18. Kapitel
Wir folgen den Spuren des Teams, aber sie sind gefüllt mit vom Wind verwehtem Schnee und oft schwer zu erkennen. Schließlich müssen wir wie die Verrückten immer wieder unsere Richtung korrigieren. Die Luft im Auto wird dick und warm. Sie macht mich müde, aber Bree fährt so aggressiv, dass ich jedes Mal, wenn mir die Augen zufallen, mit einem Ruck wieder hochfahre.
Gegen Mittag entdecken wir dunkle Silhouetten am Horizont.
»Der Orden?«
»Glaube ich nicht«, meint Bree und verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Es sind sechs. Und sieh dir die Gestalt am Ende an, die sie hinter sich herziehen. Das muss das Duplikat sein. Sie sind es, Gray!«
Sie schlägt mit der flachen Hand auf das Steuerrad, worauf das Fahrzeug ein Geräusch von sich gibt, das wie der Schrei einer Gans klingt. Während wir über den schneeglatten Boden rutschen, kurbele ich das Fenster hinunter und strecke meinen halben Rumpf nach draußen. Bree lacht, und ich brülle wie ein Idiot nach den Ameisen am Horizont. Mit einem Arm halte ich mich im Inneren des Autos fest, und mit dem anderen winke ich hektisch. Der Wind weht mir scharf ins Gesicht. Meine Augen beginnen zu tränen. Bald sind die Gestalten keine winzigen Schatten mehr, sondern Menschen mit erkennbaren Zügen. Sie sind alle da: Xavier, Bo, Sammy, Clipper, das Duplikat. Und Emma. Emma, deren Haare im Wind flattern und die dem Auto entgegenläuft, zu mir. Emma, die ihr Bündel fallen lässt, um schneller rennen zu können.
Bree bremst, und der Wagen rutscht in dem flachen Schnee zur Seite weg. Ich ducke mich wieder nach drinnen und reiße dann die Tür auf. Emma ist schon so nahe; und dann liegt sie in meinen Armen und schmiegt sich an mich, und ich umarme sie und küsse sie auf den Scheitel.
»Ich dachte, du …« Staunend und erleichtert sieht sie zu mir auf. Ich höre die anderen kommen. Ihre Schritte knirschen im Schnee. Jemand begrüßt Bree, Hände werden geschüttelt, aber ich kann nur Emma sehen, deren Augen riesig wirken; so groß, dass ich mich darin verliere.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Wegen Craw, wegen allem. Es tut mir so …«
»Ich weiß. Und ich bin darüber hinweg.«
Sie schaut zweifelnd drein.
»Ich war wütend, Emma«, gestehe ich. »Richtig, richtig wütend. Ich habe mich so verraten gefühlt, mir war so übel bei dem Gedanken, dass du mit ihm zusammen warst, und der Zorn war das Einzige, was mir geholfen hat, mich besser zu fühlen. Ich brauchte diesen Groll. Aber dann hat Blaines Duplikat dich fast getötet, ich bin in diesem Schiff beinahe ertrunken, und jetzt möchte ich, dass wir das alles hinter uns lassen, solange wir noch die Chance haben. Bitte. Gleich jetzt. Lass uns alles vergessen, was früher war.«
»Aber ich will nicht alles vergessen«, wendet sie ein. »Nicht die Vögel, nicht den Tag, an dem du mich das Bogenschießen gelehrt hast, oder wie wir die Mauer überklettert haben, oder wie es sich angefühlt hat, als euer Auto über diesen Hügelkamm kam.«
Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren, denn diese Erinnerungen will ich auch nicht verlieren. »Gut. Vergessen wir nur die schlechten Erinnerungen. Die Fehler. Lass uns unsere Fehler vergessen und nach vorn sehen.«
Sie nickt und vergräbt das Gesicht an meiner Brust. Ich drücke sie fester an mich. Und dann spüre ich im Hinterkopf einen besorgten Gedanken auftauchen: Wenn Craw der Fehler ist, den Emma vergessen muss, ist Bree dann meiner?
Aber Bree war kein Fehler. Niemals. Das weiß ich, und das sagt mir mein Bauchgefühl.
Deswegen ist auch alles so verwirrend. Denn das hier ist genau das, was ich mir gewünscht habe, seit ich ein Kind war: Emma. Jetzt halte ich sie in den Armen, nach so vielen Fehltritten, so viel Groll und Fehlern, und ich bin glücklich, so schwindelerregend glücklich, dass ich nicht verstehen kann, wie es möglich ist, gleichzeitig so traurig zu sein.
Bree und ich legen die Ordensuniformen ab und ziehen Ersatzkleidung aus unserer Ausrüstung an. Glücklicherweise hat das Team unsere Bündel mitgenommen, obwohl uns alle für tot gehalten haben. Xavier erklärt, wie das Rettungsboot sie sicher an Land gebracht hat und sie sofort Deckung zwischen den Bäumen gesucht haben.
»Wir hörten jemanden auf uns zustolpern. Dachten, es wäre vielleicht der Orden, aber es war Sammy. Er war blau gefroren und konnte kaum laufen. Wir haben ein Feuer angezündet, aber er hat so furchtbar gezittert, dass wir ihn praktisch selbst ausziehen mussten, bevor wir ihn wieder warm bekommen haben.«
»Oh, das glaube ich«, sagt Bree, und dann senkt sie den Kopf, als wäre ihr der Gedanke an ihre eigenen Bemühungen von heute Nacht peinlich. Sammy legt Emma schützend einen Arm um die Schulter und sieht aus zusammengezogenen Augen finster zwischen Bree und mir hin und her. Ich habe das Gefühl, er hört Worte, die gar nicht ausgesprochen wurden.
Kurz herrscht Schweigen, und als Bo das Wort ergreift, krampft sich alles in mir zusammen.
»Owen?«, fragt er.
Ich schlucke und sehe auf meine Stiefel hinunter.
»Er ist nicht bei uns, und er ist nicht bei ihnen. Wo, glaubst du, kann er dann wohl sein?«, sagt das Duplikat.
Meine Faust fliegt bereits, bevor ich richtig darüber nachdenken kann. Ich höre Jacksons Nase brechen, er fällt in den Schnee, und dann entreiße ich Bree die Handwaffe. Außer mir vor Wut und wie besessen ziele ich damit auf das Duplikat.
»Deinetwegen ist mein Vater tot!«, schreie ich. Ich umklammere die Waffe so fest, dass sie zittert. »Du hast dieses Ordensschiff alarmiert, und jetzt ist er tot!«
»Euer Schiff ist aufgefallen, weil es verdächtig früh aus Bone Harbor ausgelaufen ist«, gibt er zurück. »Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben.«
»Du wertloses, verlogenes …«
»Wir hatten eine Abmachung! Meine Sicherheit für euren Zugang zum Äußeren Ring. Wenn ich euch verrate, dann, nachdem sie erfüllt ist; und nicht auf einem Schiff, auf dem ich nicht weglaufen kann.«
Ich drücke ihm den Lauf der Waffe gegen die Stirn, und ein Ausdruck des Entsetzens huscht über sein Gesicht. »Sag mir, warum ich es nicht tun soll. Nenn mir einen guten Grund.«
Nichts. Kein Flehen. Kein Betteln. Kein Wort zu seiner Verteidigung.
Fast, als wollte er, dass ich den Abzug drücke.
Mein Finger streckt sich danach, aber es ist wieder genauso wie damals in Taem, als ich mich nicht dazu überwinden konnte, einen Ordensmann zu erschießen, obwohl seine Kugel beinahe Bree getötet hätte. Mein Arm beginnt zu zittern, und die ausgestreckte Waffe wird immer schwerer.
Wenn ich Jackson töte, kommt mein Vater dadurch nicht wieder. Und ich will kein weiteres Gesicht zu dem hinzufügen, das ich schon jetzt in meinen Albträumen sehe: Blaines Duplikat mit meinem Pfeil im Kopf.
Nein, wenn ich den Menschen, die ich töte, in meinen Träumen wieder begegnen muss, dann hebe ich diese Kugel für Marco auf.
Mit zitternder Hand lasse ich die Waffe sinken und gebe sie Bree zurück. Das Team steht im Kreis um Jackson und mich herum, sprachlos.
»Vielleicht sollten wir darüber sprechen, wohin wir von hier aus gehen«, meint Bo beiläufig.
»Clipper, willst du Gray deine Theorie mitteilen?«
Der Junge zieht sein Navigationsgerät hervor. Nach der Konfrontation mit Jackson geht mein Puls immer noch schnell, aber ich hole tief Luft und versuche mich auf das zu konzentrieren, was Clipper mir zeigt: die Grenzlinien, die am westlichen Rand des Wassers verlaufen, sich am Ende der Bucht in Richtung Norden fortsetzen und AmOst von AmWest trennen.
»Gruppe A befindet sich ungefähr hier.« Clipper legt den Finger auf ein Stück Land zwischen den beiden »Ohren« des Gewässers. »Wie du auf der Catherine sagtest, sieht es aus, als vermutete der Orden, wir wollten nach AmWest. Sie werden wahrscheinlich die Border Bay hinauffahren und versuchen, uns an der Grenze den Weg abzuschneiden.«
»Diese Theorie geht davon aus, dass das Duplikat ihnen unser Ziel nicht ganz genau mitgeteilt hat, als es uns verraten hat«, meine ich. Jackson starrt mich an.
»Ich glaube, wenn das so wäre, hätte der Orden uns zu Land verfolgt«, sagt Bo. »Und das hat er nicht getan. Dieses Schiff ist wieder aufs Meer hinausgefahren.«
»Aber wird die Grenze nicht streng bewacht?«, fragt Bree. »Ich kann nicht glauben, dass sie annehmen, wir wollten sie zu Fuß überqueren.«
»Ignorant ist das«, meint Sammy. »Wir sollten unseren Glückssternen dafür danken, dass wir es mit Idioten zu tun haben.«
»So dumm sind sie auch nicht. Schließlich haben sie uns aufgespürt und unser Schiff versenkt!«
»Ich sehe schon, dass das eiskalte Wasser deine Laune nicht verbessert hat, Nox«, gibt er zurück. »Und ich dachte, kälter könntest du nicht mehr werden.«
Bree versetzt Sammy einen so festen Stoß, dass er nach hinten taumelt.
»Okay, okay!«, ruft Xavier und tritt zwischen die beiden. »Das ist doch sinnlos. Also, wie ist der Plan?«
Das Team verstummt, und alle drehen sich um und sehen Bo und mich an. Ich werfe ihm einen Hilfe suchenden Blick zu, aber er zuckt nur die Achseln. »Was meinst du, Gray? Es ist deine Mission.«
Aber das ist sie nicht. Es war die Mission meines Vaters. Ich habe die Reise vielleicht vorgeschlagen und mit Bo darüber gesprochen, wie man Ryder dazu überreden kann, sie zu befürworten, aber Owen war verantwortlich. Er war der Anführer. Ich bin bloß ein Junge, dessen Vater tot ist; der über eine Mauer geklettert und in ein Schlamassel geraten ist, das viel größer ist als er selbst.
»Wie lange noch bis zum Äußeren Ring?«, frage ich Clipper.
»Zu Fuß ungefähr drei Tage.« Er mustert das Auto hinter mir. »Aber wenn wir fahren, könnten wir heute Abend dort sein.«
Der Wagen hat nur fünf Sitze, aber die Ladefläche ist geschlossen und groß genug, um Platz zu bieten für drei weitere Teammitglieder.
»Wir fahren«, erkläre ich. »Es wird eng, vor allem mit der ganzen Ausrüstung, aber wenn der Orden annimmt, wir wären zu Fuß unterwegs, dann sollten wir eine so große Strecke wie möglich zurücklegen.«
»Uns geht bald das Benzin aus«, meint Bree warnend. »Wir müssten es bis zu Gruppe A schaffen, aber das wird eine Einbahnstraße.«
»Gut. Dann ist das abgemacht.«
Das Team beginnt die Ausrüstung einzuladen, und Emma drückt sich an mir vorbei, um Jackson zu untersuchen. Er sitzt immer noch im Schnee und hält sich die Nase zu, um die Blutung zu stoppen.
»Schon wieder gebrochen. Und ich habe sie ihm erst auf dem Schiff gerichtet.« Emma dreht sich zu mir um. »Ich weiß, dass du durcheinander bist, Gray, aber du kannst nicht herumlaufen und Mitglieder unseres Teams angreifen.«
»Er gehört nicht zu unserem Team.«
Sie wirft mir einen ungeduldigen Blick zu. »Er ist mit uns unterwegs, und wenn er verletzt ist, muss ich ihn versorgen. Damit gehört er zum Team.«
»Es tut mir trotzdem nicht leid«, sage ich. »Überhaupt nicht.«
Emma seufzt. Sie hält Verbände in der Hand. »Könntest du bitte nachdenken, bevor du handelst? Ich weiß, dass dir das schwerfällt, aber du musst es versuchen. Das kannst du besser.«
Sie klingt auf eine seltsame Weise wie Blaine, enttäuscht, und sie wirft mir meine Unzulänglichkeiten vor. Aber in diesem Moment kann ich es nicht brauchen, mir Vorträge über meine Fehler anzuhören. Mein Vater ist tot, und ich will hören, dass in manchen Situationen Logik und Vernunft keine Rolle spielen und manchmal eine hässliche Handlung notwendig ist. Ich habe das Bedürfnis danach, dass man mir sagt, dass ich kein Versager bin, weil ich impulsiv reagiere. Und vor allem brauche ich jemanden, der sagt: »Es ist schon okay, ich kann es verstehen.« Und wenn eine Person das nicht sagen kann, dann soll sie besser gar nichts sagen.