29. Kapitel

Brees Lächeln weicht augenblicklich einem wütenden Knurren. Sie springt auf, und der Wachposten hinter ihr packt sie an den Ellbogen.

»Soll das ein Scherz sein?«, frage ich und bemühe mich, ruhig zu klingen.

Titus wirkt beleidigt. »Ich scherze nie. Ihr habt eure Arbeit gemacht, und jetzt geht ihr, genau wie vereinbart.«

»Wir haben uns die Hand darauf gegeben, mit Blut! Die Tür gegen mein Team.«

»Ach, sieh mal, das ist das Problem«, sagt er kopfschüttelnd. »Wir hab’n nie ’ne Abmachung für dein Team getroffen. Ich hab gesagt, wenn der Junge die Tür öffnet, sind deine Männer frei. Auf diese Worte hab’n wir uns die Hand gegeben.«

»Ich … du …« Aber ich bekomme nichts anderes heraus, weil ich das Gefühl habe, meine Lungen zerspringen gleich. Seine Formulierung ist mir zu dem Zeitpunkt nicht aufgefallen, und selbst wenn, hätte ich sie vielleicht nicht so wörtlich genommen. Es hat ja keinen Sinn, eine Abmachung einzugehen, die die Unversehrtheit nur eines Teils des Teams sicherstellt.

»Warum?«, bringe ich schließlich heraus.

»Warum nich’? Eine gesunde Frau im gebärfähigen Alter? Wir wär’n ja dumm, so was Kostbares einfach davonspazieren zu lassen. Das wär wirklich eine Verschwendung.«

Kein Wunder, dass sie sie getrennt von uns gefangen gehalten haben und Krankenschwestern geschickt haben, um sie zu untersuchen. Ich kann jetzt nicht einfach gehen und Bree zurücklassen, damit sie an die Arbeit geschickt wird. Titus muss das wissen. Ich hole tief Luft und sage mir, dass alles gut wird, wenn ich nur vernünftig mit ihm reden kann.

»Du weißt, dass ich damit nicht einverstanden gewesen wäre.«

»Nich’ meine Schuld, dass du nich’ genau auf meine Worte geachtet hast.«

»Das kannst du nicht machen«, versuche ich es noch einmal.

»Doch, ich kann.« Er lächelt und lässt mich nicht aus den Augen, während er Brees Wächter einen Wink gibt. »Bringt sie in die Zuchthalle. Jemand soll sie in ihre neue Aufgabe einführen.«

Bree schreit, als sie zur Tür gezerrt wird; ein einziges Wort – nein! –, und es ist die ungewöhnlich schrille, sich überschlagende Stimme, die mich dazu bringt, alle Vernunft zu vergessen.

Ich stürze mich auf Titus. Er zieht sein Messer, aber ich kümmere mich nicht um die Klinge. Ich kümmere mich nur um Bree, weil ich im Bruchteil einer Sekunde eine Million Wahrheiten erkenne: Ich brauche sie, und ich vertraue ihr, und ich glaube, ich liebe sie. Ich habe sie aus einem untergehenden Schiff gerettet, und sie versteht mich fast so gut wie mein Bruder, und sie kann die Rufe von Seetauchern mit den Händen nachmachen, und sie ist stur und verrückt und unbesonnen und echt. Und selbst wenn ich mein verdammtes Leben dafür aufs Spiel setzen muss, ich werde Burg nicht ohne Bree verlassen.

Titus und ich krachen zu Boden. Ich höre, wie Sammy sich hinter mir in den Kampf stürzt und auf Bruno oder Kaz losgeht. Ich glaube, sogar Clipper macht mit, aber ich wage nicht, den Kopf zu drehen, um nachzusehen. Ich reiße Titus das Messer aus der Hand und werfe es beiseite. Ich möchte nicht mit dem Messer gegen ihn antreten, weil das zu einfach wäre. Ich will jedes bisschen Schmerz spüren, das ich ihm zufüge. Ich verliere den Überblick darüber, wie oft ich zugeschlagen habe. Meine Hände sind blutig, meine Knöchel schmerzen. Titus ist kurz davor, ohnmächtig zu werden, als jemand – Bruno oder Kaz – mich von hinten niederschlägt. Vor mir verschwimmt alles. Mit pochendem Schädel gehe ich in die Knie.

Ich sehe mich nach Titus um und stelle fest, dass er schon wieder steht und sich sein Messer zurückholt. In einer einzigen Bewegung fährt er herum und tritt zu. Mein Kopf wird zurückgeschleudert. Die Welt ist blendend weiß. Und dann ist Titus über mir, drückt die Knie auf meine Brust und hält mir die Klinge direkt vor die Augen. Ich spucke ihn an. Er reißt mich an meinem Hemd hoch und schleudert mich zu Boden.

»Irgendwelche letzt’n Worte, bevor ich dich abschlachte, Schnitter?« Blut quillt aus Titus’ Nase, seine Zähne sind blutverschmiert, aber in diesem Moment sieht er überglücklich aus. Stolz. Hinter ihm drückt Kaz Sammy gegen die Wand, und Clipper ist benommen zu Boden gesunken. Bruno ragt hoch über mir auf und sieht belustigt zu.

In der Ecke erhasche ich einen Blick auf Jackson. Er steht einfach da und sieht emotionslos zu, wie wir totgeschlagen werden. Ich wusste, dass er nicht in der Lage sein würde, dagegen anzukämpfen. Es war Wunschdenken, zu glauben, ein Duplikat könnte jemals mein Verbündeter sein.

Aber andererseits …

Jackson hat die Hände zu Fäusten geballt. Zitternd krampfen sie sich an seiner Seite zusammen. Sein Mund zuckt. Sein Blick huscht zwischen uns allen hin und her, als wollte er etwas tun, könnte den Mut dazu aber nicht aufbringen.

»Jetzt wäre der richtige Moment, Jackson«, sage ich. »Der Augenblick, über den wir gesprochen haben.«

Titus verzieht das Gesicht. Die scheinbar seltsame Wahl meiner letzten Worte verwirrt ihn. Dann zuckt er die Achseln und kommt mit der Klinge näher.

Jackson erwacht zum Leben. Er zerrt Titus von meiner Brust, als hätte er kein Gewicht, und stößt ihm das Knie in den Leib. Titus hustet, krümmt sich und lässt das Messer fallen. Blitzschnell liegt es in Jacksons Hand, und ich habe mich noch nicht aufgerappelt, als Jackson damit schon Titus’ Kehle durchschnitten hat.

»Nicht«, bettelt Bruno, als Jackson auf ihn losgeht. »Bitte!«

Aber das Duplikat greift trotzdem an. Jackson schlägt Bruno mit dem Kopf gegen die Wand, und bevor der Wachmann auf dem Boden aufschlägt, hat er Kaz schon die Sehnen in den Kniekehlen durchtrennt. Kaz stürzt und schreit vor Schmerzen. Jackson schlägt ihm mit dem stumpfen Ende des Messergriffs gegen die Schläfe, und der Mann verstummt.

»Du hast ihn getötet«, sagt Clipper und starrt Titus’ Leiche an. »Und die anderen.«

Jackson schüttelt den Kopf. »Diese beiden werden es überleben.«

»Was zum Teufel ist da gerade passiert?« Schockiert betrachtet Sammy die am Boden liegenden Körper. »Hast du das wirklich getan?« Er wirft Jackson einen Blick zu, dann mir, dann wieder dem Duplikat. »Du hast uns geholfen. Gray hat gesagt, es wäre Zeit, und du hast uns geholfen

»Wir hatten eine Abmachung«, erklärt Jackson einfach. »Ich habe ein wenig Zeit gebraucht, um danach zu handeln, aber jetzt fühle ich mich unbesiegbar.«

Und vielleicht ist er das ja auch. Möglich, dass er die unbekannte Macht, die seinen Verstand beherrscht, besiegt hat und jetzt wirklich frei ist, aber ich habe keine Zeit, darüber zu grübeln. Ich schiebe mich an den anderen vorbei.

Sie fragen nicht, wohin ich will.

Sie wissen es und folgen mir.

Im Zuchtflur ist es still. Die Türen stehen offen, und alle Räume sind, bis auf eine Decke oder Matte auf dem Boden hier und da, leer. Mein Magen überschlägt sich. Und wenn wir zu spät kommen? Wenn wir dorthin kommen und es ist schon geschehen? Ich zwinge mich, diesen Gedanken zu ignorieren, und treibe meine Beine an, sich schneller zu bewegen.

Der Flur beschreibt eine Biegung, und als wir um die Ecke kommen, erkenne ich einen Wachposten, der am anderen Ende wartet. Nein, es ist kein Wachmann, es ist Bree.

Lässig lehnt sie an der Wand und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Verblüfft komme ich vor ihr aus vollem Lauf zum Stehen.

»Was ist passiert?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht sie zu mir auf. »Nichts.«

In dem Raum rechts von ihr liegen zwei Männer, beide bewusstlos.

»Wie hast …?«

»Den einen, den, mit dem sie mich eingesperrt haben, habe ich niedergeschlagen, ehe er wusste, wie ihm geschah. Der Wachposten war so verblüfft, als ich auf den Gang getreten bin, dass er kaum eine Chance hatte. Und dann habe ich gewartet. Ich wusste, dass ihr Jungs nach mir suchen würdet.«

Sammy lacht. »Du bist ja vielleicht verrückt, Nox, aber Mumm hast du.«

Sie grinst stolz, aber ich starre sie immer noch an und staune darüber, dass sie heil, unberührt und unverletzt ist. Ich ziehe sie in eine Umarmung. »Ich kann nicht glauben, dass du in Ordnung bist«, flüstere ich in ihre Haare. Dann umfasse ich ihre Schultern und schiebe sie weg, damit ich ihr in die Augen sehen kann. »Ich hätte … ich hätte ihn umgebracht, Bree. Wenn er …«

Bevor ich zu Ende sprechen kann, stößt sie mich zurück. »Das ist beleidigend, Gray. Dass du mir nicht zutraust, dass ich auf mich selbst aufpasse.«

Wie konnte ich auch nur einen Moment lang glauben, sie sei ein Duplikat? Die Duplikate sind viel berechnender, logischer und präziser, und sie steht hier und schreit mich an, weil ich für sie töten würde.

»Ich weiß, dass du auf dich selbst aufpassen kannst«, sage ich. »Aber das heißt nicht, dass ich hier stehe und nichts tue, wenn du Hilfe brauchst. Ich würde dich niemals zwingen, allein zu kämpfen.«

»Ich bin allein am stärksten«, gibt sie zurück und zieht plötzlich die Augen zusammen. »Weißt du, ich kann nicht glauben, dass ich an diesem Abend am Strand Tränen vergossen habe deinetwegen. Du bist so ein Lügner. Du zwingst mich doch, allein zu kämpfen. Das hast du von Anfang an getan, und selbst wenn ich für uns beide kämpfe, siehst du das nicht, wegen Emma. Und wenn du es doch bemerkst, dann in diesen kurzen Augenblicken, die nie lange dauern, und das bringt mich um. Ich kann das nicht mehr. Von jetzt an kämpfe ich nur noch für mich selbst. Ich werde nicht zulassen, dass du mich schwächst.«

Es ist ihr ernst. Das sehe ich in ihrem Gesicht, an ihrer Haltung. Sie beugt sich nur leicht auf mich zu, und sie hat die Fäuste geballt. Die Gefängniszelle hat sie vielleicht erstarren lassen, aber nun, da sie frei ist, tobt sie wieder vor Wut. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe noch nie gewusst, wie ich mit diesen Zuständen von ihr umgehen soll, mit diesen Gelegenheiten, bei denen sie explodiert.

Hinter mir bricht Sammy das Schweigen.

»Tränen?«, fragt er zweifelnd. »Ich kann es nicht glauben, Nox! Du bist also doch menschlich.«

»Ich schlage dich zu Brei, Sammy«, faucht sie. Ihr Blick huscht zu dem Blut an meinen Händen. »Gehen wir zurück zu den anderen. Ich bezweifle, dass wir hier noch willkommen sind.«

Und dann rempelt sie mir im Vorbeigehen mit der Schulter gegen die Brust.

Ich eile ihr nach und übernehme die Führung, weil sie keine Ahnung hat, wo es langgeht. Sammy murmelt etwas über meine Prioritäten, aber ich überhöre ihn. Im Moment kann ich nicht mit seiner Kritik umgehen. Oder mit Bree, die sich vollkommen unvernünftig benimmt. Jetzt ist es am wichtigsten, die Tunnel zu verlassen, zur Mauer zurückzukehren und über unseren nächsten Schritt zu entscheiden: Sollen wir nach Westen gehen und versuchen, Kontakt zu den Exilanten aufzunehmen, wie Ryder vorgeschlagen hat, oder als Verlierer nach Hause zurückkehren?

Als wir die Treppe bei Titus’ Zimmer erreichen, ertönt von oben ein eigenartiges Geräusch. Ein durchdringendes Summen wie von hundert Vögeln in einem Sturm, die mit den Flügeln gegen einen heulenden Wind ankämpfen. Abrupt verstummt das Geräusch, und kurz darauf ertönt eine künstlich verstärkte Stimme.

»Gray Weathersby!« Marco. An der Oberfläche. Er ruft nach mir. »Zeig dich, oder der Rest dieser Stadt wird so schnell zerstört, wie wir euer lächerliches Schiff versenkt haben.«

Clippers Arbeit an den Kameras von Burg ist also doch nicht unbemerkt geblieben. Man muss Frank alarmiert haben, und der hat Marco mit der Untersuchung beauftragt. So schnell, wie er aufgetaucht ist, hat er wahrscheinlich tatsächlich an der Grenze auf uns gewartet, wie Clipper vermutet hat.

»Das nehme ich ihm nicht ab«, meint Sammy. »Er wird gar nichts zerstören. Sie werden keine Munition verschwenden, wenn sie den Ort für verlassen halten.«

»Darauf kommt es nicht an«, sage ich. »Sie wissen, dass wir hier sind.«

Wieder dröhnt Marcos Stimme über uns. »Wir haben eure Freunde auf der anderen Seite der Mauer gefunden. Die Männer sind tot. Wenn ihr nicht wollt, dass es eurer Krankenschwester genauso ergeht, solltet ihr euch zeigen.«

Die Zeit scheint stillzustehen.

Sie können unmöglich tot sein. Bo ist erst vor ein paar Monaten nach einem ganzen Leben in Franks Gefängnissen befreit worden. Und Xavier hat mir das Jagen beigebracht; mir gezeigt, wie man Wild ausnimmt und häutet, Fallen aufstellt und Schlingen auslegt. Wie ist es möglich, dass diese beiden Männer nicht mehr da sein sollen?

»Er könnte lügen«, sagt Bree.

Aber dieses Risiko kann ich nicht eingehen, und das weiß Marco. Es gibt nur eine Möglichkeit. Genau wie auf der Catherine hat der Orden uns in die Ecke getrieben, in der er uns haben will.

Ich gehe zur Treppe, aber Bree hält mich am Arm fest. »Nicht. Das ist eine Falle.«

»Dann sitzen wir so oder so in der Falle.«

»Ich komme mit dir.«

Ihr Blick ist jetzt weicher und voller Sorge. Wie ironisch, dass sie plötzlich etwas für mich empfindet und nicht mehr wütend auf mich ist. Ich schüttle sie ab.

»Auch ich bin allein stärker.«

Es sind ihre eigenen Worte, die ich ihr voller Zorn und Trotz entgegenschleudere. Ich weiß, dass sie nicht wahr sind, aber ich spreche sie trotzdem aus, nur um zu sehen, wie ihre Miene ausdruckslos wird. Sie soll wissen, wie lächerlich es sich anfühlt, diese Lüge zu hören.

»Ich gehe nach oben«, erkläre ich dem Team. »Sammy, sieh zu, ob du Bleak finden kannst. Er ist in meinem Alter und hat dunkle Haut, und er ist fast der Einzige, bei dem ich gesehen habe, dass er sich den Kopf rasiert. Anscheinend wünscht er sich ein besseres Leben für sich selbst und die Menschen hier, also sag ihm, was los ist. Sorg dafür, dass er alle in Sicherheit bringt. Sie müssen sich versteckt halten.

Und, Clipper, das Funkgerät steht noch mit der restlichen Ausrüstung im Heizungskeller. Versuch, Kontakt zu Bo und Xavier aufzunehmen. Vielleicht lügt Marco, und sie können uns helfen.«

Clipper wirkt panisch. »Ich glaube nicht …«

»Versuch es einfach.«

»Und wir anderen?«, fragt Jackson.

»Was? Ist er jetzt auf unserer Seite?« Bree sieht schockiert aus.

»Du bist nicht auf dem Laufenden, Nox«, sagt Sammy. »Halt den Mund und hör zu.«

Aber ich weiß nicht mehr, welche Befehle ich sonst geben soll. »Tut einfach, was ihr für das Richtige haltet. Solange ihr mir nicht folgt.«

Clipper und Sammy rennen den Gang entlang.

»Ich mache so schnell ich kann«, sage ich zu Bree und Jackson. »Wir treffen uns in dem Raum des Pfeifens und Brummens. Sagt den anderen Bescheid.«

»Ich könnte dir helfen, wenn du mich nur lässt«, sagt Bree, während ich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochlaufe.

Aber ich gehe weiter.

Und ich sehe nicht zurück.