Der Tatar
1237
Es wehte ein eisigkalter Dezemberwind. Der
gelbhäutige Reiter zog den dicken Pelz fester um sich und drückte
die Fellmütze tiefer in die breite Stirn.
Mengu war erst fünfundzwanzig, doch Wind und Wetter, Kämpfe
und das harte Leben in der Steppe hatten seine Haut gegerbt und
sein Alter schwer bestimmbar gemacht. Zudem hatte vier Jahre zuvor
ein Speer sein linkes Auge nur knapp verfehlt und eine klaffende
Wunde vom hohen Jochbein über die Seite des Kopfes gerissen und ein
Ohr abgeschlagen – nur noch ein ausgefranster Rest davon war
übrig.
Am Gürtel war ein lederner Trinkbeutel befestigt, der Kumyß
enthielt, ein alkoholhaltiges Getränk aus vergorener Stutenmilch,
das sein Volk sehr schätzte. Am Sattel hing ein Beutel mit
Trockenfleisch. Als mongolischer Krieger hatte er immer alles bei
sich, was er brauchte. Dazu gehörte auch seine Frau; sie ritt mit
dem Baby hinter ihm in dem langen Kamelzug, der das Gepäck
beförderte.
Langsam zog das große Heer über die gefrorene Steppe. Wie
gewöhnlich war es in fünf etwa gleich große Einheiten aufgeteilt:
an jedem Flügel zwei – eine Vorhut und eine Nachhut – und in der
Mitte eine einzige Division.
Mengu befehligte den rechten Flügel. Hinter ihm ritten seine
hundert Mann. Es war leichte Reiterei, jeder hatte zwei Bogen und
zwei Köcher voller Pfeile, die er aus vollem Galopp abschießen
konnte – bis zu hundert Meter weit. Zu Mengus Linker befand sich
schwere Kavallerie. Die Männer führten Säbel und Lanzen, eine
Streitaxt oder Keule, je nach Belieben, und ein Lasso mit sich.
Mengu selbst ritt einen pechschwarzen Rappen, was ihn als
Angehörigen der schwarzen Brigade der fürstlichen Wachelite
kennzeichnete.
Er freute sich, daß seine Frau und sein Erstgeborener dabei
waren: Sie sollten den Triumph miterleben. Es war sein erstes
Kommando. Die Mongolenarmee spiegelte in ihrem Aufbau das
Dezimalsystem wider. Die kleinste Kommandoeinheit umfaßte zehn
Mann, die nächste über hundert. Die älteren Männer befehligten
eintausend Mann, die Generäle zehntausend. Mengu führte den Befehl
über hundert. »Nach diesem Kampf werde ich tausend führen«,
versprach er seiner Frau. Wie sehr wünschte er sich eine
Beförderung! Aber man mußte umsichtig vorgehen.
Wenn auch alle Männer im Dienste des Großen Khan gleich waren
und jede Beförderung nach Verdienst erfolgte, waren schnelles
Urteilsvermögen und Taktgefühl wohl die angesehensten
Eigenschaften. Es war natürlich auch nützlich, für den Aufstieg
einem erfolgreichen Clan anzugehören. Ich bin, so überlegte Mengu,
vom gleichen Stamm wie zwei Generäle. Das verschaffte ihm den
Eintritt in die fürstliche Wache. Ein anderer Faktor konnte ihn
vielleicht noch schneller vorwärtsbringen. Bei einer der
Schönheitskonkurrenzen, die der Große Khan regelmäßig abhielt und
zu der alle prominenten Mongolen ihre Töchter schickten, war Mengus
Schwester dem Batu Khan persönlich als erste Konkubine zugewiesen
worden.
Sie wird Mittel und Wege finden, ihn auf mich aufmerksam zu
machen, dachte er zuversichtlich, während sein Gesicht unbeweglich
dem Horizont zugewandt war. Bald würden sie den Waldrand
erreichen.
Im zwölfjährigen Tierkalender der Mongolen waren es noch zwei
Jahre bis zum Jahr der Ratte. Am Ende jenes Jahres würde das Land
der Rus erobert sein – so sicher, wie die Sonne aufgeht und die
Sterne scheinen. Denn sie, die Mongolen, würden sich die Welt
unterwerfen. Mengu war davon überzeugt. Tschingis Khan hatte es
ihnen gesagt. Tschingis Khan, der 1206, nur dreißig Jahre zuvor,
alle mongolischen Stämme unter sich vereinigt und von den alten
türkischen Reichen der asiatischen Ebene den Titel »Kagan« oder
»Khan« übernommen hatte. »Tschingis« bedeutete »der
Allmächtige«.
Aus ihrer Heimat in den Weidegründen oberhalb der Wüste Gobi
stießen diese Reiterkrieger südwärts über die Große Mauer nach
China vor, dann westwärts gegen die türkischen und moslemischen
Staaten von Zentralasien und Persien. Es gab ungeheure Schlachten,
und Tschingis zermalmte alles. Innerhalb weniger Jahre war die
Stadt Peking gefallen; um 1220 gehörte Tschingis der größte Teil
von Persien. Nun überquerten die Mongolen die Berge und ritten
hinunter in die weite Ebene Nordeurasiens. Es war Tschingis Khans
Ziel, nicht nur die wichtigen Karawanen-Straßen nach Westen zu
kontrollieren, sondern einen Staat zu gründen, von dem aus die
gesamte Welt zu regieren war. Sein Ziel – was die
Geschichtsschreibung nicht ohne Grund gern übersieht – war der
Weltfrieden. Die Gesetze für diese neue Weltordnung waren von
Tschingis Khan in seinem Kodex, der großen »Yasa«, festgelegt.
»Alle Menschen sind gleich«, hieß es da, »und alle sollen, jeder
auf seine Weise, dem Großen Khan dienen.« Das Imperium des
Tschingis Khan war eine Art Wohlfahrtsstaat. Er gestattete auch
umfassende Religionsfreiheit. Es galt die Losung: »Es gibt einen
Gott im Himmel und einen Herrscher auf Erden – den Großen
Khan.«
Tschingis starb 1227, doch sein Imperium wankte nicht. Dieses
Imperium, das er seinen Söhnen und Enkeln vermachte, war
viergeteilt. In der orientalischen Welt war jeder der vier
Himmelsrichtungen eine Farbe zugeordnet: dem Norden Schwarz, dem
Süden Rot, dem Osten Blau und dem Westen Weiß. Und der herrschenden
Mitte war Gold vorbehalten. So wurden die Nachfahren des Tschingis
der »Goldene Stamm« genannt.
Seinen Söhnen hatte der Khan den Befehl gegeben, das Reich
auszudehnen. Das große Heer, das 1237 in die westliche Welt
vordrang, wurde von Batu Khan, einem Unterherrscher und Enkel von
Tschingis, angeführt. Ihm zur Seite stand der große Mongolengeneral
Sübödäi. Das Heer umfaßte schätzungsweise 150000 Mann; den Kern
bildeten Mongolen, die übrigen waren hauptsächlich Türken aus den
eroberten Gebieten Zentralasiens. Die Geschichtsschreibung hat
seither diese Armee und das weite westliche Imperium im allgemeinen
als die »Goldene Horde« bezeichnet. Tatsächlich jedoch ist dieser
Begriff auf die Fehlinterpretation eines Jahrhunderte später
verfaßten Textes zurückzuführen. Die riesigen westlichen
Mongolengebiete wurden nicht die goldenen genannt; da sie im Westen
lagen, war ihnen die Farbe Weiß zugeordnet. Und die Horde innerhalb
dieses großen weißen Teilgebiets hieß die »Große Horde«.
»Es wird kein langer Kampf werden«, hatte Mengu seiner Frau
vorausgesagt. Tatsächlich hatte der Mongolenrat die Eroberung des
Landes der Rus auf drei Jahre angesetzt. Um Form und Natur des
damaligen russischen Staates zu verstehen, braucht man sich nur die
Linien seiner größten Flüsse zu vergegenwärtigen. Sie bildeten
zusammen, grob gesagt, ein R. Zuerst einmal war da das große, von
Norden nach Süden reichende Netz der Wasserwege, und zwar von den
kalten Gebieten um die Ostsee hinunter zum breiten Dnjepr, weiter
durch schönen Wald über die gefährliche südliche Steppe bis hin zum
Schwarzen Meer. Das war der senkrechte Balken des R mit Novgorod im
Norden, Smolensk in der Mitte und Kiev unmittelbar oberhalb der
südlichen Steppe.
Den Schwanz des R – von der Mitte aus nach Südosten, weiter
über die Steppe und hinunter bis in die Nähe der Kaspischen Senke
und der Siedlung Tmutorokan – bildete der große Don. Die
Schleife des R formten zwei Flüsse: den oberen Teil die mächtige
Wolga, die ihre Reise mit einem riesigen Bogen durch den dunklen
Wald im Nordosten beginnt, bevor sie sich nach Süden wendet, und
den unteren Teil die träge Oka, die sich weiter nördlich mit der
Wolga vereinigt. Von diesem Punkt aus halbwegs nach oben auf der
Schleife fließt die Wolga wieder nach Osten weg und setzt ihre
Reise durch die endlose Eurasische Ebene fort. Innerhalb dieser
weitgespannten Schleife – einem Land der Wälder und Marschen, wo
die finnische Urbevölkerung seit undenklichen Zeiten ihren
Lebensraum hatte – entstanden nach und nach Städte: Suzdal, auch
Suzdalj genannt, in der mittleren Region, Rostov weiter im Norden
und an der Außenseite der Schleife, an der Oka, die Städte Rjazan
und darüber Murom.
Vier Hauptflüsse: Dnjepr, Wolga, Oka und Don. Vom eisigsten
Norden zum warmen Schwarzen Meer – an die tausend Meilen. Von West
nach Ost, quer durch die Schleife – etwa fünfhundert. Das war das R
der russischen Flüsse, die Gestalt des Staates der Rus.
Im Jahrhundert nach der Regierung Vladimir Monomachs in Kiev
vollzog sich eine große Wende in diesem Staat. Die Führer zeigten
wachsendes Interesse an dem Land innerhalb der Schleife jenes R.
Neue Städte wie Jaroslavl und Tver entstanden. Monomach selbst
hatte in Suzdal eine wichtige Stadt gegründet und ihr seinen Namen
gegeben: Vladimir. Mittlerweile verloren die südlichen Handelswege
zum Schwarzen Meer an Bedeutung, und die große Stadt Kiev war im
allmählichen Abstieg begriffen.
Als Folge dieser Entwicklungen verlagerte sich der Schwerpunkt
im Staate der Rus nach Nordosten in die R Schleife. Das älteste
Mitglied des Herrscherclans nannte sich nun Großfürst von Vladimir;
und Kiev wurde zu einem Besitz, mit denen sich reiche und mächtige
Fürsten zu brüsten beliebten.
Die Großfürsten von Vladimir hatten normalerweise die
Kontrolle über Novgorod und seinen ausgedehnten Handel mit den
deutschen Hansestädten und weit darüber hinaus. Sie nahmen die
wichtigen Karawanen in Empfang, die über die Steppe und durch die
Wälder aus den Ländern der Wolgabulgaren und aus dem Orient
kamen.
Um den religiösen Standort der neuen nördlichen Hauptstadt zu
bestimmen, brachten die Fürsten eine geweihte Ikone der
Gottesmutter aus Griechenland in die neue Kathedrale von Vladimir.
Eine grundsätzliche Schwäche hatte der Staat der Rus: Er war nicht
geeint. Obwohl die Gesetze der brüderlichen Erbfolge auf die
Position des Großfürsten noch Anwendung fanden, wurden einzelne
Städte mit der Zeit zu Machtzentren verschiedener Zweige
zahlreicher Herrscherhäuser. Kein Herrscher in Vladimir brachte sie
je zu einer Einheit zusammen. Die Mongolen wußten das sehr
wohl.
1239
Yanka erwachte in der Morgendämmerung. Der
Himmel färbte sich blaß. Lautlos glitt sie vom warmen Wandbord über
dem Ofen und ging zur Tür. Sie hörte ihre Eltern und den Bruder Kiy
atmen. Keiner bewegte sich. Sie zog den Pelz und ihre dicken
Filzstiefel über, schob den Türriegel zurück und trat hinaus in den
knirschenden Schnee.
Das Dorf lag grau im Dämmerlicht. Es war windstill. Yanka nahm
nur den angenehmen Geruch der Holzfeuer wahr, der aus den
kaminlosen Häusern drang. Kein Mensch war zu sehen, als sie sich
auf den Weg machte.
Sie war sieben Jahre alt, ein ruhiges, selbstsicheres kleines
Mädchen mit braungesprenkelten blauen Augen und strohblondem Haar.
Yankas Mutter hatte eine ansehnliche Mitgift eingebracht, darunter
mehrere Bienenstöcke. Sie war eine fröhliche, kluge Frau, hatte von
ihren Vorfahren das dichte schwarze Haar und den gedrungenen
Körperbau geerbt.
Gleich würde die Sonne aufgehen. Yanka wanderte weiter. Ich
will die Sonne über der Steppe aufgehen sehen, dachte sie, bevor
ich wieder heimgehe.
Um Russka war es in letzter Zeit einsam geworden. Das Fort gab
es zwar noch, aber es war kaum besetzt, da in Perejaslavl kein
Fürst saß. Die Familie des Bojaren war dem Dorf seit langem fremd
geworden. Ivanuschkas Enkel mit Namen Ivan hatte ein kumanisches
Mädchen geheiratet, und ihr Sohn, ein seltsamer hellhaariger
Bursche namens Milej, hatte kein Interesse an Russka. Die Familie
des Bojaren besaß auch große Ländereien im Nordosten, jenseits der
Oka. Der Bojar selbst lebte in Murom. Sein Verwalter inspizierte
den Ort von Zeit und Zeit und kassierte, was seinem Herrn vom
Honigertrag zustand. Die Familie unterhielt außerdem auch die
kleine Kirche.
Während Yankas kurzem Leben hatte sich in Russka sorglose
Apathie breitgemacht. Die Bewohner holten die Ernte ein und
sammelten den Honig, betrogen den abwesenden Bojaren und sangen an
den warmen Abenden am Rand der südlichen Steppe. Es gab nur Gefahr
am Horizont. Im Norden hatte sich im vergangenen Jahr ein schlimmer
Überfall ereignet. Die Rumänen, oder wer es gewesen sein mochte,
hatten großen Schaden angerichtet. Und im Herbst war der Verwalter
des Bojaren nicht erschienen. Als Yanka zum Waldrand kam, war die
Sonne eben über dem Horizont aufgetaucht. Vor ihr schienen sich die
Schneefelder endlos nach Osten auszudehnen. Etwa eine Meile
entfernt bezeichnete eine kleine Erhebung die Stelle des ehemaligen
kurgan. Yanka trat zwischen den Bäumen hervor. Lächelnd
atmete sie die eisige Luft ein. Jetzt konnte sie wieder nach Hause
gehen. Als sie sich eben umwenden wollte, entdeckten ihre scharfen
Augen fern am Horizont einen winzigen Punkt. Sie blickte unverwandt
hin, schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Der Punkt schien sich
nicht zu bewegen. Wurde er größer? Yanka war nicht der Meinung. Sie
machte sich auf den Heimweg, während die Sonne vom Tag Besitz
ergriff.
Mengu beobachtete das Mädchen. Im ersten Licht war er vom
Lager fortgeritten und bald auf eine kleine Erhebung gelangt, von
der aus er einen guten Überblick hatte. Jenseits der offenen Steppe
konnte er etwa zehn Meilen entfernt den Waldrand sehen und auch die
kleine Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat. Yankas Augen
waren zwar scharf, doch die des Mannes aus der Steppe waren
schärfer. An einem klaren Morgen, ehe Staub oder Dunst sich
erheben, konnte er einen Menschen auf eine Entfernung von fünfzehn
Meilen oder mehr ausmachen. Mengu lächelte. Wie einfach es doch
gewesen war! Die Städte im Norden – Rjazan, Murom, Vladimir –
hatten sie im Handstreich genommen. Der Großfürst und seine Armee
waren geschlagen. Es war schade, daß das Frühlingswetter sie zum
Rückzug gezwungen hatte, bevor sie Novgorod erreichten. Nun waren
sie im Winter zurückgekommen, um den Süden zu erobern. Und auch
dabei hatte sich ihre Umsicht gezeigt. Der Winter war die beste
Zeit, Rußland anzugreifen. Im Frühling und Herbst machte der
Schlamm das Land unpassierbar, und im Sommer mußten breite Flüsse
überquert werden. Im Winter jedoch waren die Flüsse fest zugefroren
– man muß sich nur auf die Kälte einrichten und wissen, wie man
sich auf Schnee bewegt. Die Mongolen mochten die strengen Winter
gern.
Der Feldzug war recht zufriedenstellend verlaufen. Nur daß er
bisher die Aufmerksamkeit des Generals nicht hatte erregen können,
ärgerte Mengu.
Seine Schwester hatte bei Batu Khan für ihren Bruder
gesprochen. Doch der große Mann hatte lediglich geantwortet: »Soll
er sich hervortun!«
Mengu brauchte endlich eine Chance – selbst ein kleines
Geplänkel würde genügen, wenn es sich nur unter den Augen des
Generals abspielte! Wieder ging sein Blick aufmerksam über die
Wälder hin. Das Mädchen war am Waldrand entlanggegangen, also mußte
sich ein Dorf in der Nähe befinden. Gegen Mittag würden sie es
erreichen.
Als Yanka erwachte, wurde ihr Gesicht schreckensbleich. Sie
waren überall, und sie, Yanka, war allein. Sie stand, zitternd am
ganzen Körper, am Fenster. Sie konnte den Geruch der schweißnassen
Pferdeflanken wahrnehmen, die Tiere fast berühren, als die Reiter
in dicken Pelzen, große Bogen auf dem Rücken, vorbeizogen und dabei
die Dachtraufen streiften. Einige trugen brennende Fackeln.
Sie wandte sich um. Die Hütte war leer. Sie versuchte sich zu
beruhigen. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater die Mähre angeschirrt
hatte und mit dem Schlitten auf dem zugefrorenen Fluß zum nächsten
Ort gefahren war. Der klare Himmel der Dämmerung war verschwunden.
Als ihr Vater losfuhr, lag das Dorf in rötlichbraunem Licht. Ihre
Mutter hatte beschlossen, zum Fort hinüberzugehen. Yanka war zu
Hause geblieben und eingeschlafen.
Sie hatte das Geschrei nicht gehört. Nun war sie aufgewacht
und fühlte sich wie in einem Alptraum.
Yanka wußte es nicht, aber seit die Dorfbewohner geflohen
waren, war erst eine Minute vergangen. Alles war so schnell
gegangen. Plötzlich war am anderen Ende des großen Feldes ein
Reiter aufgetaucht, dann waren es drei; als die Leute zu schreien
begannen, einhundert. Lautlos sickerte die Mongolenarmee durch die
Wälder, fünf riesige Trupps auf einer Breite von drei Meilen. Die
Bewohner waren auf den Überfall nicht vorbereitet, ihnen blieb
nichts übrig als fortzulaufen. Drei Leute hatten an Yankas Tür
gehämmert, bevor sie losstürmten. Als keine Antwort kam, dachten
sie wohl, die Hütte sei leer. Sie liefen über den zugefrorenen Fluß
und suchten nach einem Unterschlupf. Einige nahmen Zuflucht in der
Kirche, andere im Fort oder in den Wäldern. Als sie den Lärm hörte,
schaute Yankas Mutter aus dem Tor des kleinen Forts. Ihr Herz
klopfte wie wild, als sie die Bewohner aus dem Dorf strömen sah.
Gleich darauf sah sie die Linie der mongolischen Krieger am Fluß.
Yanka konnte sie unter den Fliehenden nicht entdecken.
Sie lief den Hügel hinunter zum Fluß, auf den mongolischen
Reiter zu, der das gegenüberliegende Ufer bereits erreicht hatte.
Sie merkte nicht, daß die Dorfbewohner gedankenlos das Tor der
Festung hinter ihr schlossen.
Mengu konnte sein Glück kaum fassen, als der General auf ihn
zuritt. Er war ein stämmiger, sehr bestimmender, wortkarger Mann.
Mit seiner Peitsche deutete er über den Fluß: »Nimm das
Fort!«
Das war seine Chance! Sofort wandte er sein Pferd und ließ die
am nächsten stehenden Schwadronen in zwei Linien ausscheren. Sie
ritten über das Eis, um Fort und Kirche einzukreisen. Mengu winkte
den Anführer einer Abteilung herbei. »Eine Belagerungsmaschine!
Einen Katapult!« Die Leute brachten die Maschinen weiter nördlich
in Stellung, wo der Wald nicht so dicht war. Mengu betrachtete das
armselige kleine Fort aus Holz. Wie dumm von den Leuten, die Tore
zu schließen! Die Soldaten wären nie auf die Idee gekommen, das
Fort niederzubrennen, wären die Tore offen gewesen. Yanka zögerte.
Die Reiter verließen das Dorf. Sie hatten zwei Hütten angezündet,
sich jedoch nicht weiter aufgehalten. Auf einen lauten Befehl hin
kamen sie eiligst zum Fluß. Plötzlich war es still. Vielleicht war
Yankas Familie irgendwo dort draußen. Was sollte sie machen? Sie
fürchtete sich vor den Reitern, aber noch mehr vor dem Alleinsein.
Sie ging hinaus. Die Reiter waren am Fluß angekommen. Yanka sah,
wie die zwei Kavallerieabteilungen über das Eis ritten, um das Fort
zu umzingeln. Zu ihrer Linken war eine Infanterieeinheit von etwa
dreihundert Mann. Rechts warteten sechs Reiter ungeduldig am Ufer,
und unmittelbar am Rand des Eises gab ein einzelner Reiter
Befehle.
Der neunjährige Kiy und sein Vater Sawa waren auf dem Heimweg
und nahmen gerade die letzte Biegung auf dem zugefrorenen Fluß, als
der Vater plötzlich fluchte: »Hol's der Teufel! Ein Überfall der
Rumänen!« Er riß an den Zügeln. Der Schlitten schwenkte herum. »Was
ist hinter uns los?«
Kiy blickte sich um. »Auch Soldaten. Sie überqueren den Fluß.
Was ist wohl mit Mutter und Yanka?«
Sawa schlug wie wild mit den Zügeln auf die Mähre ein. Sie
rasten auf die Biegung zu. »Gott bewahre, daß sie nicht auch vor
uns sind!« murmelte der Bauer. Doch da standen sie vor den
mongolischen Kriegern.
Die Reiter überquerten vor ihnen das Eis. Kiy sah seine Mutter
nirgends, doch als Sawa den Schlitten herumriß und auf den Wald zur
Rechten losfuhr, schrie der Junge: »Schau, dort ist Yanka! Am Ufer!
Sie hat uns gesehen!«
Das Mädchen lief auf die Mongolen zu. Sie hatte nicht nur die
Soldaten gesehen, sondern auch ihre Mutter, die zwischen den Linien
der Reiter über das Eis kam. Yanka wollte schreien, doch nur ein
Flüstern kam über ihre Lippen. Da entdeckte auch die Mutter ihre
Tochter, und das kleine Mädchen fühlte eine ungeheure
Erleichterung. Es lief geradewegs auf die Mutter zu, ohne auf den
Reiter zu achten, der ihnen im Weg stand. Mengu konnte es kaum
erwarten, bis die Belagerungsmaschine in Position gebracht wurde.
Er ließ seinen Blick über seine Truppe wandern. Die Umzingelung des
Forts war fast geschlossen. Das würde sein großer Tag werden. Mengu
fühlte Erregung in sich aufsteigen. Aber was kam denn da für eine
Bäuerin auf ihn zu? Es fiel ihm die Geschichte ein, die er einige
Monate zuvor gehört hatte. Eine Bäuerin hatte einen jungen
Hauptmann angegriffen, als die Stadt Rjazan niedergebrannt wurde,
und ihn mit einem Messer getötet. Mengu runzelte ärgerlich die
Stirn. Er würde sich seine Karriere nicht von einer russischen
Bäuerin zerstören lassen! Die Frau war schon ganz nah. Auf Mengus
Schenkeldruck stampfte das Pferd vorwärts, und der Mongole
schlitzte der Frau mit seinem Säbel die Brust auf. Sie strauchelte
und schlitterte übers Eis. Mengu drehte sich zur
Belagerungsmaschine um. »Mama!« Bei diesem Schrei wirbelte Mengu
herum. Ein blasses kleines Mädchen kniete neben der Frau, aus deren
Wunde Blut spritzte. Die Frau blickte das Kind an, wollte etwas
sagen. Einen Augenblick lang vergaß Mengu alles andere. Er sah nur
die Gesichter von Mutter und Kind. »Yanka!« Dieser Ruf kam von
einem Jungen neben einem Bauern auf einem Schlitten, etwa
zweihundert Meter entfernt. Die beiden wußten offenbar nicht, was
sie tun sollten angesichts einiger hundert Bogenschützen, die sie
in Sekundenschnelle hätten töten können.
Die Augen der Frau wurden starr. Es war vorbei. Das Eis auf
dem Fluß knackte, als der Mongole das kleine Mädchen an einem Arm
hochzog. Das Pferd stürmte auf den Schlitten zu, wo der Mann das
Kind achtlos zu Boden ließ. Mit einer verächtlichen Handbewegung
scheuchte der Mongole die drei weg, und gleich darauf verschwand
ihr Schlitten zwischen den Bäumen. Es war nicht Taktik der
Mongolen, die Bauern einer eroberten Region zu töten. Die Bauern
bebauten das Land, zahlten Tribut und stellten Rekruten. Getötet
wurden nur jene, die so töricht waren, sich ihnen zu widersetzen.
Mengu machte kehrt. Der Zwischenfall hatte kaum eine Minute
gedauert. Die Truppen waren alle an Ort und Stelle. Der Katapult
wurde herangeschafft, und ein Mechaniker erwartete Mengus
Anweisungen. Mit einem kurzen Nicken erklärte Mengu den Katapult
für einsatzbereit.
Die Bewohner Russkas hatten nie vorher einen solches Gerät
gesehen. Es konnte mit einem Stein geladen werden, den vier Männer
tragen mußten, und dann schleuderte es ihn mit todbringender
Genauigkeit eine Viertelmeile weit. Der erste Stein brachte die
Brustwehr über dem Tor zum Einsturz. Der zweite zertrümmerte das
Tor. Auf Mengus Befehl stürmten die Mongolen ins Fort. Jede Tür
wurde aufgestoßen, jeder Raum, jeder Winkel durchsucht. Alle,
Männer, Frauen, Kinder, wurden niedergemetzelt.
Innerhalb des Forts fanden die Krieger tonnenweise
Getreidevorrat, die in Karren aus dem Dorf transportiert wurden.
Die Toten ließ man liegen, und Gebäude wie auch die hölzernen Wälle
wurden niedergebrannt. Bald darauf stand das ganze Fort in Flammen.
Mengu wandte sich an einen Anführer: »Zwanzig Bogenschützen mit
Feuerpfeilen umstellen die Kirche«, befahl er. Die Mongolen
umzingelten die Kirche und entzündeten ihre langen, schweren
Pfeile, deren dicke, mit Tuch umwickelte Spitzen in Pech getaucht
waren. Auf den Feuerbefehl hin krachten die Pfeile durch die
schmalen Kirchenfenster. Zuerst stieg Rauch auf, dann schlugen
Flammen heraus.
Mengu wartete, ob Menschen herauskämen. Doch obwohl der
Feuersturm drinnen die Tür zum Erzittern brachte, blieb sie
geschlossen. Schon fiel die kleine Kuppel in sich zusammen und
stürzte krachend ins Innere. Niemand kann das überlebt haben,
dachte Mengu. Die Hitze war glühend wie in einem Schmelzofen.
Eine Mauer nach der anderen fiel. So war es gut. Falls der
General ihn im Fall des Mädchens für zu weich gehalten haben
sollte, wollte Mengu ihm nun beweisen, daß er auch hart sein
konnte. An jenem Abend fanden ein paar Überlebende, die aus dem
Wald gekrochen kamen, anstelle des Forts und der kleinen Kirche nur
noch rauchgeschwärzte Ruinen vor.
Der Bericht des Generals an den mächtigen Batu Khan war klar
und deutlich: »Er verlor den Kopf, als eine Frau auf ihn zulief. Er
hätte seinen Männern Befehl geben sollen, sie niederzumachen. Aber
er wartete, bis sie vor ihm stand, dann tötete er sie. Er war nicht
auf seine eigentliche Arbeit konzentriert.«
»Und dann?«
»Da war ein kleines Mädchen. Er hob sie auf, warf sie dann
wieder auf den Boden.«
»Zeitverschwendung. Und dann?«
»Er stürmte das Fort. Brannte es nieder.«
»Sehr gut. Sonst noch etwas?«
»Er brannte die Kirche nieder.«
»Wurde sie verteidigt?«
»Nein.«
»Das ist schlecht. Der Große Khan respektiert alles
Religiöse.«
»Ich glaube nicht, daß er einen kühlen Kopf bewahren kann«,
schloß der General.
In jener Nacht änderte der mächtige Batu Khan seine Meinung
und schlief nicht mit Mengus Schwester.
In derselben Nacht erinnerte sich Yanka, die sich in dem
Unterschlupf, den ihr Vater und der Bruder im Bienenwald
vorbereitet hatten, in den Schlaf wiegte, an eine Besonderheit des
Mongolen, der ihre Mutter getötet hatte: Er hatte eine häßliche
Narbe im Gesicht, und ein Ohr fehlte ihm. Sie würde das nie
vergessen, niemals.
1246
Leise glitt das Floß durch den Morgennebel
des Augusttages. Noch im letzten Monat waren sie aus Furcht vor
Entdeckung nur nachts flußaufwärts gefahren, hatten jedes Dorf auf
Patrouillen hin beobachtet. Auf diese Weise hatten sie in drei
Monaten an die fünfhundert Meilen zurückgelegt.
Vor Wochen hatten sie das erste Flußnetz verlassen und waren
über Land zum nächsten gezogen. Der ausgehöhlte Baumstamm, in dem
sie bis dahin gereist waren, war zu schwer zum Tragen. So ließen
sie ihn zurück und bauten sich am nächsten Fluß ein Floß. Ihre
Stimmung besserte sich. Jetzt konnten sie bei Tag fahren. Aber sie
blieben vorsichtig: Yanka, ihr Vater Sawa und einige Begleiter
waren auf der Flucht vor den Tataren.
Die Tataren. Noch immer verstanden die meisten Russen nicht so
recht die Natur des Reiches, dessen Teil sie gerade geworden waren.
Da sie das Wesen und die Bedeutung der mongolischen Elite nicht
einzuschätzen vermochten, setzten sie sie gleich mit den
unterworfenen Türken, die unter den Mongolen kämpften, und gaben
folglich der Horde auch einen türkischen Namen, der sich über die
Zeiten hinweg erhalten hat: Tataren. Die Schätzung des mongolischen
Kriegsrates traf genau zu: Innerhalb von drei Jahren war Rußland
überwältigt worden. Die große Armee, die durch Russka gezogen war,
hatte auf dem weiteren Feldzug Perejaslavl vollständig zerstört. In
den folgenden zwölf Monaten fiel Tschernigov, Kiev wurde zur
Geisterstadt. Das ehemalige Land Rus lag darnieder. Der Einfachheit
halber teilten die Mongolen es in zwei Teile auf; der südliche –
das Gebiet um Kiev und die südliche Steppe – wurde der mongolischen
Herrschaft direkt unterstellt, der nördliche – das Land in der
großen R-Schleife und die weiten Wälder dahinter – blieb unter der
nominellen Kontrolle der russischen Fürsten. Die regierten seither
aber lediglich als Repräsentanten des Großen Khan. Der Großfürst
wurde in die Mongolei zitiert, um die Urkunde seiner Gnade
entgegenzunehmen: Er verdankte sein Amt nur einer Laune des Khan.
Den Fürsten wurde eingeschärft, nie zu vergessen, daß sie nun zu
den Mongolen gehörten. Ungehorsam wurde nicht geduldet. Wenn ein
waghalsiger Fürst aus dem Südwesten sich vor einem Idol des Großen
Khan nicht beugen wollte, wurde er unverzüglich hingerichtet.
Vielleicht wäre ganz Europa zu diesem Zeitpunkt den Mongolen
zugefallen, hätten sie nicht nach der Wahl eines neuen Großen Khan
eine Zeitlang Ruhe eintreten lassen. Der neue Khan nämlich
beschloß, sein Reich zunächst nach Westen zu festigen: Er ließ eine
neue Hauptstadt, Sarai, an der südlichen Wolga errichten. Die
Heerführer hatten den Befehl, abzuwarten. Auch hierin zeigte sich
die politische Intelligenz der Mongolen. Sie hatten schnell die
Bedeutung der Tatsache erkannt, daß Rußland orthodox war, der
Westen aber katholisch. In den Tagen des Monomach hatte die
Differenz zwischen Rom und der Ostkirche in liturgischen Feinheiten
bestanden. Seither jedoch hatte sich die Kluft vertieft. Nun
spielten Fragen der Autorität eine Hauptrolle. Waren der Patriarch
von Konstantinopel oder seine Kollegen im Osten willens, sich der
Autorität des Papstes zu beugen? Hatte die Ostkirche gebührendes
Interesse an den Kreuzzügen des Papstes gezeigt? Als die Russen
verzweifelte Appelle an ihre christlichen Brüder im Westen um
Unterstützung gegen die heidnischen Mongolen richteten, herrschte
dort Schweigen. So kam es, daß die Russen dem Westen zunehmend
mißtrauten. Und die mongolische Führerschaft wägte klug ab, Rußland
zuerst zu vereinnahmen und sicheren Bestandteil Asiens werden zu
lassen. Der Westen konnte noch warten.
Sawa war ein gutaussehender Mann, von etwas
überdurchschnittlicher Größe, hellhäutig, Bart- und Haupthaar waren
schütter. Aus dem schmalen, regelmäßigen Gesicht blickten die
blaßblauen Augen meist freundlich.
Manchmal schlug er Yanka, wenn sie nicht pariert hatte. Dann
war er streng, und sie hatte Angst vor ihm. Immerhin war er, das
wußte sie, weniger streng als andere Väter im Dorf. Er selbst
meinte, daß er sich in früheren Jahren weniger um sie als um seinen
Sohn Kiy gekümmert habe. Doch seit den schrecklichen Ereignissen
während der Tatareninvasion hatte sich das geändert, und im Verlauf
ihrer Wanderung wurde ihm bewußt, daß er sie hauptsächlich Yankas
wegen unternommen hatte. Zuerst war, nach der schlimmen Zerstörung,
eine seltsame Stille über das Dorf gekommen. Die Nachrichten vom
Fall Perejaslavls und Kievs kamen, dann hörten sie nichts mehr.
Auch vom Bojaren im Norden kein Wort. Es vergingen Saatzeit und
Ernte in dem zerstörten Ort. Sawa tat sich mit einer handfesten,
dunkelhaarigen Frau zusammen, doch er heiratete sie nicht. Sie
brachte Yanka das Sticken bei. Kiy wurde ein geschickter
Holzschnitzer. Und dann kam im vergangenen Herbst der große Schlag.
Ein kleiner Tatarentrupp unter Führung eines Funktionärs des
neuernannten Gouverneurs der Region, des baskak, marschierte
im Dorf ein. Die Bewohner mußten sich in einer Reihe aufstellen und
wurden gezählt, was bislang nie geschehen war. »Das ist eine
Erhebung«, erfuhren sie. »Der baskak zählt jeden Kopf.« Man
befand auch, daß dem Ort eine neue Bedeutung zukomme. Der
Postdienst verband alle Teile des großen Khan-Reiches. Jeweils im
Abstand von fünfundzwanzig Meilen befand sich eine Station, wo
Pferde und Schafe für Kumyß und Fleisch gehalten wurden, ebenso
auch eine Anzahl Ersatzpferde. Der baskak befand, daß sich
das zerstörte Fort sehr gut alsyam, als Poststation, eigne.
Ein dort stationierter Beamter würde auch das Dorf
überwachen.
Zuletzt fragte der Gesandte den Dorfältesten, wer die
besten Holzschnitzer am Ort seien. Er ließ sie der Reihe nach
aufrufen und nahm Kiy, mit fünfzehn Jahren der Jüngste, mit. Der
Große Khan hatte nach Handwerkern verlangt. Noch lange starrte
Yanka an jenem Abend traurig und verzweifelt hinter der Gruppe her,
die sich allmählich am Steppenhorizont verlor.
Danach führten Sawa und seine Tochter ein elendes Dasein. Die
Frau hatte ihn verlassen. Einige Male hatte er versucht, seine
Trauer im Alkohol zu ertränken. Das hatte dem Mädchen Angst und
Schrecken eingejagt. Yanka wurde in ihrem Unglück immer dünner in
jenem Winter, aß wenig, sprach kaum.
Als sich auch im Frühjahr keine Anzeichen von Besserung
zeigten, wußte der Vater sich nicht mehr zu helfen. Da hörte er von
einer Familie aus dem Nachbardorf, die in die nördliche Taiga
ziehen wollte. Sie hatten vor, die Wolga zu überqueren und dort zu
leben, wo die Menschen frei waren, ohne einen Gebieter über
sich.
Das war das sogenannte Schwarze Land. Es lag zwar auf dem
Territorium des Fürsten, und die Siedler zahlten eine kleine Pacht,
doch je weiter man nach Norden und Osten kam, desto mehr weigerten
sich die Siedler, eine Obrigkeit anzuerkennen.
»Wir ziehen mit«, beschloß Yankas Vater.
Zuerst fuhren sie langsam den Dnjepr hinauf, dann wandten sie
sich ostwärts, bis sie nach kurzer Überlandwanderung auf einen
kleinen Fluß trafen, der sie zur träge dahinfließenden Oka brachte.
Hier befanden sie sich auf dem Territorium des Großfürsten.
Wie angenehm sie nun endlich auf der Oka dahintrieben! Fisch
gab es zur Genüge. Endlich vergaß Yanka ihren Kummer um den Bruder
und begann wieder zu essen.
Ein allmählicher Wandel in der Vegetation zeichnete sich ab.
»Wir erreichen jetzt das Land der alten finnischen Stämme«,
erläuterte ihr Anführer, »wie etwa der Mordvinen. Die Orte haben
auch finnische Bezeichnungen.« Die Oka selbst war dafür ein
Beispiel, ebenso die Städte Rjazan und Murom.
Sawa war sehr angetan von dem Gedanken an diese fernen freien
Länder, aber er wußte auch, daß das Siedlerleben sehr hart sein
konnte. Daher hatte er den ansehnlichen Geldbetrag, den er bei sich
trug, wohl verwahrt. Und vielleicht, wer weiß, konnte er ja noch
mehr aus einem Grundbesitzer herausholen, der einen Pächter
brauchte. »Wenn wir in Murom sind«, beschloß er, »suche ich den
Bojaren Milej. Vielleicht hilft er uns. Wenn nicht, versuchen wir
es im Norden.«
Milej war ein großer Mann, stark und schlau.
Als acht Jahre zuvor die Nachricht vom Mongolenangriff auf Rjazan
flußaufwärts drang, hatte er nicht abgewartet, bis er zum Kampf
gerufen wurde. »Der Großfürst von Vladimir wird uns auffordern, mit
ihm ins Feld zu ziehen, wenn es um seine Sache geht«, erklärte er.
»Aber wird er etwas für uns tun, wenn die Plünderer nach Murom
kommen? Nein, bestimmt nicht!«
Und damit hatte er recht. Das kleine Fürstentum Murom lag an
der östlichen Kante der R-Schleife. Westlich davon erstreckte sich
das weite Gebiet von Suzdal, das der Großfürst von Vladimir
beherrschte.
Einst war Murom eine bedeutendere Stadt gewesen, aber nun
taten die Fürsten von Murom ohne Murren alles, was der Großfürst
von ihnen forderte. Deshalb hatte sich Milej mit seiner Familie
heimlich aus dem Staub gemacht, und zwar zu den entferntesten und
unbekanntesten seiner Ländereien, wo er klugerweise bis zum
folgenden Jahr blieb.
Die große Schleife des R wird von einem hübschen kleinen Fluß,
der nach Osten fließt, horizontal in zwei Hälften geteilt: der
Kljasma. Zwischen ihr und der Oka lag der Besitz des Bojaren Milej.
Seinem Großvater, dem man dieses Stück Land übergeben hatte, gefiel
der barbarische finnische Name nicht, und so gab er dem kleinen
Fluß und der Siedlung Namen aus der Region im Süden, der er sich
verbunden fühlte: Das Flüßchen hieß nun Rus und der Ort
Russka.
In jenem Winter, den Milej hier verbrachte, entdeckte er, daß
man da wirklich etwas erwirtschaften konnte. Er brauchte nur mehr
Leute.
Im nächsten Frühjahr fand er bei seiner Rückkehr nach Murom
sein Haus, das außerhalb der Mauern gestanden hatte,
niedergebrannt, doch das Versteck mit den Münzen tief unter dem
Fußboden war unangetastet.
Fürs erste gab es eine Menge zu tun, denn die Mongolen hatten
vieles zerstört. Doch das Dörfchen Russka ging Milej nicht mehr aus
dem Sinn. Im Spätsommer des Jahres 1246 standen plötzlich zu seiner
Freude zwei Bauern von seinem Besitz im Süden vor ihm.
Bisher hatte er nur drei Familien der Mordvinen in die
Siedlung holen können.
Als Yanka nun zu diesem großen Mann mit dem leicht ergrauten
Bart und dem breiten Türkengesicht hochsah, entdeckte sie darin
große Freundlichkeit. Seine stahlblauen Augen leuchteten. »Ich habe
den richtigen Platz für euch«, versprach er. »Das Russka des
Nordens.«
»Ich habe aber kein Geld«, log Sawa.
Der Bojar musterte ihn, ließ sich keine Sekunde täuschen. »Ich
habe mehr davon, wenn ich dir Land gebe, das du bearbeitest, als
daß ich gar nichts bekomme«, war die Antwort. »Du kannst dir ein
Haus bauen – die Leute hier werden dir helfen. Mein Verwalter wird
dich mit allem Nötigen versorgen. Im Lauf der Zeit zahlst du deine
Schulden an mich zurück.«
Er machte auch der anderen Familie ein Angebot. Doch die
lehnte ab. »Das Angebot ist gut«, meinte der Reisebegleiter zu
Yankas Vater, »aber ich will keinen Grundeigentümer über mir. Komm
doch mit uns«, drängte er.
»Nein.« Sawa schüttelte den Kopf. »Wir bleiben lieber hier.
Aber viel Glück euch!«
Dieses nördliche Russka war sehr verschieden von dem Dorf im
Süden, das sie hinter sich gelassen hatten. Es lag aber, wie die
meisten russischen Dörfer, an einem Fluß, der an dieser Stelle eine
langgezogene S-Kurve machte. Das Westufer war höher als das
östliche, und so bildete es eine schützende Anhöhe und stand wie
ein Wall um das Grasland, das angelegt worden war. Früher hatte
sich dort eine Siedlung befunden, doch mit der Zeit hatte man sie
aus Gründen der Sicherheit auf die Anhöhe verlegt, wo nun ein
Dutzend Holzhütten standen, umgeben von einem starken Zaun. Ein
paar Gemüsefelder lagen abgeerntet daneben, und durch die Bäume
hindurch sah man auf zwei armselige Äcker. Eine Kirche gab es
nicht. Der nächste Ort lag einige Meilen entfernt im Südosten,
ebenfalls am Flüßchen Rus. Hinter diesem Ort erhob sich ein
niedriger bewaldeter Hügel, und unterhalb war Marschland. Daher
nannten die ersten slawischen Siedler diese Gegend Sumpfloch, und
der Name blieb. Von hier aus waren es noch einmal sieben Meilen bis
zur nächsten Ansiedlung.
Die Häuser bestanden aus Holz. Lehmwände und strohgedeckte
Dächer, wie Yanka sie aus dem Süden kannte, gab es hier nicht. Aber
vor allem die Menschen waren ganz anders. »So still sind sie«,
flüsterte sie ihrem Vater zu, als sie am ersten Morgen durch den
Ort gingen. »Als wären sie erfroren.«
Die Bewohner waren von unterschiedlicher Abstammung. Bevor die
Familie des Bojaren den Ort erwarb, gehörten die meisten Leute zu
den Slawen des Vjatitschen-Stammes. Jetzt gab es noch sechs
Familien dieser Herkunft. Außerdem lebten hier drei Familien, die
eine Generation zuvor aus dem Süden gekommen waren, und schließlich
die drei MordvinenFamilien, die der Bojar hergebracht hatte.
Auf Anordnung des Verwalters erschienen am Mittag sechs Männer
mit Äxten. »Wir bauen euch eine Hütte.« Zusammen gingen sie ans
südliche Ende des Weilers und machten sich an die Arbeit. Kleine
kräftige Pferde zogen Baumstämme herbei, aus denen man fast hätte
Boote fertigen können. Für das Fundament wurden dicke Eichenbohlen
verwendet, für das übrige das weiche, leicht zu verarbeitende
Kiefernholz.
Die Hütte wurde ähnlich der im Süden angelegt: ein
Eingangskorridor in der Mitte, viel Platz zur Aufbewahrung der
Gerätschaften auf der einen Seite, ein Raum auf der anderen. Der
Ofen wurde aus Lehm geschichtet.
Yanka war nicht nur überrascht von der sauberen Arbeit,
sondern auch von der Schnelligkeit der Leute. Sie arbeiteten ohne
Unterbrechung bis in die Dämmerung. Dann brachten die Frauen
Fackeln und entfachten Feuer zur besseren Sicht. Nachts war alles
fertig, nur der Ofen und das Dach fehlten noch. Yanka und ihr Vater
fanden in dieser Nacht Unterschlupf beim Verwalter. Am nächsten
Mittag war das Werk vollendet.
So sah die Hütte des Nordens aus – die russische isba.
Der überdimensionale Ofen und die festgefügten Wände brachten die
Bewohner wohlig warm durch den kältesten Winter – deshalb auch die
Bezeichnung isba, was soviel bedeutet wie »heißer Raum«.
Nachdem sich die beiden bei den Männern bedankt hatten, führte der
Verwalter sie hinaus zu dem Stück Land, das er für sie bestimmt
hatte. Das Land, das zu beiden Seiten des Flüßchens lag, war von
mittlerer Größe, wie der Verwalter ihnen erklärte: etwa vierhundert
dessjatina, das sind ungefähr vierhundert Hektar. Nur ein
Teil davon war bearbeitet.
»Milej will noch mehr Leute herbringen und etwas aus diesem
Ort machen«, fuhr der Verwalter fort. »Und einen Teil des Landes
will er selbst übernehmen. Wenn auch jetzt alles noch klein ist –
das wird sich bald ändern.«
Sosehr ihr alles gefiel, eines störte Yanka. »Wir sind
Christen. Sind denn alle Menschen hier Heiden?«
»Die Slawen aus dem Süden sind Christen«, sagte der Verwalter.
»Die Mordvinen sind eben Mordvinen.« Er lachte. »Und die
Vjatitschen sind zwar Slawen, aber auch Heiden.«
»Wird einmal eine Kirche gebaut?«
»Der Bojar hat es vor.«
Danach kehrte Yanka in die Hütte zurück, während Sawa und der
Verwalter das Land begutachteten. Es war die übliche Parzelle des
Bauern, die rund vierzehn Hektar umfaßte. Aber es war karges
Waldland, das gerodet werden mußte. Dafür würde Yankas Vater nur
eine kleine Pacht zu zahlen haben, im ersten Jahr überhaupt nichts.
Der Verwalter wollte ihm eine geringe Summe vorstrecken, dafür, daß
er leichte Arbeit für den Bojaren verrichten sollte. Für Yanka kam
nun eine Zeit der Entdeckungen. Es war ein langer Sommer, die
warmen Tage dauerten bis weit in den Herbst hinein, in den
Altweibersommer, den die Russen »Sommer der Großmutter« nennen.
Yanka wanderte viel in der Gegend umher, manchmal allein, manchmal
auch mit der Frau des Verwalters. Diese zeigte ihr, wo Kräuter zu
finden waren und wo heilkräftige Farne wuchsen. In einem
Kiefernwäldchen oberhalb des Flusses fanden sie auf moosigem Grund
Blaubeeren und Preiselbeeren. Auch sonst war es eine Zeit der
Veränderungen: Yanka wurde eine Frau. Eine Zeitlang zeigte ihre
Haut Flecken und Pickel, das Haar fühlte sich strähnig an. Da wurde
ihr Mund noch schmaler, sie legte die Stirn in Falten und blieb am
liebsten zu Hause. Doch nicht lang, und sie hatte auch ihren
wundervollen blassen Teint wieder und die lockigen Haare. Und mit
ihrem Körper war sie zufrieden. Sie hatte im Sommer zugenommen, und
sie hoffte, daß eines Tages ein Mann sich an den sanften Rundungen
erfreuen würde.
Als der Winter näher rückte, bemühte sie sich, ihrem Vater ein
gemütliches Heim zu schaffen. Sie webte, legte einen Vorrat an
Lebensmitteln an, räucherte Fisch und machte sich überall nützlich.
Manchmal sagte der Vater bei seiner Heimkehr am Abend: »Was für ein
schönes Nest du uns baust, mein Vögelchen.« Er war jetzt besser
gelaunt. Die harte Arbeit, das neue Leben waren eine
Herausforderung für ihn. Neue Kräfte erwachten in ihm, und Yanka
war froh darüber. Wenn sie ihn heimkommen sah, dachte sie: Das ist
mein Vater, auf den ich stolz sein kann. Sie hatte keine Augen für
einen anderen Mann im Dorf. Das hatte aber seinen Grund. Ihr Vater
war nach dem ersten Rundgang nach Hause gekommen, hatte sich gegen
den warmen Ofen gelehnt und gerufen: »Hast du ihre Felder gesehen?
Sie schlagen darauf herum und brennen sie ab. Mordvinen! Heiden!
Sie haben nicht mal einen ordentlichen Pflug.«
»Keinen Pflug?«
Seine Antwort war nur ein verächtliches Schnauben. »Bei diesem
Boden nutzt er sowieso nichts.«
Yankas Vater hatte eines der Hauptprobleme entdeckt, Rußlands
Geißel durch alle Zeiten hindurch. Das Land im Norden ist sehr
karg, der Boden ist ausgelaugt. Es kommt daher, daß das Wasser in
diesen Böden nicht schnell genug versickert und wichtige Salze
auswäscht, wodurch eine magere, säurehaltige Oberschicht von
geringem Nutzungswert entsteht. Dieser Boden heißt im Russischen
podzol – wörtlich »Aschenboden«.
Während die tiefschwarze Erde des Südens, der
tschernozem, sehr gehaltvoll und landwirtschaftlich nutzbar
ist, ist der Boden in der großen R-Schleife, nordwärts bis in die
Bereiche des torfigen, mit Wasser vollgesogenen Bodens der Tundra,
wenig ertragreicher podzol – die Ursache für die mindere
Landwirtschaft Nordrußlands. Diesen Boden bearbeiteten die Bauern
im Norden mit dem soka, einem leichten Holzpflug mit einem
einfachen Metallstück am Ende, mit dem die unfruchtbare Erde nur an
der Oberfläche aufgekratzt wurde. Dieser armselige Pflug auf dieser
unergiebigen Erde – darüber hatte Yankas Vater sich empört.
Schlimmer war jedoch die Methode, mit der die Bauern ihre Felder
bestellten. Anstatt im Wechsel zwei oder drei große Felder
abzuernten, wendeten sie immer noch das alte Verfahren des
Abholzens und Abbrennens von Waldland an, kultivierten dann den
verkohlten Boden einige Jahre lang, ehe sie ein neues Stück Land
auf diese Weise bearbeiteten und das alte dem Wildwuchs überließen.
Dies war eine althergebrachte Form des Ackerbaus für den
Eigenbedarf. »Heiden!« urteilte Sawa über die Dorfbewohner – und
damit hatte Yanka jegliches Interesse an ihnen verloren. Wen ich
auch einmal heirate – von hier wird er nicht kommen, war ihre
Überzeugung.
Bald machte Sawa eine Entdeckung, die ihn erneut in Rage
brachte. »Es gibt doch guten Boden, tschernozem. Aber ich
darf ihn nicht bearbeiten.«
»Wo?«
»In der Nähe des Dorfes, das sie Sumpfloch nennen. Ich war
heute mit diesen verdammten Mordvinen dort.« Denn die Natur oder,
genauer gesagt, die sich nach der letzten Eiszeit zurückziehenden
Gletscher hatten hier und da in dem Gebiet des sandigen
podzol schmale Streifen guten grauen Bodens zurückgelassen.
Beispielsweise östlich von Russka. Das Stück war dreigeteilt, das
nördlich gelegene gehörte dem Großfürsten selbst. Der Teil nach
Osten hin war »Schwarzes Land«, nominell im Besitz des Fürsten von
Murom, doch an freie Bauern vergeben. Und das am nächsten liegende
kleine Stück gehörte dem Bojaren Milej. Bei Milejs Begegnung mit
Yanka und Sawa war davon nicht die Rede gewesen. Ein einzelner Mann
und ein Mädchen waren kaum erwünschte Pächter für das beste Land.
Inzwischen bearbeitete er einen Teil des guten Landes mit einigen
Sklaven, die er irgendwo aufgetrieben hatte.
Das warme Wetter dauerte in diesem Jahr bis Mitte Oktober an.
Yanka gewöhnte sich allmählich an den ruhigen Rhythmus des Ortes.
Sie ging mit den anderen Frauen in den Wald zum Nüssesammeln; und
als die Männer eines Tages einen Elch erlegten, half sie den Frauen
bei den Vorbereitungen für ein großes Fest. Und doch fand Yanka die
trübe Jahreszeit bedrückend. Es war besonders schlimm, als sie
einmal, nachdem es aufgehört hatte zu regnen, in das nahe gelegene
Dorf Sumpfloch ging. Was war das nur für ein Nest! Ein paar Hütten
standen am Flußufer eng beieinander. Das hier war Schwarzes Land
wie das nördliche Territorium, und so waren die Bauern praktisch
frei. Besser noch: Das zum Ort gehörige Land lag unmittelbar auf
dem tschernozem. Trotzdem war es trostlos. Das Flußufer war
ganz flach. Der Boden war morastig, die Luft roch modrig.
Yanka war froh, als sie wieder zu Hause war, und gleich legte
sie Holz nach.
An diesem Abend kam Sawa mit einem wunderschönen Mantel
zurück, den eine Mordvinin aus dem Fell eines Bären gefertigt
hatte, den er eigens für seine Tochter erlegt hatte. Er hatte es
bis dahin als Geheimnis bewahrt. Nun übergab er ihr den Mantel und
lächelte.
»Du hast einen Bären getötet – für mich?« Yanka war halb
entzückt, halb betroffen. »Er hätte dich zerreißen können.«
»Der Mantel wird dich warm halten hier im kalten Norden«,
sagte der Vater nur. Da küßte sie ihn.
Drei Tage später setzten die Schneefälle ein. Es war sehr
kalt; im Haus aber war es wunderbar warm.
Wie nun der Winter das Dörfchen völlig abgeriegelt hatte,
langweilte sich Yanka doch sehr. Sie hatte keine Freunde. Sie traf
nicht oft mit den Nachbarn zusammen, und manchmal sprachen sie und
ihr Vater tagelang mit keiner Seele. Nicht einmal eine Kirche gab
es, in der man sich hätte versammeln können. Zum Zeitvertreib
begann sie mit einer Handarbeit. Auf weißen Grund stickte sie in
leuchtendem Rot Vögel in der Art, wie sie es in ihrer Kindheit von
den Dorffrauen gelernt hatte. Der November verstrich ohne
bemerkenswerte Ereignisse. Doch in der ersten Dezemberhälfte
veränderte sich Yankas Leben ganz plötzlich. Sawa war in letzter
Zeit sehr liebevoll zu ihr gewesen. Er wußte, daß sie sich vor ihm
fürchtete, wenn er zuviel trank, und so hatte er seit dem Herbst
kaum einen Becher Met angerührt. Eines Abends jedoch sah sie wieder
die verräterische leichte Rötung auf seinem Nacken. Sie blickte ihn
unruhig an. Dann passierte ihr ein Mißgeschick. Sie hatte rotes
Färbemittel für den Faden erhitzt. Es war kochend heiß, als sie es
nahm und an ihrem Vater vorbeiging, der schweigend am Tisch saß. In
diesem Augenblick stolperte Yanka, und dabei wurde ein Teil der
brühend-heißen Flüssigkeit auf dem Tisch verschüttet.
»Hol's der Teufel!« Der Vater sprang zurück, und die Bank
stürzte um.
Sie starrte ihn entsetzt an. »Deine Hände?«
»Du willst mich wohl bei lebendigem Leib verbrühen?« Er verzog
schmerzlich das Gesicht.
Yanka stellte den Topf zurück. »Laß sehen. Ich verbinde
sie.«
»Du unachtsame Idiotin!« Sawa schrie. »Warte nur ab«, sagte er
plötzlich sehr leise.
Sie fühlte Kälte in sich aufsteigen. Sie kannte diesen Ton aus
ihrer Kindheit und wußte, daß das Schläge bedeutete. Sie zitterte.
In einem einzigen Augenblick war die schöne Beziehung der
vergangenen Monate zerstört. Sie war wieder das kleine Mädchen. Und
das war demütigend für sie. Ihre Knie bebten. Andererseits war sie
fassungslos, daß sie ihm weh getan hatte. Sie hatte es wohl
verdient, bestraft zu werden. »Geh zur Bank!«
Sie legte sich darauf, hörte, wie er seinen Gürtel löste,
spürte, wie er ihr Hemd hochschob. Sie erwartete den Schmerz. Doch
nichts geschah.
Yanka schloß die Augen, wartete. Dann fühlte sie zu ihrer
Überraschung seine Hände, seinen Atem neben ihrem Ohr. »Diesmal
werde ich dich nicht bestrafen, mein Frauchen«, sagte Sawa sanft.
»Aber du kannst etwas für mich tun.« Seine Hände strichen an ihren
Beinen nach oben. Sie überlegte. Was wollte er nur? »Ganz still!«
Er atmete schwer. »Ich tu dir nicht weh.« Sie begriff nicht, was
vor sich ging. Seine Hände tasteten sich vor. Sie fühlte sich nackt
wie nie zuvor. Sie wollte schreien, fortlaufen, doch ein Gefühl
heißer Scham lähmte sie. Und plötzlich bäumte sich ihr Körper auf,
und sie hörte Sawa keuchen. »Ja, so ist's gut, meine kleine Frau.«
Augenblicke später empfand sie einen heftigen Schmerz, der Vater
stöhnte: »Ach, mein Vögelchen, du hast es gewußt. Du hast es immer
schon gewußt.«
Hatte sie es wirklich gewußt? Hatte eine leise Stimme in ihr
vorausgesagt, daß sie einmal ein solches Geheimnis mit ihm teilen
sollte? Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie konnte ihn
nicht einmal hassen. Sie mußte ihn lieben. Er war ja alles, was sie
hatte. Einige Tage später geschah es noch einmal, dann wieder und
wieder.
Yanka war über sich selbst erstaunt. Anfangs hatte sie
versucht, sich zu widersetzen, aber er war ja viel stärker als sie.
Und er tat ihr niemals weh, er hielt einfach ihre Arme so fest, daß
sie sie nicht bewegen konnte. Da war Widerstand sinnlos. Und ob sie
wollte oder nicht – ihr Körper reagierte auf die Zärtlichkeiten.
Sawa nannte sie nicht mehr »kleine Frau«. Er legte auch in der
Öffentlichkeit nicht mehr den Arm um sie wie früher. Sie aber sah
ihn nun so, wie eine Frau ihren Ehemann sieht. Sie liebte ihn. Auf
eine neue Art wurde sie sich der Bewegungen seines Körpers bewußt.
Wenn sie seinen angespannten Nacken oder seine ineinander
verschränkten Hände sah, tat er ihr leid, aber anders als früher.
Während der Wintermonate spann sich ein neues Band zwischen ihnen.
Wenn die Tür zu ihrer isba offenstand, waren sie nichts als
Vater und Tochter. Falls man im Dorf etwas vermutete – keiner
verlor ein Wort darüber.
Dann trat ein, was sie insgeheim befürchtet hatte: Sie gab
sich ihm mehrmals mit Vergnügen hin. Seit langem hatte sie mit
keinem Priester gesprochen, aber sie wußte, daß der Teufel sie in
seiner Gewalt hatte. Sie hatte nicht nur gesündigt, sie hatte es
sogar mit Freuden getan. Sie empfand Abscheu vor sich selbst. Wenn
sie allein war, wandte sie sich in ihrem Elend an die traurige
Maria auf der Ikone in der Ecke und betete: »Errette mich, Mutter
Gottes, von meinen Sünden. Zeige mir den Weg aus dieser
Dunkelheit.«
Milej der Bojar war mißtrauisch und schlau. Und wenn er auch
der fürstlichen Familie des kleinen östlichen Territoriums von
Murom diente, er hatte doch seine eigenen Gedanken. Er gedachte
seine drei Töchter und zwei Söhne reich zu machen. Die bedeutenden
Bojaren gingen seit langer Zeit, obwohl sie dem Gesetz nach ihrem
Fürsten in allen Fällen zur Verfügung zu stehen hatten, auch eigene
Wege. Vor allem in dem größeren Territorium um Rjazan waren sie
dafür bekannt. Anders als in Kievs großer Zeit, als jeder Fürst
über ausgedehnte Ländereien herrschte, hatten manche von ihnen nur
noch kleinere Städte, ihre Kinder und Enkel vielleicht sogar
weniger Land als die einflußreichen Bojaren. Dies führte dazu, daß
ein Bojar wie Milej seinen Status möglicherweise für höher ansah
als den solcher Fürsten. Was die Fürsten in der alten Stadt Murom
anlangte, so waren sie seiner Meinung nach Marionetten des
Großfürsten, dem nicht zu trauen war. Wo also lagen seine
Möglichkeiten? Wie konnte er zu Reichtum gelangen? Milej war nicht
entgangen, daß der Tataren-Khan, anders als die russischen Fürsten,
seine eigenen Münzen prägte. »Von jetzt ab haben die Tataren ihre
Hand auf dem Geldsack«, erklärte er seinen Söhnen. »Sie werden
nicht den gesamten Handel ruinieren – warum sollten sie auch –,
aber sie stecken die großen Gewinne ein.« Seit der Invasion lag die
Provinz darnieder. Wenn auch Milejs Sklaven Waren herstellten, die
er verkaufen konnte, wenn er auch aus seinen Dörfern feingewebtes
Tuch und zahlreiche Felle erhielt – er sah zu der Zeit keine
Möglichkeit zur Expansion. »Wir müssen uns mehr um unser Land
kümmern«, beschloß er im Kreis seiner Getreuen.
Einige Bojaren hatten, wie er wußte, Monate auf ihren
Ländereien verbracht. »Weißt du«, sagte einer von ihnen, »es sind
zwar keine Silbermünzen, aber wenn einer meiner Bauern mit zwei
Sack Getreide, einem riesigen Laib Käse, fünfzig Eiern und einer
Wagenladung von Brennholz als Pacht ankommt, erfreut mich dieser
Anblick. Wenn ich draußen auf dem Land bin, sehe ich vielleicht
auch aus wie ein Bauer, aber ich lebe gut«, lachte er. Daraufhin
machte Milej sich ernsthaft Gedanken über Russka.
Wie groß war sein Grund überhaupt? Das konnte er nur schätzen,
denn wie die meisten solcher Dokumente in diesem riesigen, nicht
registrierten Land legten die Eigentumsurkunden keine genauen
Grenzen fest. Aber im Grunde war Milej nur an dem östlichen Teil
jenseits des Flusses interessiert, wo der tschernozem reiche
Erträge brachte. Da der Fürst von Murom im Augenblick keinen Anlaß
sah, Milej das Land zu übergeben, hatte dieser einige Male
angeboten, Sumpfloch zu kaufen, doch damit war er bisher nicht
weitergekommen. Von seinem Verwalter erfuhr er allerdings, daß der
in seinem Besitz befindliche tschernozem erst teilweise
kultiviert war.
»Schicke mir noch Sklaven«, sagte der Verwalter, »dann kann
ich dir mehr herauswirtschaften.«
Solche Gedanken gingen Milej durch den Kopf, als er Ende
August jenes Jahres Russka einen Besuch abstattete. Er sah das Heu
schon stapelförmig aufgeschichtet, als er in die Siedlung einritt.
Milej hatte sich gebührend angekündigt, und eine solide neue Hütte
mit einem hohen, steilen Dach und einem eingefriedeten Stück Land
darum herum erwartete ihn. Er hatte nur einen Diener dabei und ließ
sogleich seine zwei prächtigen Pferde versorgen. Er selbst nahm
eilig ein Mahl ein und begab sich danach sofort zur Ruhe. In der
Dämmerung des nächsten Morgens inspizierte er bereits die
Ländereien. Er nickte den Bauern kurz zu, als sie hinaus auf die
Felder gingen. Die wichtigste Ernte, der im Frühjahr gesäte Roggen,
war bereits im Juli eingebracht. An jenem Tage stand die
Gerstenernte an.
Auf seinem Ritt, den Verwalter beflissen an seiner Seite,
richtete Milej sein besonderes Augenmerk auf den
tschernozem. »Wir bauen keinen Weizen an?«
»Zur Zeit nicht, Herr.«
»Wir sollten es versuchen.« Sein kurzes Lachen klang hart.
»Dann könnt ihr Brot für die Kommunion backen.« Brot für die
Kommunion? Also meinte der Bojar wohl, sie wollten eine Kirche
haben. Der Verwalter lächelte. Das sah nach Geschäft aus.
Er machte noch weitere Vorschläge. Als er ein Junge war,
bauten sie im Süden Buchweizen an. Er wollte das ebenfalls in
Russka versuchen. »Ich möchte auch Erbsen und Linsen. Und Hanf
könnt ihr zusammen mit den Erbsen anbauen.«
Milej zeigte sich zufrieden mit dem Flachs, aber er wollte
mehr davon. Diese Faser war das Grundprodukt der nordrussischen
Landwirtschaft und konnte mit großen Gewinnen auf dem Markt
verkauft werden.
Nachmittags kehrte der Bojar zurück. Nach dem Essen ruhte er
ein wenig, und am frühen Abend besichtigte er die Dorfhütten und
ihre Bewohner.
Er war keineswegs erfreut. »Schmutziges, armseliges Pack«,
schimpfte er dem Verwalter gegenüber. Doch seine Laune besserte
sich sichtlich, als er schließlich zu Sawas Hütte kam. »Endlich
eine saubere isba«, stellte er zufrieden fest.
Es war mehr als das. Über dem Herd hingen an einer Strohschnur
frische Kräuter. Der Pokal in Form einer Ente auf dem Tisch war ein
kleines Kunstwerk. In einer Ecke brannte eine Kerze vor der Ikone;
in der Ecke gegenüber hingen drei wunderschön bestickte Tücher.
Diese hatte Yanka in acht Monaten schwerster innerer Qual
geschaffen.
Vor dem Bojaren standen nun ein idealer Vater mit seinem Kind,
so schien es ihm zumindest. Obwohl Sawa den ganzen Tag auf dem Feld
gearbeitet hatte, war sein spärlicher brauner Bart ordentlich
gekämmt. Er hatte zu Ehren des Bojaren eine frische Bluse
angezogen; sein Lächeln war respektvoll und stolz zugleich. Das
Mädchen war ein Juwel. Ordentlich, sauber, ja sogar hübsch. Seit
ihrer letzten Begegnung hatte sie sich tatsächlich herausgemacht.
Sie war noch schlank, doch die ersten weiblichen Rundungen machten
sich angenehm bemerkbar. Sie hatte eine makellose, wenn auch etwas
blasse Haut.
Bei seinem nächsten Besuch Ende September wurde Milej von vier
Booten begleitet, die seine Männer mit Seilen stromaufwärts zogen.
Im ersten saß eine Familie von Sklaven. »Mordvinen, fürchte ich,
aber du wirst sie schon zum Arbeiten bringen«, war der Kommentar
des Bojaren seinem Verwalter gegenüber. In den anderen waren
Kälber, die Milej in der Gegend um Rjazan gekauft hatte. »Gib zwei
davon dem neuen Mann mit der Tochter; sie sollen sich den Winter
über um sie kümmern.«
Er richtete sich in seinem Haus ein. Er wollte eine Woche lang
bleiben und am Ende die Pacht eintreiben. »Dann mache ich Geschäfte
in Novgorod«, erklärte er dem Verwalter. »Im Frühjahr komme ich von
dort zurück.« Diesmal machte er keine Inspektion, er spazierte
lediglich umher und sah den Bewohnern bei der Arbeit zu.
Was ihn besonders beeindruckte, waren die Drescharbeiten. Der
Dreschplatz war eine gerodete Stelle, daneben hatte man kleine Öfen
aufgestellt, in denen das Korn durch Rauch getrocknet wurde. Die
Bündel wurden mit Stöcken und Dreschflegeln weich geklopft; das war
Männersache. Bei der feineren Methode, die die Frauen ausführten,
wurde ein an beiden Seiten aufgehängter Balken benutzt. Das Bündel
wurde gegen den Balken geschlagen. Das Korn fiel heraus, und das
lange Stroh blieb zum Weben und Flechten zurück.
Während Milej auf und ab ging, mitunter stehenblieb, wanderte
sein Blick offenbar frei umher, doch Yanka spürte bald, daß sie der
Gegenstand seines Interesses war. Als Milej am zweiten Tag kam, war
sie noch hübscher gekleidet als sonst: Ihr Kittel zeigte vorn ein
gesticktes Vogelmuster, und sie hatte ihren Gürtel ein bißchen
enger gebunden, so daß der Bojar, wenn sie die Arme hob und senkte,
sehr wohl die Umrisse ihres Körpers sehen konnte. Obwohl Milej ein
nüchtern denkender Mensch war, hatte dieses hübsche junge Geschöpf
zwischen den anderen arbeitenden Frauen große Anziehungskraft für
ihn. Dieses Mädchen war anders als die übrigen. Sie sprachen nicht
miteinander, doch einer war sich der Aufmerksamkeit des anderen
sehr wohl bewußt. Einen Tag vor seiner Abreise lieferte man dem
Bojaren die Pacht ab: Säcke voller Korn und kleine Ferkel, Lämmer
und Zicklein. Eine Familie brachte ihm einen Stapel Kaninchenhäute
mit einem amtlichen Stempel darauf; das galt an jenem Ort als
Kleingeld. Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich der Bojar,
sehr zufrieden mit den Pachterträgen, und gab dem Verwalter ein
Zeichen, daß er allein sein wollte. Er verließ den Weiler und ging
ein letztes Mal am Flußufer spazieren, etwas wehmütig darüber, daß
er den Ort nun verlassen sollte.
Da entdeckte er zu seiner Freude das Mädchen; sie kam ihm auf
dem Pfad entgegen. Unter ihnen lag der ruhige, glasklare Fluß.
Milej merkte, daß Yanka etwas sagen wollte, und blieb stehen. Sie
sah ihn mit ihren seltsam traurigen Augen direkt an. »Nimm mich
mit, Herr.« Er starrte sie an. »Wohin denn?«
»Nach Novgorod, oder gehst du nicht dorthin?« Er nickte.
»Gefällt es dir hier nicht?«
»Ich muß weg.«
»Ist dein Vater nicht gut zu dir?«
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Was kümmert dich das?« Sie
holte tief Atem. »Nimm mich mit!«
»Was würde dein Vater sagen?« Sie zuckte die Achseln.
So war das also. Er sah sie ruhig, ganz offen an. »Und was
würdest du für mich tun, wenn ich dich mitnehme?« Sie blickte ihm
ebenso ruhig in die Augen. »Alles, was du möchtest.« Es war ihre
einzige Chance. Sie würde sich umbringen, wenn er ablehnte. »Also
gut«, sagte er.
Es war eine lange Reise – fast vierhundert Meilen nordwestlich
in die Länder am Baltischen Meer. Der Bojar hatte die Boote wieder
flußabwärts geschickt, und so mußten sie nach Novgorod reiten. Doch
die Anstrengungen schreckten Yanka nicht. Es war gut, unterwegs zu
sein. Der Bojar war eine große, eindrucksvolle Figur, vor allem auf
seinem prächtigen Pferd. Er trug einen pelzbesetzten Mantel und
eine ebensolche Mütze mit aufgesetzten Diamanten. Stolz dachte
Yanka: »Das ist mein Bojar.«
Schon in der ersten Nacht, nachdem sie das Dorf verlassen
hatten, schlief er mit ihr. Sie hatte zuerst ein wenig Angst vor
diesem großen Mann, mit dem sie das Zelt teilte, doch er erwies
sich als liebevoll und zärtlich. Mit ein paar Fragen hatte er ihr
die Geschichte mit ihrem Vater entlockt und tröstete sie. »Ich
verstehe, daß du weg wolltest«, meinte er sanft. »Aber denke nicht
zu schlecht von ihm, auch nicht von dir. In diesen kleinen
abgelegenen Orten ist das nichts Ungewöhnliches, das versichere ich
dir.« Ihr Vater hatte zu Yankas Überraschung keine Einwände gegen
ihre Abreise erhoben. Da sie, strenggenommen, freie Bauern waren,
konnte Milej Sawa nicht befehlen, seine Tochter gehen zu lassen.
Doch der mächtige Bojar rief den Vater zu sich, um ihm seine
Entscheidung mitzuteilen, und warf ihm einen derart durchdringenden
Blick zu, daß Sawa rot anlief.
Trotzdem verlor er seine Fassung nicht. »Das Mädchen ist mir
eine große Hilfe, Herr«, meinte er vorsichtig. »Ich werde ärmer
sein ohne sie.«
Milej verstand. »Um wieviel ärmer?«
»Mein Land ist karg. Und sieh, ich bin ein guter Arbeiter. Gib
mir etwas vom tschernozem.«
Milej überlegte. Der Bursche würde das Land sicher gut
bestellen. »Also schön. Du bezahlst eine angemessene Pacht. Sprich
mit dem Verwalter.« Und damit entließ er ihn. Als Yanka sich von
Sawa verabschiedete, hatte er Tränen in den Augen. Nach zehn Tagen
wandten sie sich, kurz vor dem Städtchen Moskau, nach Nordwesten.
Sie wurden vom Regen überrascht, als sie am Ufer der oberen Wolga
eine andere kleine Stadt erreichten, Tver. Dort warteten sie in
einem Gasthaus weitere zehn Tage ab. Da setzten die Schneefälle
ein.
Eine Woche später begann der letzte Teil der Reise, nun in
einem bequemen Schlitten. Tagelang tobten eisige Winde und
Schneestürme, dann wieder glitzerte die nördliche Landschaft in der
Novembersonne. Rasch glitt der Schlitten das abfallende Gelände bei
Tver hinunter und über die gefrorene Wolga. Die Fahrt ging bald an
Flüssen entlang, bald durch dunkle Wälder. Allmählich veränderte
sich die Landschaft. Weite Ebenen öffneten sich, durchsetzt von
niedrigem Wald und schmalen Getreidefeldern.
Milej war in bester Stimmung. Er sang die Weise von Sadko, dem
Kaufmann aus Novgorod, und lächelte vor sich hin, während sie über
das offene Land dahinflogen. Eines Nachmittags deutete er nach
vorn. »Der große Herr Novgorod!«
Von weitem wirkte die Stadt nicht besonders eindrucksvoll,
weil die Zitadelle den Fluß nur wenig überragte, doch beim
Näherkommen sah Yanka, wie weitläufig das mächtige, am träge
dahinfließenden Volchov gelegene Novgorod war. Die Stadtteile zu
beiden Seiten des Flusses, von gewaltigen Holzpalisaden umgeben,
waren durch eine große Holzbrücke verbunden. Inmitten der
westlichen Hälfte erhob sich eine wehrhafte Zitadelle aus dicken,
glatten Mauern. Die Reisenden durchquerten von Osten her das
östliche Viertel und fuhren über die hohe Brücke.
Als sie durch ein großes Tor kamen, lag vor ihnen eine
majestätische Kathedrale. Sie ließen auch das nördliche
Stadtviertel hinter sich und gelangten schließlich an ein großes,
aus Holz errichtetes Gasthaus.
Yanka staunte: Alle Straßen bestanden aus Holzplanken. Die
erste Zeit in Novgorod war eine glückliche. Milej war beschäftigt,
und wenn sie auch den Status einer Dienerin hatte, durfte sie doch
oft hinter ihm gehen, und er machte sie auf die Schönheiten der
Stadt aufmerksam.
Der westliche Teil mit der Zitadelle hieß wegen der Kathedrale
»Sophien-Seite«. Er bestand aus drei Stadtvierteln, den »Enden«. Im
Norden lag das Ende der Lederverarbeiter, dann kam das
Zagorod-Ende, wo die reichen Bojaren ihre Häuser hatten, und
schließlich das Ende der Töpfer.
Neben den schönen Holzhäusern gab es zahlreiche Kirchen aus
Holz und auch Dutzende von Steinkirchen.
Die Straßen waren meist nicht mehr als drei Meter breit, aus
großen, der Länge nach gespaltenen Stämmen gefertigt, die mit der
flachen Seite nach oben auf darunter liegenden Schwellen befestigt
waren. Jede Straße war von soliden Holzwänden in der Art von
Palisaden gesäumt.
Yanka deutete auf ein palastartiges Gebäude aus Holz: »Wohnt
hier der Fürst?«
»Nein. Die Leute in Novgorod wollen nicht, daß der Fürst in
der Stadt wohnt. Er muß in seiner eigenen kleinen Festung im Norden
leben. Dies ist der Palast des Erzbischofs. In Novgorod regieren
der Erzbischof und das vetsche des Volkes. Der Fürst sorgt
für die Verteidigung, und das vetsche bestimmt, ob ein Fürst
akzeptiert wird oder nicht.«
Yanka hatte zwar gehört, daß die Stadt Novgorod eine freie
Stadt war, aber sie hatte sich nie vorstellen können, daß solche
Macht beim Volk liegen könne.
Von der Zitadelle aus fuhren sie über die Holzbrücke. Unter
ihnen lag der vereiste Volchov und vor ihnen das
Marktviertel.
»Hier gibt es zwei Enden«, erklärte Milej, »das slovenische
und das der Zimmerleute. Dazwischen liegt der Markt, und da gehen
wir jetzt hin.«
Yanka hatte so etwas nie gesehen. Neben einer imposanten
Kirche breitete sich ein riesiges offenes Areal bis ans Flußufer
mit den Lagerhäusern hin. Der Platz war schneebedeckt, und trotzdem
standen lange Reihen bunter Stände da; Yanka schätzte, es müßten
tausend sein.
Milej hatte Geschäfte zu tätigen, also zog Yanka den ganzen
Morgen allein umher. Die Menschen waren von überall gekommen; es
waren nicht nur Slawen, sondern Deutsche, Schweden und Händler aus
den baltischen Staaten. Ein Mann, der gepökelten Fisch verkaufte,
erzählte, daß er in seiner Jugend mit Heringsflotten sogar bis nach
England gekommen sei.
Was es da alles gab! Große Töpfe mit Honig, Salzfässer,
Fischtran; Fische im Überfluß, selbst jetzt im Winter: Aal, Hering,
Kabeljau, Brasse und Steinbutt. Stapel von Fellen lagen da: Bär,
Biber, Fuchs, sogar Zobel. Glänzende Töpfereien und schön
verarbeitete Lederwaren. Da gab es fein geschnitzten Zierat aus
Knochen und Rentiergeweih aus den nördlichen Wäldern und auch
Walroßzähne. Und natürlich waren da die Ikonen. Es gab Gewürze, die
für den Westen bestimmt waren, und Kämme, jede Art von Perlen und
glänzende Seide aus dem alten Konstantinopel, die sich wunderbar
anfühlte. Als Yanka einem Mann zusah, wie er einen Stapel
gestempelter Eichhörnchenfelle zählte, die auch in Novgorod als
Kleingeld dienten, sah sie, daß er sich Notizen auf eine kleine
Wachstafel machte. Milej tat das auch, aber dies hier war ein ganz
gewöhnlicher kleiner Kaufmann. Sie ging weiter zu den anderen
Ständen. Auch hier hatten die Händler, sogar die Handwerker oft
Wachstäfelchen oder kleine Stücke von Birkenrinde, auf die sie
schrieben oder etwas zeichneten.
»Kannst du auch lesen und schreiben?« fragte sie eine
Fischverkäuferin.
»Ja, mein Täubchen. Die meisten Leute hier können es«, war die
Antwort. Yanka war tief beeindruckt. In Russka konnte das niemand.
Als sie sich auf dem weiten Platz umsah, auf dem auch das
vetsche zusammentrat, bekam sie allmählich eine Vorstellung
von der zielstrebigen, kühnen Macht des baltischen Nordens. In
dieser Nacht lud Milej sie im Gasthaus ein, mit ihm allein zu
essen. Er war in bester Stimmung. Die Geschäfte waren offenbar gut
gegangen.
Yanka hatte noch nie so köstlich gegessen: Fisch, Wild,
Delikatessen und Süßigkeiten. Auch eine Schale mit glänzendem Rogen
wurde vor sie hingestellt. »Was ist denn das?« fragte sie.
»Kaviar«, lächelte Milej, »von einem Flußbarsch. Probiere ihn.« Sie
hatte zwar gehört, daß Kaviar vom Flußbarsch, Stör und anderen
Fischen kam, aber gekostet hatte sie ihn nie. Das war die Speise
der Bojaren. Milej schenkte ihr häufig Met nach und sah mit
Vergnügen, wie ihr Gesicht sich allmählich rötete. Schließlich
öffnete sich die Tür, und ein schmächtiger alter Mann sah fragend
herein. Der Bojar forderte ihn auf einzutreten. Es war ein
Spielmann, ein skazitel. Er trug ein gusli, ein
dreiseitiges Zupfinstrument, und sang zwei Lieder, eines aus dem
Süden, eines aus dem Norden. »Das erste«, er lächelte verlegen,
»habe ich selbst gemacht. Es heißt ›Fürst Igor‹.«
Yanka lächelte. In ihrer Kindheit hatte sie einige Geschichten
über den edlen Igor gehört, einen Fürsten aus dem Süden, der einen
harten Kampf gegen die Kumanen aus der Steppe geführt hatte. Das
kühne Unternehmen war erfolglos, und Fürst Igor fand den Tod. Jeder
Russe kannte diese Geschichte.
Die Botschaft des Liedes war schlicht: Wären die russischen
Fürsten vereinigt, könnten ihnen die Männer der Steppe nichts
anhaben. Das trifft, dachte Yanka, auch auf den Einfall der Tataren
zu. Sie sah, daß Milej gedankenversunken in die Ferne blickte.
Hatten nicht seine eigenen Vorfahren, die Rus und die Kumanen, auf
der Steppe gegeneinander gefochten?
Doch dann holte Milej aus einem Ledersack einen kleinen
Stoffballen und legte ihn auf den Tisch. Es war feinste
orientalische Seide. »Ein Geschenk für dich«, sagte er zu Yanka.
Und den Spielmann forderte er auf: »Singe jetzt das andere Lied!«
Es war das Lied vom reichen Kaufmann Sadko aus Novgorod,
gewissermaßen die russische Version der Orpheus-Sage: Der singende
Kaufmann bezaubert den finnischen Meergott in seinem Palast auf dem
Meeresgrund und kann wieder ins Leben zurückkehren. Das Lied
erinnerte an den Kaufmann, der in Novgorod gelebt hatte.
Yanka lag zu Milejs Füßen und ließ die weiche schimmernde
Seide durch die Finger gleiten. Sein Kaftan stand am Hals offen.
Sie blickte auf das helle lockige Haar auf Milejs Brust und auf die
kleine Metallscheibe an einer Kette, die den dreizackigen
tamga seines Clans eingeritzt trug. Sie blickte ihn lächelnd
an, bis auch er schließlich lächelte und den Spielmann mit einer
Handbewegung fortschickte.
Yanka gab sich dem Bojaren in dieser Nacht ganz hin. Alles war
gut, so wie es war. Danach hatte sie das Gefühl, daß etwas in ihr
sich weiter als sonst geöffnet habe und daß sie mit Sadko im Palast
auf dem Grund des Meeres gewesen sei.
Yanka fragte häufig, ob sie den großen Fürsten Alexander
einmal sehen würden. Sie hatte nie vergessen, was ihr Bruder von
diesem Fürsten von Novgorod erzählt hatte, der die bösen Schweden
und die deutschen Ritter in die Flucht geschlagen hatte. Aber
niemand gab ihr eine klare Antwort. Manche sagten, er sei wohl in
seiner Residenz flußabwärts, andere meinten, er halte sich in einer
benachbarten Stadt auf. Und viele reagierten auf diese Frage nur
mit einem müden Schulterzucken. Wenn sie Milej auf ihre schlichte
Art Fragen zur politischen Situation stellte, lachte er nur. Das
wurde anders mit dem Abend, an dem der Bojar ein Fest gab für
Männer, mit denen er Geschäfte machte. Yanka durfte dabeisein, um
zu bedienen.
Es waren etwa ein Dutzend Männer, alle groß und bärtig und in
kostbare Seidenkaftane gehüllt. Einige waren Bojaren, andere
wohlhabende Kaufleute, zwei gehörten der mittleren Kaufmannsklasse
an.
Ihren Gesprächen konnte Yanka entnehmen, wie reich und groß
Novgorod tatsächlich war. Man unterhielt sich über Grundstücke, die
Hunderte von Meilen entfernt in Wäldern und den Marschen des
Nordostens lagen. Sie sprachen von großen Eisen- und Salzvorkommen,
von riesigen Rentierherden am Rand der Tundra. Mancher Bojar besaß
Land, das er noch nie gesehen hatte, und mancher bekam Felle als
Tribut von Pelzjägern, die hundert Meilen zu einem Sammelplatz
reisten und selber nie im Leben eine Stadt gesehen hatten. Ja, das
war das Land der mächtigen, endlosen Taiga. Dann begannen die
Männer über Politik zu reden, und Yanka hörte mit wachsender
Aufmerksamkeit zu.
»Die Frage ist, was man gegen die Tataren unternehmen will«,
fragte Milej. »Wollt ihr euch unterwerfen oder sie
bekämpfen?«
»Die Situation ist heikel«, antwortete ein älterer Bojar. »Der
gegenwärtige Großfürst wird sich bestimmt nicht lang halten.« Der
letzte Großfürst von Vladimir, der Vater des großen Fürsten
Alexander von Novgorod, war kürzlich auf dem Rückweg von einem
Höflichkeitsbesuch in der Mongolei gestorben. Sein Bruder war ihm
in der Herrschaft gefolgt und hatte seinen Neffen Alexander als
Herrscher über Novgorod bestätigt. Der neue Großfürst wurde jedoch
allgemein für schwach gehalten.
»Der wirkliche Machtkampf«, sagte ein anderer, »findet
zwischen Alexander und seinem jüngeren Bruder Andrej statt.«
»In diesem Fall müssen wir Stellung beziehen«, war die Ansicht
eines alten Bojaren.
»Einige von uns halten beide für Verräter«, äußerte sich ein
junger Mann.
Verräter? Fürst Alexander, der tapfere Bezwinger der Schweden
und der Deutschen, ein Verräter? Zu Yankas Erstaunen widersprach
niemand.
»Es stimmt, daß Alexander nicht beliebt ist«, seufzte ein
dicker Bojar. »Die Leute meinen, er habe die Tataren
allzugern.«
»Hat er, wie es heißt, in seiner Schlacht gegen die deutschen
Ritter tatsächlich Tataren als Bogenschützen eingesetzt?« fragte
Milej. »Man sagt es, aber ich glaube es nicht«, erwiderte der dicke
Bojar.
»Ihr müßt aber bedenken, daß man nicht nur seine Freundschaft
mit den Tataren kritisiert. Es gibt genügend Leute hier in der
Stadt, die am liebsten die Deutschen bei uns am Ruder sähen. Als
Alexander nach Novgorod zurückkam, ließ er die Sympathisanten der
Deutschen hängen. Wenn also jemand noch dieser Ansicht ist, wird er
sie wohl nicht äußern.«
»Es geht das Gerücht, daß der junge Fürst Andrej heimlich die
katholischen Deutschen und die Schweden begünstigt«, ließ sich der
junge Kaufmann vernehmen. »Ich fürchte, daß es keinen ehrlichen
russischen Fürsten gibt.«
So ging die Diskussion eine Zeitlang weiter. Schließlich
wandte der dicke Bojar sich an Milej: »Nun hast du also gehört, daß
wir uns nicht einig sind, was wir tun sollen; was sagt denn der
Bojar aus Murom?«
Alle blickten Milej erwartungsvoll an.
»Vor allem«, begann der Angesprochene, »verstehe ich das
katholische Lager. Ihr seid nahe an Schweden, Polen und an den
deutschen Hansestädten. Sie alle sind katholisch und ziemlich
stark. Ebenso denkt der Fürst von Galizien unten im Südwesten, er
könne sich mit Hilfe des Papstes die Tataren vom Leibe halten. Das
katholische Lager täuscht sich jedoch. Und warum?« Er blickte in
die Runde. »Weil die Tataren viel stärker, der Papst und die
katholischen Mächte unzuverlässig sind. Jedesmal wenn der Fürst von
Galizien sich durchzusetzen versucht, wird er von den Tataren
überwältigt.«
Es gab beifälliges Gemurmel.
»Novgorod ist mächtig«, fuhr Milej fort, »doch verglichen mit
den Tataren ist Novgorod geradezu kümmerlich. Sie könnten eure
Befestigungen innerhalb von Tagen schleifen, wenn sie nur wollten,
wie sie es mit Vladimir, Rjazan, selbst mit Kiev gemacht haben. Ihr
könnt froh sein, daß sie sich zum Rückzug entschlossen
haben.«
»Die Tataren werden untergehen wie die Avaren, die Hunnen, die
Petschenegen und die Rumänen«, wandte einer ein.
»Nein«, widersprach Milej, »das ist genau der Fehler, den die
Hälfte eurer russischen Fürsten macht. Aber die Wahrheit ist nicht
weniger wahr, wenn man sie ignoriert. Die Tataren sind nicht wie
die Rumänen. Sie haben ein Imperium geschaffen, wie die Welt es
noch nicht gesehen hat.«
»Du denkst also«, der junge Kaufmann schien bekümmert, »Fürst
Alexander hat recht, und wir sollten uns den Heiden unterwerfen?«
Milej sah den jungen Mann mit leisem Spott an. »Ich glaube«, sagte
er sehr ruhig, »daß die Tataren die besten Freunde sind, die wir
haben. Natürlich hat Alexander recht. Wir haben keine Wahl. Denkt
an meine Worte: In ein paar Jahren werden sie über uns alle
herrschen. Das ist jedoch nicht der Punkt. Wer führt die Karawanen,
mit denen ihr Handel treibt, vom Osten her? Die Tataren. Wer prägt
die Münzen, und wer hält die Steppen frei von Rumänen? Die Tataren.
Wo finden unsere Söhne gewinnbringenden Kriegsdienst und Beute? Bei
den Tataren, genau wie meine Alanen-Vorfahren den Chazaren dienten,
ehe der Staat der Rus existierte. Und welche Alternative gibt es?
Die Fürsten von Rus? Die Großfürsten, die nie einen Finger gerührt
haben, Rjazan oder Murom gegen den Einfall der Tataren zu
unterstützen? Die Tataren sind stark, und sie haben größtes
Interesse an gewinnbringendem Handel. Also werde ich mit ihnen
zusammenarbeiten.«
Yanka erschrak. In diesem Augenblick sah sie ihre sterbende
Mutter vor sich und den Tataren, dem ein Ohr fehlte. Und sie
erinnerte sich an ihren Bruder, wie er in die abendliche Steppe
verschwand. Milej sprach also für die Tataren. Sie als armes
slawisches Bauernmädchen hatte das nicht ahnen können. Wie sollte
sie auch wissen, daß mehr als tausend Jahre lang die Sarmaten,
Chazaren, Vikinger und Türken, die Männer der Steppen, Flüsse und
Meere – daß sie alle im russischen Land und seinem Volk nur Mittel
für ihre Zwecke gesehen hatten und daß sie die Herrschaft nur des
Profits wegen anstrebten. Die Älteren nickten weise.
Ein Glück, daß Yanka völlig unbeachtet in einem Winkel stand
und zu betroffen war, um auch nur ein Wort zu äußern. Denn in
diesem Augenblick fühlte sie sich durch die Nächte mit Milej mehr
befleckt als je durch die Nächte mit ihrem Vater.
Eine Woche später hatte sie zum erstenmal die Vermutung, sie
sei schwanger. Sie sagte Milej nichts. Was sollte sie tun? Jeden
Tag lief sie durch die Stadt und versuchte, einen klaren Gedanken
zu fassen.
Sie suchte nach stillen Plätzen außerhalb der lärmenden
Geschäftigkeit, sie ging zu den umliegenden Klöstern, in die
fürstlichen Jagdgebiete im Norden der Stadt. So wurde sie sehr
vertraut mit der Gegend, doch je besser sie Novgorod kennenlernte,
desto weniger gefiel es ihr. Täglich wurde ihr deutlicher, daß hier
nichts anderes zählte als Geld. Diese harte, unnachgiebige Welt
widerte sie an. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie. Ich will hier
nicht bleiben.
Aber sie trug das Kind des Bojaren. Was sollte sie nur machen?
Er würde sicher für das Kind sorgen, aber was würde aus ihr werden,
wo sollte sie denn leben? Würde sie je einen Ehemann bekommen? Wenn
auch die verheirateten Frauen in slawischen Dörfern nach einer
wüsten Festnacht es mit den Männern trieben, war es doch für jeden
Mann eine Schande, festzustellen, daß seine Braut keine Jungfrau
mehr war. Eine unverheiratete Frau mit Kind hatte kaum
Chancen.
Sie begann Milej zu hassen. Es war sein Kind, und sie trug
diese Last gegen ihren Willen.
Im Januar beschloß sie, das Kind abzutreiben. Verzweifelt
begab sie sich auf die Suche nach einer Frau, die in solchen Sachen
Bescheid wüßte. Schließlich sprach sie eines Nachmittags mit einer
alten Frau, die ein hartes Gesicht hatte und eine Warze auf der
Hand. Sie verkaufte an einem Stand in der Nähe des Flusses
getrocknete Kräuter. Als Yanka ihre Sache vortrug, war die Alte
keine Sekunde überrascht. Sie musterte das Mädchen nur kalt mit
ihren kleinen braunen Augen.
»Im wievielten Monat?« Yanka gab Auskunft.
»Schön. Aber das kostet dich zwei grivna.« Yanka
schluckte. Das war ein kleines Vermögen. »Ist deine Methode auch
sicher?«
»Du kriegst kein Kind, und dir passiert nichts.« An diesem
Nachmittag verkaufte Yanka den Ballen Seide, den Milej ihr
geschenkt hatte, für zwei Rubel.
»Komm heute abend, wenn es dunkel wird«, hatte die Alte
gesagt. Als die Sonne hinter dem gefrorenen Sumpfland unterging,
folgte Yanka der schlurfenden Alten auf einem Pfad an den südlichen
Stadtrand. Zur Rechten standen Hütten, zur Linken lag der
zugefrorene Fluß.
Die Alte führte Yanka zu einer isba am Ende einer Gasse
und öffnete eine Seitentür. In dem kleinen Raum befanden sich ein
paar Säcke, ein Tisch mit kleinen Töpfen, die seltsam riechende
Kräuter enthielten, und eine Bank. Es war kalt.
»Setz dich und warte«, sagte die Frau und verschwand. Sie kam
mit einer kleinen Wanne zurück, die sie vor Yanka hinstellte. Dann
ging sie wieder hinaus.
Es dauerte einige Zeit, bis sie zurückkehrte. Aus einem großen
Kübel goß sie heißes Wasser in die Wanne. Eine Dampfwolke stieg
auf. Diesen Vorgang wiederholte sie, bis die Wanne halb voll war.
Dann schüttete sie verschiedene Kräuter ins Wasser und rührte mit
einem langen Holzlöffel um. Ein scharfer, fast beißender Geruch
begann den Raum zu füllen. »Was ist das?«
»Das soll dich nicht kümmern. Zieh die Stiefel aus, nimm dein
Hemd hoch und stell deine Füße in die Wanne«, befahl die Alte. Als
Yanka der Anweisung folgte, schrie sie vor Schmerz auf. Das Wasser
war kochend heiß.
»Du gewöhnst dich dran«, meinte die Frau und drückte Yankas
Füße wieder in die Wanne. »So, jetzt steh auf.«
Der Schmerz war so furchtbar, daß Yanka wankte. Ihr war, als
würde sie verbrüht. Dann wurden die Beine fast
empfindungslos.
Yanka gewöhnte sich auch an den penetranten Geruch. Doch gegen
Ende der grausamen Prozedur fiel sie in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, rieb die Alte ihr die Füße mit
einer Paste ein. »Es tut noch eine Zeitlang weh, aber die Haut
fühlt sich nur verbrüht an, sie ist es nicht wirklich.«
»Und das Kind?«
»Komm übermorgen zu mir auf den Markt, bei
Sonnenuntergang.«
Am nächsten Morgen schlief Yanka lange, und am Tag darauf ging
sie, wie vereinbart, zum Stand der Frau und berichtete, daß alles
in Ordnung sei.
»Das sagte ich dir doch«, war der lapidare Kommentar der
Alten.
Yanka ging Milej aus dem Weg aus Furcht, sie könnte wieder
schwanger werden.
Es lag immer noch Schnee, und sie wußte, daß der Bojar bald
wieder den Weg zurück in den Osten nehmen wollte. Doch wohin sollte
sie?
Auf einer ihrer Wanderungen durch Novgorod entdeckte sie eine
Holzkirche, dem heiligen Blasius geweiht; sie lag im Viertel der
Töpfer. Blasius war der Schutzheilige der Tiere und hatte den alten
Slawengott Volos ersetzt, den Gott der Rinder, des Wohlergehens und
des Reichtums.
In diesem Holzgebäude mit seinem hohen, steilen Dach fühlte
sich Yanka geborgen. Stundenlang stand sie vor der Ikone des
Heiligen, und in ihr wuchs das Gefühl, daß es auch für sie, in
ihrem elenden und sinnlosen Dasein, Hoffnung gebe. Sie betete
voller Inbrunst.
Einige Tage darauf traf sie hier einen jungen Mann. Sie
schätzte ihn auf etwa zweiundzwanzig, er war etwas mehr als
mittelgroß. Sein Gesicht mit den hohen Backenknochen umrahmte ein
brauner Bart. Yanka fielen sogleich seine Hände auf, schwielige
Hände eines Arbeiters, doch seine Finger waren feingliedrig und die
Nägel gepflegt. Seine braunen Mandelaugen blickten ernst und
nachdenklich, während er, ins Gebet versunken, vor einer Ikone
stand. Als sie auf die Tür zuging, unterbrach er sein Gebet
unverzüglich und folgte ihr.
»Du nimmst wohl an, daß du den gleichen Weg hast wie ich?«
lächelte sie.
»Nur zu deinem Schutz. Wohin gehst du denn?«
»Ins Viertel der Lederarbeiter.«
»Ich auch. Mein Herr wohnt dort.«
Sie erfuhr, daß er ein Sklave war, ein Mordvine, der im Alter
von zwölf Jahren nach einem Überfall gefangengenommen worden war.
Er hieß Purgas. Mit fünfzehn Jahren war er zu einem reichen
Kaufmann gekommen, der ihn das Handwerk des Zimmermanns hatte
erlernen lassen.
Als sie sich trennten, sagte Yanka, daß sie jeden Tag in die
Kirche komme.
Sie erwartete natürlich, ihn am folgenden Tag wiederzutreffen;
aber sie war doch höchst überrascht, als er ein kleines, aus
Birkenholz geschnitztes Boot mit Ruderern und einem Segel
hervorzog, das er gemacht hatte – eine wunderschöne Arbeit, die er
ihr zum Geschenk machte. An diesem Tag begleitete er sie nach
Hause. Danach trafen sie einander häufig. Er war immer
liebenswürdig, ruhig und auch ein wenig schüchtern, was ihr gefiel.
Wenn sie durch die Straßen gingen, blieb er von Zeit zu Zeit stehen
und machte sie auf eine Besonderheit an den Häusern aufmerksam:
eine Schnitzerei, ein Fenstergitter oder wie die schweren Balken an
den Ecken ineinandergefügt waren. Yanka spürte, daß er, obwohl er
diese Stadt gern hatte, sich nach den Wäldern seiner Kindheit
sehnte.
»Wir lebten in den Wäldern draußen an der Wolga«, erzählte er
und sprach von den Bäumen und Pflanzen seiner Heimat. Dabei trat
ein verträumter, abwesender Blick in seine Augen.
Als sie sich wieder einmal in der Kirche trafen, erlebte Yanka
eine große Überraschung. Sie standen vor einer Ikone, auf der
Christus mit einem offenen Buch dargestellt war.
»Richte nicht nach dem Äußeren, sondern richte nach der
gerechten Einsicht«, las ihr Begleiter vor. Yanka sah ihn belustigt
an. »Lesen kannst du also auch?«
»Ja, das habe ich hier in Novgorod gelernt.« Ein Mordviner,
ein einfacher Finne aus den Wäldern, der lesen konnte!
In diesem Augenblick faßte Yanka ihren Entschluß. Am Abend
sprach sie mit Milej. Zu ihrem Erstaunen lächelte er freundlich.
»Jetzt sage mir noch mal den Namen dieses Kaufmanns und wo er
wohnt.« Nach einer Pause fragte er: »Du weißt nicht genau, ob der
junge Mann dich…?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube schon.« Am folgenden
Morgen schon regelte Milej die Angelegenheit. »Das kostet mich
allerdings einen Batzen Geld«, bemerkte er mit schiefem
Lächeln.
Am gleichen Nachmittag fragte Yanka Purgas vor der Kirche:
»Willst du mich heiraten? Mein Herr kauft dich frei, wenn du
willst.« Er stand wie vom Donner gerührt. »Ich wollte dich schon
fragen«, gab er zu, »aber als Sklave fürchtete ich…«
»Es gibt Bedingungen«, fuhr sie fort. Sie hatte sich alles
genau überlegt. Und tatsächlich hatte ihr Milej, wenn auch zögernd,
Vorschläge gemacht.
»Wir wohnen dann in der Nähe meines Heimatdorfes, aber nicht
als Bauern eines Bojaren«, fügte sie rasch hinzu. »Wir sind frei.
Wir leben auf der Schwarzen Erde und zahlen nur dem Fürsten
Tribut.« Yanka wollte in der Nähe ihres Vaters sein. Falls irgend
etwas geschähe, wäre wenigstens er da. Aber sie wollte nicht im
selben Ort wohnen, und sie wollte auch Milej nicht mehr als
Grundherrn haben. »Geht also ins Schwarze Land«, sagte Milej. »Dort
gibt es guten Boden – tschernozem – gleich bei Russka. Der
Fürst ist froh, wenn er Bauern auf sein Land bekommt.«
Als Purgas das hörte, lachte er, sehr zur Erleichterung
Yankas. Es gab nichts auf der Welt, was ihm lieber gewesen wäre.
»Das ist in Ordnung«, meinte er.
»Da ist noch etwas anderes«, begann sie zögernd, den Blick auf
den Boden gerichtet. Er wartete.
»Einmal, vor sehr langer Zeit…« Sie hielt inne. »Als ich noch
ein Kind war… Es war ein Tatar, er kam ins Dorf.« Purgas starrte
sie an. Dann zog er sie sanft an sich und küßte sie auf die
Stirn.
Sie fuhren zwei Tage später ab und folgten Milej mit dessen
Erlaubnis in einem zweiten Schlitten.
Als sich ihre Wege trennten und sie Abschied nahmen, steckte
Milej Yanka zwei grivna zu. »Tut mir leid wegen des Kindes«,
murmelte er. Dann verließ er sie.
1262
Milej wartete. Er wartete in Russka auf den
Tataren. Das Jahr über war die Lage immer brisanter geworden. Jeden
Augenblick fürchtete er eine Explosion.
An diesem Morgen wäre es fast dazu gekommen. Wäre er nicht
dagewesen, so wären die beiden moslemischen Tributeinnehmer jetzt
vermutlich tot. Erst als er den Dorfbewohnern gedroht hatte, sie
von seinem Land zu vertreiben, hatten sie sich beruhigt. »Es ist
fatal, daß die Tributeinnehmer Moslems sind«, seufzte er. Die
Tataren hatten den Nordosten genommen. Zwar gestatteten sie den
Fürsten, weiterhin zu regieren, doch wurden Volkszählung und
Aushebung von Soldaten eingeführt. Niemand konnte etwas dagegen
unternehmen.
Selbst Novgorod mußte sich damit abfinden, daß es besteuert
wurde. Fürst Alexander war mit den tatarischen Tributeinnehmern
gekommen und hatte geholfen, den Tribut für die Tataren zu erheben.
Jeder Widerstand der Bewohner wurde von ihm niedergeschlagen.
Milej lächelte. Wie schlau Alexander doch war! Er hatte
herausgefunden, wie er die Tataren auf seine Seite ziehen konnte,
und hatte sie benutzt, um seinen Onkel und seinen Bruder
abzuschieben. So war er nun endlich der größte Fürst in allen
russischen Landen. Er trug sogar einen orientalischen Helm, den der
Tataren-Khan ihm geschenkt hatte. Das russische Volk liebte ihn
wohl nicht, doch seine Politik war geschickt und klug. Die Russen
allein konnten die Tataren nicht zurückschlagen.
»Seht doch, was seinem Bruder Andrej passiert ist«, erklärte
Milej jenen, die Alexander einen Verräter nannten. »Er hat
versucht, gegen die Tataren zu kämpfen; doch sie schlugen ihn
vernichtend und plünderten die Hälfte der Städte im Fürstentum
Vladimir-Suzdal.«
Das, was zehn Jahre früher geschehen war, war keineswegs
vergessen worden. Was aber wäre, wenn die Russen Hilfe außerhalb
suchten?
»Denkt doch nur an diesen einfältigen Fürsten von Galizien«,
sagte Milej eindringlich. Der Fürst im Südwesten, der mit dem Papst
liebäugelte, hatte noch dümmer taktiert, als Milej es vorausgesagt
hatte. Zuerst hatte er eine Krone durch den Primas erhalten. Dann
sah er sich nach Verbündeten um. Wer blieb ihm außer den
heidnischen litauischen Stämmen im Norden, die in die westlichen
Gebiete Rußlands vordrangen, um den deutschen Ordensrittern zu
entgehen? Der litauische Führer war der römisch-katholischen Kirche
beigetreten und forderte, zusammen mit dem galizischen Fürsten, die
Tataren heraus. Und was war das Ergebnis? Die Tataren schlugen die
Galizier und zwangen sie, die Litauer anzugreifen. Dann mußte der
galizische Fürst alle seine Festungen schleifen lassen. Die
katholischen Westmächte taten nichts, wie gewöhnlich, der
litauische König wurde wieder Heide. Milej hatte gehört, daß in
jenem Sommer das heidnische Litauen seinerseits das inzwischen
ziemlich wehrlose Galizien angegriffen habe. »Dieses arme Land ist
erledigt. Wenn Alexander je etwas Ähnliches versucht hätte«, sagte
Milej immer, »hätten ihm die Tataren die Hälfte seiner Ländereien
abgenommen und die Deutschen die andere Hälfte.«
Alexander war weise und handelte geschickt. Es gehörte zur
Politik der Tataren, sich nie mit der Kirche anzulegen. Alexander,
der den Tataren diente, hatte den Metropoliten Kyrill zu seinem
engen Freund gemacht.
»Jetzt hat er jeden Priester und Mönch im ganzen Land auf
seiner Seite. Das Volk haßt Alexander, aber in der Kirche hören sie
ständig das Loblied auf diesen Nationalhelden. Die Priester nennen
ihn jetzt sogar Alexander Nevskij, als habe das Scharmützel, das er
als junger Mann mit den Schweden an der Neva hatte, ganz Rußland
gerettet.«
Ja, Milej hatte recht behalten: Die Tataren waren die Herren,
und es war höchst unklug, die Zusammenarbeit mit ihnen abzulehnen.
Er, Milej, arbeitete seit mehr als einem Jahrzehnt mit den Tataren
und Alexander Nevskij. Allerdings waren die Dinge kürzlich
schwierig geworden. Solange Batu Khan in Sarai regierte, gab es für
Milej keine Probleme. Nun aber führte dort ein neuer Khan, ein
Moslem, das Ruder.
Dieser Khan unterdrückte die russische Kirche in keiner Weise,
doch gestattete er den moslemischen Kaufleuten, das Land von Suzdal
gegen Tribut zu vergeben, und diese Leute nützten ihr Vorrecht
schamlos aus. Viele der Unglücklichen, die den geforderten Tribut
nicht bezahlen konnten, wurden zu Sklaven. In der ganzen Region von
Vladimir bis Murom kam es zu Revolten. Diesmal hatte Milej durchaus
Verständnis für das Volk. Aber Geschäft war schließlich Geschäft.
»Ihr seht zu, daß die Besitzungen von Murom alle Forderungen
bezahlen«, wies er seine Söhne an. »Ich kümmere mich um
Russka.«
Er befand sich jedoch noch aus einem anderen Grund an diesem
Spätjulitag in Russka: Mit etwas Glück würde er heute das größte
Geschäft seines Lebens machen. Wenn ihm das gelänge, wollte er sich
zur Ruhe setzen. Er wurde schließlich alt. Ungeduldig erwartete
Milej den Tataren.
Dieser kam gegen Abend: Ein ruhiger Mann in den besten Jahren.
An seiner kostbaren Kleidung – er trug einen Kaftan aus dunkelroter
Seide und einen breitkrempigen chinesischen Hut – und dem
prächtigen Pferd war er sofort als reicher und bedeutender Mann zu
erkennen; trotzdem kam er ohne jede Begleitung, hatte nur einen
mongolischen Bogen dabei und hinter sich auf dem Pferd ein Lasso.
An seinem Hals hing ein silbernes Kreuz an einer Silberkette:
Peter, der Tatar, war Christ.
Das war an sich keineswegs überraschend. Denn der
Mongolenstaat hatte keine offizielle Religion. Auf ihrem Vormarsch
von der Mongolei über die Eurasische Ebene waren die Mongolen
vielen mächtigen Religionen begegnet, vom Buddhismus im Osten über
den Islam bis zum Katholizismus im Westen. In Rußland hatte so
mancher Tatar den orthodoxen christlichen Glauben angenommen. Es
gab auch einen russisch-orthodoxen Bischof in Sarai, und es war
allseits bekannt, daß der höchste tatarische Beamte im nördlichen
Rostov und seine gesamte Familie Christen waren. Und doch war Milej
überrascht gewesen, bei seiner letztjährigen Begegnung mit dem
neuen tatarischen Beamten festzustellen, daß der baskak
ebenfalls zum orthodoxen Glauben übergetreten war. Der Bojar hatte
schon früher geschäftlich mit dem Beamten zu tun gehabt und hielt
ihn für einen schlauen, schweigsamen Mann. »Es wäre zu überlegen,
wie wir uns diesen christlichen Tataren gewogen machen können«,
hatte er zu seinen Söhnen gesagt. Als er erfuhr, daß der Tatar eine
unverheiratete Tochter hatte, kam ihm eine Idee. Milejs ältester
Sohn war verheiratet und hatte zwei Töchter. Doch der jüngere,
David, ein hübscher Neunzehnjähriger, war noch ledig.
»Ich habe das Mädchen gesehen. Sie sieht nicht schlecht aus,
und dieser Tatar scheint ziemlich wohlhabend zu sein. Es heißt, er
habe auch gute Verbindungen«, erzählte er seinem Sohn. »Was denkst
du – willst du das Mädchen heiraten?«
Es hatte bis dahin schon verschiedentlich Ehen zwischen
russischen Fürsten und adligen Tatarinnen gegeben. So hatte die
Hochzeit stattgefunden.
Heute nun traf Milej den Tataren aus einem anderen Grund. Zwei
Monate zuvor, bei Sommeranfang, hatte Peter erklärt: »Ich habe die
Absicht, ein kleines Ordenshaus für ein paar Mönche und eine Kirche
zu stiften. Weißt du einen geeigneten Platz dafür?« Ein Kloster!
Milej hatte weder geahnt, daß der Tatar so reich war, noch daß er
die Religion so ernst nahm. »Gib mir zwei Wochen Zeit«, hatte er
geantwortet, »wahrscheinlich habe ich die richtige Stelle für
dich.«
Seitdem hatte er eifrig kalkuliert und fieberhaft gearbeitet.
Genau das war es, was er für Russka brauchte.
All die Jahre hatte er sich bemüht, den Ort in Schuß zu
bringen, aber es war schwer. Jetzt gab es dort eine einfache kleine
Holzkirche, aber die Bevölkerung hatte sich verdoppelt. Und die
Probleme mit den Tataren in den vergangenen zehn Jahren hatten es
fast unmöglich gemacht, zuverlässige Siedler zu finden. Ein Kloster
würde Leute und, früher oder später, Handel bringen. Milej hatte
einen Großteil des Landes, auch ungenutzten Wald, in der Gegend
gekauft. Sein erster Gedanke war gewesen, Peter davon etwas zu
verkaufen.
»Aber das genügt ihm sicher nicht«, meinte er zu David. »Er
sagte mir, er wolle gutes Land, und das einzige gute Land in
Russka ist der tschernozem am Ostufer.«
Da kam dem Bojaren die rettende Idee. Er sandte eilig einen
Boten zum Großfürsten Alexander Nevskij und ließ ihn, unter Hinweis
auf erwiesene Dienste, bitten, er möge ihm gutes Land verkaufen.
Die Bitte wurde erfüllt.
»Denk dir«, setzte Milej seinem Sohn auseinander, »er verkauft
mir ein Stück seines tschernozem nördlich vom Sumpfloch zu
einem sehr günstigen Preis, und das ist doppelt so groß wie unser
Land in Russka.« Er rieb sich die Hände. »Wenn ich dem Tataren mein
Land zu einem guten Preis für sein Kloster verkaufen kann, kann ich
den Handel mit dem Großfürsten tätigen, ohne eigenes Geld
auszugeben.«
Mit begreiflicher Freude begrüßte er nun den Tataren und
führte ihn in sein Haus. »Ich zeige dir die Stelle morgen früh«,
sagte er. »Ich glaube, du wirst zufrieden sein.«
Am nächsten Morgen inspizierten sie das Land. Milej zeigte
Peter den reichen tschernozem am Ostufer voller Stolz. Der
Tatar ging um das ganze Dorf herum und sah, daß Milej ihm
tatsächlich sein bestes Land angeboten hatte. »Es ist ein guter
Platz für ein Kloster«, stimmte er zu. »Ich stifte eine kleine
Kirche und denke für den Anfang an etwa sechs Mönche. Es wird sich
mit der Zeit vergrößern.«
Milej nickte lächelnd. »Heißt das, du willst kaufen?«
»Der Preis?«
Milej war klug genug, nicht geldgierig zu erscheinen, und
nannte eine akzeptable Summe.
Peter willigte ein. Zu Milejs großer Freude zog er einen
Beutel heraus und bezahlte auf der Stelle mit Goldmünzen. »Jetzt
gehört das Land mir«, sagte der Tatar und stieg aufs Pferd. »Willst
du nicht bleiben?«
Der Tatar schüttelte den Kopf. »Bei den Schwierigkeiten… Ich
möchte morgen wieder in Murom sein.«
Milej nickte. »Jedenfalls stelle ich eine Besitzurkunde aus«,
meinte er. Das war für ihn etwas Selbstverständliches. Doch Peter
fragte verwundert: »Eine Urkunde? Was ist das?« Milej wollte
zunächst etwas erwidern, doch dann schwieg er lieber. Konnte es
sein, daß der Beamte nicht wußte, daß im Land der Rus jeder
Landbesitz urkundlich verbrieft war?
Milej überlegte. Der Apparat des mongolischen Staates
funktionierte vollkommen unabhängig vom russischen System. Die
Tataren führten Volkszählungen durch, was kein russischer Herrscher
je getan hatte, sie teilten das Land in Hunderte und Zehnte und sie
erhoben Steuern. Aber sie befaßten sich nicht mit den Gesetzen der
tributpflichtigen Völker. So kam es wohl, daß dieser intelligente
Tatar, dieser Christ, dessen Tochter einen Russen geheiratet hatte,
immer noch ein Fremder in diesem Land war. Er wußte nichts von
russischen Landtransaktionen und von Gesetzen. Nun hatte er zwar
für das Land bezahlt, besaß jedoch keine Urkunde. Folglich gehörte
ihm das Land gar nicht. Ich muß ihm das Land geben, dachte Milej
rasch. Aber wenn er je herausfindet, daß ich ihm eine Urkunde hätte
geben sollen… Kann ich noch etwas aus dieser Transaktion
herausholen? Ich muß darüber nachdenken.
»Reite zurück nach Murom«, sagte er mit einem warmen Lächeln.
»Wir reden später übers Geschäft.« Peter wendete das Pferd.
»Sei streng mit diesen verdammten Leuten«, rief Milej ihm
nach, dann ging er mit seinem Beutel voll Gold ins Dorf
zurück.
Die beiden moslemischen Kaufleute hatten ein Dutzend Männer
und drei große Wagen dabei. Sie kamen im Morgengrauen und waren
sichtlich schlecht gelaunt. Die mongolische Verwaltung hatte ihnen
gestattet, so viel einzutreiben wie möglich gegen einen Festbetrag,
den sie an den Khan abzuführen hatten. Aber ihr Besuch in Russka
tags zuvor war nicht zufriedenstellend verlaufen. Heute mußten sie
ihre gestrige Schlappe wieder wettmachen. Dafür schien ihnen diese
unbedeutende kleine Gemeinde freier Bauern in Sumpfloch genau das
richtige. Sie hatten sich geeinigt, das Dorf auszunehmen.
Der Weiler war auf fünfzehn Haushalte angewachsen und hatte
den Status eines volost, einer Kommune. In den letzten
Jahren hatte sich bescheidener Wohlstand eingestellt, und das hatte
man dem gewählten Dorfältesten zu verdanken: Purgas, Yankas Mann.
Alle respektierten ihn. Er war ein Mann, auf den man sich verlassen
konnte.
Auch Yanka wußte dies. Doch bis auf den Grund seiner Seele
konnte auch sie nicht sehen. Im Lauf ihrer Ehe hatte er sie immer
wieder durch unerwartetes Verhalten überrascht – und nicht immer
hatten ihr diese Überraschungen gefallen. Sie erinnerte sich gut an
das erste Erlebnis dieser Art. Sie hatte in einer Ecke ihrer neuen
isba eine Ikone angebracht. Kurz darauf hängte er
kommentarlos ein Kränzchen aus Birkenlaub darüber.
»Warum tust du das?« fragte sie. »Das machen doch nur die
Heiden.«
»Ich bin kein Christ«, gestand er.
»Aber ein Priester hat uns doch getraut.« Das war in Novgorod
geschehen, kurz vor ihrer Abreise.
Er lächelte leicht. »Ich dachte, es sei nicht so wichtig. Ich
bin dir damals in die Kirche gefolgt.«
»Das hättest du mir früher erzählen müssen«, sagte sie und war
ein wenig aufgebracht.
»Ich hatte Angst, ich würde dich sonst verlieren«, murmelte er
entschuldigend.
Sie dachte daran, daß auch sie ihm nicht die ganze Wahrheit
gesagt hatte. So hatten sie beide gelogen, um die Liebe des anderen
nicht zu verlieren.
»Du mußt jetzt Christ werden«, verlangte sie. Doch zu ihrem
Erstaunen weigerte er sich.
»Unsere Kinder können Christen werden, aber laß mir meinen
eigenen Weg«, war seine Antwort. »In Novgorod habe ich lange genug
unter Christen gelebt«, fügte er gedankenvoll hinzu. Sie verstand
ihn. Seine Flucht mit ihr aufs Land war für ihn eine Rückkehr zu
seinen Wurzeln. Er hatte eine starke Liebe zum Wald und zum Fluß,
die Yanka nicht kannte. Für ihn war ein Baum wie ein lebendiges
Wesen.
Der Fetischismus war in den nördlichen Wäldern seit je eine
Art Religion gewesen, und Yanka versuchte klugerweise nicht, ihren
Mann davon abzubringen.
Sie war froh, daß er nichts dagegen hatte, wenn sie die Kinder
in die Holzkirche mitnahm.
Ihr Vater hatte sich glücklicherweise wieder verheiratet. Kurz
nachdem sie in Sumpfloch angekommen waren, hatte er sie aufgesucht,
sie beiseite genommen und ihr den Beutel mit Silbergeld in die Hand
gedrückt, das er aus dem Süden mitgebracht hatte. »Ich glaube
nicht, daß Kiy je zurückkommt«, sagte er. »Das gehört alles
dir.«
Sie verstand, daß er damit Vergangenes wiedergutmachen wollte,
und seither waren sie Freunde.
Sie zeigte Purgas die Münzen, und er untersuchte sie
sorgfältig. Einige kämen aus Konstantinopel und seien sehr alt,
erklärte er ihr. Andere waren russisch, aus Monomachs Zeit. Sie
versteckten sie unter den Fußbodenbrettern.
Purgas war nicht nur ein Jäger; er arbeitete fleißig auf ihrem
Stück Land, und bald ging es ihnen gut. Yanka hatte nicht zu
klagen. Sie liebte ihn, und er machte sie sehr glücklich. Sie
hatten drei Kinder. Wenigstens einmal im Jahr unterbreitete der
Verwalter Milejs immer verlockendere Angebote, um Pächter nach
Russka zu werben. Sie lehnten stets ab. »Wir sind Leute vom
Schwarzen Land«, sagte Yanka einfach. »Hier sind wir unsere eigenen
Herren.« Am Vorabend nun hatten die Männer des Dorfes erfahren, was
die Tributeinnehmer in Russka erlebt hatten. Sie beschlossen, ihnen
aufzulauern und sie hinterrücks zu töten. Purgas war auf ihrer
Seite. Schon Tage zuvor waren Nachrichten von den Schwierigkeiten
in den nördlichen Städten flußabwärts gedrungen. Die freien Bauern
des Ortes waren höchst erregt. »Ihr seid verrückt«, sagte Yanka.
»Russka hat nicht revoltiert.«
»Aber nur, weil der Bojar mit den Tataren im Bunde ist«,
meinte einer der Männer.
»Sie werden kommen und uns alle umbringen«, drohte Yanka und
blickte finster drein.
»Wir fürchten uns nicht!« riefen die jungen Männer.
»Sie werden uns alle vernichten«, erklärte sie. »Sie werden
nie nachgeben.«
»Du bist also jetzt auf der Seite des Bojaren«, sagte Purgas
leise.
Yanka wollte erst widersprechen, doch sie schwieg. Sie dachte
an jenen Abend im Gasthaus: Wie hatten Milejs Worte sie
entsetzt!
Inzwischen war sie aber älter geworden und hatte erlebt, wie
die Tataren auch den Norden nahmen. Milej hatte tatsächlich recht
behalten.
»Versteckt, soviel ihr könnt«, riet sie den Männern. »Bezahlt
die Leute, aber tut so, als hätten sie euch ruiniert. Sonst sind
wir erledigt.«
Schließlich hatte sie sie überzeugt. Selbst Purgas versprach,
nach ihrem Rat zu handeln.
Es kam so, wie Yanka es vorausgesagt hatte. Die
Tributeinnehmer waren in der Morgendämmerung gekommen in der
Annahme, die Leute zu überrumpeln. Sie plünderten in aller Eile die
Hälfte des Getreidevorrats und trieben fast das gesamte Vieh weg.
Doch schon vor der Morgendämmerung hatten Purgas und die Männer die
meiste Habe im Sumpfland versteckt, wohin die Beamten nicht
vordringen konnten.
Während sie das Getreide nahmen, ging Yanka spazieren. Ohne zu
überlegen, ging sie so vor sich hin, in Richtung Russka. Sie
gelangte auf eine schmale Waldlichtung mit einigen kleineren
Erhebungen.
Von hier aus hatte sie einen hübschen Blick auf Russka. Es war
ganz still.
Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Das mußte eine
Vision sein!
Peter, der Tatar, war zufrieden mit diesem Tag. Er hatte eine
Stelle für das Kloster gefunden, wie er sie sich vorgestellt hatte.
Es war Zeit, daß er seinen Frieden mit Gott machte. »Ein Mann ohne
Religion findet keine Ruhe«, hatte der Beamte in Rostov ihn
gedrängt. Und das stimmte.
Das neue Oberhaupt, Kubla Khan, hatte die buddhistische
Religion der Chinesen angenommen, über die er herrschte. Peter
bestritt nicht, daß alle Menschen sich vor dem Großen Khan
verneigen sollten; doch im Laufe der Jahre, verstärkt durch die
schändlichen Intrigen um die höchsten Stellen innerhalb der
Goldenen Horde, hatte Peters Begeisterung für menschliche Macht
nachgelassen. Vielleicht wäre ich General geworden, wenn ich
erfolgreicher gewesen und Batu Khan nicht gestorben wäre, dachte
er; dann würde ich vielleicht noch nach irdischen Dingen streben.
Doch wie die Dinge lagen, war seine Laufbahn abgeschlossen. Er
würde seine Stellung halten, aber nicht mehr höher steigen. Er gab
sich damit zufrieden. Mit Hilfe seiner Schwester hatte er zu
Lebzeiten Batus und ihres Sohnes ein beträchtliches Vermögen
angesammelt.
Zwei Jahre zuvor war er über die Steppe nach Sarai gereist.
Dort hatte er den herrlichen grauen Hengst mit der schwarzen Mähne
und dem Streifen auf dem Rücken gekauft, den er jetzt ritt. »Es ist
vielleicht das letztemal, daß ich Sarai sehe«, hatte er betrübt zu
seiner Frau gesagt. Er ahnte, daß er in Rußland bleiben würde. Er
hielt am Waldrand inne und warf einen letzten Blick auf seine neue
Erwerbung. Er stieg ab und ging zu einer kleinen Anhöhe, um von
dort aus einen besseren Blick zu haben. Seine Züge wurden weich,
als er hinübersah. Träge scheuchte er eine Fliege weg, die sich auf
der Stelle niedergelassen hatte, wo früher einmal sein Ohr gewesen
war. Da bemerkte er, daß sein Pferd unruhig wurde. Hinterher hätte
Yanka nicht erklären können, wie dieser Wahnsinn über sie gekommen
war. Aber sie hatte sich immer geschworen, daß sie das einmal tun
werde, und dieses selbstgegebene Versprechen hatte all die Jahre in
ihr geschlummert. Eines Tages, das wußte sie, würde sie ihm
begegnen, und das wäre ihre Gelegenheit. Und da stand er nun
plötzlich, nur ein paar Schritte von ihr entfernt auf dem Hügel.
Selbst von hinten erkannte sie ihn – jenen Tataren, dem ein Ohr
fehlte.
Er war allein. Yanka sah sich um; niemand sonst war zu sehen.
Was hatte ihn hierher geführt? Wahrscheinlich wollte er die
Tributeinnehmer treffen. Sie wußte, daß sie nie wieder eine solche
Gelegenheit haben würde. Vor ihr tauchte das Gesicht ihrer Mutter
auf.
Yanka schlich vorwärts. Das Pferd stand an einem Baum. Auf dem
Rücken hatte es einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen.
Vorsichtig nahm sie den Bogen und legte einen Pfeil ein. Sie spürte
die Spannung. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Tataren.
Das Pferd schnaubte böse. Da wandte der Mann sich um. Er war es.
Die Narbe zog sich bis zum fehlenden Ohr hin. Yanka erinnerte sich
an dieses Gesicht, als habe sie es am Tag zuvor gesehen.
Er hob überrascht die Hand, wußte nicht, wer sie war. Sie
atmete tief ein, spannte den Bogen mit aller Kraft, zielte – der
Pfeil schnellte vorwärts.
Da hörte sie seinen Schrei. Wild gestikulierend kam er auf sie
zu. Plötzlich fiel er auf die Knie. Der Pfeil hatte seinen Körper
in der Magengegend durchbohrt. Sein Gesicht wurde weiß; er fiel zur
Seite.
Was würde er jetzt wohl tun? Voller Entsetzen hörte sie, daß
jemand auf dem Pfad näher kam. Sollen sie mich doch töten, dachte
sie, wenn nur meiner Familie nichts geschieht! Es war Purgas. Er
erfaßte die Situation mit einem Blick, dann sah er seine Frau
ungläubig an. »Er ist noch nicht tot«, sagte er sehr ruhig. Dann
nahm er seinen Gürtel ab und erdrosselte den Tataren. Einige
Augenblicke lang sah Mengu, der nun Peter hieß, vor sich das
wogende Gras der Steppe, und er glaubte den Geruch
wahrzunehmen.
»Hast nicht du uns erzählt, man dürfe keinen Tataren töten«,
sagte Purgas mit leisem Lachen. »Du kanntest ihn?« Als sie nickte,
fragte er: »War er es…?« Er wußte, daß ein Tatar ihre Mutter
umgebracht hatte, aber Yanka hatte ihm auch erzählt, ein Tatar habe
sie vergewaltigt. »Wir können ihn nicht hier lassen«, erklärte
er.
»Sie bringen uns um«, flüsterte sie.
»Das glaube ich nicht. Die Tributeinnehmer sind weg. Keiner
erfährt etwas.« Er überlegte. »Zuerst müssen wir leider dieses
Pferd töten. Das ist wirklich schade«, sagte er mit einem
verächtlichen Blick auf den Toten.
Er wußte genau, wie er vorgehen mußte. Zuerst band er den
Tataren auf seinem Pferd fest. Dann führte er das Tier unter
beruhigendem Zureden tief ins Sumpfland. Dort zog er an versteckter
Stelle einen Graben, stellte das Pferd genau darüber und schnitt
ihm die Kehle durch. Ebenso verfuhr er mit dem Toten. Eine Stunde
später waren die Körper ausgeblutet. Purgas zerlegte und verbrannte
sie, ebenso die Ausrüstung des Tataren bis auf den Mantel und das
Lasso. Gegen Mittag war nur noch ein Haufen verkohlter Knochen
übrig außer dem Schädel, den Purgas nicht verbrannt hatte. Die
Asche warf er in den Graben, den er wieder zuschüttete. Er
hinterließ alles so, daß niemand, der vorüberkam, etwas hätte
vermuten können. In der Nähe stand eine mächtige Eiche. Hoch oben
im Stamm befand sich ein Loch, in dem Purgas im vergangenen Jahr
einen Bienenschwarm entdeckt hatte. In Peters schwerem Mantel
schleppten sie die Knochen zum Baum. Purgas kletterte hinauf, und
mit Hilfe des Lassos zog er die Last nach oben, wo er sie in den
hohlen Stamm versenkte. Dann verbrannte er auch den Mantel und das
Lasso.
»Die Tataren werden im Fluß und auf der Erde nach ihm suchen«,
meinte er, »aber in den Bäumen bestimmt nicht.«
»Was geschieht mit seinem Kopf?« fragte Yanka. Purgas
lächelte. »Damit habe ich andere Pläne.«
Milej der Bojar kehrte erst zwei Wochen später von Russka nach
Murom zurück. Die Stadt war in heller Aufregung; in den Dörfern
hatten sich zahlreiche Bewohner geweigert, Tribut zu zahlen; einige
der moslemischen Tributeinnehmer waren angegriffen worden. Es hieß,
daß der Großfürst Alexander Nevskij vorhabe, den Khan aufzusuchen
und ihn um Nachsicht zu bitten. Und Peter, der baskak, war
verschwunden.
Milej wurde von einem Zenturio gefragt, wann er Peter zum
letztenmal gesehen habe. »Erwar auf dem Weg nach Murom«,
versicherte er.
Es wurde eine gründliche Untersuchung durchgeführt. Alle
Dörfer zwischen Russka und Murom wurden durchstöbert, die Bewohner
befragt. In Russka, wo Peter zuletzt gesehen worden war, ging man
besonders sorgfältig vor; der Fluß wurde mit Schleppnetzen
abgesucht, jedoch ohne Erfolg. Der Mann war wie vom Erdboden
verschwunden. Am vierten Tag nach seiner Rückkehr tischte Milej
eine große Lüge auf. Er hatte die ganze Zeit nachgedacht. Früher
oder später mochte man ihn mit dem Tod des Tataren in Verbindung
bringen. Da er aber beweisen konnte, daß er sich ausschließlich im
Dorf aufgehalten hatte, sah er jetzt seine große Chance, der er
nicht zu widerstehen vermochte.
Als Peters Sohn kam und höflich anfragte, ob sein Vater das
Stück Land für das Kloster von ihm, Milej, gekauft habe, schüttelte
er den Kopf. »Leider nein. Der Platz hat ihm nicht zugesagt.«
»Er hat dir also kein Geld gegeben?« Milej schüttelte wieder
den Kopf. »Nichts.« Er war sicher: Ihm war nichts zu beweisen.
Falls Peters Leichnam je gefunden würde, würde wohl niemand Geld
bei ihm vermuten. Und durch einen unglaublichen Glücksfall gab es
keinerlei Urkunden.
Peters Sohn war gegangen. Er konnte Milej nicht einmal einen
Lügner nennen.
In der folgenden Woche erwarb Milej vom Großfürsten aus dessen
besonders gutem tschernozem ein Stück Land, und zwar mit
Geld aus einem angeblichen Landverkauf in der Nähe von Murom. Das
Glück schien Milej hold.
1263
Im Frühling reiste Milej noch vor der
Schneeschmelze auf seinen Besitz in Russka. Von seinem Haus aus
überblickte er das fruchtbare Land jenseits des Flusses, das nun
ihm gehörte. Er hatte mehrere Sklaven von den moslemischen
Tributeinnehmern gekauft. Diese Sklaven sollten im Frühsommer in
Russka eintreffen.
Es gab auch drei Siedlerfamilien, die durch die neuen Steuern
ruiniert worden und froh waren, gutes Land zu günstigen Bedingungen
vom Bojaren zugewiesen zu erhalten. Am ersten Sonntag im April
begann die Schneeschmelze. Am Mittwoch darauf sah Milej von seiner
Haustür aus kleine schwarze Erdhügel aus dem Schnee hervorlugen.
Als er hinaustrat, hatte er ein Gefühl, als habe ihm jemand einen
Stoß ins Herz versetzt. Er blieb stehen und griff sich an die
Brust. Sein Herz würde doch nicht versagen! So alt war er doch noch
nicht. Er holte tief Atem, verspürte keinen Schmerz, hatte
keinerlei Atemnot. Er zog den Mantel fest um sich und ging langsam
durchs Dorf. Da traf er den Verwalter, und sie setzten gemeinsam in
einem Einbaum über den Fluß. Als sie an Land gingen, fühlte Milej
wieder etwas Merkwürdiges: Seine Füße brannten wie Feuer. »Was ist,
Herr?« fragte der Verwalter überrascht. Milej starrte entsetzt an
sich hinunter. »Meine Füße… Als ich ausgestiegen bin… Brennen deine
Füße auch?«
»Nein, Herr.«
Milej konnte keinen Schritt mehr tun. Der verwirrte Verwalter
mußte ihn wieder zurückrudern. Zu Hause untersuchte Milej seine
Füße, doch er konnte keinerlei Veränderungen daran
feststellen.
Kurze Zeit darauf wiederholte sich der plötzliche Schmerz in
der Herzgegend, und das geschah mehrmals in den folgenden Tagen.
Milej konnte das Haus nicht verlassen, geschweige denn auf sein
Stück Land am gegenüberliegenden Ufer gehen. »Es ist bestimmt
dieser verdammte Tatar«, murmelte er. »Er kommt zurück, um mich zu
quälen.«
Damit hatte er in gewissem Sinn recht. In einer finsteren
Nacht, als Milej in Murom war, hatte sich Purgas, der Mordvine, zu
Milejs verlassenem Haus geschlichen, die Türschwelle angehoben und
darunter den Kopf des Tataren vergraben. Das Gesicht des Mordvinen
trug dabei den Ausdruck diabolischer Schadenfreude. »Wenn man ihn
je findet, wirst du, Bojar, des Mordes angeklagt, du, der Liebhaber
meiner Frau«, flüsterte Purgas. Er hatte es immer geahnt. Nun waren
sie quitt.
Milejs quälende Schmerzen wurden immer schlimmer. Er beschloß,
abzureisen.
Am nächsten Tag ließ er sein Pferd satteln, saß auf und sagte
dem Verwalter, daß er im Sommer wiederkommen werde. Eine halbe
Meile außerhalb des Ortes scheute sein Pferd plötzlich und warf ihn
ab, so daß er auf ein paar Wurzeln landete und dachte, er habe ein
Bein gebrochen.
Das Tier gab unvermutet ein durchdringendes Wiehern von sich
und stob davon. Milej starrte dorthin, wo sein Pferd gestanden
hatte, und da sah er ein Roß von unnatürlicher Größe zwischen den
Bäumen; es war grau, hatte eine schwarze Mähne und einen Streifen
auf dem Rücken. Nun kam es durch die Bäume und galoppierte hinter
seinem Pferd her. Seine Hufe machten kein Geräusch. Mühsam raffte
Milej sich auf und bekreuzigte sich. Dann hinkte er ins Dorf
zurück.
Dort rief er den Verwalter und den alten Priester aus der
kleinen Kirche zu sich. »Ich habe mich entschlossen, zur Ehre
Gottes eine große Stiftung zu machen. Ich will ein Kloster auf
meinem Land jenseits des Flusses bauen lassen.«
»Was hat dich zu dieser Entscheidung bewogen?« fragte der
Priester, der Milej einer solch selbstlosen Tat nicht für fähig
gehalten hatte.
»Ich hatte eine Vision«, erklärte der Bojar kurz und bündig.
»Der Herr sei gepriesen!« rief der alte Mann. Und so wurde im Jahre
1263 das kleine Kloster in Russka gegründet und den Heiligen Peter
und Paul geweiht. Es gab noch ein bedeutsames Ereignis in jenem
Jahr. Der Großfürst Alexander Nevskij machte sich auf den Weg über
die Steppe zur Goldenen Horde, da er den Khan um Nachsicht mit den
aufsässigen Tributpflichtigen bitten wollte. »Es geht ihm nicht
gut«, berichtete ein Bojar aus Vladimir dem Bojaren Milej. »Er
reiste nur höchst ungern um diese Zeit. Sein jüngster Sohn ist erst
drei Jahre alt, und er wollte ihm zur Seite bleiben, bis er
erwachsen wäre.«
»Ach ja, Daniel heißt der Kleine, nicht wahr?« Milej wußte
nichts von dem Knaben außer seinem Namen. »Es würde mich
interessieren, was er einmal erben soll.«
»Es heißt, Alexander habe seiner Familie Anweisung erteilt,
dem Jungen, wenn er älter ist, Moskau zu geben«, erzählte der Bojar
aus Vladimir.
»Moskau, diese elende Stadt!« Milej schüttelte den Kopf.
Welche Begabungen dieser junge Fürst auch immer haben mochte – aus
einem so schäbigen Ort konnte er wohl kaum etwas machen.