin die Beamten nicht vordringen konnten.
Während sie das Getreide nahmen, ging Yanka spazieren. Ohne zu überlegen, ging sie so vor sich hin, in Richtung Russka. Sie gelangte auf eine schmale Waldlichtung mit einigen kleineren Erhebungen.
Von hier aus hatte sie einen hübschen Blick auf Russka. Es war ganz still.
Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Das mußte eine Vision sein!
Peter, der Tatar, war zufrieden mit diesem Tag. Er hatte eine Stelle für das Kloster gefunden, wie er sie sich vorgestellt hatte. Es war Zeit, daß er seinen Frieden mit Gott machte. »Ein Mann ohne Religion findet keine Ruhe«, hatte der Beamte in Rostov ihn gedrängt. Und das stimmte.
Das neue Oberhaupt, Kubla Khan, hatte die buddhistische Religion der Chinesen angenommen, über die er herrschte. Peter bestritt nicht, daß alle Menschen sich vor dem Großen Khan verneigen sollten; doch im Laufe der Jahre, verstärkt durch die schändlichen Intrigen um die höchsten Stellen innerhalb der Goldenen Horde, hatte Peters Begeisterung für menschliche Macht nachgelassen. Vielleicht wäre ich General geworden, wenn ich erfolgreicher gewesen und Batu Khan nicht gestorben wäre, dachte er; dann würde ich vielleicht noch nach irdischen Dingen streben. Doch wie die Dinge lagen, war seine Laufbahn abgeschlossen. Er würde seine Stellung halten, aber nicht mehr höher steigen. Er gab sich damit zufrieden. Mit Hilfe seiner Schwester hatte er zu Lebzeiten Batus und ihres Sohnes ein beträchtliches Vermögen angesammelt.
Zwei Jahre zuvor war er über die Steppe nach Sarai gereist. Dort hatte er den herrlichen grauen Hengst mit der schwarzen Mähne und dem Streifen auf dem Rücken gekauft, den er jetzt ritt. »Es ist vielleicht das letztemal, daß ich Sarai sehe«, hatte er betrübt zu seiner Frau gesagt. Er ahnte, daß er in Rußland bleiben würde. Er hielt am Waldrand inne und warf einen letzten Blick auf seine neue Erwerbung. Er stieg ab und ging zu einer kleinen Anhöhe, um von dort aus einen besseren Blick zu haben. Seine Züge wurden weich, als er hinübersah. Träge scheuchte er eine Fliege weg, die sich auf der Stelle niedergelassen hatte, wo früher einmal sein Ohr gewesen war. Da bemerkte er, daß sein Pferd unruhig wurde. Hinterher hätte Yanka nicht erklären können, wie dieser Wahnsinn über sie gekommen war. Aber sie hatte sich immer geschworen, daß sie das einmal tun werde, und dieses selbstgegebene Versprechen hatte all die Jahre in ihr geschlummert. Eines Tages, das wußte sie, würde sie ihm begegnen, und das wäre ihre Gelegenheit. Und da stand er nun plötzlich, nur ein paar Schritte von ihr entfernt auf dem Hügel. Selbst von hinten erkannte sie ihn – jenen Tataren, dem ein Ohr fehlte.
Er war allein. Yanka sah sich um; niemand sonst war zu sehen. Was hatte ihn hierher geführt? Wahrscheinlich wollte er die Tributeinnehmer treffen. Sie wußte, daß sie nie wieder eine solche Gelegenheit haben würde. Vor ihr tauchte das Gesicht ihrer Mutter auf.
Yanka schlich vorwärts. Das Pferd stand an einem Baum. Auf dem Rücken hatte es einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Vorsichtig nahm sie den Bogen und legte einen Pfeil ein. Sie spürte die Spannung. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Tataren. Das Pferd schnaubte böse. Da wandte der Mann sich um. Er war es. Die Narbe zog sich bis zum fehlenden Ohr hin. Yanka erinnerte sich an dieses Gesicht, als habe sie es am Tag zuvor gesehen.
Er hob überrascht die Hand, wußte nicht, wer sie war. Sie atmete tief ein, spannte den Bogen mit aller Kraft, zielte – der Pfeil schnellte vorwärts.
Da hörte sie seinen Schrei. Wild gestikulierend kam er auf sie zu. Plötzlich fiel er auf die Knie. Der Pfeil hatte seinen Körper in der Magengegend durchbohrt. Sein Gesicht wurde weiß; er fiel zur Seite.
Was würde er jetzt wohl tun? Voller Entsetzen hörte sie, daß jemand auf dem Pfad näher kam. Sollen sie mich doch töten, dachte sie, wenn nur meiner Familie nichts geschieht! Es war Purgas. Er erfaßte die Situation mit einem Blick, dann sah er seine Frau ungläubig an. »Er ist noch nicht tot«, sagte er sehr ruhig. Dann nahm er seinen Gürtel ab und erdrosselte den Tataren. Einige Augenblicke lang sah Mengu, der nun Peter hieß, vor sich das wogende Gras der Steppe, und er glaubte den Geruch wahrzunehmen.
»Hast nicht du uns erzählt, man dürfe keinen Tataren töten«, sagte Purgas mit leisem Lachen. »Du kanntest ihn?« Als sie nickte, fragte er: »War er es…?« Er wußte, daß ein Tatar ihre Mutter umgebracht hatte, aber Yanka hatte ihm auch erzählt, ein Tatar habe sie vergewaltigt. »Wir können ihn nicht hier lassen«, erklärte er.
»Sie bringen uns um«, flüsterte sie.
»Das glaube ich nicht. Die Tributeinnehmer sind weg. Keiner erfährt etwas.« Er überlegte. »Zuerst müssen wir leider dieses Pferd töten. Das ist wirklich schade«, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf den Toten.
Er wußte genau, wie er vorgehen mußte. Zuerst band er den Tataren auf seinem Pferd fest. Dann führte er das Tier unter beruhigendem Zureden tief ins Sumpfland. Dort zog er an versteckter Stelle einen Graben, stellte das Pferd genau darüber und schnitt ihm die Kehle durch. Ebenso verfuhr er mit dem Toten. Eine Stunde später waren die Körper ausgeblutet. Purgas zerlegte und verbrannte sie, ebenso die Ausrüstung des Tataren bis auf den Mantel und das Lasso. Gegen Mittag war nur noch ein Haufen verkohlter Knochen übrig außer dem Schädel, den Purgas nicht verbrannt hatte. Die Asche warf er in den Graben, den er wieder zuschüttete. Er hinterließ alles so, daß niemand, der vorüberkam, etwas hätte vermuten können. In der Nähe stand eine mächtige Eiche. Hoch oben im Stamm befand sich ein Loch, in dem Purgas im vergangenen Jahr einen Bienenschwarm entdeckt hatte. In Peters schwerem Mantel schleppten sie die Knochen zum Baum. Purgas kletterte hinauf, und mit Hilfe des Lassos zog er die Last nach oben, wo er sie in den hohlen Stamm versenkte. Dann verbrannte er auch den Mantel und das Lasso.
»Die Tataren werden im Fluß und auf der Erde nach ihm suchen«, meinte er, »aber in den Bäumen bestimmt nicht.«
»Was geschieht mit seinem Kopf?« fragte Yanka. Purgas lächelte. »Damit habe ich andere Pläne.«
Milej der Bojar kehrte erst zwei Wochen später von Russka nach Murom zurück. Die Stadt war in heller Aufregung; in den Dörfern hatten sich zahlreiche Bewohner geweigert, Tribut zu zahlen; einige der moslemischen Tributeinnehmer waren angegriffen worden. Es hieß, daß der Großfürst Alexander Nevskij vorhabe, den Khan aufzusuchen und ihn um Nachsicht zu bitten. Und Peter, der baskak, war verschwunden.
Milej wurde von einem Zenturio gefragt, wann er Peter zum letztenmal gesehen habe. »Erwar auf dem Weg nach Murom«, versicherte er.
Es wurde eine gründliche Untersuchung durchgeführt. Alle Dörfer zwischen Russka und Murom wurden durchstöbert, die Bewohner befragt. In Russka, wo Peter zuletzt gesehen worden war, ging man besonders sorgfältig vor; der Fluß wurde mit Schleppnetzen abgesucht, jedoch ohne Erfolg. Der Mann war wie vom Erdboden verschwunden. Am vierten Tag nach seiner Rückkehr tischte Milej eine große Lüge auf. Er hatte die ganze Zeit nachgedacht. Früher oder später mochte man ihn mit dem Tod des Tataren in Verbindung bringen. Da er aber beweisen konnte, daß er sich ausschließlich im Dorf aufgehalten hatte, sah er jetzt seine große Chance, der er nicht zu widerstehen vermochte.
Als Peters Sohn kam und höflich anfragte, ob sein Vater das Stück Land für das Kloster von ihm, Milej, gekauft habe, schüttelte er den Kopf. »Leider nein. Der Platz hat ihm nicht zugesagt.«
»Er hat dir also kein Geld gegeben?« Milej schüttelte wieder den Kopf. »Nichts.« Er war sicher: Ihm war nichts zu beweisen. Falls Peters Leichnam je gefunden würde, würde wohl niemand Geld bei ihm vermuten. Und durch einen unglaublichen Glücksfall gab es keinerlei Urkunden.
Peters Sohn war gegangen. Er konnte Milej nicht einmal einen Lügner nennen.
In der folgenden Woche erwarb Milej vom Großfürsten aus dessen besonders gutem tschernozem ein Stück Land, und zwar mit Geld aus einem angeblichen Landverkauf in der Nähe von Murom. Das Glück schien Milej hold.
1263
Im Frühling reiste Milej noch vor der Schneeschmelze auf seinen Besitz in Russka. Von seinem Haus aus überblickte er das fruchtbare Land jenseits des Flusses, das nun ihm gehörte. Er hatte mehrere Sklaven von den moslemischen Tributeinnehmern gekauft. Diese Sklaven sollten im Frühsommer in Russka eintreffen.
Es gab auch drei Siedlerfamilien, die durch die neuen Steuern ruiniert worden und froh waren, gutes Land zu günstigen Bedingungen vom Bojaren zugewiesen zu erhalten. Am ersten Sonntag im April begann die Schneeschmelze. Am Mittwoch darauf sah Milej von seiner Haustür aus kleine schwarze Erdhügel aus dem Schnee hervorlugen. Als er hinaustrat, hatte er ein Gefühl, als habe ihm jemand einen Stoß ins Herz versetzt. Er blieb stehen und griff sich an die Brust. Sein Herz würde doch nicht versagen! So alt war er doch noch nicht. Er holte tief Atem, verspürte keinen Schmerz, hatte keinerlei Atemnot. Er zog den Mantel fest um sich und ging langsam durchs Dorf. Da traf er den Verwalter, und sie setzten gemeinsam in einem Einbaum über den Fluß. Als sie an Land gingen, fühlte Milej wieder etwas Merkwürdiges: Seine Füße brannten wie Feuer. »Was ist, Herr?« fragte der Verwalter überrascht. Milej starrte entsetzt an sich hinunter. »Meine Füße… Als ich ausgestiegen bin… Brennen deine Füße auch?«
»Nein, Herr.«
Milej konnte keinen Schritt mehr tun. Der verwirrte Verwalter mußte ihn wieder zurückrudern. Zu Hause untersuchte Milej seine Füße, doch er konnte keinerlei Veränderungen daran feststellen.
Kurze Zeit darauf wiederholte sich der plötzliche Schmerz in der Herzgegend, und das geschah mehrmals in den folgenden Tagen. Milej konnte das Haus nicht verlassen, geschweige denn auf sein Stück Land am gegenüberliegenden Ufer gehen. »Es ist bestimmt dieser verdammte Tatar«, murmelte er. »Er kommt zurück, um mich zu quälen.«
Damit hatte er in gewissem Sinn recht. In einer finsteren Nacht, als Milej in Murom war, hatte sich Purgas, der Mordvine, zu Milejs verlassenem Haus geschlichen, die Türschwelle angehoben und darunter den Kopf des Tataren vergraben. Das Gesicht des Mordvinen trug dabei den Ausdruck diabolischer Schadenfreude. »Wenn man ihn je findet, wirst du, Bojar, des Mordes angeklagt, du, der Liebhaber meiner Frau«, flüsterte Purgas. Er hatte es immer geahnt. Nun waren sie quitt.
Milejs quälende Schmerzen wurden immer schlimmer. Er beschloß, abzureisen.
Am nächsten Tag ließ er sein Pferd satteln, saß auf und sagte dem Verwalter, daß er im Sommer wiederkommen werde. Eine halbe Meile außerhalb des Ortes scheute sein Pferd plötzlich und warf ihn ab, so daß er auf ein paar Wurzeln landete und dachte, er habe ein Bein gebrochen.
Das Tier gab unvermutet ein durchdringendes Wiehern von sich und stob davon. Milej starrte dorthin, wo sein Pferd gestanden hatte, und da sah er ein Roß von unnatürlicher Größe zwischen den Bäumen; es war grau, hatte eine schwarze Mähne und einen Streifen auf dem Rücken. Nun kam es durch die Bäume und galoppierte hinter seinem Pferd her. Seine Hufe machten kein Geräusch. Mühsam raffte Milej sich auf und bekreuzigte sich. Dann hinkte er ins Dorf zurück.
Dort rief er den Verwalter und den alten Priester aus der kleinen Kirche zu sich. »Ich habe mich entschlossen, zur Ehre Gottes eine große Stiftung zu machen. Ich will ein Kloster auf meinem Land jenseits des Flusses bauen lassen.«
»Was hat dich zu dieser Entscheidung bewogen?« fragte der Priester, der Milej einer solch selbstlosen Tat nicht für fähig gehalten hatte.
»Ich hatte eine Vision«, erklärte der Bojar kurz und bündig. »Der Herr sei gepriesen!« rief der alte Mann. Und so wurde im Jahre 1263 das kleine Kloster in Russka gegründet und den Heiligen Peter und Paul geweiht. Es gab noch ein bedeutsames Ereignis in jenem Jahr. Der Großfürst Alexander Nevskij machte sich auf den Weg über die Steppe zur Goldenen Horde, da er den Khan um Nachsicht mit den aufsässigen Tributpflichtigen bitten wollte. »Es geht ihm nicht gut«, berichtete ein Bojar aus Vladimir dem Bojaren Milej. »Er reiste nur höchst ungern um diese Zeit. Sein jüngster Sohn ist erst drei Jahre alt, und er wollte ihm zur Seite bleiben, bis er erwachsen wäre.«
»Ach ja, Daniel heißt der Kleine, nicht wahr?« Milej wußte nichts von dem Knaben außer seinem Namen. »Es würde mich interessieren, was er einmal erben soll.«
»Es heißt, Alexander habe seiner Familie Anweisung erteilt, dem Jungen, wenn er älter ist, Moskau zu geben«, erzählte der Bojar aus Vladimir.
»Moskau, diese elende Stadt!« Milej schüttelte den Kopf. Welche Begabungen dieser junge Fürst auch immer haben mochte – aus einem so schäbigen Ort konnte er wohl kaum etwas machen.