22. Kapitel
Mir klappt der Mund auf. Das ist unglaublich grausam, aber es passt zusammen. Es erklärt, wie so viele von ihnen überleben konnten und warum sie sich jetzt noch immer so gut verstecken.
»Deine Leute haben sich damals gewehrt«, sage ich. »Es war ein Krieg. Die von euch, die nichts mit dem Blutvergießen zu tun haben wollten, müssen unter die Erde gegangen sein. Die anderen haben oben, im Freien, noch monatelang gekämpft. Und dann …« Ich erinnere mich an das Wort, mit dem Titus beschrieben hat, was der Orden gewesen sein muss. »Und dann kamen die schwarzen Schnitter.«
»Aha, jetzt fällt es dir wieder ein. Also frage ich noch mal: Was wollt ihr dieses Mal?«
»Wir gehören nicht zu ihnen«, erkläre ich. »Zu diesen Männern … den Schnittern. Sie gehören dem frankonischen Orden an, einer Gruppe, die Dimitri Octavious Frank dient. Er ist euer Feind, nicht mein Team. Er hat euch hinter diese Mauer gesteckt, und als alles stärker aus dem Ruder gelaufen ist, als ihm lieb war, hat er das Chaos, das er hier angerichtet hat, aufgeräumt, indem er eure Leute abgeschlachtet hat.«
»Du weiss’ ziemlich viel über unsre Geschichte.« Nachdenklich zieht Titus die Augen zusammen. »Zu viel.«
»Wir sind wie ihr, Titus. Auch ich bin hinter einer Mauer groß geworden.«
Er brummt zweifelnd. »Du lügst.«
»Warum? Weil jeder, der über die Mauer klettert, verbrennt? Weil ich unmöglich hier sein könnte, wenn ich geklettert wäre?«
»Weil du diese Einzelheit weißt. Jeder Schnitter würde das.«
»Ich bin kein Schnitter. Mein Team hat nichts mit dem Orden zu tun.«
Er neigt den Kopf zur Seite und blinzelt mit seinen blutunterlaufenen Augen. Ich habe das üble Gefühl, dass er gerade beschließt, wie er mich beseitigen wird, wenn unser Gespräch zu Ende ist. Er glaubt mir kein Wort.
»Du hast gesagt, du wolltest Antworten, und ich habe sie«, sage ich verzweifelt. »Ich werde dir erklären, warum mein Team wirklich hier ist, aber nur, wenn ich nachher Bree sehen und mich davon überzeugen kann, dass es ihr gut geht.«
Darüber denkt er nach und bedeutet mir schließlich mit einem Nicken, dass ich weitersprechen soll. Ich beginne so, wie man mir selbst einmal die Wahrheit gesagt hat.
»Dieser Ort, eure Heimat. Sie ist Teil eines Projekts. Des Laicos-Projekts.«
Ich erzähle ihm alles.
Ich erkläre ihm, wie Frank in ganz AmOst fünf Testgruppen eingerichtet hat. Wie er Gemeinschaften gezwungen hat, unter unterschiedlichen Lebensbedingungen Soldaten für ihn zu erzeugen. Dass er achtzehnjährige Jungen geraubt hat und im Fall von Saltwater gelegentlich auch sechzehnjährige Mädchen. Ich erzähle ihm von den Duplikaten, von Franks Plan, jeden geraubten Menschen für seinen fortlaufenden Kampf gegen AmWest zu duplizieren, und von seinem Endziel, unendlich viele Duplikate zu erzeugen und damit eine Armee von entbehrlichen Soldaten zu schaffen. Letzteres, fürchte ich, hat er inzwischen erreicht. Schließlich berichte ich ihm, wie die Rebellen auf den Bildschirmen in Franks Kontrollraum Angehörige von Gruppe A entdeckt und beschlossen haben, die Sache zu untersuchen.
»Wir möchten, dass ihr uns helft, den elektrischen Strom hier wieder anzustellen. Dann könnten wir Kontakt mit unseren Leuten im Osten aufnehmen und Frank aus zwei Richtungen bekämpfen. Ihr könnt uns helfen. Oder ihr könntet fortgehen, über die Mauer klettern und irgendwo anders ein neues Leben anfangen. Was immer euer Volk will. Der springende Punkt ist, dass ihr nicht mehr so zu leben braucht. Die Rebellen sind bereit, euch zu helfen.«
»Jeder, der über diese Mauer steigt, stirbt«, entgegnet Titus bestimmt.
»Ich habe es dir doch gerade gesagt: Frank hat nicht einmal eine Ahnung, dass ihr hier seid. Er glaubt, alle getötet zu haben. Gar nichts wird passieren, wenn ihr klettert.«
»Lügen! Ich lasse nicht zu, dass meine Leute verbrennen. Wir alle kennen die Geschichten unserer Großeltern, Geschichten über schwarz gekleidete Schnitter, die nur dazu da sind, die Toten einzusammeln. Der Tod holt alle, die über die Mauer steigen.«
»Ach, wirklich? Wann hat denn zum letzten Mal jemand versucht, über die Mauer zu klettern?«
»Seit Jahrzehnten hat das keiner mehr, und es wird auch so bald keiner machen. Wir gehen nur nachts nach oben; Dunkelheit ist sicher, Tageslicht heißt Gefahr. Von dort oben kommt nichts Gutes.«
»Nein, dort gibt es viel Gutes. Auch Schlechtes, aber ich biete euch Hilfe an. Hunderte, Tausende von uns stehen auf eurer Seite. Wir wollen das wiedergutmachen. Wir wollen Frank stürzen, damit ihn niemand mehr zu fürchten braucht, auch ihr nicht.«
Er dreht sein Messer auf dem Tisch, wobei die Spitze eine kleine Kuhle in das Holz schneidet. »Du strickst dir da eine komplizierte Lüge, Schnitter. Meinst du, ich fall’ drauf rein, weil sie so verzwickt is’?«
»Ich sage dir die Wahrheit!«
»Der Raub, von dem du redest, der ganze Zweck dieses angeblichen Projekts. Das is’ hier nich’ passiert. Noch nie. Deine Geschichte stimmt vorn und hinten nich’, und ich kauf’ sie dir nich’ ab.«
»Natürlich findet das hier nicht statt! Frank hat eure Leute für instabil gehalten. Er wollte sie nicht als Ausgangsmaterial für seine Duplikate verwenden. Er hat euch für so unbeherrschbar gehalten, dass er eingeschritten ist und alle, die über der Erde lebten, ermordet hat, um das von ihm selbst geschaffene Problem zu beseitigen. Und jetzt könnte er niemanden von euch entführen, selbst wenn er es wollte, weil er gar nicht weiß, dass es euch gibt. Ihr versteckt euch ja seit Jahren hier unten, weil ihr Angst habt, euch zu zeigen.«
Titus schlägt mit den flachen Händen auf den Tisch. »Ihr wart nich’ hier und habt das Gemetzel nich’ erlebt. Ihr habt die Schreie nich’ gehört, das Flehen um Gnade, und wie die Schnitter unsere Leute in Stücke gehauen haben.«
»Du aber auch nicht! Das ist vor vielen Jahren gewesen.«
»Ich brauch’ etwas nicht mitzuerleben, um es zu wissen!«, schreit er. »Wir haben die Gefahren, die oben lauern, nie vergessen, und ich geh nich’ mit euch nach draußen. Und ich helfe euch auch nich’ mit eurer ›Elektrizität‹.«
»Ich will mit dem Verantwortlichen reden.«
Er lächelt. »Der sitzt vor dir.«
»Gibt es niemand Älteren?«
»Viele, aber wir haben keine Verwendung für jemanden, der nich’ mehr jagen, kein Essen suchen und kein Leben zeugen kann. Die Älteren haben in Burg keine Macht.«
»Burg?«
»Tu nich’ so, als wüsstest du nich’, wo du bist, Schnitter.«
Also hat Gruppe A endlich einen Namen. »Wie viele seid ihr hier? Insgesamt?«
»Ich gebe meinem Feind keine Informationen mehr«, erklärt er und steht auf.
»Wir haben denselben Feind! Wie oft muss ich das denn noch sagen?«
Aber er hört schon nicht mehr zu. »Bruno! Kaz!«
Bruno tritt wieder in den Raum. Im Kerzenschein kann ich ihn zum ersten Mal deutlich sehen. Er hat einen schütteren Bart und Knopfaugen und kann nicht viel älter sein als Sammy. Der zweite Mann sieht genauso jung aus und trägt einen Wollpullover, der an Ellbogen und Schultern mit Lederflicken verstärkt ist.
»Bringt ihn in die Arrestzelle«, sagt Titus. »Gebt ihm fünf und steckt ihn dann wieder zu den anderen.«
»Warte!«, schreie ich. »Du musst mir zuhören. Du musst …«
Aber Bruno und Kaz zerren mich schon aus dem Raum. Ich wehre mich so heftig, dass ich den Überblick darüber verliere, wohin wir gehen. Wir biegen scharf ab und bleiben vor einer massiven, unheilvoll aussehenden Tür stehen. Einer von ihnen öffnet sie, während der andere meine Handfesseln löst. Dann werde ich in das dunkle Innere gestoßen, und die Tür wird verriegelt. Auf dem Boden steht eine einsame Kerze. Ich brauche eine Minute, bis meine Augen sich angepasst haben, aber dann erkenne ich, dass Titus in einem Punkt Wort gehalten hat.
Er hat mich zu Bree gelassen.
Sie liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem harten Boden und hat den Kopf auf den Unterarm gelegt. In der Nähe steht eine kleine, fast leere Wasserschale.
Ich krieche zu Bree und halte mein Ohr an ihr Gesicht. Warmer Atem streift meine Wange.
Ich drehe sie um und zucke zusammen. In einem schlimmeren Zustand habe ich sie, glaube ich, noch nie gesehen. Ihre Lippen sind an zwei Stellen aufgeplatzt, und ihre Nase wirkt wie Sammys weit größer, als sie sein sollte. Aus einer Platzwunde an ihrer Stirn, die Titus ihr mit einem durch die Kette verstärkten Faustschlag zugefügt hat, ist Blut gesickert und verklebt ihre Haare. Über ihrem linken Auge befindet sich eine noch üblere klaffende Wunde. Sie muss genäht werden. Dringend.
»Bree?« Sanft rüttle ich sie an der Schulter.
Sie stöhnt und öffnet mühsam die Augen. Als sie mich sieht, sperrt sie sie weit auf und spricht mit schmerzerfüllter Stimme meinen Namen aus.
Ich reiße ein Stück von meinem Hemd ab und tauche es in die Wasserschale, damit ich versuchen kann, einen Teil des Bluts von ihrem Gesicht zu waschen.
»Dafür bringe ich ihn um. Er glaubt, etwas beweisen zu können, indem er jemanden schlägt, der die Hände gefesselt hat.«
»Verschwende … deine Kraft nicht«, stößt sie zwischen mühsamen Atemzügen hervor.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
»Ich bringe ihn selbst um«, stellt sie klar. »Ich brauche niemanden, der …« – sie zuckt zusammen, als ich den Lappen auf die Wunde über ihrem Auge drücke – »… der meine Kämpfe für mich austrägt.«
Über ihre Sturheit muss ich grinsen. »Gut zu wissen, dass er deinen Mut nicht gebrochen hat.«
»Und das erstaunt dich? Du dachtest, ein paar Schläge könnten mich brechen?«
»Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich dachte nur …«
Plötzlich möchte ich sie mit den Händen berühren statt mit dem feuchten Lappen. Ich möchte ihre Haut fühlen, sie an meine Brust ziehen und ihr sagen, dass es in Ordnung ist, sich gehen zu lassen. Nur dieses eine Mal muss sie nicht so stark sein. Ich verstehe es, und ich werde sie nicht verurteilen. Meinetwegen kann sie sogar weinen, weil das nichts daran ändern wird, wie stark sie ist. Nicht für mich.
»Was ist?«, fragt sie.
Ihre Augen sehen mich forschend an, klar und blau und hoffnungsvoll, aber ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Auf der ganzen Welt gibt es nicht genug Worte, um auch nur annähernd zu erklären, was ich empfinde. Ohne nachzudenken, lege ich eine Hand an ihre Wange.
Sie erstarrt. »Gray?«
Ich strecke die Arme nach ihr aus, und plötzlich liegen meine Hände um ihr Gesicht, und ich sehe sie direkt an und bin wie vor den Kopf geschlagen von der einfachen Tatsache, dass ich sie küssen will. Sanft, um ihr nicht noch mehr Schmerzen zu bereiten. Leidenschaftlich, weil es den Schmerz wert ist.
Aber dann sagt sie: »Tu es nicht, wenn es dir nicht ernst ist«, und mir wird klar, dass mein Leben aus einer impulsiven Reaktion nach der anderen besteht. Das, was ich in diesem Moment will, ist vielleicht nicht das, was ich morgen oder übermorgen wollen werde; und wenn ich sie jetzt küsse, könnte das bedeuten, dass ich auf ihrem Herzen herumtrample, genau wie sie es an jenem Abend mit den Seetauchern gesagt hat.
»Was denn?«, frage ich. »Ich richte nur deine Nase.«
Obwohl ich meine Daumen in eine andere Stellung bringe, sehe ich ihr an, dass sie mir nicht glaubt. Ich schiebe ihre Knochen zurück an den richtigen Platz, und sie schreit auf.
Hinter uns wird die Tür aufgerissen.
»Die Zeit ist um«, blafft Bruno, und dann zerrt er mich aus der Zelle. Dieses Mal wehre ich mich nicht, als er mich wegführt. Ich zähle Stufen, Abzweigungen und Treppen und präge mir den Rückweg zu Bree ein.
»Ich habe sie gesehen«, erkläre ich der Gruppe, nachdem mich Bruno wieder an die Stange gefesselt und uns höhnisch grinsend schöne Träume gewünscht hat.
»Und?«, fragt Sammy aus dem Dunkel. »Was hat sie gesagt? Irgendwelche Ideen, wie wir hier herauskommen?«
Erst als er das sagt, wird mir klar, dass ich die Zeit mit Bree vergeudet habe. Statt zu versuchen, einen Plan auszuarbeiten, habe ich mich in diesen kostbaren fünf Minuten auf lauter falsche Dinge konzentriert. Aus diesem Grund werde ich niemals auch nur ein halb so guter Anführer werden wie mein Vater. Ich bin egoistisch, leichtsinnig und verantwortungslos. Ich bin der Lage nicht gewachsen.
Ich drehe mich auf die Seite, ohne Sammy zu antworten.
»Klar, lass dir Zeit, Gray. Ist ja nicht so, als würden wir hier gegen unseren Willen festgehalten.«
Kurz darauf schnarcht er, als wäre ein feindseliges Streitgespräch das beste Rezept für einen guten Schlaf. Und für ihn ist es das vielleicht sogar; er hat seine Meinung gesagt. Aber ich habe einen beunruhigenden Albtraum.
Der Himmel ist schwarz vor Krähen, die mit den Flügeln schlagen und die Sonne verdecken. Ein Rotschwanzbussard versucht, zwischen ihnen durchzufliegen, aber er kommt nicht gegen ihre Überzahl an. Tiefschwarze Schnäbel fahren herab, und dann ist da Blut. Überall. Der Himmel kräuselt sich, und plötzlich verwandelt er sich in die Oberfläche eines Sees, der dunkel unter einer Mondsichel liegt. In seiner Mitte schwimmt ein einzelner Seetaucher. Auch er blutet. Und er ruft; ein schmerzlicher, einsamer Gesang.
Wieder und wieder ruft er, aber sein Partner kommt nicht zu ihm.