32. KAPITEL

Die kleinen, vollgestellten Zimmer von früher waren offenen, luftigen Räumen gewichen. Obwohl sich an der Inneneinrichtung des Bungalows viel verändert hatte, gab es nur wenige persönliche Dinge wie die gerahmten Fotografien von Matthew hinter dem karierten Sofa. Im Wohnzimmer stand nur das Notwendigste, doch die Bücherstapel und die Stereoanlage mit Fernseher deuteten darauf hin, dass Cullen sich zumindest ab und zu hier aufhielt.

„Die grundlegenden Veränderungen habe ich bis jetzt geschafft, aber mir scheint immer die Zeit zu fehlen, das Ganze auch zu vollenden.“ Cullen nahm eine Zeitung vom Sofa und bedeutete Liana, Platz zu nehmen. „Ich kann die Klimaanlage anmachen, wenn du willst.“

Sie schüttelte den Kopf. Durch die geöffneten Fenster wehte eine angenehme Brise herein. Zufrieden lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. „Mach dir keine Umstände. Mir geht’s gut.“

„Dann hole ich was zu trinken.“

Als er mit zwei Gläsern Saft zurückkam, meinte er: „Ich habe deine Sachen in Matthews Zimmer gestellt.“

„Matthews Zimmer?“

„Ich habe es für ihn eingerichtet, in der Nähe seines alten Kinderzimmers.“

Er verfiel in Schweigen. Liana wusste, dass er Matthew in diesem Augenblick nicht als Kleinkind vor sich sah, sondern als Teenager. „Die Polizisten halten nach ihm Ausschau, Lee“, sagte er schließlich. „Sie kennen mich und hören auf das, was ich sage. Whitey Pendergast in Derby hat versprochen, all seinen Leuten Bescheid zu sagen, damit sie ihm melden, wenn sie was sehen.“

„Sie müssten schon hier sein, Cullen. Die beiden sind doch schon vor Tagen von Jimiramira aufgebrochen.“

„Wahrscheinlich ist Dad nur irgendwo stehen geblieben, um Matthew etwas zu zeigen. Außerdem sind wir hier nicht in Kalifornien. Vielleicht hatte er einen Achsenbruch und muss ihn erst reparieren. So etwas kann dauern.“

Sie war gerührt, weil er wieder versuchte, sie zu beschützen. „Du hast doch sicher noch zu tun“, meinte sie. „Ich ruhe mich ein bisschen aus, und danach mache ich was zu essen.“ Sie schluckte. „Wegen Sarah, Cullen …?“

Er sah sie an, als hätte er diese Frage erwartet. „Ich weiß, dass Sarah gern mit mir zusammen wäre, aber ich werde den Teufel tun …“

„Ich wollte dich nur fragen, ob wir sie heute zum Essen einladen sollen“, unterbrach Liana.

Nachdem sie eine Stunde geschlafen hatte, wanderte Liana durch das Haus und sah, was Cullen alles verändert hatte. Wände waren eingerissen und ein zusätzlicher Flügel angebaut worden. Zudem eine Terrasse, die nach hinten heraus ging. Wunderschön blühende Bougainvilleen wuchsen an dem weißen Gitterwerk, das die Terrasse einrahmte. Liana fragte sich, mit wem er sich hier wohl vergnügte. Er hatte abgestritten, dass Sarah und er ein Liebespaar waren, doch Cullen war kein Mann, dem es leichtfiel, enthaltsam zu leben.

Jedes Zimmer sah nun anders aus, doch der unverwechselbare Duft nach Meer und tropischen Blumen war gleich geblieben. Auch die atemberaubende Aussicht auf die Mangroven südwestlich, die von Insekten und Vögeln bevölkert waren. Im Nordwesten lag die kleine Bucht Pikuwa Creek, und in der Ferne entdeckte sie ein Segelboot auf dem Meer.

Cullens Schlafzimmer hatte an allen vier Seiten Fenster, als könnte er es selbst im Schlaf nicht ertragen, eingeschlossen zu sein. Auf dem Nachttischchen stand ein gerahmtes Foto von Matthew, als er noch klein war.

Liana sah sich all die Zimmer an in dem Haus, in dem sie als Familie zusammengelebt hatten. Doch ihr Studio mied sie, als könnte sie den Anblick nicht ertragen. Cullen hatte ihr das Studio eingerichtet, ehe sie schwanger wurde. Bevor sie geheiratet hatten und ihre Ehe völlig aus dem Ruder gelaufen war.

Schließlich ging sie weiter in die Küche. Hier hatte sich bisher wenig verändert, aber das überraschte sie nicht bei einem Mann, der sich von Konservendosen ernährte.

Gegen sechs Uhr abends gesellte Cullen sich zu ihr in die Küche. Als er Lianas erwartungsvolles Gesicht sah, meinte er: „Es gibt nicht viel Neues. Winnie hat angerufen und gesagt, dass niemand den Jackeroo gesehen hätte. Aber das war zu erwarten, auf diesen einsamen Straßen. Allerdings hat sie den Vater dieses Mädchens angerufen, das Matthew mit nach Jimiramira gebracht hat.“

Liana erinnerte sich, was Winnie erzählt hatte. „Tricia?“

„Genau. Sie hat ihn gebeten, Tricia zu fragen, ob Matthew ihr irgendetwas gesagt hat, wohin er wollte.“

„Und?“

„Er hat ihr nur erzählt, dass er nach Westaustralien wollte. Also liegen wir mit Pikuwa Creek nicht falsch.“

„Würde dein Vater sich denn die Zeit nehmen, bis hierher zu fahren?“

„Ich weiß es nicht. Es ist zu lange her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Vielleicht merkt er, dass er alt wird, und bedauert, was geschehen ist. Möglicherweise sieht er das als seine letzte Chance, wieder zur Familie zu gehören.“

Liana wandte sich wieder dem Herd zu, während ihr Herz schneller schlug. Doch nicht nur wegen der Neuigkeiten über Matthew, sondern weil sie sich erinnerte, wie oft Cullen früher in der Küchentür gestanden und zugesehen hatte, wie sie das Essen zubereitete. Die Vergangenheit und die Gegenwart verschwammen. Sie war nicht mehr vierundzwanzig. Wie konnte sie da das Gleiche fühlen wie damals?

„Was hältst du von dem Haus?“, fragte Cullen.

„Es gefällt mir. Du hast viel harte Arbeit hineingesteckt.“

„Hast du dir alles angesehen?“

Sie wandte sich vom Herd ab und schüttelte den Kopf. Er schien nicht überrascht. Trotzdem fragte sie sich, ob er ahnte, welchen Raum sie nicht hatte betreten können.

Wenig später saßen sie draußen auf der Terrasse und aßen schweigend. „Du führst jetzt ein ganz anderes Leben“, meinte Cullen schließlich. „Haushälterin. Chauffeur und Limousine. Schickes Apartment und Designerkleider.“

„Ich wollte all das nicht“, sagte Liana. „Aber es gehört nun mal zu meiner Position bei Pacific International. Als ich Australien verließ, hatte ich kein Selbstvertrauen mehr. Aber ich wollte sicherstellen, dass Matthew immer alles hat, was er braucht. Ich bin nicht zurück nach San Francisco wegen einer Limousine und Designerkleidern. All das war mir nie wichtig.“

„Du warst Künstlerin! Du hättest von deinen Arbeiten leben können. War dir der Job so wichtig, Lee?“

„Ich wollte diesen Job“, gab sie zu. „Nach all den Jahren der Unsicherheit wollte ich ein gesichertes Leben führen. Zum ersten Mal hat Thomas mir tatsächlich etwas angeboten, was ich brauchte.“

„Er hat ihn dir angeboten wie die Schlange im Garten Eden, die Eva den Apfel hinhält. Nimm ihn, und du bekommst alles, was du dir immer gewünscht hast.“

„Nein, Cullen, das hier war mein Paradies! Pikuwa Creek. Und du warst derjenige, der mir das Einzige geboten hat, was ich wirklich wollte. Doch als ich danach greifen wollte …“

„Und was wolltest du wirklich?“

„Nur Liebe.“

„Die hattest du.“

„Am Ende war ich mir überhaupt nicht mehr sicher.“

„Du hattest sie. Und du hast sie immer noch.“

Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben. Die letzten Worte hatte er sehr leise ausgesprochen. „Das meinst du nicht so.“

„Doch.“

Liana konnte den Blick nicht abwenden. „Wir haben uns zehn Jahre nicht gesehen.“

„Und in diesen zehn Jahren habe ich genauso hart an mir selbst gearbeitet wie an diesem Haus und Southern Cross. Doch als ich fertig war, wusste ich, dass du immer noch hier bist. Das ist die Wahrheit, die einzige, die zählt.“

Sie brachte kein Wort heraus. Er trat zu ihr und berührte mit traurigem Lächeln ihre Wange. „Ich bitte dich nicht um eine zweite Chance. Und ich erwarte nichts, nur weil ich dir gesagt habe, dass ich dich immer noch liebe.“

Sie schloss die Augen, um seinen Blick, der von großer Vertrautheit sprach, auszuschließen. Doch sie wusste, dass es dafür zu spät war. Deshalb nahm sie seine Hand und legte sie auf ihr Herz, damit er spüren konnte, wie schnell es schlug. „Geht es nicht vielmehr nur darum, dass du mich immer noch mit ein paar wohlgesetzten Worten dazu bringen kannst, dich zu begehren? Ist das nicht die ganze Wahrheit?“

„Es sind armselige Worte! Glaubst du, ich wollte dich lieben? Wie oft habe ich mir gewünscht, dass es aufhört. Wie oft habe ich nachts darum gebetet, mich in eine andere Frau zu verlieben und mit ihr ein neues Leben anzufangen.“

„Dann tu es, Cullen. Damit ich nicht länger in Versuchung geführt werde.“ Als er etwas sagen wollte, schüttelte sie verzweifelt den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Mein Herz würde trotzdem noch genauso schnell schlagen wie jetzt. Ich würde dich immer noch wollen, selbst wenn du verheiratet wärst. Selbst als ich glaubte, dich zu hassen, wollte ich dich.“

Sie sahen sich an. Keiner von ihnen wagte zu atmen. Dann lag sie in seinen Armen, ohne zu wissen, wer den ersten Schritt gemacht hatte. Er drückte sie an seine Brust, und sie presste ihren Körper an seinen, während ihre Hände verlangend über sein Hemd fuhren. Seine Lippen waren fordernd, und sie erwiderte seinen Kuss, kostete von ihm, verlangte nach mehr. Sie wollte mit ihm zu einem Himmel aufsteigen, in dem es nur noch grenzenlose Begierde gab, so wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Kurz dachte sie an Matthew. Doch an diesem Abend konnte sie nichts anderes für ihn tun, als seinen Vater zu lieben.

„Sag jetzt Nein“, flüsterte Cullen an ihren Lippen. „Sonst ist es zu spät.“

Er hob sie in seine Arme, leicht wie eine Feder. Selbst als junger Mann, von Lust entflammt, hatte er sie nie ins Bett getragen. Als hätte er jetzt Angst, sie könnte es sich noch anders überlegen.

Sie zogen sich gegenseitig aus, dann lagen sie auf den weichen Laken, berührten sich, suchten nach dem Vertrauten, dem Neuen.

Als er auf ihr lag, schlang sie die Beine um seine Hüften, während ihre Herzen im gleichen verzweifelten Rhythmus schlugen.

Hatte sie manchmal von ihrem Liebesspiel geträumt, sich im Halbschlaf nach seiner Berührung gesehnt, bot er ihr jetzt so viel mehr, als sie sich je hätte ausmalen können. Wortlos erzählte er ihr, was er fühlte, mit jeder Berührung, jedem Kuss.

Und als sie auf der Welle der höchsten Lust davongetragen wurde, wusste sie, dass er sich all die Jahre genauso verzweifelt nach ihr gesehnt hatte wie sie nach ihm.

Sie aßen im Bett zu Abend, Liana in Cullens Hemd, während er nur nachlässig das Laken über die Hüften gelegt hatte.

Lange hatte Cullen geglaubt, dass er niemals wieder mit Liana schlafen würde. Jetzt konnte er kaum glauben, dass es tatsächlich geschehen war. „Endlich sind wir wieder zusammen, Lee.“

Sie zog die Hand weg, mit der sie ihn eben noch gestreichelt hatte. „Wir sind zusammen im Bett. Das ist etwas anderes.“ Sie schluckte. „Und wir haben nicht aufgepasst.“

„Erspar mir das, ja? Wir haben uns geliebt. Es ist zehn Jahre her, dass wir zusammen im Bett lagen, und es fühlt sich an, als wärst du nie fort gewesen. Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, haben wir vielleicht eben noch ein Baby gemacht. Ist das Zusammensein oder nicht?“

Sie rückte von ihm ab. „Wir hatten immer tollen Sex. Das war nie das Problem.“

Cullen setzte sich auf und lehnte sich gegen die Kissen. „Wir könnten einen Schritt nach dem anderen machen. Und ich würde sagen, dass wir heute Abend schon einen großen Schritt vorangekommen sind. Wenn du im Moment nicht weiter gehen willst, soll es eben so sein.“

„Im Moment …“

„Ich will mehr. Ich will dich zurück, ganz egal, welche Bedingungen du stellst. Ich kann warten, wenn es sein muss, auch Jahre. Du kannst alles von mir verlangen, nur eines nicht: dich wieder aufzugeben.“

Liana wandte den Blick ab. „Du weißt doch gar nicht, was hierbei auf dem Spiel steht.“ Sie schluckte. „Ich kann mein Leben nicht aufgeben, auch wenn es mir nicht gefällt. Wäre ich damals geblieben, hätten wir uns vielleicht gegenseitig zerstört. Vielleicht habe ich das einzig Richtige getan, indem ich gegangen bin.“

Er sah, dass sie noch weiter von ihm abrückte, und verfluchte sich im Stillen. „Jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Zuerst müssen wir Matthew finden, dann regelt sich auch alles andere. Wir haben noch ein ganzes Leben vor uns, um die Dinge klarzustellen. Jetzt sollten wir nur glücklich sein, dass wir einander wiedergefunden haben.“

Sie entzog ihm die Hände, die er immer noch umklammert hatte. „Wenn ich von Kalifornien weggehe, verliere ich alles, was ich mir erarbeitet habe. Mein Haus, meinen Job …“

„Aber du könntest doch hier arbeiten. Das, was du am liebsten machst: Schmuck.“

„Seit ich dich verlassen habe, habe ich nicht ein Stück entworfen.“

Obwohl er es nicht gewusst hatte, hatte er so etwas vermutet. „Und warum nicht?“

„Ich hatte keine Zeit mehr für Hobbys.“ „Hobbys? Du bist eine Künstlerin.“

„Nicht mehr.“

Cullen hörte, dass er nur Falsches sagte, aber er wusste nicht, was das Richtige war. „Ich kann für Matthew und dich sorgen. Du brauchst keinen Job, und du hättest ein Zuhause. Hier, wo du hingehörst.“

„Du vergisst eine Sache.“

Er wusste, dass sie recht hatte, aber er wollte jetzt nicht darüber sprechen. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln. „Bleib heute Nacht hier bei mir, Lee. Keine Versprechen, keine Verpflichtungen. Schlaf nur neben mir.“

Sie nickte, und er zog sie in seine Arme. Sie drehte ihm ihren Rücken zu, und er küsste ihr Haar. „Alles wird gut werden, Lee.“

Liana löste sich nicht von ihm, doch selbst als er in den Schlaf hinüberglitt, spürte er, wie sie dalag, steif und hellwach in seinen Armen.

Im Halbschlaf spürte Liana, wie Cullens Hand ihre Brust berührte. Verlangen durchflutete sie. Sie drehte sich zu ihm, bevor ihr klar wurde, was sie tat. Und dann liebten sie sich mit vertrauter Entspanntheit, wie es nur zwei Liebende können, die eine gemeinsame Geschichte haben.

„Ich liebe dich“, flüsterte er in ihre Haare, ehe er wieder einschlief.

Ihr Körper hatte Befriedigung gefunden, aber in ihrem Herzen tobten zu viele Gefühle, um ihm ins Reich der Träume folgen zu können. Wach lag sie da und betrachtete ihn in der Morgendämmerung. Er war älter, aber noch genauso begehrenswert. Ein Mann, den die schwere Zeit stärker und selbstbewusster gemacht hatte.

Und wer war sie selbst? Eine Frau, die wusste, was sie wollte, aber die zu große Angst hatte, es sich zu nehmen. Mit ihrem Platz bei Pacific International hatte sie Sicherheit gewonnen und eine beneidenswerte Zukunft für ihren Sohn.

Aber was hatte sie verloren? Was würde sie verlieren, wenn sie nicht ihrem Herzen folgte?

Als es anfing, hell zu werden, schlüpfte sie aus dem Bett, magisch angezogen von dem Raum, den sie bis jetzt nicht betreten hatte. Wie erstarrt stand sie wenig später vor ihrem Studio, die Hand am Türknauf.

„Geh doch rein.“

Bei Cullens tiefer Stimme zuckte sie zusammen und ließ die Hand fallen.

„Mach die Tür auf!“, drängte er.

Sie konnte sich nicht weigern, ohne dass er den Respekt vor ihr verlieren würde. Schweigend öffnete sie die Tür und machte das Licht an.

„Ich habe es nicht übers Herz gebracht, all das hier wegzupacken“, sagte er und blieb in der Tür stehen, während Liana hineinging. „Zuerst wollte ich mir hier ein Büro einrichten, aber als es dann so weit war, konnte ich es nicht.“

Das Studio sah genauso aus, wie sie es verlassen hatte. Liana wusste nicht, was sie erwartet hatte. Zehn Jahre waren vergangen, die Technik hatte sich weiterentwickelt. Und trotzdem konnte sie mit all dem, was dieser Raum bot, wunderschönen Schmuck kreieren.

Wenn sie dazu noch in der Lage war.

Sie schüttelte den Kopf, während Trauer die Leere in ihr ausfüllte. „Als ich diese Tür hinter mir geschlossen habe, habe ich mein Talent in diesem Raum zurückgelassen.“

„Bist du sicher?“ Er klang skeptisch.

Sie wusste, dass es so war. Sie hatte Angst vor ihrem Talent, vor dem Hochgefühl, das sie erfasste, wenn sie ihrer inneren Stimme vertraute.

Und sie hatte Angst davor, die Sicherheit der letzten zehn Jahre aufzugeben, die sie davor bewahrt hatte, ins Bodenlose zu stürzen.

Langsam drehte sie sich zu ihm. „Ich will das alles nicht mehr. Ich bin zu alt, und ich habe zu viel Angst.“ Sie schluck te schwer. „Du hast mir die Wahrheit gesagt, jetzt schulde ich dir das Gleiche. Ich muss bei Pacific International bleiben. Sonst verliere ich alles.“

„Was denn? Was verlierst du?“

Liana wandte den Blick ab. „Das Testament meines Vaters ist kompliziert. Aber auf den Punkt gebracht steht dort, dass ich bis zum Lebensende bestens versorgt bin, wenn ich bei Pacific International bleibe. Wenn ich sterbe, erbt Matthew alles. Sollte ich gehen, bekomme ich gar nichts, und Matthew muss sich das Unternehmen mit Graham und seinen Kindern teilen, falls er welche hat.“

„Das ist doch Erpressung.“

„Ja, so nennt man das wohl.“

„Und du hast dich freiwillig gefügt und dein Glück verspielt, das du hier hättest finden können? Bedeutet dir Pacific International denn so viel?“

„Es ist Matthews Zukunft.“

„Du hast eben gesagt, dass er einen nicht geringen Anteil bekommt, auch wenn du gehst. Und Matthew will zu mir nach Pikuwa Creek kommen, um hier zu arbeiten.“

„Matthew weiß noch nicht, was er will. Er ist erst vierzehn.“

„Er weiß genau, was er will. Das zeigt er uns gerade.“ Er trat näher. „Was verschweigst du mir? Geht es um die Köstliche Perle?“

Sie sah sie vor sich, die perfekteste Perle der Welt. Sie schimmerte in ihrer Handfläche und ließ die Luft um sie herum flirren.

Cullen trat noch näher. „Er hat sie auch in seinen Plan mit aufgenommen, stimmt’s?“

Lange stand sie reglos da, ehe sie mit tonloser Stimme erklärte: „Als ich zurück nach San Francisco kam, war Thomas schon krank. Ein paar Monate später ist er dann gestorben. Er hat mich an sein Bett gerufen und mir erklärt, dass er mir die Perle nach seinem Tod nur überlassen würde, wenn ich zustimme, dass Matthew vor seinem achtzehnten Lebensjahr nie zu dir nach Australien darf. Er glaubte, du würdest Matthew dann festhalten, um im Gegenzug die Perle zu bekommen. Er meinte, schließlich wärest du auch nur ein Llewellyn …“

Stumm sah Cullen sie an.

„Seine Anwälte haben dafür gesorgt, dass sein Testament hieb- und stichfest ist. Falls ich zu dir zurückkehre, bevor Matthew achtzehn ist, oder falls Matthew vor seinem achtzehnten Lebensjahr zu Besuch hierherkommt, wird die Perle verkauft. Es geht mir dabei nicht um mich, Cullen. Vielmehr geht es darum, dass Matthew nie die Perle bekommen würde, für die sein Urgroßvater sein Leben verloren hat.“

„Falls du zu mir zurückkommst?“

„Ja“, sagte sie leise.

„Diese verdammte Perle!“, fluchte er. „Weiß Matthew davon?“

Liana hob die Schultern. „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie zutiefst bekümmert. „Aber es wäre möglich.“

„Und wenn wir ihn gefunden haben, kehrst du wieder in dein altes Leben zurück, die Perle sicher im Safe versperrt, als wäre nichts gewesen?“

„Was soll ich denn sonst machen? Das bin ich Matthew schuldig.“

„Was du ihm schuldest, ist Liebe und dass er flügge werden kann, wenn die Zeit gekommen ist. Und du schuldest ihm einen Vater und eine Mutter, die einmal wusste, auf was es wirklich ankommt.“

„Die Perle ist seine Sicherheit. Damit kann er alles machen, was er will …“

„Es geht nicht um Matthew, Lee. Es geht um dich. Das verdammte Ding repräsentiert dein ganzes Leben. Du hast die Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit nie geschafft. Deine Mutter hat dir Freiheit ohne Sicherheit geboten, dein Vater Sicherheit ohne Freiheit.“

„Was hat meine Kindheit mit all dem zu tun?“

„Die Perle ist nur eine Laune der Natur. Aber eins hast du dabei vergessen: Am Ende ist die Perle für den Tod der Auster verantwortlich. So wie sie das Beste in dir zerstören kann.“

Er schwieg einen Moment. „Wenn sie es nicht schon getan hat.“ Damit drehte er sich um und verließ den Raum.

Sie wollte ihn zurückrufen und ihn daran erinnern, dass sie vor zehn Jahren keinen Grund hatte, ihm zu vertrauen. Sie wollte ihm erklären, dass sie sich nie auf Thomas’ Bedingungen eingelassen hätte, hätte sie gewusst, wie sehr er sich verändern würde. Und dass sie entsetzliche Angst hatte, ihrem Sohn nie genug geben zu können.

Aber sie tat es nicht. Weil das, was er gesagt hatte, auch stimmte. Sie hatte Matthew die Perle gesichert, aber er brauchte sehr viel mehr. Einen Vater, der bei ihm war. Und die Integrität seiner Mutter.

Irgendwo im Haus hörte sie ein Telefon klingeln. Und dann war Cullen plötzlich wieder bei ihr.

„Das war die Polizei von Derby.“

Alles andere war in diesem Augenblick vergessen. „Haben sie etwas gehört oder gesehen?“

Ausdruckslos sah er sie an. „Sie haben eine Leiche gefunden. Einen alten Mann namens Pete Carpenter. Jemand in der Stadt hat sich daran erinnert, dass ein älterer Mann und ein Junge gestern nachgefragt haben, wie sie zu Petes Haus kommen. Die Beschreibung passt auf Matthew. Und der Mann hat sich mit seinem Vornamen vorgestellt.“

„Roman …“

Cullen nickte knapp. „Zieh dich an. Wir fahren nach Derby.“