5
Nach zwei Wochen verschwanden die Wächter, und ein jeder in der Werkstatt atmete auf, wenn auch nur ein wenig. Ich glaube, das lag an den beiden Fremden – an meinem Vater und mir. Zwar begegneten uns alle freundlich, aber sie zeigten auch eine Zurückhaltung, hinter der sich Wachsamkeit verbarg. Große Wachsamkeit.
Ich fragte mich, welche Geheimnisse sie hüteten, aber in diesen ersten paar Wochen war ich einfach nur erleichtert, in einer Umgebung arbeiten zu können, die ich verstand, und zusammen mit Leuten, die ich mochte. Orteas und Zeldon waren viel erfahrener als ich, und sie zeigten mir viele neue Techniken und Werkzeuge, die mir in der Kunst des Glasnetzschleifens nützlich sein konnten.
Wir arbeiteten nach den Plänen, die die Magier uns schickten, die sorgfältig gezeichnet und ausgemessen waren. Keines ihrer Muster ergab einen Sinn für mich, nicht nur, weil ich nicht lesen und schreiben konnte, sondern auch weil jedes Teil, das wir schnitten, nur ein Ausschnitt einer ganzen Platte war, und es enthielt nur Fragmente von Zahlen, Worten oder Symbolen, die sie schließlich bilden würden. Das freute mich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß Fragmente mir schaden konnten.
Orteas und Zeldon unterrichteten mich, aber sie beobachteten mich auch, fast so sorgfältig wie Isphet. Nachdem die Wächter gegangen waren, verbrachte sie jeden Tag viel Zeit in dem oberen Arbeitsraum, in dem wir Glasnetze herstellten. Manchmal plauderte sie, manchmal stellte sie Fragen, manchmal erzählte sie mir Geschichten über Gesholme und über die Magier, aber immer beobachtete sie mich dabei.
»Du kannst sehr gut mit Glas umgehen«, sagte sie eines Tages überraschend zu mir, und unterbrach damit ihre Geschichte von dem Tag, an dem der Lhyl über die Ufer trat und die Mauern beinahe zum Einsturz gebracht hätte, die Gesholme umgaben. »Fast, als könntest du mit ihm sprechen.«
Ich hielt den Kopf gesenkt, fühlte das Erschauern des Glases unter meinen Fingern. Isphet stellte wunderbares Glas her – tatsächlich war es sogar außergewöhnlich. Noch nie zuvor hatte ich solches Glas bearbeitet.
Sie wartete auf eine Antwort, und so zuckte ich schließlich mit den Schultern und schützte Desinteresse vor. Wenn sie mir nicht sagen wollten, warum sie mich beobachteten, dann würde ich ihnen auch nicht meine Geheimnisse verraten. »Ich bin stolz auf meine Arbeit, Isphet. Das hat mir mein Vater beigebracht.«
Sie schwieg, und schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen und hob den Blick. Isphet starrte mich an. »Ich war vor vier oder fünf Tagen in Izzalis Werkstatt, Tirzah. Ich habe Mayim kennengelernt, der zusammen mit dir den Fluß heruntergekommen ist. Er war erstaunt über die Geschicklichkeit, mit der du das Glas vor den Magiern bearbeitet hast. Er meinte, er könne sich nicht vorstellen, daß selbst ein sehr guter Handwerker jemals so etwas zustande bringen würde, was du geschaffen hast. Er sagte, es wäre fast so gewesen, als hättest du Magie in den Fingern. ›Magie‹, Tirzah?«
Ihr Blick ließ mich nicht los, doch ich schwieg.
»Niemand kann solches Glas bearbeiten, solches Glas dazu bewegen, sich seinem Willen zu beugen, es sei denn, sie kann…« Zeldon verstummte, als Isphet ihn scharf ansah.
»Ich habe ein gutes Ohr für das Pochen des Meißels und das Bohren ins Glas, Isphet«, sagte ich. »Das ist alles. Du mußt doch wissen, daß jeder, der Glas bearbeitet, ein Gehör für das ›Singen‹ entwickelt, wenn der Bohrer sich hineinarbeitet. Melodisches Singen bedeutet, daß das Glas gut zermahlen wird, aber wenn das Glas kreischt oder schreit, dann muß man mehr Öl nehmen, um das Eindringen des Bohrers zu erleichtern. Ich benutze keine andere Magie als ein gutes Ohr, ein sicheres Gespür dafür, wann ich einer Bruchlinie zu nahe komme, und die Erfahrungen einer jahrelangen Geduld. Vielleicht ist Mayim von meinem Geschick übertrieben beeindruckt.«
»Vielleicht«, erwiderte Isphet leise, »aber ich frage mich, ob dein Talent für das Glas nicht mehr als reine Technik ist.« Sie stand auf. »Nun, ich sollte wieder hinuntergehen. Ich freue mich darauf, unser Gespräch heute abend fortzusetzen, Tirzah.«
Ich wurde der Ausflüchte müde, aber ich hielt mich zurück. Ich hatte begriffen, daß die Handwerker in dieser Werkstatt etwas vor mir verbargen, aber ich hatte auch begriffen, daß sie von meiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt sein mußten, bevor sie es enthüllen konnten.
Gerade, als Isphet den Raum verließ und ich mich wieder über die Arbeit beugte, trat Yaqob ein.
Hinter ihm kam ein Magier.
Wir drei erstarrten, die Werkzeuge in unseren Händen wie festgefroren. Ich starrte den Magier an. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen; seine dicke Nase hätte ihn lustig aussehen lassen, hätte nicht die Macht der Eins in seinen Augen gebrannt.
Yaqobs Benehmen war untadelig. Hätte ich nicht bei zahllosen Gelegenheiten seinen Haß auf die Magier gesehen, hätte ich ihn jetzt für einen ihrer glühendsten Bewunderer gehalten.
Er verbeugte sich tief, während er sprach, seine Stimme war leise und respektvoll. »Exzellenz Kofte hat darum gebeten, daß Orteas oder Zeldon ihn und mich in die Kammer zur Unendlichkeit begleiten, um das Einfügen mehrerer Glasnetztafeln zu überwachen.«
»Ihr kennt die Belastung, die solches Glas verträgt, besser als alle anderen«, sagte Kofte träge und spazierte zu unserem Tisch. »Es wäre sehr schade, es jetzt, wo es endlich ausgelegt wird, zu zerbrechen.«
Er war hinter meinem Stuhl stehen geblieben, und der sanfte Luftzug seiner Bewegungen ließ ein paar lose Haare in meinem Nacken wehen. Oder war es die flüchtige Berührung von Fingern?
Ich starrte Yaqob flehend an, aber es gab nichts, das er sagen oder tun konnte. Sein freundlicher Gesichtsausdruck geriet nicht ins Schwanken, und er wartete mit leicht gesenktem Kopf und gefalteten Händen auf den Befehl des Magiers.
»Du bist neu hier«, sagte Kofte plötzlich.
»Ja, Exzellenz«, schaffte ich hervorzustoßen.
»Dein Name?«
Ich öffnete den Mund, aber mein Entsetzen hatte mir Hals und Mund so ausgetrocknet, daß ich keinen weiteren Ton mehr hervorbrachte.
»Ihr Name ist Tirzah, Exzellenz«, sagte Yaqob, und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Kofte beugte sich über meine Schulter, sein Arm strich über meine Haut, und er drückte das Glas, das ich in der Hand hielt, ein wenig zur Seite, um es besser sehen zu können.
Ich war davon überzeugt, daß er das Zittern meiner Finger durch das Glas fühlen konnte, und ich war davon überzeugt, daß er lächelte, als er es fühlte.
»Du schleifst das Glasnetz mit großem Geschick, junge Tirzah«, sagte er. »Kennst du dich mit der Spannung solcher Gläser aus?«
Ich entdeckte dankbar, daß meine Stimme zurückgekehrt war. »Ja, Exzellenz.«
»Gut.« Koftes Tonfall war jetzt energisch. »Hast du das Innere der Pyramide bereits gesehen, Tirzah?«
»Nein, Exzellenz.«
»Dann wirst du es jetzt. Orteas, Zeldon, ihr dürft bei eurer Arbeit bleiben. Tirzah wird mich zur Pyramide begleiten.«
Ich war hin- und hergerissen zwischen Unbehagen und Aufregung. Ich war nicht einmal in der Nähe der Pyramide gewesen, geschweige denn in ihrem Inneren… aber die letzte Person, die ich mir als Begleiter wünschte, war ein Magier.
Aber Yaqob würde da sein, und seine Anwesenheit würde mir helfen.
Wir verließen die Werkstatt und folgten der Gasse nach Norden; Yaqob und ich blieben ein Stück hinter Koftes schleppenden Schritten zurück. Yaqob riskierte es, mir ein kleines Lächeln zuzuwerfen, und ich wurde ein bißchen entkrampfter, entschlossen, seine Gesellschaft zu genießen.
Die Gasse führte zu einer schmalen Straße, die von dem Lärm und Gestank der Metallwerkstätten erfüllt war, und diese wiederum führte zur Hauptdurchgangsstraße der Baustelle der Pyramide.
Ich warf einen Blick auf die Siedlung der Magier, als wir an ihren Toren vorbeikamen. Im Gegensatz zu der heißen Enge Gesholmes war die Siedlung der Magier geräumig, ihre von Palmen beschatteten Alleen wurden von vom Fluß gespeisten Kanälen und Teichen gekühlt.
Ich hoffte, dort niemals wieder einen Fuß hineinsetzen zu müssen.
Die Pyramide erhob sich im Osten über Gesholme und die Siedlung der Magier. Genau wie bei den beiden Siedlungen wurde auch die Baustelle von einer Mauer umgeben, aber sie war nicht so massiv und diente hauptsächlich dazu, die Werkzeuge und das Baumaterial zu schützen, das nachts dort lag.
Niemand verbrachte nach Sonnenuntergang mehr Zeit auf der Baustelle, als unbedingt notwendig war.
Kofte führte uns durch die Straße zur Pyramide, dann durch das breite, offenstehende Tor. Ein wahrer Strom von Arbeitern bahnte sich hier seinen Weg: Steinmetze, Zimmermänner, Architekten, Ingenieure, eine große Anzahl von Trägern, die Glasplatten trugen – vermutlich für die Innenwände, denn Yaqob hatte mir erzählt, daß man die äußere Glasschicht zuletzt anbringen würde – und ein paar Glasmacher, denen Yaqob stumm zunickte. Jeder Arbeiter war wie Yaqob und ich so luftig gekleidet wie möglich. Frauen trugen Wickelkleider und Männer Lendenschurze.
Zwischen den Arbeitern bewegten sich die Magier. Sie schienen überall zu sein. Manche überprüften Pläne und Berechnungen unter schattigen Segeltuchmarkisen. Andere standen an Ecken oder auf Baikonen und musterten die Passanten. Einige saßen auf Stühlen im Schatten breiter Palmblätter und machten sich Notizen auf Papyrus, während sie beobachteten, wer wohin ging und warum.
Als wir uns der Pyramide näherten, sah ich auch mehrere Magier, die sich als Silhouette vom Horizont abzeichneten, die bewegungslos auf den Mauern der Pyramide standen und etwas für mich Unsichtbares anstarrten.
Als wir uns dem Eingang näherten, blieb Kofte plötzlich stehen. Yaqob und ich wären beinahe in ihn hineingelaufen. Wir traten hastig ein paar Schritte zurück.
Er breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, als er übertrieben tief Luft holte.
»Könnt ihr es fühlen?« fragte er und drehte sich um, und ich konnte sehen, wie in seinen Augen der Wahnsinn leuchtete.
»Sie hört nie auf, mich zu erstaunen und zu inspirieren, Exzellenz«, murmelte Yaqob, und ich murmelte etwas Ähnliches.
Dann fühlte ich ihren Schatten. Das war seltsam, denn wir hielten uns nun schon seit einiger Zeit im Schatten der Pyramide auf. Aber in genau diesem Augenblick fühlte ich sie tatsächlich. Doch sie erstaunte und inspirierte mich nicht; statt dessen erfüllte sie mich mit Furcht und dem schrecklichen Gefühl eines solch gewaltigen Verlustes, daß ich glaubte, davon überwältigt zu werden.
Ein Wimmern entfuhr mir, und Yaqob griff nach meinem Arm, als ich schwankte.
»Es ist für sie das erste Mal, Exzellenz«, sagte er, und ich spürte, wie sich seine Finger um meinen Ellbogen schlossen. »Tirzah, Mut!« flüsterte er.
Es gelang mir, mich aufzurichten, und irgendwie zwang ich ein Lächeln auf mein Gesicht. »Sie ist ein Wunder, Exzellenz«, krächzte ich.
Kofte starrte mich an, und ich fragte mich, ob er wußte, wie ich mich fühlte. Aber schließlich drehte er sich um und ging weiter… in die Pyramide hinein.
Yaqob ließ mich los, aber flüsterte mir aufmunternd zu, und meine Beine gehorchten mir wieder und trugen mich weiter.
Die Öffnung befand sich in der Südseite, war etwa zehn Schritt breit, fünf hoch und lag dreißig Schritt über dem Boden der Pyramide. Eine Rampe führte zu ihrem Rachen hinauf (irgendwie habe ich diesen Eingang von Anfang an als Rachen betrachtet), und als wir in die Höhe stiegen, senkte ich den Kopf und versuchte, mich nicht noch einmal vom Schatten der Pyramide überwältigen zu lassen. Er hatte mich einmal überrascht, und hatte sie wissen lassen, welche Angst ich hatte, aber ich war entschlossen, daß mir das nie wieder passieren sollte.
Die Rampe wurde waagerecht, das Licht verblaßte, und wir waren drinnen.
Ich hob meinen Blick.
»Kommt, kommt«, sagte Kofte ungeduldig, der auf uns wartete, und führte uns auf dem Hauptgang in die Pyramide hinein. Zwanzig Schritt lang verlief er flach, dann kam eine sanfte Steigung hinzu, die sich wie die Wendeltreppen wand, die ich auf Vilands Walfängern gesehen hatte. Die Steigung nahm zu, die Biegungen wurden schmaler, und ich atmete schneller, während meine Beine immer stärker schmerzten.
Leichte Echos wehten über die gewundenen Wände, aber ich verschloß Augen und Herz dagegen. Ich war der festen Überzeugung, daß ich bei genauerem Zuhören von Panik überwältigt werden würde und hinausliefe. Also wappnete ich mich gegen sie, und sie verschwanden beinahe.
Von dem Hauptgang zweigten Schächte und weitere Gänge ab, aber sie wurden seltener mit zunehmender Höhe, und die Zahl der Arbeiter und Magier nahm ebenfalls ab, bis nur noch Kofte, Yaqob und ich in das Herz der Pyramide stiegen.
Das Herz. Ob es wohl schlug, wie ein warmes, menschliches Herz?
In dem Augenblick, in dem mir dieser Gedanke kam, schalt ich mich eine Närrin. Was befürchtete ich eigentlich? Das war ein Gebäude wie jedes andere auch, oder nicht? Gebaut für die Ewigkeit, würde es wohl kaum in dem Augenblick einstürzen, in dem ich sein Herz betrat, oder?
Oder doch?
Die Echos wurden stärker; sie griffen störend in meine Gedanken ein, und ich mußte mir auf die Lippen beißen, um sie von mir fernzuhalten.
Yaqob hatte mein wachsendes Unbehagen bemerkt, denn jetzt sprach er wieder, gab mir den Trost einer menschlichen Stimme, an die ich mich klammern konnte.
»Exzellenz, Tirzah interessiert sich für das Licht. Wollt Ihr es ihr erklären? Ich… das liegt jenseits meiner geistigen Möglichkeiten.«
Beinahe hätte ich gelächelt, in diesem Moment liebte ich ihn für seine Rücksichtnahme und seine amüsante Schmeichelei dem Magier gegenüber. Sicherlich würde der Mann Yaqobs Worte auch als eine solche erkennen?
Doch anscheinend war das nicht der Fall. Kofte nahm Yaqobs Bemerkung für bare Münze und sprach über die Schulter, während er weiter in die Höhe stieg.
»Ich will versuchen, meine Worte so zu wählen, daß auch du sie verstehst«, fing er an, und Yaqob blinzelte mir fröhlich zu. Ich mußte mich anstrengen, ein ernstes Gesicht zu machen.
Obwohl ich sehr belustigt war, hörte ich auf einmal gebannt zu, denn mir war noch gar nicht bewußt geworden, daß das Innere der Pyramide vom sanften Licht der Sonne wie bei einem Sonnenaufgang erhellt wurde.
»Von außen scheint die Pyramide aus solidem Stein zu bestehen, aber das stimmt nicht. Sie ist eher luftig als massiv, und mehr Licht als Dunkelheit. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Schächten durchbohren sie, nicht nur von der Außenwand zu den Innenkammern, sondern auch Schächte, die solche Gänge wie diesen hier mit anderen verbinden, und kleinere Schächte, die wiederum miteinander verbunden sind. Am Ende wird alles mit Glas verkleidet sein und einander spiegeln…«
Ich schaute mir das Mauerwerk zu meiner Linken an. Ja, da waren kleine Spalten im Mörtel, in denen sich das Glas in seiner Fassung verankern ließ.
»… und viele der kleineren Schächte sind das bereits. Sie leiten das Licht von draußen ins Innere. Siehst du?« Seine Hand deutete in die Höhe, und mein Blick folgte ihr. Die winzige Öffnung über uns war keine Schachtöffnung, sondern eine Lichtquelle, sie leuchtete.
»Und hier.« Seine Hand wies auf ein ähnliches Leuchten an der Wand rechts von uns. Jetzt, da ich wußte, wonach ich Ausschau halten mußte, entdeckte ich noch weitere. Ihre Leuchtkraft war so gering, daß es fast unmöglich war, sie zu erkennen, bis man auf sie aufmerksam wurde.
»Dann wird die Pyramide vor Licht pulsieren, wenn sie eines Tages fertig ist, Exzellenz«, sagte ich unvorsichtigerweise, aber noch immer fasziniert von dem System, das für ein solches Licht sorgen konnte.
Kofte blieb ruckartig stehen und fuhr herum. »Was meinst du damit?«
»Nichts, Exzellenz«, sagte ich mit klopfendem Herzen. Warum hatte ich nicht den Mund halten können? »Ich dachte bloß… mit diesen vielen… und dem Glas…«
Er starrte mich noch einen Augenblick lang an, dann kam er zögernd zu dem Schluß, daß ich es nicht böse gemeint hatte. »Wir sind fast da«, sagte er kurz angebunden. »Yaqob, ich hoffe, du hast nicht vergessen, dein Maßband mitzubringen.«
Yaqob tätschelte die Werkzeugtasche, die von einem Gürtel um seine Hüften baumelte. »Ja, Exzellenz.«
Kofte war bereits um die nächste Biegung verschwunden, und Yaqob und ich eilten ihm hinterher. Ich hielt meinen Blick wieder gesenkt, nicht ganz so ängstlich wie zuvor, aber sicherlich wachsamer.
Mir blieb aber keine Zeit für weitere Überlegungen, denn vor mir öffnete sich die Kammer zur Unendlichkeit, und die vorige Vorahnung von einem kommenden Verlust kehrte zurück und steigerte sich zu unendlicher Trauer und Verzweiflung.
Trotz der Intensität dieser Gefühle konnte ich mich jetzt besser beherrschen und dachte nicht daran, mich davon überwältigen zu lassen. Ich atmete mehrmals tief durch und starrte auf Yaqobs Rücken, als wir die Zentralkammer betraten.
Dann nahm ich allen Mut zusammen, den ich hatte, hob den Kopf und sah mich um.
Die Kammer zur Unendlichkeit war selbst wie eine Pyramide geformt. Vier Wände strebten vom Boden schräg auf einen Zentralschacht zu, der, wie mir klar wurde, zur Spitze der Pyramide führte, wo schließlich der Schlußstein liegen würde. Das hatte Yaqob also mit der Bemerkung gemeint, die Kammer habe keine Decke. Der Boden maß ungefähr fünfzehn Schritt im Quadrat, und von seiner Mitte bis zum Scheitelpunkt der Wände waren es weitere fünfzehn. Ich betrachtete den Boden genauer. Er bestand aus einer einzigen massiven Glasplatte, und ich konnte sehen, daß darunter Platz für die später folgenden goldenen Glasnetze gelassen worden war – denn niemand konnte über diese zerbrechlichen Gebilde gehen.
Ich betrachtete die Wände. Etwa ein Fünftel davon waren mit Orteas’ und Zeldons Arbeit bedeckt, und jetzt konnte ich erkennen, daß die kleinen Tafeln, an denen sie – und seit kurzem auch ich – gearbeitet hatten, zu einer komplizierten Rechenformel aus Zahlen, Worten und geometrischen Symbolen zusammengesetzt worden waren.
Übelkeit schoß plötzlich in mir hoch, und ich glaube, ich muß sämtliche Farbe aus dem Gesicht verloren haben, denn Yaqob machte einen besorgten Schritt auf mich zu.
»Yaqob!« bellte der Magier, und ich winkte Yaqob, er solle stehenbleiben.
»Es war nur der Aufstieg… keine Luft…«
Er konnte mir die Lüge vom Gesicht ablesen, aber er wandte sich wieder Kofte zu und holte das Maßband heraus. Yaqob war einer der geschicktesten Glasschneider der Baustelle, und ich sah, daß Kofte ihn brauchte, um einige feine Verbindungsplatten aus schlichtem Goldglas auszumessen, die Verbindungen zwischen den Hauptflächen aus Glasnetzen herstellen sollten.
Während sie ausmaßen, trat ich näher an eine der fertigen Flächen heran. Ich hob die Hand und berührte sie, obwohl meine Finger so sehr zitterten, daß ich Angst hatte, das Glas womöglich zu zerbrechen.
Sofort wurde ich bis ins Mark von der Macht des Bösen getroffen. Das Glas schrie, flehte, schluchzte – gefangen in einer Welt ohne Leben, die schlimmer als der Tod war.
»Hilf uns«, rief es, »hilf uns, bitte!«
Ich rang verzweifelt nach Luft und verlor endlich das Bewußtsein.