Wald und Steppe

180 n. Chr.
Die Steppe lag still in jener Nacht. Auch der Wald war still. Leise strich der Wind übers Land. Hoch am sternklaren Himmel zogen gemächlich blasse Wolken dahin, sanft erglühend im Licht des zunehmenden Mondes auf seiner Wanderung nach Süden. Sie kamen von Osten mit geblähten weißen Segeln, aus endlosen Steppen, glitten majestätisch über die kleine Ansammlung von Hütten am Flußufer hinweg und setzten ihre Reise fort über den dunklen Wald, der auch ohne Ende schien.
Der Weiler lag am Südostufer des Flusses. Hier lichteten sich die Wälder aus Eiche und Linde, aus Kiefer und Birke, öffneten sich breite Streifen Graslandes, die den Rand der mächtigen Steppe bildeten. Auf der anderen Seite des Flüßchens, am Nordwestufer, stand der Wald dicht und dunkel.
Die drei Familien, die hier wohnten, waren vor fünf Sommern gekommen. Sie fanden eine alte, verlassene, von einem Erdwall umgebene und von Gestrüpp überwucherte Einfriedung vor. Sie säuberten sie, errichteten eine hölzerne Palisade auf dem niedrigen Wall und bauten sechs Hütten innerhalb. Daneben schnitten zwei große Felder ungleiche Streifen zwischen den Bäumen hindurch. Außer dem sanften Rascheln der Blätter war kaum ein Laut zu hören, höchstens von kleineren Tieren oder von einem vorsichtigen Reh, das Blätterrascheln im Weiler und gelegentlich der Wind im langen Gerstenfeld.
Es war das Jahr 180 n. Chr. und doch wieder nicht. Wenn auch zukünftige Zeiten diesem Jahr diese Zahl zuordnen sollten – der christliche Kalender war noch nicht im Gebrauch. In der weit im Süden liegenden römischen Provinz Judäa, wo Jesus von Nazareth gelebt hatte, errechneten weise jüdische Rabbis das Jahr 3940 seit Erschaffung der Welt. Es war auch das hundertundzehnte Jahr seit der Zerstörung Jerusalems. Anderswo im mächtigen römischen Imperium war es das zwanzigste und letzte Jahr der Regierung des Mark Aurel, auch das erste Jahr der Willkürherrschaft des Commodus. In Persien zählte man das Jahr 491 der Seleukiden-Ära.
In jenem Weiler am Waldrand, fernab von den Zentren der politischen und kulturellen Brennpunkte, zählte man die Jahre nicht. Die Zahlen und Daten der zivilisierten Welt, die schriftlich festgehalten waren, kannte man hier nicht. Und selbst wenn sie bekannt gewesen wären – sie hätten keine Bedeutung gehabt. Dieses Land sollte eines Tages als Rußland bekannt werden.
Lebed lag neben ihrem kleinen Jungen. Im Schlaf waren ihr die bedrückenden Gedanken des Vortages aus dem Kopf gegangen. Zwölf Menschen schliefen in der Hütte. Fünf, darunter sie und ihr Kind, lagen auf dem breiten Bord, das sich über dem Ofen durch den ganzen Raum zog. In dieser warmen Sommernacht war der Ofen nicht geheizt. Die Luft war schwer von dem süßen, erdigen, nicht unangenehmen Geruch der Menschen, die den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet hatten, und dem Duft frischen Grases, der durch das viereckige offene Fenster hereinwehte. Sie lag an einem Ende des hölzernen Bords; ein bescheidener Platz, denn sie war die jüngste der Ehefrauen ihres Mannes, wenn auch mit siebenundzwanzig nicht mehr eben jung. Ihr Gesicht war breit, und sie hatte um die Hüften schon mächtig angesetzt. In der Beuge ihres drallen Arms lag der fünfjährige Junge. Sie hatte vor ihm Kinder gehabt, doch sie waren gestorben, und so war er alles, was sie besaß. Mit fünfzehn hatte sie geheiratet, und sie hatte immer gewußt, daß ihr Mann, der heute vierzig Jahre war und immer noch gut aussah, sie nur genommen hatte, weil sie kräftig war. Sie war zum Arbeiten da. Dennoch hatte sie wenig Grund zu klagen. Er behandelte sie nicht lieblos. Sein verwittertes Gesicht verriet eine gewisse Sanftheit, ja Nachdenklichkeit, und in seinen hellblauen Augen leuchtete leises Vergnügen auf, wenn er rief: »Da kommt ja meine Mordvinin!«
Für ihn war das ein Ausdruck der Zuneigung, für die übrigen eher das Gegenteil. Lebed galt der Sippe ihres Mannes als Halbblut. Woher stammte ihre Mutter: Aus dem Waldvolk? Von den Mordvinen?
Seit Urzeiten waren die Wälder, die Marschen, die sich Hunderte von Meilen nordwärts erstreckten, von verstreuten Stämmen der Finno-Ugrier bevölkert, wozu auch der Stamm ihrer Mutter gehörte. Diese breitgesichtigen, mongolisch aussehenden Menschen mit gelblicher Haut lebten als Jäger und Fischer in kleinen Hütten und Erdbehausungen in diesen riesigen einsamen Regionen. In früherer Zeit hatten die hellhäutigen Vorfahren von Lebeds Ehemann, die eine slawische Sprache sprachen, in diesem Wald nach Osten und Norden hin kleine Kolonien errichtet. Einige davon, wie auch die Sippe ihres Mannes, bebauten Felder und trieben Viehzucht. Als diese Slawen und die Ur-Finnen einander in diesen weitläufigen Gebieten begegneten, kam es kaum zu Konflikten. Es gab genügend Land und Jagdbeute für Zehntausende von Menschen. Es wurden Ehen zwischen den Stämmen geschlossen, wie die Ehe von Lebeds Eltern. Die Siedler des Weilers jedoch verachteten das Waldvolk.
Lebeds Mann machte sich einen Spaß daraus, sie nicht beim Namen des kleinen Stammes ihrer Mutter zu rufen, sondern mit dem Namen des großen Stammes der Mordvinen, die hoch im Norden lebten. Das klang noch fremder, obwohl sie väterlicherseits rein slawisch war. Es war wirklich nicht bös gemeint, aber die übrige Sippe, so dachte Lebed traurig, sah sie verächtlich an.
Vor allem ihre Schwiegermutter. Seit nahezu dreizehn Jahren wachte ihre mächtige Gestalt über Lebeds Leben. Es gab Tage, an denen das Löwengesicht dieser Frau mit den schweren Wangen heiter, ja freundlich dreinblickte. Doch ein kleiner Fehler von Lebeds Seite – eine Spindel fiel, Sauerrahm wurde verschüttet – rief einen Zornesausbruch hervor. Die anderen Frauen im Haus schwiegen dazu. Sie waren froh, daß sie gut davongekommen waren und daß sie die Wut an der Fremden ausließ. Danach wurde Lebed wieder an die Arbeit geschickt, und die Schwiegermutter wandte sich achselzuckend den anderen zu.
Das alles war zu ertragen, aber ihr eigener Bruder machte es ihr schwer. Ihre Eltern waren das Jahr zuvor gestorben, nur sie und ihr jüngerer Bruder Mal waren übriggeblieben. Und über ihn hatte sie am vergangenen Tag weinen müssen.
Mal hatte nichts Böses im Sinn, aber immer gab's Schwierigkeiten mit dem Dorfältesten. Für Mal, auf dessen breitem, ein wenig blödem Gesicht ständig ein Lächeln lag, gab es anscheinend nur zwei Dinge im Leben – die Jagd, und seinem kleinen Neffen Freude zu machen. Er hatte überhaupt keine Lust zur Feldarbeit. Tagelang verschwand er ohne Erlaubnis im Wald, dann plötzlich sah seine Schwester ihn mit einem Dutzend Fellen am Gürtel wiederauftauchen. Der Dorfälteste verwünschte ihn, und Lebeds Schwiegermutter warf ihm wieder ärgerliche Blicke zu.
Nun hatte er dem Kind ein besonders verrücktes Versprechen gegeben: »Wenn ich das nächstemal auf die Jagd gehe, Kleiner Kiy, bringe ich dir einen jungen Bären mit. Du kannst ihn vor der Hütte anbinden.«
»Aber Mal«, warnte die Schwester ihn, »der Älteste hat gesagt, du mußt das Dorf verlassen, wenn du wieder ungehorsam bist.« Als Strafe für Mals häufige Abwesenheit hatte der Älteste für dieses Jahr ein Jagdverbot über ihn verhängt. Doch Mal scherte sich nicht darum. Nach wie vor ging er mit den zwei alten Männern, mit denen er in einer kleinen Hütte wohnte, jagen und fischen. »Warum nimmst du dir nicht endlich eine Frau und hörst mit diesem Unsinn auf?« schimpfte Lebed.
»Wie du befiehlst, Schwester Lebed.« Grinsend neigte er den Kopf. Er nannte sie so, um sie zu ärgern, denn fast niemand im Dorf wurde bei seinem richtigen Namen genannt. Kiy wurde üblicherweise Kleiner Kiy gerufen. Auch Mal hatte einen Namen, den die Leute benutzten, wenn sie böse auf ihn waren: Faulpelz. Lebed war gestern zweimal während der Feldarbeit zu Mal gegangen, das zweitemal in Tränen, um ihn von seinem albernen Plan abzubringen. Denn obwohl er ihr nichts als Schwierigkeiten machte, liebte sie ihn. Es würde einsam werden, wenn man ihn wegschickte. Doch er grinste nur, während er die Heuballen aufeinanderstapelte.
Aus diesem Grund hatte sie abends lange nicht einschlafen können. Nun aber hatte die Nacht alle Gedanken weggewischt. Leise bewegte der Windhauch vom Fenster ihr dichtes Haar und das weiche Haar des Kindes.
Wo lag dieses Dorf an Fluß und Wald? Es lag am Rand der südrussischen Steppe, einige Dutzend Meilen östlich des großen Dnjepr und an die dreihundert Meilen oberhalb der breiten Flußmündung am Nordwestufer des Schwarzen Meeres. So seltsam es auch klingen mag: Hätte ein fremder Reisender damals nach dem Weg dorthin gefragt, hätte ihm kaum jemand Auskunft geben können. Rußland als Staat existierte noch nicht. Die alten Kulturen des Ostens – China, Indien, Persien – lagen weit entfernt. Ihnen galt die leere Ebene als Ödland. Im Westen dehnte sich das machtvolle Imperium Romanum rund um das Mittelmeer bis hinauf nach Britannien. Doch Rom drang nie über die Waldgürtel der großen Eurasischen Ebene vor.
Was wußte Rom von dem Wald? Nur daß östlich des Rheins kriegerische germanische Stämme hausten und daß im Norden, an der Ostsee, primitive Völker lebten: Balten, Letten, Esten, Litauer, von denen man nichts wußte. Über die slawischen Länder wußten sie wenig, von den Finno-Ugriern in den Wäldern jenseits der Wolga so gut wie nichts. Von den türkischen und mongolischen Stämmen im riesigen sibirischen Hinterland drang damals keine Kunde über den Wald nach Westen, kaum ein Laut über die Steppe. Und was wußte Rom von der Steppe? Zwar war Rom am östlichen Teil bis nach Armenien unterhalb des Kaukasischen Berglandes vorgedrungen, doch das weite Flachland dahinter blieb terra incognita, unbekanntes Land voller barbarischer Stämme, gefährlicher Steppe und unpassierbarer Flüsse.
Auch die Dorfbewohner selbst hätten nicht erklären können, wo genau sie lebten. Sie wußten lediglich, daß ihr Flüßchen in einen anderen kleinen Fluß mündete, daß dieser Fluß sich dem mächtigen Dnjepr verband und daß irgendwo hinter der südlichen Steppe der Dnjepr ins Meer floß.
Also können wir nur sagen, daß der Weiler oberhalb des Schwarzen Meeres irgendwo östlich des Dnjepr und westlich des Don lag, etwas östlich des Waldes, etwas westlich der Steppe, an einem von tausend namenlosen Flüssen.
Der kleine Junge lächelte, als er aufwachte. Ein Lüftchen wehte durchs Fenster. Das Sonnenlicht malte ein großes helles Rechteck auf den Boden aus gestampfter Erde.
»Bist du wach, mein Körnchen?« Das breite Gesicht der Mutter neigte sich über das Kindergesicht. Hinter ihr bewegten sich die Menschen im Raum.
Es war ein großer Raum. Die Lehmwände wurden durch Holzrahmen gestützt. Die Hütte war zweigeteilt: Hinter dem Ofen betrat man die Hütte über einen Gang, und der Raum auf der anderen Seite, etwas größer als der Hauptraum, diente als Arbeits- und Vorratsraum. Hier gab es einen Webstuhl, mehrere faßartige Behälter, Hacken, Sicheln, und an der Wand hing eine Axt, die dem Hausherrn gehörte. Das von Eichenpfosten gestützte Gebäude war zu einem Teil in den Boden eingelassen, so daß man vom Gang zur Außentür hinaufsteigen mußte.
Die Mutter wusch das Gesicht des Jungen mit Wasser aus einem braunen irdenen Gefäß. Er sah an ihr vorbei auf den leuchtenden Sonnenflecken auf dem Boden. Seine Gedanken waren weit weg. Er wollte schnell hinauslaufen. Ob der versprochene Bär schon da war?
Die Mutter prüfte rasch seine Zähne. Er hatte zwei Milchzähne verloren, aber die neuen Zähne wuchsen bereits nach. Ein weiterer wackelte, aber alle anderen waren noch fest. Endlich ließ Lebed ihren Sohn los, und er rannte hinaus.
Der Hütte gegenüber lag ein Stück Gemüseland, von dem sie am vergangenen Tag eine große Rübe geholt hatte. Rechts davon lud eben ein Mann Ackergeräte auf einen alten Holzwagen mit stabilen Rädern, von denen jedes aus einem einzigen Holzblock geschnitzt worden war. Zur Linken stand in einiger Entfernung am Fluß ein kleines Badehaus. Es war erst drei Jahre zuvor gebaut worden – nicht für die Dorfbewohner, die ein größeres hatten, sondern für deren Ahnen. Schließlich, das wußte Kiy, wollten die Toten ebenso wie die Lebenden ihr Dampfbad nehmen, auch wenn man sie nicht sehen konnte. Und wie er immer wieder in seinem jungen Leben zu hören bekam, wurden die Ahnen sehr ärgerlich, wenn man sie von etwas ausschloß. Er wußte, daß die Toten da waren und ihn beobachteten, wie er auch wußte, daß im Boden unter einer Ecke der Scheune beim Haus des Dorfältesten die winzige schrumpelige Gestalt des domovoj hauste; es war der Großvater seines eigenen Vaters, und sein Geist wachte über allem, was in der Gemeinde geschah.
Kiy trat hinaus. Er sah nach rechts und links. Nichts. Kein Anzeichen des kleinen Bären. Der Junge machte ein langes Gesicht. Er konnte es nicht fassen – hatte er denn nicht gesehen, wie am Abend sein Onkel und der alte Mann vorbeigeschlichen waren? Er fühlte heiße Tränen in sich aufsteigen, doch da er Mal Stillschweigen hatte schwören müssen, unterdrückte er das Weinen. Da sah er Mal.
Der hatte keine gute Nacht hinter sich. Er hatte mit einem der alten Jäger eine Falle für das Bärenjunge im Wald aufgestellt. Fast hätten sie Erfolg gehabt, doch im letzten Augenblick verlor er die Nerven und machte eine falsche Bewegung, worauf ihn die wütende Bärenmutter verjagt hatte. Bei dem bloßen Gedanken daran errötete er. Er hatte vorgehabt, am Tag beim Heueinholen zu helfen, durch großen Fleiß die Aufmerksamkeit des Ältesten zu erregen und peinlichen Gesprächen mit Kiy aus dem Weg zu gehen. Es kam dem kleinen Jungen nicht in den Sinn, daß sein Onkel so rasch an der Hütte vorbeilief, damit er ihm nicht gegenübertreten mußte. So rannte er auf ihn zu und starrte ihn erwartungsvoll an. Mal äugte schuldbewußt nach allen Seiten. Glücklicherweise war niemand in der Nähe.
»Hast du ihn mitgebracht? Wo ist er?« rief Kiy. Mal zögerte. »Er ist noch im Wald.«
»Wann holst du ihn denn? Heute?« Die Augen des Kleinen glänzten vor Erregung.
»Bald. Wenn es Winter wird.«
Der Junge blickte enttäuscht drein. Winter? Der war ja noch ewig weit weg. »Warum denn?«
Mal überlegte einen Augenblick. »Ich hatte ihn schon. Er lief neben mir her mit einem Strick um den Hals, Kleiner Kiy. Aber dann hat ihn der Wind fortgenommen. Ich konnte nichts dagegen machen.«
»Der Wind?« Kiys Gesicht wurde lang. Er wußte, daß der Wind der älteste aller Götter war. Mal hatte ihm das oft erzählt. »Der Sonnengott ist groß, Kiy, aber der Wind ist älter und größer. Der Wind bläst bei Tag und auch bei Nacht, wenn die Sonne fortgegangen ist. Die Schneejungfern bringen ihn«, fuhr der Onkel fort, »du wirst es sehen.«
Warum mußte er lügen? Er sah zu seinem vertrauensvollen kleinen Neffen hinunter und wußte es sehr genau. Es war, weil alle ihn verachteten und, schlimmer noch, weil er sich vor sich selbst schämte. Er konnte dem Kind nicht die Wahrheit sagen. Ich bin dumm und unnütz, dachte er. Ja, und faul auch. Er hatte an diesem Tag wirklich auf dem Feld arbeiten wollen, aber jetzt mußte er wohl wieder in den Wald fliehen, um der häßlichen Wahrheit über seinen Charakter zu entkommen.
»Ich weiß aber, wo der Wind ihn versteckt hält«, sagte er. »Du weißt es?« Kiy strahlte wieder. »Sage es mir.«
»Tief im Wald, im Land Weißnichtwo.«
»Kann man dorthin kommen?«
»Nur wenn man den Weg kennt.«
»Und du kennst ihn?« Natürlich wußte ein guter Jäger wie sein Onkel sogar den Weg ins Zauberland. »Wo ist der Weg?« fragte Kiy. Mal grinste. »Weit nach Osten. Aber ich kann in einem Tag hinkommen«, brüstete er sich. »Wirst du den Bären holen?« bat der Kleine. »Vielleicht. Irgendwann.« Mal sah ernst drein. »Aber das ist unser Geheimnis. Nicht ein Wort zu irgend jemandem.« Der Junge nickte.
Mal ging weiter und war froh, aus dieser mißlichen Lage herausgekommen zu sein. Vielleicht konnte er in ein paar Tagen eine neue Falle für das Bärenjunge basteln. Er wollte den kleinen Jungen, der ihm vertraute, nicht enttäuschen. Jetzt fühlte er sich besser. Er würde nun doch auf dem Feld arbeiten.
Kiy sah ihm nach, wie er traurig davonging. Er hatte gehört, wie die Frauen über seinen Onkel lachten und wie die Männer auf ihn fluchten. Er wußte, daß sie ihn Faulpelz nannten. Er dachte nach. Konnte man Mal denn wirklich nicht trauen? Kiy sah hinauf in den leeren Morgenhimmel und überlegte, was zu tun sei. Die Frauen bildeten die Form eines breiten V auf dem goldenen Gerstenfeld. In der Mitte ging die große Gestalt von Lebeds Schwiegermutter. Die Frau des Ältesten war im vergangenen Winter gestorben, und nun war sie die älteste Frau im Dorf.
Es war ein heißer Sommertag. Nun, gegen Mittag, hatten sie schon einige Stunden gearbeitet. Jede Frau hatte eine Sichel in der Hand. Langsam machten sie ihren Weg durch das Feld und sangen dabei. Die älteste Frau stimmte eine Weise an, und die übrigen fielen ein.
Lebed war schweißüberströmt, aber sie fühlte sich wohl in dem gleichmäßigen Arbeitsrhythmus. Obwohl sie manchmal geringschätzig behandelt wurde, war doch jede dieser Frauen ihr irgendwie verwandt – eine Ehefrau, die Schwester der Ehefrau, Schwestern ihres Mannes und deren Töchter, Tanten, Nichten dieser Töchter. Das war ihr Volk. Mochten sie sie auch Mordvinin nennen, sie war doch ein Teil von ihnen. Sie besaßen Land und Dorf gemeinsam, nur die Dinge des Hausstandes gehörten dem Mann. Und die Stimme des Ältesten war das Gesetz.
Lebed blickte zufrieden über das Feld. Ein paar hundert Meter entfernt luden ihr Mann und die anderen Männer Heu auf Karren. Auch ihr Bruder war dabei. Neben dem Feld saßen drei der ältesten Frauen. Lebed sah sich nach Kiy um. Gerade noch hatte er bei den Frauen gesessen, aber vielleicht war er zu den Männern gegangen. Die große Göttin der Slawen hatte in dieser Gegend ihre schönste Gestalt angenommen – der Weiler lag dort, wo es den besten Boden der großen Ebene gab: die schwarze Erde. Oben im Norden, unter der Tundra, war der Boden ein mooriger gloj, ungeeignet für Ackerbau. Unter den Wäldern lagen die sandigen Schichten – podzol –, grau unter den nördlichen Laubwäldern, braun in den belaubten Wäldern weiter südlich. Auch auf diesen Böden war der Ertrag verhältnismäßig mager. Erst im Steppengürtel gab es völlig anders gearteten Boden: die schwarze Erde, tschernozem, glänzend, weich, dick und fruchtbar. Und dieser Boden erstreckte sich Hunderte von Meilen von den Westufern des Schwarzen Meeres nach Osten über die Ebene, über die Wolga und weit nach Sibirien hinein. Die Slawen, die am Rand des großen Waldes lebten, brauchten ein Feld nur abzuräumen und konnten dann ständig ernten. Erst nach vielen Jahren war der Boden erschöpft. Dann ließen sie Gras darauf wachsen und räumten das nächste Feld ab. Als die Frauen einmal im Singen innehielten, sah Lebed ihren Bruder auf sich zuschlendern.
»Da kommt der Faulpelz und sucht nach neuer Arbeit«, rief eine der Frauen boshaft. Sogar Lebeds Schwiegermutter lachte. Erstaunt, daß ihr Sohn nicht bei Mal war, fragte Lebed: »Wo ist der Kleine Kiy?«
»Weiß nicht. Hab' ihn den ganzen Morgen nicht gesehen.« Lebed zog die Stirn in Falten. Wo mochte der Junge nur sein? Sie wandte sich nach ihrer Schwiegermutter um: »Darf ich den Kleinen Kiy suchen gehen? Er ist weg.«
Die große Frau sah Lebed und ihren nichtsnutzigen Bruder unbewegt an. Dann schüttelte sie den Kopf. Es gab noch Arbeit. »Geh und frag die alten Frauen, wohin er gegangen ist«, sagte sie leise zu Mal.
»Na schön.« Mal begab sich gemächlich an den Feldrand. Es machte Mal Spaß, die verschiedenen Leute im Dorf zu beobachten. Und es war ihm längst aufgefallen, daß die körperliche Entwicklung der Frauen nach einem gewissen Schema ablief. Zuerst waren sie blaßhäutig, schlank und anmutig wie Rehe – das war die Zeit des Erblühens. Dann nahmen sie zu – zuerst um die Hüften wie seine Schwester, später um die Mitte und an den Beinen. Unaufhaltsam wurden sie immer stämmiger. Zuletzt wurden sie immer kleiner, bis sie im hohen Alter gänzlich verschrumpelten. Und so brachte die alte Frau, die babuschka, mit ihrem sonnenverbrannten, runzeligen Gesicht und ihren leuchtendblauen Augen ihre letzten Jahre hin, bis sie ins Grab sank. Seiner Schwester Lebed würde es genauso ergehen. Immer wenn Mal eine babuschka sah, wurde ihm warm ums Herz.
Drei babuschkas saßen am Feldrand beieinander. Mal lächelte sie freundlich an und sprach mit ihnen. Dann kam er grinsend zurück. »Sie sind alt«, erklärte er, »und ein bißchen durcheinander. Eine glaubt, Kiy ist mit den anderen Kindern ins Dorf gegangen; die zweite meint, er ging zum Fluß, und die dritte denkt, er lief in den Wald.«
Lebed seufzte. Warum sollte Kiy in den Wald gegangen sein? Sie glaubte auch nicht, daß er am Fluß war. Die anderen Kinder spielten in der Hütte unter der Aufsicht eines der Mädchen. Wahrscheinlich war Kiy auch dort. »Geh und sieh nach, ob er im Dorf ist«, sagte sie. Mal war froh, daß er sich entfernen konnte. Als er zurückkam, zeigte er das übliche Lächeln, doch Lebed erkannte seine Unsicherheit. »War Kiy nicht dort?«
»Nein. Sie haben ihn nicht gesehen.«
Seltsam – sie hatte ihn bei den anderen vermutet. Nun fühlte sie Besorgnis. Wieder bat sie ihre Schwiegermutter: »Der Kleine Kiy ist nicht daheim. Ich möchte ihn suchen gehen.« Doch die ältere Frau sah sie mit leichter Verachtung an. »Kinder verschwinden oft. Er wird schon wiederkommen. Soll dein Bruder nach ihm sehen. Er hat ohnehin nichts zu tun.« Lebed senkte traurig den Kopf. »Geh an den Fluß und sieh, ob Kiy dort ist«, sagte sie zu ihrem Bruder. Diesmal bewegte er sich rascher. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Er sah besorgt drein. »Er ist nicht zum Fluß gegangen.«
»Woher weißt du das?«
Mal hatte einen seiner alten Freunde getroffen, der den ganzen Morgen am Flußufer gewesen war. Er hätte den kleinen Jungen sehen müssen. Lebed spürte jähe Furcht. »Ich glaube, Kiy ist in den Wald gegangen«, meinte Mal. Der Wald! Kiy war nie dorthin gegangen, außer mit ihr. Lebed musterte ihren Bruder aus zusammengekniffenen Augen. »Warum sollte er in den Wald gegangen sein?«
»Ich weiß nicht«, war die verlegene Antwort. Offensichtlich log Mal, aber Lebed wußte, daß jetzt nicht der Moment war, ihn ins Verhör zu nehmen. »Welchen Weg könnte er denn genommen haben?«
Mal dachte an die albernen Worte, die er am Morgen zu dem Kleinen gesagt hatte: Weit im Osten. Aber ich kann in einem Tag hinkommen. »Wahrscheinlich ist er nach Osten gegangen.« Er errötete. »Ich weiß nicht, wohin.«
Lebed sah ihren Bruder verächtlich an. »Hier, nimm!« Sie drückte ihm eine Sichel in die Hand. »An die Arbeit!«
»Aber das ist Frauensache«, widersprach er. »Mach schon, Dummkopf!« schrie sie und lief zur Schwiegermutter. »Laß mich gehen und den Kleinen Kiy suchen, mein Bruder hat ihn in den Wald geschickt.«
Die Schwiegermutter blickte hinüber zur Wiese. Die Männer dort hatten die Arbeit beendet. Einige, darunter Lebeds Mann und der Dorfälteste, kamen auf sie zu. »Zeit zum Ausruhen«, rief die alte Frau, dann sagte sie zu Lebed: »Du kannst gehen.« Lebed erzählte ihrem Mann und dem Ältesten rasch, was geschehen war. Der Älteste war ein großer graubärtiger Mann mit kleinen ruhelosen Augen. Er zeigte wenig Interesse, doch das milde Gesicht des Ehemannes wurde von einer leichten Besorgnis überschattet. Er blickte den Ältesten an. »Soll ich mitgehen?«
»Der Junge kommt schon wieder. Er ist sicher nicht weit gegangen. Sie soll ihn allein suchen.« Seine Stimme klang gelangweilt. Lebed sah die Erleichterung, die sich auf dem Gesicht ihres Mannes ausbreitete. Sie verstand. Er hatte sich auch um seine übrigen Ehefrauen und Kinder zu kümmern. »Ich gehe«, sagte sie leise.
Wie angenehm es im Wald war, wie friedlich. Am leuchtendblauen Himmel zogen von Zeit zu Zeit dicke weiße Wolken vorüber, die in der späten Morgensonne glänzten. Sie kamen aus dem Osten über den grünen Wald von den dürren, endlosen Steppen. Am Waldrand, wo der kleine Junge ging, wisperte das hohe Gras im leichten Wind. Ein halbes Dutzend Kühe graste im Schatten. Es war schon einige Zeit vergangen, seit Kiy sich von den alten Frauen fortgeschlichen hatte. Nun ging er erwartungsvoll den ihm vertrauten Weg in den Wald. Er hatte kein bißchen Angst vor Gefahren. Den ganzen Morgen hatte er über das Bärenjunge nachgedacht. Mal wußte, wo es sich aufhielt: Im Zauberreich weit im Osten. Und hatte er nicht gesagt, er könne in einem Tag dorthin kommen? Kiy fühlte, daß sein Onkel nicht dorthin gehen würde. Und je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurde ihm, was er zu tun hatte.
Er kannte ja den Weg. Nach Osten – das bedeutete die Strecke, auf der seine Mutter und die Frauen Pilze sammelten. Zum Ende des Sommers kamen sie auch immer her, um Beeren zu pflücken. Aus dem Osten kamen die weißen Wolken. Kiy wußte nicht, wie weit es war, doch wenn sein Onkel in einem Tag dorthin gelangen konnte, dann konnte er das auch.
Und so war der pummelige kleine Kerl, mit einem weißen Kittel, Stoffgürtel und Bastschuhen bekleidet, unterwegs in die Kiefernwälder. Bis zu den kleinen Schneisen, wo die Frauen Pilze sammelten, war es etwa eine Viertelmeile. Er lachte vor Freude, als er die Stelle erreichte. Er war zwar nie weiter als bis hierher gekommen, aber voller Vertrauen stapfte er vorwärts. Der schmale Pfad führte einen Abhang hinunter, dann wieder hinauf. Kiy fiel auf, daß hier weniger Kiefern zwischen den Eichen und Birken standen, dafür gab es mehr Eschen. Aus den Zweigen wurde er von Eichhörnchen aufmerksam beobachtet. Nach einer Weile lichtete sich das Unterholz. Einige hundert Meter weiter führte der grasbedeckte Pfad nach rechts, dann nach links. Eine Kieferngruppe tauchte auf.
Der Kleine Kiy war begeistert von seinem abenteuerlichen Vorstoß in ein unbekanntes Land und dachte nicht an den Rückweg. Die Bäume standen dicht um ihn. Ein leicht mooriger Geruch wehte ihn an, und plötzlich sah er neben sich einen kleinen dunklen Weiher, ungefähr zehn Meter breit und dreißig Meter lang. Während der Junge ihn betrachtete, kräuselte ein leichter Windstoß die Oberfläche. Wasser schwappte gegen die dunkle Erde und die Farnbüschel am Ufer. Kiy wußte, was das bedeutete: In dem stillen Teich wohnten Dämonen.
Das sagten jedenfalls die Leute in seinem Weiler. Sicher gab es hier auch Wasserjungfern, rusalki, und wenn man sich falsch verhielt, kamen sie heraus und kitzelten einen zu Tode. Der kleine Junge ging leise, den Blick unverwandt aufs Wasser gerichtet, um den gefährlichen Weiher herum und war froh, als der Pfad in eine andere Richtung führte. Bald fand Kiy sich auf einer weiten Lichtung. Hohe Gräser wiegten sich leise im Wind. Welchen Weg sollte er nun nehmen?
Er wartete einige Minuten, bis eine Wolke am Himmel erschien. Daran orientierte er sich. Osten lag also genau vor ihm. Er machte sich wieder auf. Nun gab es keinen Pfad mehr, weder von Menschen noch von Tieren. Kiy hielt verwirrt inne. Sollte er lieber umkehren? Aber was war mit dem Bären? Nein, er wollte nicht aufgeben. Kiy biß die Zähne zusammen und setzte den Weg fort. Manchmal hatte er das Gefühl, er würde beobachtet. Lauerten nicht stumme Gestalten, braune und graue Schatten? Aber obwohl er nach allen Richtungen blickte, konnte er niemanden entdecken. Als er wieder einmal stehenblieb und sich umsah, ob sich etwas bewegte, hörte er plötzlich ein lautes Gekreisch, und als er sich erschrocken umwandte, brach etwas Dunkles aus dem hohen Laubwerk.
»Baba Jaga!« schrie der Junge entsetzt. Der Gedanke lag nahe. Jedes Kind fürchtete die Hexe Baba Jaga. Es hieß, daß sie auf ihrem Mörser durch die Luft ritt, ihre langen Füße und krallenartigen Hände weit von sich gestreckt, bereit, kleine Jungen und Mädchen zu packen, nach Hause zu schleppen und zu kochen. Kiy starrte wie vom Schrecken gelähmt nach oben.
Es war jedoch nur ein Vogel gewesen, der bei seinem Flug durch die dichtbelaubten Äste lärmend mit den Flügeln schlug. Doch es war zuviel für den kleinen Kerl. Er brach in Tränen aus, setzte sich auf den Boden und rief wieder und wieder nach seiner Mutter.
Natürlich hörte sie ihn nicht. Nach und nach beruhigte er sich und hörte auf zu weinen. Es war ja nur ein Vogel gewesen. Was hatte sein Onkel ihm oft gesagt? Der Jäger hat nichts zu fürchten im Wald, wenn er auf der Hut ist. Nur Frauen und Kinder fürchten sich dort. Langsam stand Kiy auf. Zögernd setzte er seinen Weg zwischen den dunklen Bäumen fort. Nach kurzer Zeit bemerkte er, daß zur Linken eine andere Gegend zum Vorschein kam, wo der Wald lichter wurde. Dorthin ging Kiy nun. Es war wärmer, die Bäume wuchsen nicht so hoch. Saftiges Gras gab es und auch Büsche. Er spürte das Sonnenlicht warm auf seinem Gesicht und hörte das Summen der Fliegen. Sein Mut kehrte zurück. Er war so erleichtert, daß er eine Zeitlang nicht aufpaßte, in welche Richtung er ging. Es war genau Mittag. Kiy merkte nicht, daß er hungrig und durstig war und, voller Freude, den dunklen Wäldern entronnen zu sein, auch nicht, wie müde er war. Das Dunkel lag hinter ihm. In der Nähe glänzten Silberbirken in der Sonne auf.
Plötzlich stand er vor einer niedrigen Wand aus Schilf und sah das helle Licht. Es kam aus dem Boden, aus einem Wurzelgeflecht, so hell, daß Kiy blinzeln mußte. Er trat näher heran. Könnte das, so überlegte er, der Weg in eine andere Welt sein? Warum nicht? Das slawische Wort, mit dem die Leute aus dem Weiler die andere Welt bezeichneten, klang wie »Licht«. Und Kiy wußte, daß der Ort, wo der domovoj und die übrigen Ahnen hausten, irgendwo da unten war.
Er sah nun, daß das Licht von einem kleinen Fluß kam, auf dem die Sonne glänzte. Er schlängelte sich durchs Unterholz. Kiy kam eine neue, noch aufregendere Idee. Ich habe es erreicht, dachte er. Das ist bestimmt der Anfang des geheimnisvollen Reiches, das Land Weißnichtwo. Wie sonst sollte diese Stelle so voller Zauber sein?
Kiy folgte dem schmalen Flußlauf. Der Weg führte ihn etwa fünfzig Meter durch dichtes Grün, bis er an zwei niedrige Felsblöcke kam, zwischen denen ein Haselstrauch wuchs. Hier blieb Kiy stehen.
Plötzlich fühlte er seinen Durst. Er kniete am Fluß nieder und schöpfte das Wasser mit den Händen. Wie herrlich frisch es schmeckte!
Um einen besseren Überblick zu bekommen, wollte er auf einen der Felsblöcke klettern. Als er nach oben langte, um Halt zu suchen, spürte er eine Schlange unter seiner Hand. Blitzschnell sprang er herunter. Er zitterte am ganzen Körper. Überall um sich herum vermutete er jetzt Schlangen, selbst vor einem Grasbüschel, das über seinen Fuß strich, erschrak er. Doch die Schlange auf dem Felsen hatte sich nicht bewegt. Kiy sah ihren Schwanz am Felsrand liegen. Er wartete, immer noch zitternd, zwei lange Minuten. Als sich nichts rührte, kletterte er auf den Stein. Die Schlange war tot. Sie lag in sich verschlungen am Felsrand. In ihrer ganzen Länge hätte sie die Größe des Jungen um ein Zwei- oder Dreifaches übertroffen. Ihr Kopf war gespalten und ausgehöhlt. Ob das wohl ein Adler getan hatte? Er sah, daß es eine Giftnatter war – es gab verschiedene Arten in der Gegend –, und obwohl sie tot war, schauderte es ihn.
Er bemerkte aber noch etwas, das ihn beruhigte und ihn sogar zum Lächeln brachte: Die Schlange lag im Schatten eines Haselbusches. »Jetzt also finde ich meinen Bären«, sagte er laut vor sich hin, denn die tote Schlange konnte ihm eines der größten Geheimnisse der Welt verraten: das Geheimnis der Zaubersprache. Alle Pflanzen sprachen sie, sogar Steine und Flüsse, auch Tiere, manchmal. Menschen konnten die Sprache eigentlich nicht hören. Aber es gab doch Gelegenheiten, sie übermittelt zu bekommen. Seine Großmutter hatte ihm das erzählt. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Zaubersprache verstehen zu lernen, Kleiner Kiy. Wenn du eine Schlange aus dem Feuer errettest oder einen Fisch davor bewahrst, gefangen zu werden, können sie dir die Kenntnisse vermitteln. Du kannst auch zur Sonnenwende um Mitternacht im Wald Farnsamen suchen. Wenn du beim Pflügen einen Frosch findest, mußt du ihn in den Mund stecken. Als letztes: Wenn du eine tote Schlange unter einem Haselbusch entdeckst, mußt du sie braten und ihr Herz essen.«
Wenn ich mit den Bäumen und Tieren sprechen könnte, würden sie mir sicher sagen, wo das Bärenkind ist, dachte er. Aber wie sollte er die Schlange braten? Er hatte ja kein Feuer. Vielleicht sollte er sie mit zurück ins Dorf nehmen. Aber nein, er konnte sie nicht allein nach Hause schleppen. Da kam ihm ein ebenso einfacher wie tröstlicher Gedanke: Er würde Onkel Mal holen. Der würde bestimmt kommen und die Schlange für ihn braten. Erleichtert kletterte Kiy vom Felsen herunter und machte sich auf den Heimweg. Die Umgebung kam ihm nach seinem wundersamen Fund weniger verzaubert und viel vertrauter vor. Doch nach wenigen Minuten merkte er, daß er sich verirrt hatte. Die Bäume ragten nun höher auf und standen dichter zusammen. Es gab vereinzelt Findlinge und Büsche, ganz anders als in den Wäldern, die er bisher gesehen hatte. Wieder sah er nach den Wolken, nach denen er sich zuvor gerichtet hatte. Er wußte nicht, daß der Wind seit dem frühen Nachmittag die Richtung geändert hatte.
Kiy geriet in Panik. Kaltes Entsetzen erfaßte ihn. Er blieb stehen, sah nach allen Seiten und erblickte nichts als die endlosen Reihen der hohen Stämme um sich herum: Er hatte sich hoffnungslos verirrt.
Ein paarmal rief er laut nach seiner Mutter, aber sein Rufen verhallte ungehört. Vielleicht würde er nie wieder nach Hause kommen. Er setzte sich mutlos neben einen umgestürzten Baumstamm. Großer Jammer überkam ihn, und er begann zu weinen. Nach einiger Zeit wurden seine Lider schwer, sein Kinn sank auf die Brust, und er schlief ein.
Zuerst dachte er, er träume, als er den kleinen Bären sah. Offenbar war er von seiner Mutter fortgelaufen und tapste nun eilig dahin, um sie wieder einzuholen.
Kiy rieb seine Augen, rappelte sich hoch und starrte hinter dem Bärenjungen her. War es möglich, daß er es endlich doch gefunden hatte? Er konnte sein Glück kaum fassen. Der kleine Bär war immer noch zu sehen – gerade steuerte er auf eine braune Gestalt in etwa hundert Metern Entfernung zu, die die Mutter sein mußte. Der kleine Junge lief hinter den beiden her. Eines wußte er: Er mußte sehen, welchen Weg sie nähmen. So schnell er konnte, folgte er ihnen.
Sie führten ihn durch den Wald, über eine Lichtung in den nächsten Wald. Ab und zu erstarrte er bei dem Gedanken, sie könnten ihn entdecken. Meist blieb er außer Sichtweite und folgte nur den Geräuschen, die sie verursachten. Mehrmals wären sie ihm beinahe entwischt. Als er wieder einmal in völliger Stille stand, sah er zu seiner Rechten einen Sonnenflecken hinter einer Birkengruppe, was auf eine Lichtung hindeutete. Vielleicht waren die Bären dort? Da entdeckte er vor sich am Rand der Lichtung ein Aufleuchten in den Bäumen, ein Glitzern in Rot, Silber und Gold. Was mochte das nur sein? Freude durchzuckte Kiy – natürlich, das mußte es sein! Wer sonst lebte auf einem Baum und leuchtete so? Wer sonst hütete die kostbaren Dinge, nach denen die Menschen suchten, und bestimmt hütete er in diesem Augenblick das Bärenjunge. Wer sonst als das seltenste und schönste aller Waldwunder? Das konnte nur der Feuervogel sein.
Der Feuervogel hatte ein vielfarbiges Gefieder, das noch im Dunkeln glitzerte und glänzte. Wer eine seiner langen Schwanzfedern ausriß, könnte alles haben, was er sich wünschte, hieß es. Der Feuervogel bedeutete Wärme und Glück. Sicher würde der kleine Bär jetzt beim Feuervogel warten.
Kiy ging weiter auf den Glanz zu. Der Vogel schien sich nicht zu bewegen, sandte aber immer noch seine Lichtstrahlen aus; er wartete wohl auf ihn. Mit einem Freudenschrei lief der Junge auf die Lichtung.
Das Gesicht des Reiters, der unter seinem metallenen Helm auf den Jungen hinabsah, war ohne jede Bewegung. Die bunten Edelsteine, die den Rand des Helmes schmückten, funkelten in der Sonne. Der Mann hatte eine große Adlernase. Eine schwarze Haarmähne fiel ihm auf die Schultern. Seine dunklen, mandelförmigen Augen blickten kalt. Von seiner Schulter hing ein langer Bogen herab.
Der kleine Junge stand wie gelähmt vor ihm. Die furchterregende Gestalt saß auf einem Rappen, der im Schatten der Bäume graste. Das Lederzaumzeug war reich verziert. Mit steinernem Gesicht packte der Reiter das Kind.
Von einem hohen blauen Himmel brannte die Sonne an diesem stillen Mittag aufs Land herab. Ein heißer Windhauch streifte Lebed, als sie das goldene Gerstenfeld verließ und sich am Waldrand entlang auf den Weg machte. Vielleicht hatte ihr Sohn nur den Schatten der Bäume gesucht. Beim Gehen rief sie immer wieder zärtlich: »Kiy, mein Körnchen. Kleiner Kiy, mein Täubchen.« Doch Kiy antwortete nicht.
Sie ging zu der Stelle, wo sie sonst Pilze sammelten. Wieder rief sie nach ihm: »Kleiner Kiy. Kiy, mein Entchen.« Aber auch hier war er nicht.
Sie ging weiter zum Weiher. Hoffentlich war Kiy nicht hineingefallen! Doch dafür gab es kein Anzeichen. Laut schallte ihre Stimme durch den Wald. Auch auf der großen Lichtung fand sie ihn nicht. Er konnte doch nicht noch weiter gegangen sein! Sie setzte ihren Weg nach Osten fort. Sie konnte ja nicht ahnen, daß ihr Kind den Wolken nachgegangen war, die eine andere Richtung genommen hatten. Einmal sah sie zwei Wölfe, die wie blaßgraue Schatten an einem Baum standen und sie beobachteten. Einen Augenblick lang setzte ihr Herz aus. Was wäre, wenn Kiy ihnen begegnet wäre? Aber ihr fiel ein, daß Wölfe im Hochsommer selten Menschen angreifen.
Lebed stellte sich ihr Leben ohne ihr Kind vor, die Stelle über dem Ofen, an ihrer Seite, leer. Wie sollte sie diese entsetzliche Leere je wieder füllen! Vielleicht noch ein Kind? Sie hatte die Ängste einer Mutter oft erlebt, doch niemals eine so tiefe Furcht. Sie spürte einen fast unerträglichen Schmerz.
Auf ihrem weiteren Weg nach Osten überlegte sie zwei Dinge: Der Junge konnte nicht viel weiter gewandert sein, und wenn er noch am Leben war, mußte er sich irgendwo hier im Wald verirrt haben. Ein anderer Gedanke war schrecklicher: Sehr bald würde dieser Teil des Waldes enden und die Steppe beginnen. Und wenn der Junge zwischen den hohen Gräsern ging, würde die Sonne auf ihn herunterbrennen, und sie, die Mutter, könnte ihn nicht sehen. Und was war mit den Tieren? Eine Viper, wilde Hunde, ein Iltis könnten ihm draußen in der Steppe begegnen.
Sie beschloß, weiter durch den Wald und dann am Steppenrand entlangzugehen. Wenig später lag die riesige Fläche vor ihr. Die Stille des sommerlichen Mittags schien weit über den Horizont hinauszureichen. Den Übergang zur Steppe bildeten auf etwa hundert Metern kurze Grasbüschel, zerzaustes, teilweise noch grünes Riedgras. Dahinter breitete sich hohes Federgras aus, und in noch größerer Entfernung sah die Ebene bräunlich aus. Von dem Jungen war weder etwas zu hören noch zu sehen. Nun ging Lebed nach Nordosten am Wald entlang. Rechts vor ihr, vielleicht zwei Meilen in die Steppe hinein, erhob sich ein kleiner, doch klar erkennbarer Erdwall: ein kurgan – ein Grab. Lebed ging einige Zeit, doch der kurgan blieb scheinbar gleich weit entfernt. Die Steppe spielt diesen Streich mit dem Licht oft, das wußte Lebed. Hin und wieder machte sie eine Runde durch den Wald auf der Suche nach dem Kleinen Kiy, bevor sie wieder in die gleißende Helligkeit der Steppe hinaustrat. Endlich schien der kurgan näher, und Lebed gelangte in ein lichtes Wäldchen, das sich in die Steppe vorschob. Sie durchquerte es. Das Lager der Reiter lag auf der anderen Seite des Wäldchens. Sie sah es, nicht einmal hundert Schritte entfernt. Und sie sah sofort, daß sie das Kind in ihrer Gewalt hatten. Die fünf Wagen hatten Verdecke aus Borke. Sie standen in einem Kreis. Einige Reiter lagen unter den Wagen. Außerhalb des Kreises saßen zwei Männer auf ihren Pferden, der eine hell-, der andere dunkelhaarig. Der dunkle Krieger sprach zum anderen, offenbar dem Anführer der Expedition: »Wir sollten das Dorf ausfindig machen.«
Der hellhaarige Reiter blickte auf das Kind, das sein Blutsbruder vor sich auf dem mächtigen Rappen festhielt. Der blasse Junge sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Er war ein hübscher kleiner Kerl.
Das Dorf, aus dem der Junge stammte, konnte nicht allzu weit sein. Gegen den sinnlosen Protest der Dorfbewohner würden sie ein paar der jüngeren Männer und Knaben mit sich nehmen. Man würde sie zu Kriegern heranbilden – nicht als Sklaven, sondern als angenommene Mitglieder der Sippe. Zweifellos würde der kleine Junge seiner Sippe eines Tages alle Ehre machen. An diesem heißen Nachmittag jedoch wollte der Mann kein Dorf überfallen. »Ich kam aus einem anderen Grund hierher«, sagte der hellhaarige Reiter leise.
Der Dunkle neigte den Kopf. »Dein Großvater ist nicht alt geworden«, erwiderte er ernst.
Das war das höchste Lob, das die Reiter der Steppe einander aussprechen konnten. Für sie hatte ein alter Mann keine Ehre; tapfere Männer fielen im Kampf, ehe sie alt wurden. Erst kurz zuvor, als die Sonne an jenem Tag den Zenit erreicht hatte, hatte der hellhaarige Krieger auf dem einsamen kurgan in der Steppe gestanden und ein langes Schwert hineingestoßen. Es war das Grab seines Großvaters, der in einem Gefecht gefallen war. Dort steckte das Schwert nun, nur der gekreuzte Griff war von den Wagen aus sichtbar, als leuchtende Erinnerung an eine edle Kriegersippe.
Kiy starrte den Reiter an. Er hatte solche Männer nie zuvor gesehen, aber er hatte von ihnen gehört. Er schloß, daß der Mann auf dem Rappen ein Skythe sein müsse.
»Wenn dich mal ein Skythe fängt«, hatte der Vater ihm eines Tages erzählt, »dann zieht er dir bei lebendigem Leib die Haut ab und macht daraus Zaumzeug für sein Pferd.« Kiy betrachtete ängstlich die Zügel. Sein erster Blick in die kalten Augen des dunklen Kriegers ließ ihn das Schlimmste befürchten, und er nahm an, daß die beiden gerade besprachen, wie sie ihn zerteilen würden. Er zitterte. Doch als er zu dem hellhaarigen Reiter hinsah, schöpfte er ein wenig Hoffnung: Eine so herrliche Gestalt hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen!
Im Gegensatz zu seinem skythischen Blutsbruder trug er das Haar kurz. Sein ebenmäßiges Gesicht war schmal und hatte vornehme, fast zarte Züge. Der Ausdruck war offen und heiter, doch wenn die blaßblauen Augen zornig aufflammten, dann wirkte er furchtbarer noch als der dunkle Skythe. So furchtbar war der Blick der Männer dieses Stammes, daß es mehrere Geschichtsschreiber der Antike vermerkten. Er war nämlich ein Alane, ein Angehöriger des größten Stammes der Sarmaten, eine mächtige, stolze Sippe. Sie nannten sich selbst »die Hellen«, »die Strahlenden«. Seit undenklichen Zeiten waren Reiter von Osten gekommen, aus asiatischen Ländern, die hinter den riesigen Bergketten lagen, die die mächtige Eurasische Ebene nach Süden begrenzte. Über die Pässe von Indien und Persien kamen sie geritten und ergossen sich über das weite Flachland. Aus der Wüste waren sie gekommen, über die Wolga und in die reiche Steppe nördlich des Schwarzen Meeres, in die Gegend des Dnjepr und des Don vorgedrungen. Sie hatten sogar das östliche Mittelmeer und das Balkangebirge oberhalb Griechenlands erreicht.
Zuerst kamen in fernen Zeiten, und zwar in der Eisenzeit, die Kimmerer, ein Reitervolk. Als nächste, um 600 v. Chr. die Skythen, ein indoeuropäischer Volksstamm mit mongolischem Einschlag, die eine iranische Sprache sprachen. Etwa 200 v. Chr. überschwemmte ein weiteres iranisch sprechendes Volk, die Sarmaten, das Land. Sie drängten die Skythen auf ein kleines Gebiet zurück und unterwarfen sie. Sie gaben den Flüssen Don (was »Wasser« bedeutete), Dnjepr und selbst der Donau iranische Namen. Sie waren die Herren der Reiternomaden in der gesamten Steppe. Vom Schwarzen Meer bis zum Waldgürtel fürchteten und bewunderten die Slawen die strahlenden Alanen.
Der Alane sah zum Himmel auf. Bald würden die Männer unter den Wagen ihren Schlaf beenden, es wurde Zeit zum Aufbruch. »Wir kehren heute zurück«, sagte er ruhig. »Du behältst den Jungen.«
Kiy konnte seine Augen nicht von dem großen Krieger wenden. Er trug weiche Lederschuhe und bauschige Seidenhosen. An seiner Seite hingen ein langes Schwert und ein Lasso; ein Dolch, der oben einen Ring hatte, war an seinem Bein befestigt. Sein Kettenhemd und sein spitzer Helm waren auf einem Bündel festgebunden, das, zusammen mit zwei langen Speeren, wie die Alanen sie bei ihren verheerenden Angriffen mit sich führten, bei den Wagen auf dem Boden lag. Um den Hals trug der Mann einen Ring aus Goldfäden, die in goldenen Drachenfiguren endeten. Um die Schultern lag ein wollener Umhang, zusammengehalten von einer großen, juwelenverzierten Spange.
Der Skythe war anders gekleidet. Kiy spürte an seinem Rücken die Gold- und Silberornamente, die auf das lederne Wams des Mannes genäht waren. Um den dunklen Arm, der den Jungen hielt, lag ein Armband, verziert mit phantastischen Göttern und Tieren. Kiy wußte nicht, daß diese wundervolle Arbeit griechisch war. Seine Augen schmerzten von dem Funkeln im Sonnenlicht. An einer Seite trug der Skythe einen Krummsäbel.
Noch großartiger und aufregender fand der zitternde Junge die Pferde. Obwohl er nur wenig von dem tiefschwarzen Pferd unter sich sehen konnte, spürte er doch seine ungeheure Kraft. Und was das Pferd anbetraf, auf dem der Alane saß – es hatte etwas Göttliches. Es war silbergrau, mit schwarzer Mähne, ein schwarzer Streifen zog sich den Rücken entlang bis hin zum schwarzen Schweif. Ein solches Geschöpf, dachte Kiy, wird nicht galoppieren, es wird fliegen.
Damit hatte er im Grunde sogar recht, denn es gab kein schnelleres Pferd im Stamm der Alanen. Das edle Tier hieß Trajan, nach dem römischen Imperator, dessen heldenhafter Ruf bis an die Küsten des Schwarzen Meeres gedrungen war und der selbst von den fernen Sarmaten als Nebengott angenommen worden war. Dreimal hatte das Pferd im Kampf das Leben des Alanen durch seine sichere Gangart gerettet. Als er einmal verwundet war, hatte sich das Pferd, das eingefangen worden war, losgerissen und sich auf die Suche nach seinem Herrn gemacht. Es hieß, der Alane liebe das Tier mehr als seine Frau. Die leichte Brise über der Steppe bewegte die kleinen Goldscheiben, die an Trajans Zügel hingen, und brachte sie zum Klingen. Auf jeder Scheibe war ein tamga eingraviert, ein Dreizack, das Emblem der Sippe.
Auch der Skythe sah zu dem Pferd hinüber. Die Väter der beiden Männer hatten als Söldner für Rom gekämpft. Der Skythe und der Alane waren als Kinder Blutsbrüder geworden. Kein Band war heiliger – es durfte nie zerrissen werden. Lange Jahre waren sie zusammen umhergezogen, hatten Seite an Seite gekämpft. Der Skythe hätte sein Leben für seinen Freund gegeben. Doch immer wenn seine harten Augen auf Trajan ruhten, bekamen sie einen seltsam verträumten Ausdruck. Wenn er nicht mein Bruder wäre, dachte er jetzt, würde ich ihn und hundert andere töten für ein solches Pferd. Laut aber sagte er: »Lasse mich zwei unserer Männer nehmen, mein Bruder, das Dorf überfallen und dir dann folgen. Morgen früh bei Sonnenaufgang habe ich dich eingeholt.« Der Alane streichelte den Hals seines Pferdes liebevoll. »Erbitte dies jetzt nicht von mir, Bruder«, antwortete er. Der Skythe schwieg. Beide Männer wußten, daß der Alane seinem Blutsbruder nichts abschlagen konnte – kein Geschenk, kein Gefallen, kein Opfer könnte je zu groß sein. Doch ein Blutsbruder mißbrauchte sein Recht nicht. Er wußte, wann er Fragen stellen durfte. Und so neigte der dunkle Mann den Kopf, und es war, als hätte er den Überfall auf das Dorf nie vorgeschlagen. Da blickte der Kleine Kiy über die Steppe hin und schrie laut auf: Lebed kam in der Hitze des Tages auf sie zu. Das fahle Gras streifte hart ihre nackten Beine. Sie wußte nicht, ob man sie nun töten würde, aber sie hatte ja nichts zu verlieren. Die beiden Männer sahen ihr unbewegt entgegen.
Kiy versuchte instinktiv, sich loszumachen, doch der Arm des Skythen hielt ihn eisern. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß ihn diese fremden, schrecklichen Reiter seiner Mutter nicht zurückgeben könnten.
»Kleiner Kiy!« rief sie. Er antwortete ihr. Warum nahmen die Reiter denn gar keine Notiz von ihr?
Lebed sah in die harten Augen der beiden, in die dunklen des einen, in die blauen des anderen. Sie war noch etwa zehn Schritte von ihnen entfernt. Da sah sie, daß auch einige Männer und die Pferde bei den Wagen sie neugierig beobachteten. Lebed blieb breitbeinig stehen, verschränkte die Arme und blickte die beiden Reiter an. Der Alane kannte einige slawische Wörter. Er fragte: »Was willst du?«
Lebed sah ihren Sohn auf dem Rappen des Skythen an und antwortete nicht.
»Geh zurück in dein Dorf. Der Junge gehört uns.« Sie sprach immer noch nichts. Schweigen erschien ihr stärker als jedes Wort.
Der Alane ließ den Blick nicht von Lebed. In ein paar Jahren würde dieser Junge ein Krieger sein, vielleicht ein Pferd wie Trajan reiten. Er würde einer von ihnen, den strahlenden Alanen, sein, deren Kampftaktik selbst die Römer kopiert hatten. Hatte nicht kürzlich erst Mark Aurel seine Versuche aufgegeben, sie zu überwältigen? Und waren die Römer nicht froh über ihre Unterstützung gegen die wilden Parther gewesen? »Der Junge gehört uns«, wiederholte er mit fester Stimme.
Kiy sah erst den Alanen, dann seine Mutter an. Ob der Alane vorhatte, ihn zu töten? Wenn es so wäre, dann würde es wohl jetzt geschehen. Und wenn nicht – was würde aus ihm werden? Würde er seine Mutter nie wiedersehen? Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Bei den Wagen kam Bewegung auf. Die Männer rüsteten zum Aufbruch. Der Alane ließ seinen Blick über die Steppe wandern. Lebed blieb, wo sie war.
Der dunkle Skythe fixierte sie. Das Dorf muß wirklich ganz nah sein, dachte er. Er hatte immer noch große Lust, es zu überfallen. Doch er sagte leise: »Machen wir uns auf den Weg, mein Bruder.« Der Alane zögerte. Es würde eine lange Reise werden, und der Junge, den sein Blutsbruder gefangen hatte, sollte bald ein neues Leben beginnen. Außerdem wollte er dem Kleinen etwas Liebes tun, um seine Mutter zu beruhigen. So ritt er näher, nahm ein kleines Amulett von seiner Brust und hängte es dem Kind um den Hals. Es war ein Talisman des Zaubervogels Simrug, dessen Augen in verschiedene Richtungen blicken – eines in die Gegenwart, das andere in die Zukunft. Dann nickte der Alane dem Skythen zu, und die beiden wendeten ihre Pferde.
Kiy wand sich heftig im unnachgiebigen Arm des Skythen und blickte zurück. »Mama!«
Lebed bebte am ganzen Körper. Mit jeder Faser wollte sie auf den Reiter zustürzen, aber sie wußte, daß er sie niederschlagen würde. Sie mußte sich vollkommen still verhalten – vielleicht gab es dann noch Hoffnung.
Die Reiter waren schon etwa dreißig Schritte entfernt. »Mama!« rief der Junge wieder.
Lebed bewegte sich noch immer nicht. Nun waren es siebzig, dann hundert Schritte. Sie sah das kleine runde Gesicht mit den übergroßen Augen; es wirkte blaß über dem dunklen Pferd, das ihr Kind mit sich forttrug.
Die Karren kamen nun auch in Bewegung und rumpelten, von den übrigen Reitern begleitet, hinter ihnen her.
Sie hatte still gebetet, seit sie die Männer erblickt hatte, und sie hörte auch jetzt noch nicht auf damit. Sie rief den Gott der Winde an, den Gott von Donner und Blitz, den Sonnengott, den Gott der Rinder, die Mutter Erde. Sie betete zu allen Göttern, die ihr einfielen. Doch der Himmel blieb leer, blau, und gab ihr keine Antwort. Sie senkte den Kopf in schweigendem Nachgeben. Wenn es ihr Schicksal sein sollte, so würde sie sich fügen.
Als die Männer einen kleinen Hügel hinauf ritten, wandte der Alane sich noch einmal um: Er betrachtete die winzige Gestalt, die hinter ihnen hersah, und plötzlich empfand er Mitleid mit ihr, denn auch er hatte in diesem Jahr seinen einzigen Sohn verloren. Als der Skythe hörte, was sein Blutsbruder zu ihm sprach, leuchteten seine Augen. »Zweimal heute, sagtest du, mein Bruder, ich solle nicht fragen, als ich das Dorf überfallen wollte. Doch da du weißt, daß ich dich liebe, kannst du alles von mir verlangen, es sei dein. Haben wir denn nicht gemeinsam die Spitzen unserer Schwerter in den Blutskelch getaucht? Habe ich nicht bei Wind und Krummsäbel geschworen, dein zu sein in Leben und Tod?« Er reichte den Jungen dem Alanen. »Er gehört dir.« Dann wartete er. Mit einem feinen Lächeln antwortete der Alane: »Mein treuer Bruder, du bist weit gezogen mit mir, um meinen Großvater zu ehren, du hast alles getan, was ich von dir erbat, nicht nur heute, sondern immer. Und nie hast du eine Gegenleistung verlangt. Deshalb bitte ich dich jetzt, verlange ein Geschenk, damit ich dir meine Liebe beweisen kann.« Er wußte, daß es an der Zeit war für eine Gegengabe, und er wußte auch, was es sein würde. »Mein Bruder«, antwortete der Skythe ernst, »ich bitte dich um Trajan.«
»Er sei dein!« Die Worte schmerzten, doch zugleich spürte der Alane Stolz in sich. Ein solches Pferd wegzugeben – das war in der Tat die Geste eines edlen Mannes. »Einen letzten Ritt mit ihm«, sagte der Alane fröhlich. Ohne zu warten, wendete er das Tier, und mit dem kleinen Jungen im Arm setzte er zum Galopp über die Steppe an.
Als Kiy verwirrt um sich sah und sich an der Mähne des herrlichen Tieres festklammerte, sagte der Alane zu ihm in slawischer Sprache: »Höre, kleiner Junge, du kehrst in dein Dorf zurück, aber dein Leben lang wirst du erzählen können: Ich bin auf Trajan geritten, dem edelsten aller Pferde der strahlenden Alanen.« Der kleine Junge hatte nie in seinem Leben eine so freudige Erregung verspürt.
Und Lebed, die ohne Hoffnung über die leere Steppe blickte, sah plötzlich, als wäre Trajan der Gott des Windes selbst, wie das Pferd gleichsam im Flug auf sie zukam. Ohne ein Wort ließ der Alane das Kind vor ihr zu Boden gleiten, wandte sich um und ritt in die schimmernde Steppe hinaus.
Ungläubig drückte Lebed das Kind an sich, das sich fest an sie klammerte. Plötzlich wandte es sich in ihren Armen um, auf die schwindende Gestalt deutend, und rief: »Ich will mit ihnen gehen.«
Lebed zog ihn fester an sich, damit er ihr nicht doch noch genommen würde.
Sie kehrte nicht sofort ins Dorf zurück. Statt dessen ging sie an einen stillen Platz am Fluß. In der Nähe stand eine heilige Eiche. Hier stattete Lebed ihren Dank ab. Sie wollte jetzt allein mit ihrem Kind sein. Nach dem Gebet setzte sie sich in den Schatten und sah Kiy zu, wie er am Wasser spielte.
Gegen Abend erreichten sie ihren heimatlichen Weiler. Das große Feld war abgeräumt. Die Ernte war eingebracht. An einer Ecke des Feldes stand dem Brauch nach eine Garbe Gerste als Gabe für Volos, den Gott des Wohlstands.
Als ersten sah Lebed ihren Mann. Sein Gesicht leuchtete vor Freude, als er den Jungen hoch über seinen Kopf hob; auch die Schwiegermutter kam aus der Hütte und nickte ihr kurz zu. »Ich habe ihn gefunden«, erzählte sie. Dann erzählte sie von den Reitern, und vor dem Dorfältesten mußte sie ihren Bericht wiederholen.
»Wenn sie noch einmal kommen sollten«, sagte der Älteste bedächtig, »ziehen wir weiter nach Norden.« Die kleine Gemeinde war von Süden her an diese Stelle gekommen, damit sie den Reitern der Sippe keinen Tribut zu entrichten brauchten. An diesem Tag jedoch gab es nur noch das Einbringen der Ernte zu feiern. Die Jungen und Mädchen schlugen Purzelbäume im Gras. Vor der Hütte des Ältesten legten Frauen letzte Hand an eine kleine Figur aus Gerstenhalmen. Sie stellte den Gott des Feldes dar und wurde an die Grenze zwischen Feld und Wald getragen. Erst jetzt, als die Dorfbewohner sich versammelten, trat Mal aus seiner Hütte. Er zögerte, als er Lebed und den Jungen sah. Doch Kiy lief auf ihn zu. »Ich habe den Bären gesehen«, rief er. »Ich habe ihn gesehen.« Mal errötete tief.
Als sie alle gemeinsam hinaus aufs Feld zogen, spürte Lebed, daß ihr Mann neben ihr ging. Seine Augen leuchteten voller Begierde wie die eines jungen Mannes, und plötzlich fühlte sie, wie er ihren Arm leicht drückte. Das war das Zeichen. In dieser Nacht würde er zu ihr kommen.
Während die Sonne allmählich hinter den Bäumen verschwand und die Schatten auf dem Feld länger wurden, fingen die Leute an zu singen und zu tanzen. Am Feldrain saßen wieder die drei babuschkas, die zu alt zum Tanzen und Singen waren, und sahen dem Treiben gelassen zu.
Nachdem ein Lied verklungen war, ging Lebed zu Kiy hinüber. Er saß auf dem Boden und dachte an sein Abenteuer in der weiten Steppe.
Da stand ihr Mann plötzlich vor ihr, sagte lächelnd und mit eindeutigem Blick über das Kind hinweg: »Heut nacht.« Nach Anbruch der Dunkelheit begann das Fest in der Hütte des Ältesten. Brennende Kienspäne gaben Licht, und der Pokal, bis zum Rand gefüllt mit schäumendem Met, ging zusammen mit der Schöpfkelle von Hand zu Hand. Und von jedem Gang – Fisch, Hirsebrot und Fleisch – wurde dem domovoj, der, so dachte man, unsichtbar anwesend war, eine Schüssel hingestellt. Nach dem Essen wurde weiter getrunken und getanzt. Kiy sah, wie seine Mutter ein rotes Tamburin nahm und vor seinem Vater tanzte. Er beobachtete das entzückt, bis sein Kopf schließlich auf die Brust sank und er einschlief. Von ihrem eigenen Tanz erregt, verspürte Lebed plötzlich Begierde nach ihrem Mann, doch noch tanzte und trank sie weiter.
Als die Männer und Frauen schließlich trunken in die Nacht hinaustaumelten, erlaubte Lebed ihrem Mann, den Arm um ihre Taille zu legen und sie hinauszuführen. Zwischen den Hütten und am Feld fanden sich die Paare zusammen. Die beiden gingen hinunter zum Fluß, vorbei am hohen Gras, wo die Glühwürmchen in der Dunkelheit aufleuchteten. Sie sahen den Fluß im Mondlicht schimmern. Die Dorfbewohner hatten ihm den Namen gegeben, den sie von den gefürchteten Reitern der Steppe übernommen hatten. Denn die Slawen wußten wohl, daß die größten Alanen sich in ihrer iranischen Sprache als »Rus« bezeichneten, was »licht« oder »leuchtend« bedeutete. Und da für das slawische Ohr dieses Wort einen angenehmen Klang hatte und von der Bedeutung her gut zu Fluß paßte, hatten sie den schimmernden Wasserlauf »Rus« genannt. Der Weiler daneben hieß demnach »Russka«. Die Nacht war still. Das Flüßchen leuchtete, war in Bewegung und bewegte sich doch nicht. Sie legten sich ins Gras. Hoch oben im sommerlichen Sternenhimmel zogen ab und zu blasse Wolken vorüber und warfen das Licht des zunehmenden Mondes zurück; im Wald bewegten sich Bär und Fuchs, Wolf und Feuervogel zwischen den Schatten, und irgendwo in der Weite der Steppe hatten Reiter neben ihrem Feuer ihr Lager aufgeschlagen. Doch das einzige, was Lebed hörte, war das Flüstern im Laub, als der Wind leise übers Land strich.