21. Kapitel
Ich weiche nach hinten aus und stoße mit den Schultern gegen die von Bree. Der Junge setzt mir die flache Seite seiner Klinge unters Kinn, drückt sie hoch und zwingt mich so, ihn anzusehen.
»Ich würd’ keine plötzlich’n Bewegungen machen.« Seine Worte scheinen in einem stetigen Strom aus seinem Mund zu kommen und verschwimmen miteinander, weil er Laute verschluckt. »Dann könnt’ ich denken, du willst mir was. Müsste dir’n Hals durchschneiden.«
Er lächelt.
Hinter ihm wird eine Tür aufgestoßen, und zwei Männer kommen herein und zerren Clipper, Sammy und Jackson hinter sich her. Alle drei sind gefesselt und geknebelt. Die Schreie des Teams hatten doch nichts mit dem Duplikat zu tun.
»Wir haben die anderen auch, Titus«, sagt einer ihrer Bewacher.
Titus nimmt das Messer von meinem Kinn und dreht sich zu ihnen um. Bree und ich sehen unsere Chance und handeln gleichzeitig. Sie rappelt sich auf die Füße, und ich greife nach dem Funkgerät an meiner Hüfte.
»Xavier. Wir …«
Die Faust kommt aus dem Nichts. Ich schmecke Blut und lasse das Funkgerät fallen. Kurz verschwimmt die Welt. Als ich wieder klar sehen kann, steht Titus vor mir und wickelt eine Metallkette von seiner Hand. Er tritt auf das Funkgerät und zermalmt es mit seiner Ferse.
»Das reicht jetzt!«, schreit Bree und richtet die Handwaffe auf ihn. »Bindet sie los.« Mit dem Lauf zeigt sie auf den Rest unseres Teams. »Sofort, ich schwöre, dass ich sonst schieße.«
Titus sticht so schnell mit seinem Messer zu, dass ich es nicht kommen sehe. Er steht unbeweglich da, und im nächsten Moment steht meine Brust in Flammen. Keuchend presse ich die flache Hand auf mein Hemd. Der Stoff wird feucht, meine Finger fühlen sich klebrig an.
»Leg das weg, Mädel«, sagt Titus zu Bree, »oder beim nächsten Mal wird’s schlimmer für ihn.«
»Wir sind gekommen, um euch zu helfen«, antwortet sie und weigert sich, die Waffe herunterzunehmen. »Wir sind gekommen …«
»Und wir bitt’n euch nich’ um Hilfe! Aber das is’ das Problem mit euch. Ihr denkt, ihr wisst, was für alle das Beste is’. Ihr denkt so viel, dass ihr gar nichts denkt.«
Ich blinzle, und er hält mir zum zweiten Mal das Messer an den Hals. Die beiden Männer hinter Titus haben auch Sammy und Clipper Messer an den Hals gesetzt. Nur Jackson bedrohen sie nicht, aber sie haben wohl gesehen, dass er bei uns von Anfang an gefesselt war, daher haben sie sich wahrscheinlich gedacht, dass seine Sicherheit uns nicht so wichtig ist. Den Bruchteil einer Sekunde lang hoffe ich, dass er das ausnutzen und uns irgendwie alle befreien wird. Ein törichter Gedanke, aus Verzweiflung entstanden.
»Leg deine Waffe weg, und wir unterhalt’n uns nett«, befiehlt Titus Bree.
»Woher soll ich wissen, dass du ihm nicht die Kehle durchschneidest, wenn ich sie herunternehme?«
»Du muss’ mir halt vertrau’n.«
»Warum sollte ich?«
»Weil ich sonst deine ganze Truppe umbring’.«
Bree tritt von einem Fuß auf den anderen. »Du bluffst.«
Aber ich weiß, dass er es nicht tut. Das erkenne ich an seinen blutunterlaufenen Augen. Wir haben uns geirrt, als wir dachten, dass diese Leute unsere Hilfe wollten, dass wir sie davon überzeugen könnten, sich mit uns zusammenzutun, um aus ihrem Gefängnis ein Versteck für uns zu machen. Was für ein Fehler!
»Bree«, sage ich. Titus’ Messer kratzt über meinen Hals. »Das ist es nicht wert.«
»Ich kann das«, sagt sie.
»Nicht dieses Mal.« Sie stehen zu weit auseinander. Sie würde einen Schuss anbringen können, höchstens zwei, bevor sie einen von uns töten. »Du bist gut, aber nicht so gut. Keiner ist das. Wenn du schlau bist, siehst du das ein.«
Ihre Hand zittert jetzt, und die Waffe huscht bebend zwischen Titus und seinen Männern hin und her. Bree schluckt und lässt sie sinken. Titus entreißt ihr die Waffe. Er dreht sich zu einer leeren Wand um und betätigt sechsmal den Abzug. Meine Ohren klingeln, pochen und pulsieren von den auf so engem Raum abgefeuerten Schüssen.
Lächelnd gibt Titus Bree die Waffe zurück. »So gefährlich, bis sie es nich’ mehr is’, was?«
Sie sieht die Waffe an, die jetzt nur noch ein nutzloses Stück Metall ist. Ihr Kiefer verkrampft sich. Sie springt ihn an, aber jemand, der an der Wand gesessen hat, stürzt sich auf sie, um sie festzuhalten.
Titus wickelt sich die Kette wieder um die Hand.
Dreimal schlägt er Bree damit, während man mir die Augen verbindet und mich aus dem Raum schleift.
Ich werde in eine sitzende Position geschoben. Der Boden unter mir ist kalt. Ein scharfer Schmerz schießt durch meine Schultern, als man mir die Hände hinter den Rücken dreht und zusammenbindet. Dann reißt jemand mein Hemd auf. Kurz darauf spüre ich eine Nadel, die die Schnittwunde an meiner Brust zusammennäht, aber sich nicht die Mühe macht, behutsam vorzugehen. Als ich nicht aufhöre, nach Bree und den anderen zu schreien, werde ich schließlich geknebelt.
Als die Wunde verbunden ist und man mir die Augenbinde abnimmt, stelle ich fest, dass ich mich in einem schäbigen Raum voller Rohre, Stangen und Metallbehälter in merkwürdigen Größen befinde. Dann, als der Heiler geht und die Tür hinter sich zuzieht, wird es dunkel. Meine einzige Gesellschaft ist jetzt eine flackernde Kerze, die weit außerhalb meiner Reichweite aufgestellt ist.
»Hey!«, schreie ich um meinen Knebel herum. In dem dunklen Raum hallt meine Stimme. Mühsam stehe ich auf und stelle fest, dass meine Arme nicht nur hinter meinem Rücken gefesselt sind, sondern auch an eine Stange. Ich winde mich und versuche mich zu befreien, aber ich spüre, wie sich durch die Bewegung die Stiche spannen, mit denen ich genäht worden bin.
»Hey!«, schreie ich. »Bindet mich los!«
»Sie werden nicht kommen«, sagt jemand. Jackson.
Ich lege mich flach auf den Boden und spähe unter der Metallwanne hinter der Stange, an die ich gefesselt bin, hindurch. Ich kann ihn gerade eben auf der anderen Seite erkennen, wo er mit dem Rücken zu mir sitzt.
»Jackson. Kannst du mich losbinden?« Durch den Knebel klingen meine Worte gedämpft, aber er scheint mich gut zu verstehen, denn er lacht.
»Warum sollte ich dir helfen wollen? Außerdem kann ich es nicht. Ich bin auch gefesselt.«
»Wo sind die anderen?«
»Sammy und Clipper haben sie irgendwohin geschleppt. Keine Ahnung, wohin.«
»Und Bree?«, frage ich mit fast versagender Stimme. »Was ist mit Bree?«
»Titus hat sie geschlagen, bis sie ohnmächtig geworden ist. Dann hat man mich hierher geschleppt, aber du warst ja so mit Schreien beschäftigt, dass du nicht gehört hast, wie sie mich hereingebracht haben. Mehr weiß ich nicht.«
Mein Mund wird trocken. Wie ist das nur passiert? Wie habe ich es fertiggebracht, unsere Mission zu verpfuschen, sodass mein ganzes Team in Gefangenschaft geraten ist? Und das mit Bree ist ganz allein meine Schuld. Ich habe ihr befohlen, die Waffe herunterzunehmen. Ich habe sie angewiesen, auf die einzige Möglichkeit, sich selbst zu schützen, zu verzichten.
Ein lautes Quietschen hallt durch den Raum, und Fackelschein fällt herein. Ich fahre davor zurück. Ein in Felle und Leder gekleideter Mann tritt ein und zerrt Sammy und Clipper hinter sich her. Sammys blonde Ponyfransen sind blutdurchtränkt, und seine Nase ist auf das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen. Bestimmt ist sie gebrochen. Ein wenig erleichtert bin ich immerhin, als ich sehe, dass Clipper unversehrt ist.
Der Mann fesselt Sammy an die Stange vor mir und Clipper an die hinter Sammy. Dann fällt ihm auf, dass ich zusehe, und er ruft etwas in Richtung Tür.
»Wollte er den Anführer als Nächsten sehen?«
»Bring ihn mit«, lautet die Antwort.
Sofort bindet er mich los und zerrt mich aus dem Raum. Wir gehen eine Treppe hinauf und dann durch eine Folge von Gängen. Einige haben kalte Betonwände, andere sind nichts als Tunnel, die in den gefrorenen Boden gegraben sind. Nicht ein einziges Mal sehe ich ein Fenster. Wir befinden uns immer noch unter der Erde. Und was noch merkwürdiger ist, ich sehe keine Menschenseele. Es muss doch mehr geben als die Handvoll Menschen, die Bree und ich gesehen haben, nachdem wir durch die Falltür gestürzt sind.
Plötzlich biegen wir um eine Ecke, und man stößt mich in einen Raum. Zwischen zwei Stangen hängt eine Hängematte. Auf dem Boden steht eine Bettpfanne. Es gibt einen Tisch und Stühle, die aus Holzkisten und Brettern bestehen. Auf dem Tisch stehen mehrere Kerzen. Aus einer Ecke heraus tritt Titus in ihren Schein.
Ich werde auf eine der Kisten gestoßen, die als Stühle dienen. Meine Arme sind immer noch hinter meinem Rücken gefesselt, aber wenigstens nimmt man mir den Knebel ab.
Titus winkt meinem Bewacher abschätzig zu. »Mach die verdammte Fack’l aus oder verschwinde, Bruno. Sie tut mir in den Augen weh.«
Bruno brummt etwas und geht. Sobald ich allein mit Titus bin, sprudle ich den ersten Gedanken heraus, der mir in den Sinn kommt.
»Wo ist Bree?«
Sein Mund verzieht sich zu einem schmallippigen Lächeln, das boshaft wirkt im Kerzenschein. »Du bis’ nicht hier, damit wir über deine Frau reden.«
»Wo ist sie?«
»Sag mir dein’n Namen, dann sag ich dir vielleicht, wo sie is’.«
»Gray«, antworte ich sofort. »Gray Weathersby.«
Er wiederholt den Namen, als probierte er ihn aus. Dann fährt er mit den Fingern geistesabwesend durch eine Kerzenflamme.
»Ich habe dir meinen Namen genannt. Also, wo ist sie?«
»Hab’s mir anders überlegt.«
Ich stemme mich gegen meine Fesseln. »Du hast gesagt …«
Titus nimmt sein Messer und rammt es in die Tischplatte. Es bleibt bebend stehen, und das Licht wird von der Klinge reflektiert. »Was is’ es dieses Mal?« Seine Lippen sind wie zu einem Knurren zurückgezogen, und seine Brust bebt vor Wut. »Was wollt ihr?«
»Dieses Mal? Wir sind gekommen, um euch zu helfen.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust und lacht. »Das hab’n eure Leute auch beim letzten Besuch gesagt, und weißt du noch, wie das ausgegangen is’?«
Ich versuche aus seinen Worten schlau zu werden, aber sie ergeben keinen Sinn. Im Kopf gehe ich alles durch, was ich über Gruppe A weiß.
Die Testpersonen zeigten unzivilisiertes Verhalten. Sie kämpften miteinander, brachten sich gegenseitig um und gerieten vollständig außer Kontrolle. Frank hat ihnen den elektrischen Strom abgedreht und gehofft, sie würden untergehen. So kam es auch, Bo hatte vor Jahren schon zufällig die Bestätigung dafür gehört; den Bericht eines Ordensmitglieds an Frank. Aber dann hatten wir erst vor wenigen Monaten Überlebende gesehen, die im Kontrollraum von Union Central auf den Bildschirmen, die Gruppe A zeigten, flüchtig ins Bild geraten waren. Mir muss irgendeine Einzelheit – ein entscheidendes Detail – entgangen sein, denn nichts von dem, was Titus erzählt, ergibt einen Sinn.
»Deine Männer hab’n dieselbe Lüge erzählt, als wir sie verhört haben«, erklärt Titus. »Wir sind hier, um euch zu helfen. Der Blonde war besonders nutzlos. Hat sich geweigert, auch nur ein Wort zu sagen und behauptet, das würdest du nicht wollen.«
Dankbarkeit erfüllt mich angesichts von Sammys Loyalität.
Titus setzt sich mir gegenüber auf eine Holzkiste und zieht das Messer aus der Tischplatte. Er richtet es auf mich.
»Jetzt hör zu und hör gut zu. Ihr habt nich’ diese schwarzen Uniformen an, aber ich weiß, was ihr vorhabt. Die Geschichten kenn’ ich gut, auch wenn ich noch nich’ auf der Welt war, als die schwarzen Schnitter zum ersten Mal über unsere Mauer gekommen sind. Ich weiß, welches Leid ihr bringt.«
Die Wahrheit trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Bo hat den Bericht über das Aussterben von Gruppe A so interpretiert, wie es jeder getan hätte. Aber jetzt glaube ich zu wissen, was passiert ist. Ich will es nicht glauben, aber ich denke …
»Titus, was ist passiert, als euch zum letzten Mal jemand besucht hat?«
»Das weiss’ du ganz genau«, faucht er. »Das waren deine Leute, und es war ein Massaker. Sie haben alle, die oben gelebt haben, abgeschlachtet.«