24

 

 

 

Die Pyramide war meine Nebenbuhlerin, die Geliebte, mit der ich nicht mithalten konnte. Im Verlauf der nächsten Tage versuchte ich ganz sanft und behutsam, Boaz zu der Einsicht zu bewegen, daß die Pyramide eine Bedrohung darstellte, ihn dazu zu bringen, daß er es zugab, aber er weigerte sich. Die Pyramide war der Gipfel, die Erfüllung allen Machtstrebens. Er behauptete, ich könne nicht verstehen, welche Macht sie über die Magier bringen würde, und deshalb würde er auch nicht erst versuchen, mir zu erklären, worin sie bestand.

Nachdem ich leidlich sicher war, daß Boaz mich nicht mehr umbringen würde, ergriff ich jede Gelegenheit über all das zu sprechen, was zuvor verboten gewesen war. Natürlich war ich auch weiterhin vorsichtig. Ich benutzte das Wort »Elementist« nie, aber ich bat ihn, mir von seiner Mutter zu erzählen, was sie ihm über seinen Vater berichtet hatte, und ob er je andere Geschichten über die Soulenai gehört hatte. Ich erzählte ihm von meiner Liebe zu Glas, und auch wenn ich nie direkt sagte, daß es mir etwas zuflüsterte, kam ich dem doch gefährlich nahe. Ich fragte ihn immer wieder, was die Frösche denn zu ihm »gesagt« hatten, und während er mich in jeder Nacht in seinen Armen hielt, bis der Schlaftrunk wirkte, bat ich ihn immer wieder, mir diese Worte zu wiederholen.

Boaz ertrug das alles mit unterschiedlicher Geduld… oder Ungeduld. Manchmal ließ er mich links liegen, oft besuchte er die Pyramide. Manchmal befahl er mir, endlich zu schlafen – und einmal flößte er mir völlig verzweifelt den Schlaftrunk ein, damit ich den Mund hielt. Manchmal ließ er mich auch reden, während er am Schreibtisch saß, und manchmal redete auch er.

Ich glaube, in den drei oder vier Tagen, nachdem ich aus der Zelle herausgebracht worden war, hatte Boaz eine Entscheidung getroffen. Meiner Meinung nach hätte sie weiterreichen können, aber er machte sich selbst gegenüber doch große Zugeständnisse. Er gestand sich ein, daß seine wahre Natur nicht der kalten, berechnenden Magiermaske entsprach, die er der Welt zeigte. Er besaß Wärme und Humor, und er bestritt das nicht länger. Er hatte mich in seine Residenz befohlen, und dann hatte er mich in sein Bett gebeten, aber nicht, um nur meinen Körper zu besitzen, sondern um mich zu lieben. Soviel gab er zu. Seine andere Hälfte als Magier würde lernen müssen, damit umzugehen. In meiner Gegenwart würde er immer er selbst sein und nicht von mir erwarten, daß ich so tat, als würde ich jemand anderen sehen oder etwas anderes erwarten. Jetzt entledigte er sich des Magiergewandes, wenn er bei mir war, und trug nur das einfache blaue Tuch um die Hüften.

Trotz aller Fortschritte gab er jedoch nicht zu, daß in ihm die Magie der Elemente schlummerte. Vielleicht erkannte er sie auch einfach nicht, und ich vermutete, daß er noch mehr Zeit brauchen würde, bevor man ihn dazu bringen konnte, daß er sie wahrnahm und dann vielleicht akzeptierte.

Ich fragte mich, wieviel Zeit wir noch hatten.

Viel besorgniserregender war die Tatsache, daß seine Faszination über die Pyramide und der durch sie zu erwartenden Macht nicht nachließ. Er war freundlich und unbekümmert in meiner Gegenwart und lachte mit mir, vielleicht gestattete er sich die liebevolle Erinnerung an seine Mutter und betrauerte den tragischen Verlust seines Vaters, aber nichts davon würde sein Verhältnis zu der Pyramide oder ihren abartigen Bedürfnissen beeinflussen.

Ich glaube nicht, daß es jemanden gab außer mir, der um die tiefgehenden Veränderungen in Boaz wußte. Außerhalb der Sicherheit seiner Residenz blieb er der furchteinflößende, berechnende, überlegene Magier. Es war sicherer so.

Und so trat er nach wie vor der Pyramide gegenüber, und sogar Isphet, die einmal am Tag kam, hatte keine Ahnung, welche Veränderungen meine Begegnung mit dem Tod in dem Magier hervorgerufen hatten.

 

 

Ich war jung und erholte mich relativ schnell. Acht Tage der Erholung im Bett entsprachen den acht Tagen, die ich in der Zelle wie ein Tier eingesperrt gewesen war, dann stand ich wieder auf. Ich war schwach, aber ich hatte keinen sichtbaren körperlichen Schaden davongetragen. Selbst mein Schoß war noch das harte Geschwür, das er gewesen war. Ich hatte gehofft, daß die viele Flüssigkeit, die Boaz und Isphet mir aufgezwungen hatten und die im Schwimmbecken verbrachten Stunden ihn möglicherweise aufgeweicht hätten. Aber anscheinend war das nicht der Fall.

Nun, Boaz hatte sich nicht so sehr verändert, daß er mir gestattet hätte, die Eins zu teilen, also seufzte ich und strich alle Gedanken an Kinder aus meinem Bewußtsein. Das hier war sowieso nicht der richtige Ort, und ich war noch immer eine Sklavin.

In der neunten Nacht, wir saßen am Fenster und blickten in den Garten hinaus, bat ich Boaz, mir noch einmal das Buch seines Vaters zu zeigen. »Möchtest du, daß ich dir daraus vorlese? Dort stehen noch viele andere Geschichten, und ich würde sie gern kennenlernen.«

Er dachte eine Weile darüber nach. Alte Gewohnheiten sind schwer zu überwinden. Aber schließlich holte er den Kasten und legte ihn mir auf den Schoß.

»Ist das nicht zu schwer für dich? Ich kann einen Tisch holen…«

»Er ist nicht zu schwer. Danke.«

Ich untersuchte den Kasten eingehend. Er war wirklich ganz außerordentlich. Der Handwerker mußte ein wahrer Künstler gewesen sein. Der ursprüngliche rubinrote Glanz des Holzes war mittlerweile nachgedunkelt. Aber man hatte viel Sorgfalt auf ihn verwandt, ihn regelmäßig eingewachst, und er war in gutem Zustand. Ich fuhr mit den Fingern über die Scharniere und das Schloß. Sie bestanden aus einer Bronzelegierung und flüsterten einander schläfrig zu. Sie waren so alt, daß sie außer an ihrem eigenen trägen vor sich hin Träumen an nichts anderem Interesse hatten.

Ich öffnete den Kasten, und Boaz nahm ihn mir ab, während ich das Buch heraushob.

»Es ist so schön, Boaz.«

»Ja.«

»Du hast es die ganzen Jahre behalten und stets mit dir mitgeführt?«

»Nein. Ich habe eine Residenz in Setkoth, nicht das Haus, das du kennengelernt hast, und für gewöhnlich liegt es dort in einem verschlossenen Schrank. Es lag jahrelang unberührt an diesem Ort. Aber nachdem ich die Frösche sah, die du an jenem Nachmittag geschliffen hast… sie haben mein Gedächtnis wachgerüttelt… und als ich die Vorbereitungen traf, hierherzukommen, habe ich es mitgebracht, auch wenn ich es nicht lesen konnte.«

»Aber du hast gedacht, ich könnte es vielleicht.«

»Ja. Irgendwo in meinem Hinterkopf schlummerte das Wissen, daß du und dein Vater hier seid, und daß vielleicht einer von euch mir die Geschichte noch einmal vorlesen könnte.« Ich lächelte. »Einer von uns?«

»Du.« Er konnte mein Lächeln erwidern. »Lies mir vor.« Und ich tat es. Ich las wieder das Lied der Frösche, und als ich in der Mitte der Geschichte angekommen war, stand Boaz auf und holte den Froschkelch vom Regal. Er setzte sich wieder und drehte ihn unablässig in den Händen, während die Geschichte sich ihrem Ende näherte.

Umarme mich, tröste mich, liebe mich.

Die lieblichen Stimmen summten durch den Raum, und als ich schwieg, saßen wir da und lauschten ihnen. Ich wußte, daß auch er sie hören konnte. Ich wußte es einfach.

»Mir machen diese Worte immer Mut«, sagte ich. »Dir muß es doch auch so gehen.«

Schweigen.

»Ja«, erwiderte er zögernd.

»Das hat dein Vater deiner Mutter vorgesungen. Ich glaube, das ist ein Teil des Liedes der Frösche.«

»Ja.«

»Glaubst du, wenn wir eines Tages das ganze Lied verstehen können – wenn du es mir einmal nachts vorsingen würdest –, dann könnten wir diese Zuflucht im Jenseits finden?«

»Treib es nicht zu weit, Tirzah!«

»Ich fürchte dich nicht mehr, Boaz.«

Er seufzte. »Sei vorsichtig. Wenn wir unter uns sind an diesem Ort gibt es Worte, die du sagen kannst, die anderswo nicht ausgesprochen werden dürfen.«

»Bestimmt nicht im Schatten der Pyramide.«

Da stand er gereizt auf und starrte aus dem Fenster. Dann goß er Wein in den Kelch. »Ich glaube, dir geht es gut genug, um einen Schluck davon zu vertragen.«

Er hielt mir den Kelch an die Lippen, so wie er mich auch in den vergangenen Tagen versorgt hatte, und ich nahm einen Schluck und lächelte, als er ebenfalls aus dem Kelch trank. Er setzte sich, zog den Stuhl heran, und ein paar Minuten lang teilten wir uns den Wein, teilten ihn uns aus dem Froschkelch.

»Soll ich noch eine andere Geschichte vorlesen?«

»Ja, ich glaube, das würde mir gefallen.«

Und so schlug ich das Buch an einer beliebigen Stelle auf und las eine Geschichte vor. Es war eine Geschichte aus der Frühzeit der Soulenai und wie sie ihre Magie entdeckt hatten. Anscheinend hatten sie eine Neigung zu Metallen und Edelsteinen entwickelt und den Reiz von Glas entdeckt.

Wieder ein sehr gefährliches Thema, und als die Geschichte zu Ende war, stand Boaz auf, füllte den Kelch erneut mit Wein und trank ihn mit vier großen Schlucken aus.

Für dieses Mal hatte ich es weit genug getrieben. Ich schlug das Buch zu, strich zum Dank sanft darüber, und legte es in den Kasten zurück.

»Boaz? Wo kommt der Kasten hin?«

»Ich stelle ihn hier in die Truhe. Vielleicht bitte ich dich einmal nachts, mir daraus vorzulesen. Und vielleicht, jetzt, da deine Übersetzung zur Seite gelegt wurde« – wir hatten beide aufgegeben, so zu tun, als sei ich hier, um trockene geometrische Abhandlungen zu übersetzen – »kannst du ja tagsüber selbst darin lesen.«

Boaz reinigte den Kelch und stellte ihn neben den Kasten. Nicht zurück in das vollgestellte Regal.

Dann holte er einen kleinen Kasten aus einer verschlossenen Schublade seines Schreibtisches.

Ich hatte nie zuvor dort hineingesehen, und den Kasten hatte ich auch noch nie zu Gesicht bekommen.

Wie in jener ersten Nacht, als er mit dem Kasten, der das Buch der Soulenai enthielt, auf dem Schoß dagesessen hatte, saß er geistesabwesend wieder da und trommelte mit den Fingern sanft auf dem Kasten.

»Tirzah, wenn ich dir diesen Kasten und seinen Inhalt gebe, versprichst du mir, mir niemals, aber auch wirklich niemals zu sagen, was du damit tust?«

»Natürlich, Boaz. Was ist es denn?«

Er hielt mir den Kasten hin, und ich nahm ihn mit zitternden Händen entgegen. Mir war übel, unbehaglich zumute, als wüßte ich aus einem unerfindlichen Grund über die Wichtigkeit seines Inhalts Bescheid.

Ich öffnete ihn… und starrte hinein, bis mein Blick vor Tränen verschwamm.

Dort lagen drei Locken aus schwarzem Haar, die mit dünnem Golddraht zusammengehalten waren… und eine Locke, die in Stein verwandelt war.

»Ich weiß«, sagte er langsam, »daß andere… manchmal gern den Toten selber oder sonst eine Erinnerung an ihn haben möchten, damit sie sich auf die richtige Weise von ihm verabschieden können… Sieh, diese Locke gehörte Raguel.«

Ich schluckte und mußte den Kasten fester halten, um meine Hände am Zittern zu hindern.

»Und diese hier ist von Ishkur.«

Ich holte zittrig Luft.

»Die… die gehörte Ta’uz«, sagte er.

Ich starrte ihn an.

»Tirzah, ich weiß nicht, wie sie zueinander standen, aber sie sind zusammen gestorben, und ich weiß, was ich für dich empfinde. Ich dachte…«

»Danke, Boaz«, flüsterte ich, und meine Tränen flossen jetzt unaufhaltsam.

»Und das.« Er nahm die Steinlocke. Er mußte mir nicht erklären, wem sie gehörte. Seine Finger schlossen sich darum. Er starrte seine Faust an, und etwas in seinem Gesicht veränderte sich.

Etwas geschah. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber in diesem Raum geschah etwas.

Als er die Faust wieder öffnete, lag eine Locke aus angegrautem blonden Haar in seiner Hand.

Er legte sie in den Kasten zurück und schloß den Deckel.

»Das hast du nicht gesehen«, sagte er, und zum ersten Mal seit vielen Tagen hörte ich einen gefährlichen Unterton in seiner Stimme. »Es ist nichts passiert.«

»Nein, natürlich nicht, Boaz. Aber ich danke dir für diesen Kasten. Sobald er… leer ist, werde ich ihn wohl für meine Koholstifte benutzen.«

Er stieß den Atem aus. »Ja, das scheint ein vernünftiger Verwendungszweck dafür zu sein. Morgen darfst du Isphet in ihrer Werkstatt besuchen, aber ich will nicht wissen, was dort vor sich geht, und ich will nicht, daß du lange dort bleibst.«

 

 

Kiamet begleitete mich zur Werkstatt und beschwerte sich den ganzen Weg darüber, daß solch ein Ausflug noch zu früh für mich sei.

»Ich werde mich in die Arme des Wahnsinns werfen, wenn ich nicht endlich ein Stück zu Fuß gehen kann, Kiamet, und so weit ist es wirklich nicht.«

Er wartete draußen. »Beeil dich«, sagte er, und in seiner Stimme lag Furcht.

»Kiamet, ich brauche so lange, wie es dauert. Warte. Folge mir nicht.«

Er nickte und sah unglücklich aus.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, wurde ich in eine feste Umarmung gerissen.

Yaqob! Ich war überrascht, nicht nur über die Heftigkeit seiner Umarmung, sondern weil ich seit Tagen nicht mehr an ihn gedacht hatte. Viele Tage. Armer Yaqob.

Ich küßte ihn sanft und bat ihn, mich loszulassen.

»Bald«, flüsterte er wild. »Bald haben wir dich von diesem Stück Käferscheiße befreit. Ich selbst werde ihn töten!«

»Yaqob! Nein!«

»Nein?« Sein Griff lockerte sich. »Nein?«

»Nein. Äh, ich meine, wir müssen vorsichtig sein. Sicher. Wann soll der Aufstand stattfinden?«

»Bald«, sagte er und küßte mich auf die Wange. »Bald.«

»Wann?«

»Pst, mein Liebling. Wir warnen dich vorher. Sagen dir, wann du dich bereithalten sollst.«

Ich wollte ihn weiter befragen. Sicherlich würde er doch nichts tun, ohne es mir vorher zu sagen! Aber die anderen kamen heran, umarmten mich, küßten mich, sagten mir, wie sehr sie mich vermißten.

Schließlich rettete Isphet mich und brachte mich zusammen mit Yaqob und Zeldon in den ersten Stock hoch.

»Was trägst du da, Tirzah?« fragte sie.

»Oh, Isphet!« Ich öffnete den Kasten und zeigte ihnen die Haare. »Locken von Raguel, Ishkur, Druse… und Ta’uz!«

Ich bezweifle, daß ich sie irgendwie mehr hätte schockieren können, es sei denn, ich hätte verkündet, daß Boaz ein Elementenmeister war.

Isphet griff mit zitternden Händen nach dem Kasten. Sie starrte ihn an, dann sah sie mich scharf an. »Wie bist du daran gekommen?«

Oh, wie würde ich froh sein, wenn diese ganze Schauspielerei ein Ende fand. »Ein Sklave hat geholfen, die meisten Leichen fortzuschaffen. Er hat ihnen die Locken abgeschnitten.«

»Druse auch?« fragte Yaqob. »Wie denn nur? Wir alle haben ihn gesehen.«

»Als sie seine Leiche wegtrugen, brach ein Stein ab.« Ich mußte den Schmerz in meiner Stimme nicht vortäuschen. »Der Sklave hob ihn auf, und über Nacht verwandelte er sich abseits der Pyramide zurück in Haar.«

»Welcher Sklave?« wollte Isphet wissen.

Konnte sie denn nicht Ruhe geben! »Isphet, ich kenne seinen Namen nicht. Ein Sklave. Mittleren Alters. Ich habe ihn in der Dunkelheit kaum sehen können.«

»Und Ta’uz?« sagte Zeldon. »Ta’uz? Warum sollten wir eine Locke von ihm…«

»Sie sind zusammen gestorben, Zeldon«, sagte ich voller Anspannung wegen meines Täuschungsmanövers. »Sie haben ein Kind gezeugt, das wir zu der Zuflucht im Jenseits geschickt haben. Ich hielt es für passend, daß wir ihn gemeinsam mit der Mutter seines Kindes losschicken.«

»Und keine anderen Locken?« bohrte Isphet. »Mehr hat er nicht gesammelt?«

»Verdammt, Isphet! Mehr hat er mir nicht gegeben! Ich weiß nicht, warum er bei dem einen eine Locke abgeschnitten hat und bei dem anderen nicht. Vielleicht hat er gewußt, daß sie mir möglicherweise etwas bedeuten könnten, vielleicht war es auch purer Zufall! Wenn du willst, nehme ich den Kasten wieder mit und werfe ihn…«

»Nein. Nein, es tut mir leid, Tirzah. Ich wollte nicht undankbar klingen. Ich frage mich, wann wir sie verabschieden können.«

»Jetzt«, sagte ich. »Man wird uns nicht stören. Boaz ist an der Pyramide beschäftigt und erwartet mich vor einer Stunde ganz sicher nicht zurück.«

Isphet sah mich wieder an, und ihr Blick war durchdringender als je zuvor.

 

 

Wir sandten sie mit der angemessenen Andacht und mit frohem Herzen auf ihre Reise in die Zuflucht im Jenseits. Mir gefällt der Gedanke immer noch, daß Ta’uz überrascht, aber dennoch froh war, in eine solche Ewigkeit geschickt zu werden, und daß seine Tochter da sein würde, um ihn in diesem Land willkommen zu heißen, in dem alle miteinander fröhlich waren.

Selbst die Ermordeten mit ihren Mördern. Aber ich glaube, daß solche Vorstellungen an diesem Ort keine Rolle spielten. Druse war auch überrascht, aber dankbar, und ich war dankbar – nein, mehr als dankbar –, daß Boaz mir zu dieser Tat verholfen hatte.

Die Soulenai schauten zu und nickten mir zu. Sie würden durch den Froschkelch beobachtet haben, was Boaz mit der Steinlocke gemacht hatte.

Überzeuge ihn, liebe Tirzah. Nur er kann die Pyramide zerstören, raunten sie mir zu.

Nachdem die wirbelnden Farben sich wieder beruhigt hatten, wandte ich mich Yaqob zu. »Wann ist der Aufstand? Ich kann es kaum erwarten. Ich muß es wissen.«

»Pst, Tirzah.« Ich nahm einen Kuß in Kauf. »Vor dem Einweihungstag. Es muß vorher geschehen.«

»Ja, aber wann?«

»Es ist sicherer für dich, wenn du es nicht weißt. Ich fürchte jede Nacht, daß Boaz dich so lange schlägt, bis dir dann doch etwas entschlüpft…«

»Yaqob! Ich habe acht Tage in dieser Zelle verbracht und nichts ist mir ›entschlüpft‹!«

»Ach, meine Geliebte. Ich weiß ja. Aber ich fürchte um dich, weil du bei ihm bist. Glaube mir. Ich werde dich retten. Hast du noch etwas gehört, das nützlich sein könnte?«

 

 

In der Residenz legte ich mich erst einmal eine Stunde lang hin, denn die Unternehmungen des Nachmittags hatten mich ermüdet. Dann bereitete ich mich auf Boaz’ Rückkehr vor.

Er kam erst nach Einbruch der Dunkelheit, und das paßte mir gut.

»Hat Holdat kein Essen vorbereitet?« fragte er. »Ich bin müde und hungrig und will nicht mehr warten.«

Ich bat ihn, sich zu gedulden und führte ihn durch das Haus in das schöne Schwimmbad mit der Kuppeldecke. Der Duft der brennenden Kerzen und der nachtblühenden Glyzinie, der aus den Gärten hereinwehte, empfing uns. Ich hatte die Fenster ein wenig geöffnet. Niemand konnte hereinsehen. Kerzen schwammen auf dem Wasser und warfen weiche Schatten.

Ein kleiner Tisch stand mit einer Mahlzeit bereit und mit Wein, aber es gab nur einen Kelch. Den Froschkelch.

Ich führte Boaz dorthin und entkleidete ihn, bevor er sich setzte, vorher schlang ich das blaue Tuch um seine Hüften und knotete es. Dann drückte ich ihn sanft auf den Stuhl nieder und wusch ihm Füße und Hände, wie er es einst von mir verlangt hatte, bevor wir mit dem Schreibunterricht begannen.

»Fühlt sich seine Exzellenz wohl?« fragte ich mit einem Lächeln.

Er nickte, und der Blick in seinen Augen war so schattenhaft und intim wie der Raum selbst.

Dann setzte ich mich und bediente ihn; eine Umkehr der Rollen, denn für gewöhnlich bediente Boaz mich. Ich schnitt zarte Scheiben von einem Filet aus kalten, mit Honig gesüßten Lamm, daneben legte ich Brot, Gemüse und Obst.

»Willst du nichts essen?« fragte er, als ich das Messer ergriff und das Fleisch schnitt.

»Ich habe bereits gegessen. Laß mich dich bedienen.«

Und so wie er mich mit zarten Bissen verwöhnt hatte, so verwöhnte ich ihn nun, aber ich benutzte meine Finger statt Besteck, und wischte ihm den Mund mit einem Zipfel meines Gewandes statt mit einem Mundtuch ab.

»Trink«, sagte ich und goß Wein in den Kelch.

Er gehorchte, aber dann hielt er den Kelch an meine Lippen, damit auch ich trank.

Umarme mich, tröste mich, behüte mich, liebe mich.

»Ich habe heute nachmittag noch eine Geschichte aus dem Buch deines Vaters gelesen, Boaz«, sagte ich. »Möchtest du, daß ich sie dir erzähle?«

»Gerne.«

»Aber nicht hier. Komm und nimm den Wein mit.«

Ich stellte Kanne und Kelch an den Beckenrand, dann schlüpfte ich aus meinem Gewand.

Seine Hände glitten zu dem verknoteten Tuch um seine Hüften.

»Nein«, sagte ich. »Laß mich das machen.« Und ich löste die Knoten.

Das Wasser war kalt und roch sehr süß, ich nahm ein Tuch und wusch ihn, lächelte, als er sich an den Beckenrand lehnte und aus dem Froschkelch trank.

Umarme mich, tröste mich, behüte mich, liebe mich.

»Warum machst du das alles?«

»Weil ich dir für den Kasten danken wollte. Meine Koholstifte sehen sehr hübsch darin aus. Und jetzt sei still, ich will dir eine Geschichte erzählen.«

Ich legte die Arme um ihn und bettete den Kopf auf seine Brust, trieb sanft neben seinem Körper, und ich erzählte ihm eine Geschichte von den Soulenai, die keine gefährlichen Zwischentöne hatte, sondern nur von ihrer Liebe füreinander und für ihr Volk und ihre Hoffnungen auf eine friedliche Welt berichtete. Und als ich geendet hatte, nahm ich seine Hände und legte sie dorthin, wo ich fand, daß sie am besten aufgehoben waren.

»Umarme mich, tröste mich, behüte mich, liebe mich«, flüsterte ich, und das tat er.