37. Kapitel

Ich trommle unser Team zusammen, damit wir uns richtig von unseren Toten verabschieden können. Es ist ein frischer, klarer Nachmittag, und der Himmel ist so heiter und blau, dass ich schwören könnte, er macht sich über uns lustig.

Wir gehen hinters Haus und stellen uns im Halbkreis um eine kleine Feuergrube auf, sodass wir den Wind im Rücken haben. Ich schiebe den Schnee weg und fache ein kleines Feuer an. Sammy spricht ein paar Worte, so wie an jenem Tag in Stonewall. Durch eine Trauerfeier sollte es einem besser gehen. Sie sollte einem helfen, mit dem Tod abzuschließen und weiterzumachen, aber ich fühle mich nur immer schuldiger, leerer und nicht wert, am Leben zu sein. Ich habe es geschafft, aber die anderen nicht. Das ist der Teil, der mich am stärksten belastet, aber so ist der Tod nun einmal. Er macht sich nichts daraus, ob man ihn verdient hat oder nicht. Er kommt unaufgefordert und nimmt Leben, ohne Rücksicht auf die Gefühle derer, die zurückbleiben. Der Tod ist gierig und egoistisch.

Sammy beendet die Zeremonie, und Bleak, Clipper und Bree gehen bibbernd wieder hinein.

»Bleibst du noch ein wenig hier?«, fragt Sammy.

Ich starre ins Feuer. Plötzlich fühlen sich meine Beine an, als wären sie tief im Boden verwurzelt. »Glaube schon.«

»Toll. Bin gleich wieder da.«

Als er zurückkehrt, umklammert er eine fast leere Glaskanne, in der eine bernsteinfarbene Flüssigkeit herumschwappt. Er trinkt einen Schluck und gibt sie an mich weiter.

»Hab ich aus der Speisekammer gemopst.«

Ich trinke, und das Brennen des Alkohols ist eine willkommene Ablenkung. Wir reichen uns die Kanne ein paarmal hin und her und sehen ins Feuer, als ginge dort etwas Interessantes vor sich.

»Ich habe sie geliebt«, sagt Sammy und bricht damit das Schweigen. Noch nie habe ich ihn vier Wörter so aufrichtig sagen gehört.

»Ich weiß«, sage ich. Denn das hatte ich schon einige Zeit vermutet.

Meine Antwort scheint ihn zu verblüffen, und er verschluckt sich am Alkohol. »War sie ihr irgendwie ähnlich, oder bin ich einer Illusion aufgesessen?«

»Sammy, dieses Duplikat war Emma so ähnlich, dass es mich ängstigt. Es besaß ihre Persönlichkeit, ihre Stimme und ihre Eigenheiten. Ich meine, es hat mich getäuscht, und ich bin mit ihr aufgewachsen.«

Wir trinken beide noch ein paarmal aus der Kanne.

»Ich hoffe, ihr geht es gut«, sagt er. »Ich kann sie nicht beide verlieren. Gott, das kann ich nicht.« Seine Augen werden feucht, und mir wird klar, dass er nicht nur um Emma, sondern auch um Xavier trauert. Die beiden waren beste Freunde und sind immer in Crevice Valley umhergegangen, als wäre der eine der Schatten des anderen. Und Sammy hat diesen Freund durch die Hand eines Dings, das er zu lieben glaubte, sterben gesehen. Vermutlich hegt er genauso widerstreitende Gefühle für Emma wie ich.

»Sie muss noch am Leben sein«, erkläre ich ihm, weil alles andere undenkbar ist. »Irgendwie werden wir sie finden. Ich muss sie finden.«

»Ich fühle genauso. Es ist nur …« Er holt tief Luft und sieht mich direkt an. »Du hast sie nicht verdient, Gray. Nicht, wenn du sie nicht wirklich wahrnimmst, und es ist so verdammt offensichtlich, dass Nox die Einzige ist, die du wirklich ganz und gar siehst.«

»Ich weiß«, sage ich noch einmal. Ich glaube, tief in meinem Inneren habe ich das die ganze Zeit gewusst.

»Das war es?« Sammy wirkt verwirrt. »Ich war mir sicher, dass du wütend auf mich sein würdest, weil ich das gesagt habe.«

»Letzte Woche wäre ich das vielleicht gewesen. Oder sogar noch gestern. Aber jetzt sehe ich auch, was alle anderen schon gewusst haben und was Bree mir seit Ewigkeiten begreiflich zu machen versucht.« Er wirkt immer noch nicht überzeugt. »Ich habe Emma geliebt, seit ich sechs war, Sammy. Es ist irgendwie schwer, sich einzugestehen, dass man jemand Neuen vielleicht mehr liebt als den Menschen, den man immer schon geliebt hat.«

Dazu nickt er und sieht ins Feuer.

Wir trinken weiter, und langsam lässt der Schmerz der Trauer nach. Obwohl die Sonne untergeht, wird mir warm. Weitere Worte wechseln wir nicht. Es ist auch nicht nötig. Vielleicht habe ich in ihm ja jetzt einen Freund. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine echte Freundschaft ist oder etwas, das uns von außen aufgezwungen ist, weil wir so viel zusammen durchgemacht haben. Aber vielleicht kommt es auf die Einzelheiten auch nicht an. Vielleicht ist ein Freund einfach ein Freund.

Als man uns zum Abendessen ins Haus ruft, ist die Kanne leer.

Sylvia kocht die beste Mahlzeit, die wir seit Ewigkeiten gegessen haben – eine Art Eintopf mit Fleisch und frischem Brot. Mein Kopf summt, mein Körper fühlt sich warm an. Ich glaube, dass es Sammy genauso geht. Wir sind nicht aggressiv, überhaupt nicht; aber wir lachen ständig über Dinge, die nicht besonders komisch sind, und lassen dauernd unsere Löffel fallen. Sylvia wirkt ziemlich verärgert, und bald tut mir das Ganze leid. Sie hat unser Team zusammengeflickt, hat uns Betten gegeben und sich bereit erklärt, uns unter ihrem Dach aufzunehmen, bis Adam mit Elijah und Blaine zurückkommt. Daher entschuldige ich mich für unsere Ungezogenheit, worauf Sammy ihr sofort erklärt, wir seien gar nicht unhöflich. Ich versuche ihn gegen den Arm zu boxen und werfe dabei meine Suppenschale um.

»Verdammt, das tut mir schrecklich leid«, sage ich und wische verschüttete Suppe auf.

»Ich mach das«, sagt Sylvia. »Hör einfach auf. Alles unter Kontrolle.«

»Nein, ich helfe Ihnen.« Als ich versuche, schneller zu wischen als sie, bringe ich es fertig, auch noch Sammys Schale umzustoßen, und noch mehr Suppe schwappt auf den Tisch.

»Warum gehst du nicht einfach?«, sagt sie in scharfem Ton zu mir.

Alle am Tisch starren mich wütend an, und ich bin wenigstens so vorausschauend, es nicht auf die Spitze zu treiben. Ich stehe auf und gehe. Eigentlich habe ich nicht vor zu schlafen, aber als ich mich auf mein Bett lege, drückt mich die Last der letzten paar Tage plötzlich unerträglich nieder.

Ich wache davon auf, dass jemand an meine Tür klopft.

Mir ist kalt geworden. Der Alkoholrausch ist verflogen und Schuldgefühlen gewichen, Trauer und Dingen, von denen ich wünschte, ich könnte sie ändern. Draußen ist es dunkel; die Sonne wird erst in vielen Stunden aufgehen. Lange kann ich nicht geschlafen haben.

Es klopft noch einmal, dieses Mal ungeduldiger.

»Herein.«

Bree tritt ein und wirft etwas auf mein Bett. »Ich habe die Ausrüstung sortiert und das hier in Owens Bündel gefunden. Ich dachte, du willst es vielleicht haben.«

Meine Finger legen sich um den Griff eines kleinen Messers in einer Lederscheide. Ich ziehe es aus dem Futteral. Dabei fallen mir ein paar Holzspäne in den Schoß, und plötzlich steht mir die Erinnerung an eine Holzente, mit der Blaine und ich als Kinder gespielt haben, vor Augen. Sie war ein Geschenk von unserem Vater gewesen, von ihm mit dieser Klinge hier geschnitzt. Weathersby ist in den Griff eingeritzt.

Als ich die Luft ausstoße, stockt mir der Atem, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich sehe Bree an. Irgendwie kann ich meinen Mund scheinbar nicht dazu bringen, das Wort danke zu bilden, aber sie muss mich trotzdem gehört haben. »Keine Ursache«, sagt sie.

Ich lasse den Blick über sie schweifen. Den Bogen ihrer Augenbrauen, ihren schlanken Hals und den Umriss ihres Schlüsselbeins, das eine gefühlte Ewigkeit lang unter dicker Kleidung versteckt war. Bree wendet sich zum Gehen, und ich packe ihr Handgelenk und ziehe sie auf mich zu.

Sie runzelt die Stirn. »Ich muss gehen.«

»Nein, musst du nicht.«

»Doch.« Sie windet sich aus meinem Griff.

Ich setze mich auf und schwinge die Beine aus dem Bett. »Ich habe mich geirrt, Bree. Über uns. Über alles. Ich sollte …«

»Ich bin nicht dein Trostpreis«, zischt sie.

Ich brauche lange, um zu begreifen, was sie meint.

»Nein. So ist das nicht. Ich habe immer … ich … dachte nur …« Aber ich weiß, dass ich mich nicht klar ausdrücken kann. Ich schlafe noch halb und bin ganz aufgeregt wegen Owens Messer, und der Drang, Bree in mein Bett zu zerren und sie nackt auszuziehen, ist so stark, dass es schmerzt. Ich will sie überall berühren und ihr mit meinen Lippen alles sagen, was ich mir überlegt habe und an dem ich im Moment so jämmerlich herumstottere.

»Du hast mir erklärt, dass du sie mehr brauchst als mich, Gray. Das hast du an diesem Abend am Strand gemeint. Und was passiert, wenn du sie wiedersiehst? Die echte Emma? Was dann?« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Wenn ich vorher nicht genug für dich war, dann sehe ich nicht, warum sich das jetzt geändert haben sollte.«

Sie geht in Richtung Flur, und ich starre ihr mit offenem Mund nach und versuche immer noch, ihre Worte zu verstehen.

»Aber gemeinsam sind wir stärker«, sage ich. »Das wissen wir beide.«

In der Nähe der Tür bleibt sie stehen. »Ja. Das sind wir.«

»Was ist dann das Problem?«

»Das Problem ist, dass ich dir Dinge erzählt habe, die ich noch nie jemandem anvertraut habe. Ich habe dich an mich herangelassen. Ich habe aufgehört, mich ständig zu schützen, und bin nicht auf der Hut gewesen. Ich habe darauf vertraut, dass du nicht zerstörst, was wir hatten. Und als du es dann getan hast, da habe ich mich so verletzlich gefühlt, so bloßgestellt, so fremd in meiner eigenen Haut, dass ich gar nicht mehr richtig denken konnte. Ich fühle mich immer noch so, und ich hasse es, Gray! Ich hasse es, dass ich deinetwegen so schwach bin.«

Das also hat sie gemeint, als sie in Burg von Schwäche gesprochen hat. Ich glaube, jetzt verstehe ich sie, denn ein Teil von mir ist so mit ihr verbunden, dass ich mich auch schon ihretwegen schwach gefühlt habe. Schwach, wenn ich nicht bei ihr bin. Und wenn wir zusammen sind, fühle ich mich so stark wie niemals sonst. Das will ich ihr sagen, aber die Idee scheint zu komplex für Worte zu sein.

Sie öffnet die Tür.

»Geh nicht«, bringe ich nur heraus. »Bitte!«

Doch Bree schüttelt nur den Kopf.

»Ich habe dir bereits alles gegeben, Gray, und ich werde es nicht wieder tun. Von nun an stehe ich selbst an erster Stelle.«