34. Kapitel

Bree klettert auf den Vorder-, ich auf den Rücksitz. Wir haben die Türen kaum geschlossen, als die ersten Duplikate den äußersten Lichtkreis des Lagerfeuers erreichen. Mein Duplikat ist immer noch an der Spitze. Wir fahren los, und er gerät völlig außer sich. Er schimpft, schreit und tritt auf den Schnee ein. Vor Zorn bäumt er sich auf und reckt die Arme.

Er jagt mir Angst ein. Mehr Angst als alles, was ich je erlebt habe.

Mit einer Handbewegung befiehlt er den anderen Duplikaten, uns zu folgen. Bree lehnt sich aus dem Fenster und feuert auf die Kopien, die unseren Wagen verfolgen, blindlings, furchtlos und unaufhaltsam. Wegen des Schnees ist der Boden glatt, aber Sammy scheint schnell genug zu fahren, denn kurz darauf zieht Bree den Kopf wieder nach drinnen. Obwohl es zu dunkel ist, um irgendetwas richtig zu erkennen, starre ich auf meine Hände.

Wie ist das nur passiert? Ich habe nicht gespürt, dass mit Emma etwas nicht in Ordnung war, und deshalb sind jetzt Bo und Xavier tot. Clipper könnte es ebenso gut sein. Ich habe das Blut gesehen und weiß, dass er nicht mehr lange durchhält.

Und plötzlich scheint alles auf einmal auf mich einzuprasseln. Ich sehe die in Stücke gerissenen Duplikate und rieche ihr brennendes Fleisch. Ich sehe Emma, Isaac und meinen Vater tot vor mir. Ich sehe mein eigenes Duplikat, wie es mit der Waffe auf meine Brust zielt, Jackson die Kehle durchschneidet und hinter unserem fliehenden Auto herschreit. Wie ist es möglich, dass er aus mir geschaffen worden ist? Warum konnte Jackson gegen seine Befehle ankämpfen, und meine Kopie nicht?

Ich schlage mit den Fäusten auf den Sitz vor mir ein, bedecke den Mund mit den Händen und brülle Verwünschungen hinein.

»Nicht jetzt, Gray«, sagt Bree von vorn. Am liebsten würde ich sie anschreien und ihr ihre Gefühlskälte vorwerfen. Ich will sie herzlos nennen, will ihr vorwerfen, sie sei so kaltschnäuzig, dass sie ebenfalls gut ein Duplikat sein könnte. Aber dann sagt sie: »Später. Später, versprochen – aber nicht jetzt«, und mir wird klar, dass ich genau diese Worte brauche. Es ist nicht so, dass ich all das nicht empfinden darf, aber ich darf mich im Moment nicht davon überwältigen lassen.

»Clipper«, sage ich und zucke vom Klang meiner eigenen Stimme zusammen. Sie schwankt, und ich gebe mir Mühe, sie gleichmäßig klingen zu lassen. »Es tut mir leid wegen vorhin. Du hattest recht, den Notruf zu senden und die Exilanten zu rufen. Nur deswegen sind wir noch am Leben.«

Ich erwähne nicht, dass ich mich vor allem entschuldige, weil ich fürchte, später keine Chance mehr dazu zu haben; dass er tot sein wird, wenn ich meine Entschuldigung aufschiebe.

»Recht oder unrecht … meine Strafe … habe ich bekommen«, keucht Clipper. »Granatsplitter in der Schulter.«

»Wir bringen dich zu einem Arzt. Vielleicht in die Stadt, die du auf der anderen Seite von Burg entdeckt hast.« Am liebsten möchte ich sofort nach Westen fahren, zu den Exilanten, aber Clipper hält nicht mehr lange durch. »In welcher Richtung lag sie noch?«

»Norden«, keucht er. »Fahrt nach Norden.«

Und dann verliert er das Bewusstsein.

Eine weitere Explosion erhellt den Himmel über dem Wagen, und ich könnte schwören, dass ich die Duplikate rufen höre, obwohl wir uns so weit entfernt haben, dass das nicht möglich ist. In meinem Schenkel pocht der Schmerz, und mein Hosenbein ist schwer, so sehr hat es sich mit Blut vollgesogen. Ich frage mich, ob ich mein Realitätsgefühl verliere.

»Wir haben den Ausgang erreicht«, verkündet Sammy. Ich sehe den Äußeren Ring vor meinem Fenster vorbeihuschen, doch bevor ich den leisesten Hauch von Erleichterung spüren kann, steigt Sammy auf die Bremse. Wir werden alle nach vorn geschleudert.

»Sammy!«, kreischt Bree. »Was zum …?«

Aber sie hält sich mit keinem weiteren Wort auf, weil es offensichtlich wird, weswegen Sammy gebremst hat.

Vor uns taucht eine Barrikade aus Lichtern auf. Wir sitzen in der Falle. Schon wieder.

Sammy flucht auf Himmel und Hölle, sein Pech und den dummen Zufall und eine Vielzahl anderer Umstände und prügelt dabei vor Zorn auf das Steuer ein. Bree dreht sich zu mir um, und das Licht, das von draußen einfällt, ist so hell, dass ich jeden Millimeter ihrer Miene erkennen kann. Entschlossen gerunzelte Augenbrauen. Sorgenvoller Blick. Ängstlich verzogene Mundwinkel.

»Was jetzt?«, fragt sie.

Aber schon kommen dunkle Gestalten auf das Auto zu und reißen die Türen auf. Clipper lassen sie in Ruhe, aber sie zerren Sammy und Bree von den Vordersitzen und dann Bleak und mich von der Rückbank. Ich starre den Schnee an. Wie weiß er ist, wie frisch und vollkommen und rein. Das ist mit Sicherheit das Ende. Wenn es mein Duplikat ist, das es herbeiführt, dann will ich nicht hinsehen.

Ein Paar Stiefel tritt in mein Blickfeld, aber es ist nicht das typische Ordensmodell. Verblüfft sehe ich auf.

Der Mann, der vor mir steht, trägt eine dicke Hose, die er in die Stiefel gesteckt hat; eine Wollmütze und Handschuhe, die so abgeschnitten sind, dass seine Finger frei bleiben. Und trotz der Eiseskälte hat er sich für einen dicken Pullover statt einer Jacke entschieden. Er sieht ungefähr so alt aus wie mein Vater und hat dunkle Bartschatten am Kinn. Zwei andere – ein Mann und eine Frau – begleiten ihn, und sie sind beide genauso zusammengewürfelt angezogen.

Ich mustere das Gefährt hinter ihnen. Es sieht ähnlich aus wie die Helikopter des Ordens, nur ein wenig verbeulter. Das Emblem an seinem Rumpf ist vertraut: ein blauer Kreis im Inneren eines roten Dreiecks und in der Mitte ein heller, schmuckloser Stern.

Sie sind es. AmWest. Die Leute, deren Vorfahren den Zweiten Bürgerkrieg begonnen und ein Virus auf Millionen unschuldiger Menschen losgelassen haben. Diejenigen, die es heute für angebracht gehalten haben, auf unseren Hilferuf zu reagieren, obwohl ich erst vor wenigen Monaten gesehen habe, wie ihre Flugzeuge Angriffe auf Taem geflogen haben.

»Wer ist hier der Verantwortliche?«, fragt der Mann, der vorn steht. Seine Stimme klingt tief und kratzig, als benutzte er sie nicht oft.

Ich hebe die Hand, und er neigt den Kopf zur Seite und mustert uns. Etwas wie Neugier und Zweifel huschen über seine Miene.

Die Frau zeigt mit einem Messer auf uns. »Sie sehen nicht besonders beeindruckend aus, Adam.«

Der Mann – Adam – antwortet ihr, lässt uns dabei aber nicht aus den Augen. »Das haben wir damals auch nicht.«

In der Ferne explodiert etwas, und plötzlich bin ich wieder im Hier und Jetzt angekommen, und mir ist wieder bewusst, dass die Duplikate uns immer noch verfolgen und Clipper im Auto verblutet.

»Einer aus unserer Gruppe braucht einen Arzt.« Während ich das sage, krampft mein Bein vor Schmerz, und mir wird klar, dass ich ebenfalls einen brauche.

Adam zieht nur die Augenbrauen hoch. »Wie viele seid ihr?«

»Fünf.«

Mit dem Zeigefinger beschreibt er einen kleinen Kreis. »Ihr alle

»Vier haben wir vorhin verloren, einen weiteren im Golf. Bevor wir in See gestochen sind, haben wir uns von einer Person getrennt.«

Adam nickt kaum wahrnehmbar und wartet immer noch, und ich recke frustriert die Hände. »Ich habe in diesem Auto einen Jungen, der dem Tod nahe ist! Wenn Sie noch eine wichtige Frage haben, sagen Sie es einfach. Ich habe keine Zeit für Spielchen, auch wenn Sie uns da hinten die Haut gerettet haben.«

Darüber lächelt Adam; ein breites, strahlendes Lächeln, das Zähne zeigt, die so weiß wie der Schnee sind. »Ich habe es so gemeint, wie ich es gesagt habe. Ihr alle. Eure Leute. Wie viele?«

Bree scheint seine Frage zu verstehen, denn sie antwortet an meiner Stelle. »Bei der letzten Zählung waren wir etwas über zweitausend.«

Adam schürzt die Lippen, als kostete er diese Zahl und fände ihren Geschmack sehr eigentümlich. Was hat Isaac noch gesagt? Wenn man gute Informationen hat – Methoden, um AmOst zu unterminieren –, dann ist AmWest immer bereit, einen Handel oder eine Abmachung zu schließen. Kann das jetzt sein? Dass sie nur auf unseren Notruf reagiert haben, weil sie dachten, wir könnten ihrer Sache nützen, und jetzt verschafft sich Adam einen Überblick über die Stärke der Rebellen, um festzustellen, ob sie richtig vermutet haben?

»Jemand hat uns erzählt, die Exilanten seien die wahren Patrioten«, sage ich, die Worte wiederholend, die ich von Isaac gehört habe.

Adams Blick leuchtet auf.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammenarbeiten. Eure Leute. Unsere Leute. Gemeinsam hätten wir vielleicht mehr Erfolg.«

»Wisst ihr«, meint Adam, und ein leichtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, »denselben Gedanken hatte ich auch, als wir beschlossen haben, auf euren Notruf zu reagieren.«

Gleichzeitig strecken wir die Hände aus, und mit einem kurzen Handschlag gehe ich ein Bündnis mit den Exilanten ein.