26
Am nächsten Abend, dem Abend vor der Zeremonie, bei der der Schlußstein eingesetzt werden würde, bewirtete Boaz seine Familie.
Für ein königliches Bankett ging es relativ unförmlich zu. Mehrere Diener halfen Holdat beim Kochen und stellten im Badehaus einen Tisch auf. Er wurde mit feinstem Geschirr gedeckt, goldene Messer und Löffel glitzerten um die Wette.
Der Froschkelch glänzte durch Abwesenheit.
Die einzige Beleuchtung waren zahllose Duftkerzen, die auf dem Wasser schwammen, und ich warf zusätzlich Wasserlilien und tropfte aromatisches Öl hinein, um für noch mehr Schönheit und Duft zu sorgen.
Wächter umstellten das Haus, aber in respektvoller und diskreter Entfernung. Alles ging sehr still und gelassen zu, und ich überprüfte den Raum ein letztes Mal, bevor Chad Nezzar, Zabrze und Neuf eintreffen sollten. Dann wandte ich mich zum Gehen.
Boaz stand in der Tür, tadellos und unverwundbar in seinem Magiergewand.
»Ich will es ganz intim halten«, sagte er. »Das letzte, was wir brauchen, sind ein Dutzend Diener, die mit ihrem Herumgewusel das Auge beleidigen. Holdat serviert das Essen, du den Wein.«
Und dann war er weg.
Ich hatte vor lauter Aufregung einen Kloß im Hals. Dem Chad von Ashdod, einem Prinzen und seiner Frau Wein servieren? Aber ich war doch bloß eine unbedeutende Glasmacherin!
Aber ich hatte Holdat, der mich anleitete, und ich konnte nicht viel falsch machen, solange ich mich so unauffällig wie möglich verhielt und keinen Wein verschüttete. Ich war darin geübt, Boaz zu bedienen, und ich machte es auch bei seiner Familie recht ordentlich. Chad Nezzar übersah mich einfach, Neuf musterte mich zuerst neugierig, aber dann erlosch ihr Interesse an mir – also hatte Zabrze ihr nichts erzählt –, während Zabrze mich mit undurchdringlichen schwarzen Augen betrachtete und dann dem Beispiel seiner Gemahlin und seines Onkels folgte.
Den ersten Teil der Mahlzeit verbrachte ich größtenteils in einer dunklen Ecke des Raumes auf einem Hocker und bewegte mich nur, wenn ein Kelch nachgefüllt werden mußte. Holdat kümmerte sich um das Servieren, wechselte leise und unaufdringlich die mit Köstlichkeiten belegten Platten und reichte Mundtücher und Wasserschälchen. Ich bewunderte sein Geschick und fragte mich, wo Boaz ihn entdeckt hatte. Möglicherweise in Setkoth, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß in Gesholme solche Fertigkeiten gefragt waren.
Boaz und seine Familie erfreuten sich an dem Mahl, und soweit ich es verfolgen konnte, genossen sie den belanglosen Klatsch über Höflinge und Geschehnisse in Setkoth. Sie hoben nie die Stimmen, es sei denn, sie lachten über das Pech oder den gesellschaftlichen Ausrutscher eines Höflings, und sie mieden offenkundig jedes strittige Thema. Tatsächlich lenkte größtenteils Neuf die Unterhaltung, wandte sich einmal ihrem Mann zu, dann wieder Chad Nezzar, dann legte sie Boaz ihre schlanke Hand auf den Arm und lächelte ihn verführerisch an.
Ich fragte mich boshaft, ob all diese Nichten und Neffen tatsächlich nur entfernt mit Boaz verwandt waren. Unter ihrer Eleganz strahlte Neuf eine unverkennbare Sinnlichkeit aus, und ich verabscheute sie jedesmal, wenn sie sie auf Boaz richtete.
Während die Unterhaltung bei der Mahlzeit friedlich verlief, hatte der Schmuck an Chad Nezzar seine eigene Unterhaltung. Während ich an dem Tisch meine Pflichten erfüllte, konnte ich ihn über dieses und jenes plaudern hören, und einmal war ich erstaunt, die Edelsteine und das Metall über ihre Liebe zu Chad Nezzar flüstern zu hören. Er war ein alter Mann, aber noch vital, und sie wollten nicht, daß er starb. Ich verweilte ein wenig bei Neufs und dann Zabrzes Kelch und versuchte mehr zu verstehen.
Ach, sie liebten ihn, aber nicht so sehr um seinetwegen, sondern weil sie Angst hatten, daß nach seinem Tod ihre glückliche Gemeinschaft zerbrach. Anscheinend war Chad Nezzar seit Jahrzehnten auf diese Weise geschmückt, und das Metall und die Edelsteine hatten sich aneinander gewöhnt. Würde Prinz Zabrze sie tragen, wenn er den Thron bestieg?
Leider nicht, dachten sie, und ich stimmte ihnen lautlos zu. Lang lebe Chad Nezzar, wenn auch nur für die Geister der Elemente.
Je weiter der Abend voranschritt, desto häufiger wurden meine Dienste verlangt. Alle Männer tranken, zwar nicht übertrieben viel, aber beständig. Stimmen wurden lauter, Gelächter schärfer.
Schließlich stand Neuf vom Tisch auf. »Mein Gemahl. Morgen ist ein langer Tag, und ich muß im Moment für zwei schlafen. Ich bitte um dein Verständnis« – sie wandte sich Chad Nezzar zu – »und um die Erlaubnis des Mächtigen, mich zurückziehen zu dürfen.«
Chad Nezzar wedelte vornehm mit der Hand. Ich vermutete, das tat er so oft, um seine Juwelen richtig zur Geltung bringen zu können; soweit es die Juwelen betraf, liebten sie die Schwünge durch die Luft.
»Die habt Ihr, meine Liebe.«
»Neuf«, sagte Zabrze. »Das Mädchen kann dich zurückbringen.«
Ihr Blick glitt in meine Richtung. »Und vielleicht möchte uns das Mädchen seinen Namen nennen. Ich bin gespannt, wie sie heißt.«
Ich öffnete den Mund, dann schloß ich ihn wieder. Sollte ich ihnen meinen Geburtsnamen sagen? Er würde weitaus überraschender sein als…
»Tirzah«, sagte Boaz. »Ihr Name ist Tirzah.«
Bis auf Boaz starrten mich alle an.
»Tirzah?« sagte Chad Nezzar langsam. »Tirzah?«
Neuf sah mich an, dann Boaz. »Sieh an«, sagte sie. »Ein seltsamer Name für eine Sklavin, Boaz. Mir ist neu, daß Sklaven erlaubt ist, die Namen von Adligen zu tragen. Auf dieser Baustelle geht es zwangloser zu, als ich gedacht hätte.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte, aber da Boaz damit angefangen hatte, sollte er es auch zu Ende bringen. Die Wahl des Namens war nicht meine Schuld.
»Sie hatte einen schwierigen Namen unter den nordischen Wilden«, sagte Boaz. »Ich fand, ich sollte ihr einen hübscheren geben.«
»Aber den Namen meiner Schwester?« sagte Chad Nezzar.
»Ich sollte sagen«, meinte Zabrze mit einer gewissen Heiterkeit, »daß mich der Name des Mädchens interessierte, weil sie eine… nun, ich will es so ausdrücken, weil sie eine relativ intime Beziehung zu Boaz hat.«
Neufs Kopf ruckte zu mir herum. »Eine Anmaßung, Mädchen…«
»Meine Anmaßung, sowohl was den Namen als auch die Beziehung angeht!« fauchte Boaz seine Schwägerin an. »Laß sie in Ruhe.«
»Boaz«, sagte Zabrze, »dein Ton gefällt mir nicht.«
»Hohe Herren und Hohe Dame«, stieß ich hervor, »ich gehe…«
»Allerdings, Mädchen«, sagte Neuf und ging in Richtung Tür. »Du wirst mich zu meinem Quartier begleiten. Und zwar jetzt sofort.«
»Komm zurück, wenn Neuf dich entlassen hat«, sagte Chad Nezzar. »Ich glaube, nach diesem Vorfall werden wir alle noch Wein wollen.«
Neuf warf ihm einen finsteren Blick zu, dann stolzierte sie aus dem Raum. Ich eilte hinter ihr her.
Sie sagte kein Wort, bis wir die Residenz erreicht hatten. Dann wandte sie sich im Licht der Veranda um.
»Du bist ein sehr dummes Mädchen.«
»Hohe Dame, ich…«
»Er ist ein Magier. Er hat keine Zeit für dich.«
»Hohe Dame, ich…«
Kräftige Finger griffen unter mein Kinn und drehten mein Gesicht ins Licht. Ich fragte mich, ob mir jemals gestattet werden würde, außer dem »Ich« etwas hinzuzufügen.
»Vielleicht ist es dein nördliches Blut. Shetzah, aber er hat sämtliche Leiber ignoriert, die im Laufe der Jahre vor ihm umherstolziert sind. Das ist die einzige Erklärung.«
Mehr als Ihr denkt, Hohe Dame, dachte ich. Mehr als Ihr denkt.
Sie kniff mißtrauisch die Augen zusammen, und ihr Griff wurde fester. »Oder bist du eine Spionin? Sollst du ihn vernichten? Wie dem auch ist, du bist gefährlich.«
Ich wollte wieder protestieren, aber diesmal ließ sie mich nicht einmal ein Wort hervorbringen.
»Verstehst du nicht, was passiert, Mädchen? Weißt du das nicht?«
Ich schwieg.
»Boaz hat ein erstaunliches Talent…«
Ich fragte mich, ob ich ein kleines Lachen wagen konnte.
»… und hat hart gearbeitet und noch härter gelernt, um dort hinzugelangen, wo er heute ist. Er hat sein Leben der Eins gewidmet, um der größte Magier zu werden, der je gelebt hat. Jetzt ist er wenige Tage davon entfernt, seinen Traum zu verwirklichen, und wir finden heraus, daß er alles für eine dürre und unverschämte Sklavin riskiert.«
Sie mußte die Wut in meinen Augen gesehen haben, denn sie verstärkte ihren Griff um mein Kinn. »Viele Magier planen, ihn zu stürzen, Mädchen. Vielleicht nicht die, die hier auf dieser Baustelle sind und dich bereits kennen, aber viele von denen, die aus Setkoth gekommen sind, würden diese Schwäche nur zu gern ausnutzen. Glaube mir, ich weiß das. Intrigen sind meine Spezialität. Ich will nicht zusehen müssen, wie Boaz alles verliert nur wegen der flüchtigen Lust auf eine hellhaarige Frau aus dem Norden. Hast du verstanden?«
»Ich habe verstanden, Hohe Dame.«
Sie nahm die Hand weg, aber ihr Blick blieb. »Ich wünschte, das würdest du, Mädchen. Ich wünschte, das würdest du wirklich.«
Und dann war sie weg.
Am ganzen Leib zitternd ging ich zurück zum Badehaus. Hier gab es Dinge, die ich nicht verstand.
Bei meiner Rückkehr bedeutete mir Boaz ungeduldig, die Becher zu füllen, und ich eilte zu ihnen, in Gedanken noch immer mit Neufs Warnung beschäftigt. Dann verdrängte jedoch ihre Unterhaltung jeden Gedanken an Neuf.
Chad Nezzar und Zabrze saßen jetzt zusammen an einer Seite des Tisches, Boaz genau gegenüber. Es lag Ärger in der Luft, die nur zum Teil von dem vielen Wein herrührte.
Sie sprachen über die Pyramide.
»Ich erinnere mich«, sagte Chad Nezzar, »daß die Magier seinerzeit vor den damaligen Chad traten, Ophal… Zabrze, wie lange ist das jetzt her?«
»Fast zweihundert Jahre, Großmächtiger«, sagte Zabrze, den Blick fest auf seinen Bruder gerichtet.
»Richtig, zweihundert Jahre«, fuhr Chad Nezzar fort. »Die Magier versprachen Ashdod große Reichtümer durch den Bau dieser Pyramide. Doch bis jetzt hat diese Steinmonstrosität das Land bloß an den Bettelstab gebracht.«
»Es war eine riesige Anstrengung für ein monumentales Bauwerk, Großmächtiger«, sagte Boaz, und mir entging keineswegs die Förmlichkeit, die zuvor gefehlt hatte. »Natürlich hat sie die Reichtümer des Landes verschlungen. Doch seid versichert, daß sie viel mehr zurückgeben wird.«
»Das hoffe ich auch, Magier Boaz«, sagte Chad Nezzar. »Ich weiß auch, daß die Magier Chad Ophal versprochen haben, daß die Vollendung der Pyramide neue Macht mit sich bringen würde. Ist das der Fall?«
»Mit Sicherheit, Großmächtiger«, sagte Boaz vorsichtig.
»Aber für wen, Bruder?« fragte Zabrze. »Für wen? Soll die Pyramide Macht für Ashdod bringen oder für die Magier?«
Boaz wartete lange Zeit, bevor er antwortete. »Die Pyramide verspricht Macht für alle.«
»Kus, Boaz!« Zabrze lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, trank einen großen Schluck Wein und beobachtete die Wirkung, die seine obszöne Äußerung auf Boaz hatte. »Verzeih mir, wenn ich der Meinung bin, daß die Pyramide große Macht für die Magier bereitstellt, und nur für die Magier!«
In meiner Ecke dachte ich im Stillen, wie unkompliziert mein Leben doch bis zu dieser Nacht gewesen war.
Chad Nezzar beobachtete die Brüder sorgfältig, sagte aber nichts. Vielleicht war es besser, wenn Zabrze das allein mit Boaz klärte.
Jetzt beugte sich Zabrze vor. »Teile ihre Geheimnisse mit uns, Boaz«, sagte er. »Sag uns, wie es geht! Was wir erwarten können.«
»Macht, Zabrze. Aber es würde mir schwer fallen, es darüber hinaus zu erklären. Ihre mathematischen Formeln sind viel zu kompliziert für den vielen Wein, den du getrunken hast.«
»Boaz.« Zabrze versuchte sich zu beherrschen. »Vergib mir mein Mißtrauen. Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Normalerweise. Aber…«
Aber jetzt ist in jedem die Machtgier erwacht, dachte ich.
»… ich frage mich, ob deine Ergebenheit am Ende eher den Magiern gehört als deiner Familie. Vielleicht wäre es besser, der Chad fände einen anderen, der die Einweihungstagszeremonien durchführt. Ich…«
Er kam nicht weiter. Boaz sprang auf die Füße, starrte Zabrze an, dann seinen Onkel. »Großmächtiger! Es gibt niemanden, der berechtigter ist als ich, um die Pyramide einzuweihen. Ich verlange…«
Er bremste sich. »Ich bitte Euch, mir diese Ehre zu gewähren. Um Tirzahs willen wenn schon nicht um meinetwegen.«
Ich erschrak, doch dann erkannte ich, daß er von seiner Mutter sprach und nicht von mir. Doch um dieser Tirzah willen würde ich es vorziehen, wenn du am Einweihungstag so weit von der Pyramide entfernt bist, daß du dich nicht einmal mehr an ihre Form erinnern kannst, dachte ich.
»Vergib Zabrze«, sagte Chad Nezzar. »Manchmal ist er voreilig, und vielleicht war er heute abend zu temperamentvoll. Aber ich teile seine Bedenken«, sagte er wohlüberlegt. »Ich würde nur ungern denken, daß ich in zwei Tagen Zeuge werde, wie die ganze Macht von Ashdod an die Magier übergeht. Boaz, antworte mir, womit können, müssen wir rechnen?«
Holdat und ich hatten uns mittlerweile so dicht in den Schatten der Wand gedrückt, daß wir fast mit ihr verschmolzen waren.
»Was ist es, Boaz?« fragte Zabrze leise. »Was?«
Boaz schaute nachdenklich in seinen Kelch. Dann hob er den Blick. »Die Pyramide ist gebaut worden, damit sie die Macht der Schöpfung für sich nutzen kann.«
Stille kehrte in den Raum ein. Chad Nezzar und Zabrze waren verblüfft.
»Das ganze Leben wird von mathematischen und geometrischen Parametern und Formeln beherrscht. Vor dreihundert Jahren erkannte eine Gruppe Magier, die viel gelehrter als alle anderen waren, daß man die Schöpfung selbst – oder die Macht, die die Schöpfung benutzte – mit Hilfe einer Brücke erreichen könnte, die aus den entsprechenden mathematischen Formeln konstruiert ist. Die Magier, die als erste auf diese Möglichkeit stießen, konnten die Formeln bis zu ihrem Tod nicht fertigstellen, aber im Verlauf der nächsten drei Generationen arbeiteten die Magier weiter an den Berechnungen.«
Er winkte müde ab, eine unbewußte Nachahmung der Geste seines Onkels. »Schließlich lösten sie es. Die Pyramide ist diese Formel. Sie wird die Macht der Schöpfung für uns nutzbar machen.«
»Das klingt alles ganz großartig«, sagte Zabrze langsam. »Aber ich weiß, daß sich viele Magier gegen den Bau der Pyramide ausgesprochen haben. Es gab Meinungsverschiedenheiten. Große Meinungsverschiedenheiten.«
»Ein paar waren ängstlich, einigen war nicht sehr wohl bei dem Gedanken an so viel Macht«, gab Boaz zu. »Damals. Jetzt nicht mehr.«
»Jetzt wäre es auch zu spät«, murmelte Zabrze, und ich sah ihn nachdenklich an. War die Aufteilung der Macht das einzige, worum er sich Sorgen machte?
»Jetzt nicht mehr, da wir sicher wissen, daß die Pyramide funktionsfähig ist«, sagte Boaz und sah seinem Bruder in die Augen.
Zabrze verlor die Geduld. »Und wie wird sie funktionieren? Was wird geschehen, wenn deine verfluchte Formel über die Macht der Schöpfung verfügen kann?«
»Sie wird uns in die Unendlichkeit führen, Bruder. Sie bedeutet Unsterblichkeit.«
Kein Wunder, daß sich Boaz von seinem Ziel nicht abbringen lassen wollte. Unsterblichkeit war ein berauschender Gedanke.
Aber um welchen Preis? Niemand dachte daran, diese Frage zu stellen, und ich war bestimmt nicht bereit, mich aus dem Schatten zu lösen, um das zu tun.
Seine Worten erschütterten Chad Nezzar und Zabrze so sehr, daß einen Augenblick lang tiefes Schweigen herrschte.
Dann reagierten die beiden Männer auf sehr unterschiedliche Weise. Chad Nezzars Gesicht rötete sich vor Aufregung.
Er war ein alter Mann und hatte damit gerechnet, vielleicht noch fünf, bestenfalls zehn Jahre der Macht teilhaftig zu werden, die die Pyramide vermittelte.
Jetzt lockte auf einmal das ewige Leben.
Der Chor, mit dem man ihm am Kai begrüßt hatte, würde aus tiefster Überzeugung zu seinem Lob angestimmt und nicht länger nur Schmeichelei sein.
Zabrze war unsicher. Er las die Gier in den Augen seines Onkels, er las das Verlangen in denen seines Bruders, und dann sah er zu mir herüber und las die Furcht in meinen Augen.
»Allein die Vorstellung!« stammelte Chad Nezzar. »Als Unsterblicher könnte ich die ganze Welt beherrschen!«
»Dann dürft Ihr aber auf keinen Fall jemand anderen bitten, die Riten des Einweihungstages durchzuführen«, sagte Boaz leise. »Wem könnt Ihr sonst vertrauen, daß er diese Macht an Euch weitergibt?«
»Ja, ja, die Riten gehören dir! Zabrze! Unsterblichkeit! Was könnte es Größeres geben?«
Offensichtlich hatte Chad Nezzar noch nicht darüber nachgedacht, daß einem Thronerben möglicherweise der Gedanke nicht besonders gefallen würde, daß der derzeitige Herrscher ewiges Leben genoß, aber ich glaube, auch Zabrze dachte nicht daran.
»Glück«, sagte Zabrze. »Zufriedenheit. Liebe.«
Er sah auf einmal sehr traurig aus.
Sie unterhielten sich noch eine Stunde lang. Ich schenkte weiter Wein ein, aber ich glaube, Boaz und Chad Nezzar nahmen mich kaum wahr. Zabrze schaute ein paarmal unglücklich in meine Richtung, und er trank nichts mehr. Ich vermag nicht zu sagen, ob Boaz je daran gedacht hatte, die von der Pyramide gewährte Macht nicht zu teilen, aber jetzt schien er an der Idee Gefallen zu finden, sie mit seinem Onkel zu teilen. Vielleicht sorgte er sich wie Neuf wegen der rebellischen Magier und zog es vor, Chad Nezzars Armee hinter sich statt gegen sich zu haben.
Schließlich entschied Chad Nezzar, sich und seinen Schmuck zu Bett zu bringen, und er stand auf, gestützt von Zabrze.
»Tirzah?« sagte Boaz.
»Ich helfe Holdat beim Aufräumen. Ich bin bald bei dir.«
»Ich verlasse mich darauf, daß ihr beide Stillschweigen bewahrt. Hier sind heute Worte gefallen…«
Es war Holdat, der darauf antwortete, und zwar mit der unbewußten Würde, wie sie manchmal nur Sklaven haben. »Wir sind Euer, Exzellenz«, sagte er, »und wir werden nicht den verraten, der Ihr seid.«
»Nun, dann seht zu, daß es auch dabei bleibt«, sagte Boaz und verließ den Raum.
Wir waren fast fertig, als ich vor einem der Fenster eine Bewegung sah.
Zabrze.
»Komm in den Garten«, sagte er und führte mich zu einer relativ geschützten Stelle, aber ich schaute mich unsicher um. »Hoher Herr«, sagte ich, »mir wäre lieber, wir würden…« Ich zeigte auf einen wuchernden, breiten Ipaciabaum.
»Du magst die Pyramide nicht«, sagte Zabrze, sobald wir unter den Ästen des Baumes standen.
»Nein. Ich fürchte sie. Hoher Herr, es umgibt sie eine solch starke Ausstrahlung von Grauen, daß ich große Angst vor dem habe, was geschehen wird.«
»Morgen soll der Schlußstein gesetzt werden?«
»Ja, und am Einweihungstag, wenn die Pyramide ihre volle Macht bekommt.«
»Ich habe gehört, daß es Unfälle gegeben hat«, sagte er langsam und ließ den Blick über den Garten schweifen.
»Unfälle sind auf Baustellen alltäglich, Hoher Herr.«
»Verberge nichts vor mir«, fauchte er. »Erzähl es mir!«
»Die Pyramide vernichtet Leben, Hoher Herr. Niemand ist vor ihr sicher, ob Magier oder Sklave.«
Ich kannte diesen Mann kaum, dennoch vertraute ich ihm ohne zu zögern. Ich erzählte ihm, was ich über die Primzahlen wußte – und über die Todesarten. »Ta’uz machte sich wegen der Pyramide Sorgen. Also brachte sie ihn zum Schweigen, Hoher Herr.«
Zabrze starrte mich entsetzt an. »Und Boaz schließt die Augen davor?«
»Boaz wird nichts dagegen unternehmen, Hoher Herr. Ihr habt ihn heute abend erlebt. Er ist zu sehr geblendet von der Macht der Pyramide.«
»Es ist gefährlich, Tirzah«, meinte er, und der Name rollte auf seltsame Weise von seiner Zunge, »mir dies alles zu erzählen.«
»Ihr seid sein Bruder, Hoher Herr, und ich kann das Band zwischen euch sehen. Ich will ihm helfen.«
»Und du bist sehr freimütig für eine Sklavin. Vielleicht ist es ja dein nördliches Blut. Kein in Ashdod aufgewachsener Sklave würde so ungezwungen mit mir umgehen.«
Ich schwieg, aber nicht, weil ich besorgt war. Im Gegensatz zu Neuf, die unverhüllte Drohungen ausgesprochen hatte, war Zabrze bloß neugierig.
»Ich bin nicht immer Sklavin gewesen, Hoher Herr. In Viland, meiner Heimat, wurden mein Vater und ich durch Schulden in die Sklaverei gezwungen.«
»Manche werden durch Schulden versklavt«, sagte Zabrze leise, »andere durch die Vorstellung von Macht.«
»Hoher Herr, Eure Gemahlin. Bitte, es würde besser sein, wenn sie zurück nach Setkoth reiste.«
Sein Lächeln erstarb. »Warum, Tirzah? Was hat sie zu dir gesagt?«
»Das ist es nicht, Hoher Herr. Aber ich habe Angst um sie. Sie ist im Moment sehr verletzlich… das Kind…«
»Vielleicht hast du recht. Aber Neuf hat ihren eigenen Willen. Komm schon, was hat sie zu dir gesagt?«
»Sie war sehr über meinen Namen aufgebracht, Hoher Herr.«
»Es war ein Schlag, Tirzah. Sprich weiter.«
»Sie fürchtet, daß meine Anwesenheit Boaz bedrohen wird. Daß die Magier mich als Vorwand benutzen könnten, um ihn seiner Macht und seines Einflusses zu berauben.«
»Neuf denkt manchmal zu viel über Boaz nach«, murmelte Zabrze. Dann hob er die Stimme. »Möglicherweise macht sie sich zu viel Sorgen, Tirzah. Falls die Magier sich gegen ihn wenden, dann mit Hilfe Chad Nezzars. Ihn hat nur dein Name schockiert, nicht deine Anwesenheit. Und ich glaube, Boaz genießt seine volle Unterstützung. Vor allem nach dem, was er ihm heute abend erzählt hat.«
Zabrze verstummte und musterte mich sorgfältig. »Neuf hat gute Verbindungen.«
»Sie sagte, ihr besonderes Interesse gelte Intrigen.«
Er lachte. »Man sollte glauben, daß sie sich mit den Kindern, die ich ihr geschenkt habe, allein ihrem Wohlergehen widmen würde. Aber nein. Neuf wird immer Zeit für Intrigen finden. Sie hat hier so viele Freunde unter den Magiern wie bei Hof, und Boaz verdankt ihrer Unterstützung eine Menge.«
Ich hielt es für besser, den Mund zu halten.
»Also nun zu dir, Tirzah. Bist du sicher, daß du mich nur aus dem Grund darum bittest, Neuf nach Setkoth zurückschicken, um sie aus dem Einflußbereich der Pyramide zu entfernen?«
»Hoher Herr, ich…«
»Du Schwindlerin! Aber hab keine Angst. Ich glaube, daß es Boaz sehr schwer fallen würde, an dir vorbeizukommen. Ich weiß, daß es mir so gehen würde.«
Ich starrte ihn an, aber weder seine Miene noch seine Stimme wiesen einen schmeichlerischen Unterton auf. Zabrze war lediglich freundlich.
»Also, Tirzah, eine Vilanderin. Wie lautet dein Geburtsname?«
Ich sagte ihn ihm.
Zabrze verzog das Gesicht. »Nun, ich kann gut verstehen, warum Boaz nicht mit ihm einverstanden war. Ich kann mir keinen häßlicheren Namen vorstellen. Der ist ja noch schlimmer als der seines Vaters.«
»Ich wußte zuerst nicht, daß Tirzah der Name Eurer Mutter war. Es hat lange gedauert, bevor Boaz es mir sagte.«
Zabrze schwieg eine Weile. »Spricht er zu dir über seinen Vater?« fragte er schließlich.
»Gelegentlich, Hoher Herr.«
»Gelegentlich.« Er seufzte. »›Gelegentlich‹ ist zu wenig für einen Mann wie Avaldamon.«
Bei diesem Namen erstarrte ich. Avaldamon? Das war ein wunderschöner Name! »Ihr habt ihn bewundert.«
»Ja, sehr.« Zabrze ließ mich nicht aus den Augen. »Er war ein sehr ungewöhnlicher Mann.«
»Das habe ich mir gedacht, Hoher Herr.«
»Er machte sich die Mühe, sich mit mir bei Hof zu unterhalten, lange bevor jemand von einer Verbindung zwischen ihm und meiner Mutter sprach. Er hatte graue Augen – Boaz’ Augen –, und in ihnen funkelte es verschmitzt. Vor allem wenn er sich in der Nähe von Chad Nezzar aufhielt.«
Meine Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln, und ich glaube nicht, daß es Zabrze entging.
»Ich war ein einsamer Junge, damals, neun oder zehn, und Avaldamon verbrachte Stunden damit, mir… nun, von seltsamen Dingen zu erzählen. Ich glaube nicht, daß bei Hof viele zu schätzen wußten, daß er so ungewöhnlich war.«
Ich starrte in den Garten hinaus und lauschte dem Chor der Frösche.
»Meine Mutter liebte ihn. Zuerst hielt sie ihn für seltsam und fremdartig, aber dann sah ich, wie sie ihn ansah, als sie und Avaldamon aus ihrer siebentägigen Abgeschiedenheit kamen.« Er verzog das Gesicht. »Ich wünschte mir, mich würde eines Tages eine Frau so ansehen.«
Armer Zabrze.
»Ich war auf dem Boot, an dem Tag, an dem er starb.«
»Hoher Herr!«
»Ich glaube, nach allem, was ich seitdem erlebt habe, ist das noch immer der schlimmste Tag meines Lebens. Kannst du dir vorstellen, daß in dem Augenblick, in dem die verfluchte Wasserechse Avaldamon in ihrem Maul verschwinden ließ… das Ufer aufschrie?«
»Was…?«
»Die Frösche schrien, Tirzah. Es war Mittag, und doch schrien die Frösche.«
Ich war den Tränen nahe. »Ich verstehe, Hoher Herr.«
»Ja«, sagte er leise, »ich glaube, das tust du. Sag mir, Tirzah« – und nun zwang er etwas Fröhlichkeit in seine Stimme – »du warst doch einst frei. Hast du ein Handwerk ausgeübt, oder wurdest du nur wegen deiner Schönheit mitgenommen?«
»Mein Vater – er gehört zu jenen, die die Pyramide getötet hat, Hoher Herr – und ich waren Glasmacher. Ich stelle Glasnetze her.«
»Hmmm.« Er nickte. »Und um in deinem Alter Glasnetze machen zu können, dafür braucht man besondere Fähigkeiten. Habe ich recht?«
»Es bedarf einer engen Verbundenheit mit dem Glas, Hoher Herr.«
»Ja, natürlich.« Zabrze wechselte das Thema und steuerte uns in weniger gefährliche Gewässer. »Meine Mutter war durch Avaldamons Tod am Boden zerstört. Ich glaube, sie wäre damals gestorben, wenn sie nicht gewußt hätte, daß sie ein Kind erwartete, und das gab ihr Hoffnung weiterzuleben. Sie liebte Boaz sehr, aber das reichte doch nicht aus, um Avaldamon zu ersetzen, und so starb sie dann. Es mußte wohl so sein.
Der arme Boaz. Im Alter von sechs Jahren Waise. Er war ein sensibler Junge, so wie Avaldamon, und er konnte den Tod unserer Mutter nicht verwinden. Ich war damals sechzehn, und ich verbrachte so viel Zeit mit ihm, wie ich konnte, aber…« Er schüttelte sich, und ich konnte erkennen, daß ihm die Schuld, nicht genug für Boaz da gewesen zu sein, immer noch zu schaffen machte. »Boaz, das arme Kind, verbrachte seine Zeit damit, die einzige Hinterlassenschaft seines Vaters an sich zu pressen, sich niemals von ihr zu trennen.«
»Das Buch der Soulenai«, sagte ich ohne nachzudenken.
»Ich weiß nicht, wie es heißt. Aber die Soulenai kamen in vielen seiner Geschichten vor. Sie und die Zuflucht im Jenseits.«
Er sah die Frage in meinen Augen. »Meine Mutter hat mir das erzählt. Ich weiß, daß sie Boaz ein paar der Geschichten erzählt hat. Sie hat auch mir welche erzählt. Wenn du davon weißt, dann nehme ich an, daß Boaz das Buch noch immer in seinem Besitz hat?«
Ich nickte.
»Nun, Boaz hat seine Mutter sehr vermißt. Er war schrecklich allein. Ich war immer häufiger fort, aber ich hätte da sein sollen, ich hätte es!«
»Hoher Herr, wir können nie all das sein, was wir wollen.«
Er lachte bitter. »Ein so kluger Kopf bei einer Sklavin! Nun, vielleicht macht einen ja Sklaverei klüger. Ich nehme an, daß du mit deinem Aussehen viel ertragen… nun, daß du etwas ertragen mußtest. Aber Boaz. Die Magier bekamen ihn. Er war ihnen ausgeliefert und von großem Nutzen für sie. Sie boten ihm Trost und einen Ort, an den er sich flüchten konnte, gerade, als er sich am verlassensten fühlte.«
»Ich habe etwas von ihm gelesen, das er geschrieben hat, als er neun war. Es war… traurig.«
»Ja. In diesem Alter hat er der Eins seine Seele vermacht. Sie verloren.«
»Er ist ein sehr mächtiger Magier, Hoher Herr. Er beherrscht die Macht der Eins auf außergewöhnliche Weise.«
»Er hat die von seinem Vater geerbten Fähigkeiten mißbraucht. Der Junge, den seine Mutter geboren hat, wurde einer Verwandlung unterzogen. Tirzah, willst du alles für ihn tun, was in deiner Macht steht?«
»Was in meiner Macht steht, Hoher Herr. Aber ich fürchte, es ist bereits zu spät. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Tu dein Bestes, Tirzah. Tu dein Bestes. Für Avaldamon, für sie, deren Namen du trägst, und für Boaz.«
Und damit ließ er mich stehen.
Ich blieb noch lange Zeit draußen und dachte staunend über den unerwarteten Verbündeten nach, den ich gefunden hatte. Aber was konnte er mir nutzen? Ich hatte das Gefühl, daß auch Zabrze nicht weiter wußte. Er hatte fast ebenso viel Angst vor der Pyramide wie ich, und konnte es nicht wagen, in der Öffentlichkeit über seine Befürchtungen zu sprechen.
Denn wer außer einer Sklavin würde ihm Glauben schenken?
Und nachdem ich ihm zugehört hatte, wer außer einer Sklavin würde ihm dann auch noch vertrauen?
Zabrze kämpfte wie ich gegen die Gier nach Unsterblichkeit.
Ich ging langsam zu Boaz’ Haus zurück, als mir plötzlich wieder einfiel, daß ich Azam mit einem von Zabrzes Offizieren hatte sprechen gesehen.
Ich wollte sofort Zabrze nachlaufen, aber es war zu spät. Er würde mittlerweile bei Neuf sein, und sie würde mein Eindringen ganz gewiß nicht gutheißen. Ich sann über ihre Gleichgültigkeit Zabrze gegenüber nach. Er war ein Mann, den ich sehr leicht hätte lieben können.
Aber ich war nur eine Sklavin, mit dem Geschmack einer Sklavin, und ich hatte keine Ahnung, was eine adlige Dame an einem Mann begehrenswert fand.
Boaz wartete im Bett auf mich, aber er wartete nur darauf, die letzte Lampe löschen zu können. Er war kalt und ungeduldig, und ich konnte sehen, daß der Magier sich nach dem Morgen verzehrte. Er wandte mir den Rücken zu, sobald ich mich neben ihn legte, und so verbrachten wir die Nacht. Die Pyramide hatte sich zwischen uns gedrängt.
Am nächsten Tag sollte das Ungeheuer gekrönt werden.