3. Kapitel

Ich habe heute Nacht die zweite Wache, was bedeutet, dass ich vielleicht tatsächlich eine Nacht anständigen Schlaf ohne Unterbrechung bekomme. Wir rotieren mit den Wachdiensten, und die mittlere Schicht ist die schlimmste – da fühle ich mich am folgenden Tag niemals ausgeruht.

Draußen ist es kalt und stürmisch. Ich habe die Schreinerwerkstatt im Rücken, die den größten Teil des Windes abhält, und neben mir sitzt Rusty und leistet mir Gesellschaft. Genau wie mein Vater dachte, ist er ein guter Wachhund. Zweimal hört er etwas, bevor ich es wahrnehme, und spitzt die Ohren. Aber beide Male ist es nur ein Waschbär, der gekommen ist, um sich an den Leichen gütlich zu tun.

Auf einer Armbanduhr, die, wie Clipper sagt, mit »Solarzellen« betrieben wird, sehe ich zu, wie die Minuten vergehen. Jeden Tag befestigt er sie unterwegs außen an seinem Bündel, damit die Sonne ihre Oberfläche wärmt und sie die ganze Nacht lang die Zeit anzeigen kann. Als meine Stunde vorüber ist, gehe ich wieder nach drinnen, wo alle dicht gedrängt um die provisorische Feuergrube liegen und fest schlafen. Ich suche Bo, der immer die Schicht nach mir hat, und rüttle ihn wach. Er knurrt, zieht seine Jacke an und geht hinaus zu Rusty.

Ich schleiche mich um das Feuer herum und gleite in meinen Schlafsack. Bree liegt auf meiner einen Seite, mein Vater auf der anderen.

Obwohl mir zum ersten Mal seit Ewigkeiten richtig warm ist, kann ich nicht einschlafen. In der Dunkelheit der Schreinerwerkstatt erscheinen mir alle meine Zweifel noch größer. Gruppe A scheint noch so weit weg zu liegen, und mit jedem Tag, den wir marschieren, bleibt Blaine weiter zurück.

Bree dreht sich um und schmiegt sich an mich, um zusätzliche Wärme zu finden. Obwohl die Schlafsäcke uns trennen, kann ich ihren Puls spüren. Ich lächle, schließe die Augen, und mit einem Mal fällt mir das Einschlafen leicht.

Rustys Kläffen lässt mich mit einem Ruck hochfahren. Mein Vater rennt zur Tür, Sammy und Xavier laufen hinter ihm her. Kurz darauf höre ich Geschrei von draußen und weiß, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.

Ich will mir meine Ausrüstung schnappen, aber ich finde einen Stiefel nicht und bin der Letzte, der hinausrennt. Es ist vielleicht eine Stunde vor Sonnenaufgang und immer noch so dunkel, dass es schwerfällt, etwas zu sehen. In den herumirrenden Lichtbündeln von Taschenlampen erkenne ich Verschiedenes: Rusty, der immer noch wie verrückt bellt, und Aiden, der versucht, ihn zurückzuhalten; meinen Vater, der umgeben vom Rest des Teams dasteht und brüllt; und zwei Fremde, von denen einer eine Waffe auf den Kopf des anderen richtet.

Die Geisel ist jung und mager, und ihre Miene wirkt eher grimmig als verängstigt. Der andere Mann ist Blaine.

Ich komme schlitternd zum Stehen. »Wie hast du … Wer ist …« Ich habe eine Million Fragen, und sie gehen alle so durcheinander, dass ich sie nicht vernünftig über die Lippen bringe.

»Hey, Gray«, sagt Blaine und strahlt in meine Richtung.

Sammy reißt sein Gewehr hoch und richtet es auf die Geisel. »Was zum Teufel geht hier vor? Jemand sollte das erklären, sonst erschieße ich euch beide.«

Rusty kläfft heftig.

»Der Einzige, den du erschießen solltest, ist diese Ratte«, sagt Blaine und drückt seine Handwaffe fester gegen den Kopf des Fremden.

»Niemand erschießt irgendjemanden«, schreit mein Vater. »Blaine, nimm die Waffe runter.«

Mein Bruder beißt die Zähne zusammen. »Kann ich nicht machen, Pa.«

»Wieso?«

Rusty stemmt sich jaulend gegen das Seil, mit dem er angebunden ist.

»Weil dieser Abschaum uns in der Sekunde, in der ich das tue, angreifen wird.«

»Das stimmt nicht«, erklärt der Fremde. »Ich würde nie …«

Blaine schlägt ihm seine Waffe über den Hinterkopf. »Du verlogenes Stück Dreck!«

Ich glaube, ich habe Blaine noch nie so ärgerlich, so außer sich vor Wut gesehen. Das macht mir so große Angst vor dem Fremden, den er festhält, wie ich sie noch nie im Leben vor jemandem gehabt habe.

Rusty bellt weiter.

»Könnte mal jemand diesen Hund zum Schweigen bringen?«, faucht mein Vater.

Emma nimmt Aiden und hilft ihm, Rusty zurück in die Schreinerei zu bringen. Im Gehen wirft sie einen ängstlichen Blick über die Schulter. Mein Vater starrt Blaine und den Fremden noch einen Moment länger aus zusammengekniffenen Augen an. Dann hebt er sein Gewehr so schnell, dass ich es kaum verfolgen kann.

Blaine stößt den Fremden wie einen Schild vor sich. »Was machst du da?«

»Was jeder Hauptmann tun würde, wenn zwei Männer ohne Erklärung in sein Lager marschieren: Ich schütze mein Team. Dir muss doch klar sein, dass das hier sehr merkwürdig aussieht, Blaine.«

Mein Bruder hält sich weiter im Schutz seiner Geisel. »Ich habe das Hauptquartier nur drei Tage nach euch verlassen«, erklärt er, »um die Zeit, als einer der Unseren vom Orden gefangen genommen wurde. Ryder wollte Elijah auf eure Spur setzen, für den Fall, dass der Orden von unserem Mann Einzelheiten über die Mission erpresst und beschließt, euch einen seiner Leute nachzuschicken. Im Grunde wollte Ryder ein mögliches Ordensmitglied, das euch beschattet, wiederum von einem der Rebellen beschatten lassen.

Ich habe Ryder immer wieder gesagt, das sei nicht richtig, ich sei gesund genug und sollte bei dem Team sein, bei dir und Gray. Meiner Familie. Ryder hat mich einem letzten Ausdauertest unterzogen – den ich bestanden habe – und war dann einverstanden damit, mich an Elijahs Stelle gehen zu lassen. Ich bin über fünfundzwanzig Meilen am Tag marschiert, um euch einzuholen.«

»Was bedeutet …« Mit weit aufgerissenen Augen sieht Owen den Fremden vor Blaine an.

»Ryder hatte recht. Frank hat unserem Mann Einzelheiten über die Mission entlockt, und dieser Kerl …« – Blaine schüttelt die Geisel – »gehört zum Orden. Ich war heute schon eine Stunde unterwegs und habe ihn knapp außerhalb der Stadtgrenze von Stonewall dabei erwischt, wie er gerade seine Handwaffe geladen hat.« Blaine wirft Xavier die zusätzliche Waffe zu.

»Ist er der einzige Spion?«, will mein Vater wissen.

»Ich glaube schon. Jedenfalls ist er der einzige Mensch, auf den ich zwischen dem Hauptquartier und hier getroffen bin.«

»Wie heißt du?«, fragt mein Vater den Gefangenen, dessen Haut im ersten Tageslicht blass wirkt. Seine Haare sind dunkel und nach der typischen Art des Ordens kurz geschoren. Er sieht aus, als hätte er ungefähr mein Alter, und er ist vielleicht genauso waghalsig wie ich, denn statt die Frage meines Vaters zu beantworten, spuckt er ihm auf die Stiefel.

Blaine schüttelt ihn heftig.

»Jackson«, knurrt der Spion des Ordens. »Mein Name ist Jackson.«

Mein Vater hebt seine Waffe. »Also, Jackson. Irgendwelche letzten Worte?«

»Sie können mich nicht töten.«

»Das ist eine interessante Theorie. Vielleicht sollten wir sie auf die Probe stellen.«

»Oh, sterben würde ich schon«, sagt er und lächelt verschlagen, »aber Frank wird davon erfahren. Sobald er mein Peilsignal verliert, wird er jemanden als Ersatz für mich schicken. Es wäre besser für Sie, mich bei sich zu behalten, damit er glaubt, dass ich Ihrer Gruppe immer noch folge.«

Ich runzle die Stirn, denn er hat recht. Frank setzt allen seinen Soldaten, Ordensmitgliedern und geraubten Jungen gleichermaßen Peilsender ein. Einer steckte im letzten Sommer ohne mein Wissen auch unter meiner Haut. Clipper hat ihn, seinem Namen getreu, nur Sekunden nachdem ich ihn kennengelernt hatte, entfernt. Sobald ich das Gerät los war, hielt Frank mich für tot. Jedenfalls, bis ich zusammen mit Harvey und Bree nach Taem kam, um den Impfstoff zu stehlen.

»Ich glaube, wir riskieren es. Dein Tod verschafft uns einen Vorsprung. Einen großen.« Owens Finger bewegt sich auf den Abzug zu, und Panik breitet sich über Jacksons Miene.

»Okay. Warten Sie, warten Sie«, stottert er. »Reden wir kurz darüber. Ich habe keine Ahnung, worin Ihre Mission besteht; das konnte der Orden aus dem Kerl, den wir gefangen genommen haben, nicht herausbringen. Wir wissen nur, dass Sie nach Westen gehen, daher hat man mich geschickt, um mich an Sie zu hängen, die Einzelheiten Ihrer Mission zu erfahren und dabei zu versuchen, den Standort Ihres Hauptquartiers herauszufinden. Aber vergessen wir das alles einmal kurz und überlegen, wie sinnvoll es für Sie sein könnte, auf dieser Reise ein Ordensmitglied bei sich zu haben. Ja? Oder?« Er sieht in die Runde, um festzustellen, ob jemand interessiert ist. »Ich kann mich in allen Städten, in denen der Orden patrouilliert, für Sie einsetzen und Ihnen helfen, Franks Überwachung auszuweichen. Sie können mir sogar den Peilsender entfernen, wenn Sie bereit sind, das Risiko einzugehen, dass man der Gruppe jemand anders nachschickt. Aber töten Sie mich nicht. Okay? Bitte, töten Sie mich nicht!«

Die Gruppenmitglieder sehen einander an. Alle sind verblüfft darüber, dass Jackson so schnell einknickt.

»Es ist ein Zeichen von Schwäche«, sagt Owen, der immer noch die Waffe im Anschlag hält, »seine eigenen Leute so schnell zu verraten.«

»Nur wenn man glaubt, dass das eigene Leben weniger wert ist als der Erfolg der Mission«, gibt der Spion zurück. »Und das tue ich nicht. Mein eigenes Leben ist mir wichtiger, als Frank die Information zu beschaffen, warum eine Handvoll Rebellen einen Wanderausflug macht. Manch einer würde behaupten, dass Selbsterhaltungstrieb das genaue Gegenteil von Feigheit ist.« Er lächelt. Von einem Ohr zum anderen.

»Schlag ihn bewusstlos«, sagt Owen zu Blaine.

Dieses Mal schlägt Blaine mit seiner Waffe fester auf Jackson ein, sodass der Gefangene auf dem Boden zusammenbricht. Xavier läuft herbei, um ihn an Händen und Füßen zu fesseln, aber mein Vater zielt weiter mit der Waffe auf Blaine, und sein Finger befindet sich gefährlich nahe am Abzug.

»Jetzt steck diese Waffe ins Holster«, befiehlt er.

Blaine gehorcht, aber trotzdem nimmt Owen sein Gewehr nicht herunter. »Ich brauche einen Beweis«, erklärt er und stößt mit dem Lauf in Blaines Richtung. »Entweder das, oder ich muss diesen Abzug drücken.«

Mein Bruder wirkt fassungslos. »Was soll ich dir noch sagen? Er hat doch zugegeben, dass er zum Orden gehört!«

»Ja, und jetzt brauche ich einen Beweis dafür, dass du nicht auch zu diesen Leuten gehörst.«

Ich weiß, worauf er hinauswill, aber es kann nicht wahr sein. Ich würde das erkennen. Dies ist schließlich Blaine – verängstigt, wütend auf einen Spion, der uns angreifen wollte –, aber er ist es.

»Pa«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu. »Das ist Blaine. Er muss es sein. Er hat von dem Ausdauertest gesprochen und von Ryder, und …«

»Die Rebellen sind schon früher von Duplikaten getäuscht worden. Wir leben in gefährlichen Zeiten und können nicht vorsichtig genug sein.« Aus zusammengezogenen Augen sieht er wieder Blaine an. »Dein Bruder hat ein paar Narben. Beschreibe sie.«

Blaine unterdrückt kurz ein Auflachen. »Ein paar? Es sind mehr als das.«

»Und wenn du wirklich mein Sohn bist, dann kennst du Gray besser als jeder andere auf der Welt, und die Frage ist kein Problem.«

Blaine sieht mich an. Seine blauen Augen, das Einzige, was uns voneinander unterscheidet, wirken in dem schlechten Licht so farblos, dass er mein Spiegelbild sein könnte. Ich nicke ihm aufmunternd zu, und er beginnt meine Narben aufzuzählen. Eine Schramme am Oberarm von einem schlecht gezielten Pfeil, als wir Kinder waren – seine Schuld. Die Linie quer über meine Handfläche von einem abgerutschten Schnitzmesser – meine eigene Schuld. Eine Narbe auf der Brust, wo ich auf einen gezackten Ast gefallen bin, die Stiche, mit denen ich nach einer Prügelei mit Chalice am Kinn genäht worden bin, und die Linie an meinem Hals, wo Clipper mir den Peilsender entfernt hat.

»Und an seinem Unterarm«, sagt Blaine. »Verbrennungen, die er sich auf dem Platz in Taem geholt hat und die schlecht verheilt sind.«

Ich berühre meinen Arm und erinnere mich an meine Reise nach Taem im Herbst. Bess hatte mit einer Gummikugel auf mich geschossen, damit ich Harvey nicht hinzurichten brauchte, wie Frank es befohlen hatte, und ich hatte bewegungsunfähig auf der Bühne gelegen, bis Bo mich weggezerrt und in Sicherheit gebracht hat. Mein Vater muss darauf gewartet haben, dass Blaine über diese Narbe spricht – eine detaillierte Schilderung einer Verletzung, die in der Sicherheit von Crevice Valley, weit fort von den Augen des Ordens, geheilt ist –, denn er lässt endlich das Gewehr sinken.

Owen zieht den Kragen von Blaines Jacke zurück, sodass eine kleine, schmale Narbe sichtbar wird. Clippers Werk, entstanden an demselben Tag, an dem er auch meinen Peilsender entfernt hat. Dann legt er Blaine die Hände ums Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich dich so verhören musste.«

Blaine blinzelt. »Wie, ›so‹?«

Owen zieht ihn in eine schnelle Umarmung, dreht sich dann um und wendet sich an den Rest von uns. »Der Spion hat ein gutes Argument vorgebracht. Jemanden zu haben, der uns deckt, falls wir über den Orden stolpern – das gibt uns einen Vorteil, den wir nicht ausschlagen können. Und solange wir sein Leben als Druckmittel haben, müsste er loyal bleiben. Sobald wir seinen Peilsender entfernt haben, wird Frank allerdings jemand anders schicken, um ihn zu ersetzen. Deswegen wollen wir schnell essen und wieder aufbrechen.«

Die Gruppe löst sich auf, um zu frühstücken, und ich bleibe mit Blaine allein, den ich immer noch ungläubig anstarre.

»Du bist wirklich hier«, sage ich.

Er lächelt mir zu. »Ich muss doch auf dich aufpassen, oder? Ohne mich kämst du doch keinen Tag lang zurecht.«

Das Gleiche hat er gesagt, als er aus dem Koma aufwachte. Es ist ein Scherz, den er immer wieder macht, denn wir sind zwar beide vollkommen eigenständig, aber wir wissen auch, dass wir zusammen besser sind.

»Du überschätzt dich«, sage ich, ziehe ihn aber trotzdem in eine Umarmung. Seine Arme wirken steif, sein Griff ist schwach. Als ich zurücktrete, erkenne ich, wie erschöpft er aussieht. »Bist du okay?«

»Ja. Nur müde, und Muskelkater hab ich. Und seit ein paar Tagen hab ich ein Brennen in der Brust. Vielleicht hatte Ryder ja die ganze Zeit recht, und ich war noch nicht so weit.«

»Das warst du ganz bestimmt nicht.«

Er knufft mich, und ich stolpere lachend durch den flachen Schnee. »Hör sofort auf damit«, sagt er. »Ich bin dein großer Bruder.«

»Du bist nur ein paar Minuten älter, Blaine. Finde dich damit ab.«

»Niemals.« Er lächelt, und dabei tritt wieder etwas Licht in seine Augen. Kurz sehen sie so aus wie in meiner Erinnerung – strahlend und blauer als ein Sommerhimmel. »Hat nicht jemand etwas von Essen gesagt?«

»Es gibt nur Grütze.«

Nach seiner Miene hätte man meinen können, ich hätte Eier mit Speck gesagt.