25

 

 

 

In zwei Tagen würde der Schlußstein gesetzt werden, am darauffolgenden Tag sollte die Pyramide der Macht der Eins geweiht werden. Heute sollten Chad Nezzar, der größte Teil seines Hofstaats, die meisten Adligen, sämtliche Magier und Tausende Zuschauer aus Setkoth eintreffen.

Ich war sehr unruhig. Ich fürchtete mich vor der Fertigstellung der Pyramide, fürchtete mich vor dem Tag, an dem sie mit Macht erfüllt sein würde. Aber ich fürchtete ihre Fertigstellung auch, weil das das Signal zu Yaqobs Aufstand war. Ich konnte beinahe spüren, daß die Vorbereitungen weiter fortschritten, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wann es soweit war… oder wie es geschehen sollte.

Ich sah mich nach Boaz um, konnte ihn aber nicht sofort entdecken. In unserem Haus war er ein glücklicher Mann, aber was nutzte das, wenn jenseits der Veranda noch immer der Magier herrschte? Er war noch immer keinen Schritt weitergekommen, die Seite seiner Natur zuzugeben, die ihre Kräfte aus den Elementen schöpfte, geschweige denn sie zu erforschen.

Tatsächlich war er davon weiter entfernt als je zuvor, während sich die Pyramide ihrer Fertigstellung immer schneller näherte. Er war von ihr und der Macht, die sie versprach, so in Bann geschlagen, daß er keinen anderen Gedanken mehr zulassen konnte. Im Verlauf der letzten Wochen hatte er den Froschkelch nicht mehr angefaßt, und ich hatte ihm auch nicht aus dem Buch der Soulenai vorlesen dürfen.

Die Soulenai quälte das genauso wie mich, wenn nicht noch mehr. Ich hörte sie in der Nacht aus dem Froschkelch flüstern, aber Boaz ließ sich nicht in seinem Schlaf stören.

Ich seufzte und lächelte dem Jungen hinter mir dankbar zu, der den Sonnenschirm über meinen Kopf hielt. Die Sonne war eine große, rote Kugel am Himmel, die sich in einem Hitzeflimmern wälzte.

Ich wartete direkt vor den Toren von Gesholme, stand unauffällig direkt an der Mauer. Der Kai vor mir funkelte im Sonnenlicht. Sklaven hatten seine Steine vier Tage lang geputzt und mit Sand gescheuert, um ihn für zahllose königliche und adlige Füße präsentabel zu machen. Zu beiden Seiten des Kais standen Wächter, ihre Waffen und Rüstungen funkelten, die unterschiedlich bunten Quasten ihrer Einheiten flatterten im leichten Wind in allen Farben des Regenbogens. Vor den Wächtern standen die Magier, etwa zwei Dutzend; ihre blauen und weißen Gewänder saßen tadellos, ihr Haar war streng zu Zöpfen geflochten.

Boaz hatte mir erlaubt, die Ankunft Chad Nezzars miterleben zu können. Der Chad traf für das Anbringen des Schlußsteins spät ein, so wie jeder andere mit auch nur dem geringsten Anspruch auf Vornehmheit, und würde bis zum Einweihungstag bleiben. Der Bau der Pyramide hatte acht Generationen gedauert und den größten Teil von Ashdods Reichtum verschlungen. Ich vermutete, daß jeder Gast, egal ob Magier oder Adliger, hier war, um seinen wie auch immer gearteten Anteil an der Macht zu ergreifen.

Ich hoffte, sie waren wirklich auf das vorbereitet, was auf sie zukommen würde, denn der Schatten der Pyramide war jeden Tag dunkler und bedrohlicher geworden.

Seit dem Tod der elf Männer war niemand mehr gestorben. Als nächstes würden es dreizehn sein, und ich glaubte zu wissen, was die Pyramide für den Einweihungstag geplant hatte.

 

 

Da trat Boaz durch das Tor auf den Kai. Er war der Magier, der große Magier, und er übersah mich. Ich fragte mich, wie er Chad Nezzar meine Anwesenheit erklären würde. Vielleicht würde er das auch gar nicht tun. Vielleicht würde man mich für die Dauer des königlichen Besuchs wieder in die Sklavenunterkünfte verbannen.

Aber das glaubte ich nicht.

Boaz sprach ein paar Worte mit dem Hauptmann der Wache, dann mit zwei oder drei Magiern, um sich zu vergewissern, daß alles bereit war.

Für diesen Tag waren alle Sklaven außer Sichtweite gebracht worden, man hatte sie in die schwer bewachten Unterkünfte gesperrt. Alle bis auf mich, und ich existierte nun in dem Niemandsland zwischen Sklaverei und Dienerschaft. Ich fragte mich, was Yaqob dachte. Sicherlich würde er seinen Plan zum Aufstand aufgeben müssen, jetzt, da Chad Nezzar und ein großer Teil seines Heeres nur noch wenige Minuten entfernt waren.

Bestimmt hatten sie weder die Waffen noch waren sie so dumm, gegen die Soldaten des Chad kämpfen zu wollen. Bestimmt nicht.

Ich warf einen Blick durch das Tor. Die Prachtstraße, die Boaz durch Gesholme bis zur Pyramide hatte bauen lassen, wurde von Soldatenreihen flankiert. Ich wußte, daß man Gesholme eines Tages bis auf die Grundmauern abreißen würde, denn welchen Nutzen hatten die Sklaven und deren Unterkünfte noch, sobald die Pyramide fertig war, und daß die Pyramide von Säulengängen und Alleen umgeben sein würde.

Dann würde die Pyramide durch nichts mehr an den Schweiß und den Schmerz erinnert werden, der für ihren Bau aufgebracht worden war.

Ich fragte mich, ob die Frösche dann noch immer bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ihr Lied singen würden.

Ein Ruf riß mich aus meinen Gedanken, und ich blickte zurück zum Kai. Alle waren jetzt voller Erwartung und schauten den Lhyl hinauf. Ein großes Flußschiff kam in der breiten Flußbiegung in Sicht, und ich schnappte überrascht nach Luft, denn im ersten Moment hielt ich es für eine Geistererscheinung.

Sämtliche Flußschiffe, die ich bis jetzt gesehen hatte, waren aus großen Schilfbündeln konstruiert gewesen, die zusammengebunden waren, und ich vermutete, daß das trotz seiner Größe auch bei diesem so war, denn es wies den gewöhnlichen anmutigen Schwung der Linie sowie den hohen Bug und das hohe Heck auf. Aber die Seiten waren bis zum Wasser mit großen Seidentüchern behängt; sie schimmerten in Gold und Rot, und hier und dort leuchtete himmelblauer und silberner Flitter. Ich habe keine Ahnung, wie es die Ruderer schafften, zu manövrieren.

Es wölbten sich drei schmucke Segel in der Brise. Dunkelblau, blutrot und smaragdgrün, und ein jedes wies Streifen aus purem Gold aus.

An den Masten flatterten große Banner, Glöckchen und Glockenspiele klingelten und klangen, überall trieben Wolken aus Weihrauch, vermutlich um die königliche Nase vor Insekten und den Gerüchen der auf engstem Raum zusammengepferchten Sklaven zu schützen. Am Bug spielten Musiker, und ich konnte ein Tanzäffchen unter ihnen entdecken.

Es war der schönste von Menschenhand geschaffene Anblick, den ich je gesehen hatte.

Dem Schiff folgten Dutzende andere, einige kleine, andere etwa von der Größe der königlichen Barke, und sie alle waren mehr oder weniger aufwendig geschmückt, sogar die Schiffe mit den Soldaten.

Männer liefen los, um Taue aufzufangen und am Kai festzumachen, und Ruderer nahmen die Ruder auf, so daß sie einen funkelnden, stummen Salut beschrieben. Ich wich zur Mauer zurück und kam mir in solcher Pracht ganz unbedeutend vor.

Eine Rampe glitt auf den Kai, und Boaz trat vor. Eine kleine Ehrenwache marschierte in steifer Formation von Bord, baute sich zu beiden Seiten der Rampe auf und stieß ihre Speere in den Himmel.

»Ruhm und Ehre dem unsterblichen Chad!« brüllten sie, und der Ruf wurde von jedem der Wächter und Soldaten aufgenommen. »Ruhm und Ehre dem unsterblichen Chad!«

Mir fiel auf, daß die Magier schwiegen.

Der gar nicht so unsterbliche Chad kam oben an der Rampe in Sicht. Seine Haut war noch mehr geschmückt und durchbohrt und mit Schmuck behängt als bei seinem vorherigen Besuch, und er trug einen Kopfschmuck aus Bronze und Kupfer, der mit mehr Juwelen besetzt war als aller anderer Schmuck auf seinem Leib zusammen.

Er schwankte, als er die Rampe betrat, und einen Augenblick lang glaubte ich, er würde in den Lhyl stürzen, aber Chad Nezzar hatte offensichtlich ein Leben lang Erfahrung mit solchen kleinen Unbillen gesammelt, denn er fing sich auf majestätische Weise und kam mit so viel Würde die Rampe hinunter, wie er nur aufbringen konnte.

Ich war froh, daß ich weit genug wegstand, um nicht das Geschnatter seiner Edelsteine und des Metalls hören zu müssen, denn ich konnte mir sehr gut ihre Aufregung über diesen Pomp und Majestät vorstellen.

Boaz trat vor und küßte einen der Juwelen auf der Hand, die Chad Nezzar ihm gnädig überließ, und hieß seinen Onkel mit einer Ansprache willkommen, die sorgfältig darauf hinwies, daß die Magier ihn zwar respektierten – und seine Schatzkammer vermutlich noch mehr –, ihn aber als Gast betrachteten, der nur aufgrund des Wohlwollens der Magier selbst eingeladen worden war.

Chad Nezzar hörte sich diese etwas sonderbare Begrüßung ohne eine Miene zu verziehen an, aber wie ich noch entdecken sollte, vertrat er eine ganz andere Meinung.

Nachdem alle formellen Grüße und blumigen Reden ausgetauscht worden waren, kamen der Chad Nezzar und Boaz auf die Pyramide zu sprechen.

»Ihr habt gute Arbeit geleistet, Neffe«, sagte Chad Nezzar mit einer vagen Handbewegung, und Boaz neigte den Kopf.

Was auch immer Boaz erwidern wollte, wurde von der Ankunft eines anderen Mannes auf der Rampe unterbrochen. »Zabrze!«

Sofort wandte sich meine Aufmerksamkeit diesem Neuankömmling zu. Zabrze war Boaz’ älterer Halbbruder, der Sohn aus der ersten Ehe seiner Mutter. Und der eigentliche Thronerbe, da Chad Nezzar nie geheiratet hatte.

Nun, welche Frau hätte Chad Nezzar auch mit dieser stacheligen Rüstung aus Edelsteinen eine Annäherung gestattet?

Zabrze mochte der Thronerbe des Chads von Ashdod sein, aber sein Auftreten und sein Erscheinungsbild waren das genaue Gegenstück zu Chad Nezzar.

Er war ein außergewöhnlich ansehnlicher Mann. Mitte vierzig, schlank und gesund, mit dunkler Haut, dunklen Augen und dunklem Haar. Er war zweifellos ein Prinz, aber Zabrze setzte lediglich Haltung und Selbstbewußtsein ein, um darüber niemanden im unklaren zu lassen, nicht den halben Staatsschatz. Er trug ein knielanges, dunkelblaues Gewand mit Goldstreifen, das an den Hüften geknotet war, und einen breiten Goldreifen am rechten Oberarm. Sein Haar war zu Zöpfen geflochten und im Nacken mit Goldband zusammengehalten. Aber das war alles. Selbst seine Füße waren nackt.

Er trat von der Rampe und ergriff Boaz’ Hand. Ihre gegenseitige Zuneigung war offensichtlich, und ich begriff, daß nur die Förmlichkeit des Anlasses verhinderte, daß sich die Brüder umarmten.

Zabrze folgte eine Frau, die etwa sechs oder sieben Jahre jünger war als er. Sie war eher ansehnlich als schön, strahlte aber das gleiche Selbstbewußtsein wie ihr Gemahl aus; sie trug ein Gewand aus feinem weißen Leinen, das von einem Kragen aus Goldperlen herabfloß, der sich über ihre Schultern legte. Als sie sich bewegte, sah ich, daß sie hochschwanger war.

Furcht stieg in mir auf, als Zabrze die Hand der Frau ergriff und sich Boaz lächelnd vor ihr verbeugte. Zabrze hatte seine schwangere Frau hierher mitgebracht?

Ich hörte, wie Boaz sie als Neuf ansprach. Ein eleganter Name für eine elegante Frau, und ich seufzte und verdrängte die Angst und wünschte, ich hätte nur ein Zehntel dieser Eleganz und dieser Hoheit.

Weitere Adlige und Ehrenträger kamen von Bord, aber mein Interesse richtete sich allein auf Zabrze und Neuf. Boaz führte sie zusammen mit Chad Nezzar durch das Tor und dann die Straße entlang, während Diener herbeieilten, um die Gruppe mit quastenverzierten Sonnenschirmen vor der Sonne zu schützen und vor ihnen Weihrauch verbrannten, damit der Gestank alles Gemeinen nicht ihre königliche Nasen beleidigte.

Ich wartete an der Mauer, bis ich schließlich eine Gelegenheit fand, mich zu Boaz’ Haus zu verdrücken.

Auf dem Weg dorthin blieb ich kurz stehen und starrte in eine dunkle Gasse. Ich konnte kaum glauben, was ich dort sah. Einer der Offiziere von Chad Nezzars Heer sprach leise und außerordentlich verstohlen… mit Azam.

Mir drehte sich der Magen um, und ich eilte fort, bevor sie mich entdecken konnten.

Was mochte das nur bedeuten?

 

 

Das königliche Gefolge und viele der Adligen wurden in der Siedlung der Magier untergebracht. Chad Nezzar, Zabrze und Neuf wohnten in Ta’uz’ alter Residenz. Andere Adlige und hohe Gäste schliefen an Bord ihrer Flußschiffe. Die meisten der Schiffe hatten feste Aufbauten, Gemächern gleich, denn die Adligen von Ashdod liebten es, jedes Jahr viele Wochen damit zuzubringen, zu vielen den Fluß zu befahren, wo sie manchmal jagten, manchmal Bankette abhielten und manchmal auch Intrigen schmiedeten. Die achttausend Soldaten, die Chad Nezzar begleiteten, errichteten in Gesholme und entlang des Ufers ein weitläufiges Lager.

Meine ursprüngliche Erleichterung über die Ankunft dieser Soldaten hatte sich verflüchtigt. Was hatte ein Offizier der Armee des Chad mit einem Sklaven zu besprechen?

Und dann noch mit einem Sklaven, einem Aufrührer, der Yaqobs rechte Hand bei seinem Aufbruch in die Freiheit war?

Ich saß den ganzen Tag allein in Boaz’ Haus, sorgte mich abwechselnd um Azam und fragte mich beunruhigt, was ich sagen und tun sollte, falls ich Chad Nezzar oder Zabrze und seiner Gemahlin begegnen sollte.

Boaz blieb bei seiner Familie und kehrte erst spät in der Nacht zurück.

Ich drehte mich um, als ich fühlte, daß er sich ins Bett legte. »Boaz?«

»Schlaf weiter, Tirzah.«

Aber ich war viel zu neugierig. »Ich wußte nicht, daß du Zabrze so nahe stehst.«

»Als Kinder standen wir uns nahe. Er hat bei Hof auf mich aufgepaßt. Aber als ich sieben oder acht war, da war er fast achtzehn und verbrachte mehr Zeit bei der Armee als mit mir. Wir wurden uns fremd.«

Das war nicht das, was ich auf dem Kai gesehen hatte, aber ich beließ es dabei. Ich schmiegte mich an ihn. »Ich habe gehört, daß Zabrze Ashdods Armee befehligt.«

»Abgesehen von denen, die unter meinem Befehl stehen, Tirzah.«

»Ist er ein guter Befehlshaber? Ein populärer Befehlshaber?«

Boaz zögerte lange. »Zabrze ist ein guter Befehlshaber«, sagte er schließlich. »Aber die Armee ist groß, und für viele ist er vielleicht von zu kühler Natur.«

Mir ging der Offizier nicht mehr aus dem Kopf, den ich mit Azam hatte flüstern gesehen. »Und er ist der Erbe. Aber er teilt nicht die Vorliebe deines Onkels für Schmuck.«

»Er ist ein Mann von relativ schlichtem Geschmack.« Boaz hielt inne. »Er wird ein guter Chad.«

»Seine Gemahlin ist sehr elegant«, sagte ich wehmütig. »Aber ich bin überrascht, daß er sie herbringt, da sie doch…«

»Ach, ihre Schwangerschaften verlaufen immer einfach. Das wird ihr achtes Kind sein.«

»Acht! Dann hast du ja fast eine Schwadron Neffen und Nichten zusammen!«

Boaz lachte. »Ja, und ich bin froh, daß Zabrze sie in Setkoth gelassen hat. Vier Neffen, drei Nichten, und was auch immer es diesmal wird. Zabrze tut sein Bestes, um die Thronfolge sicherzustellen.«

»Die Pyramide muß sehr wichtig sein, daß sich so viele Adlige hier versammeln.«

Er schwieg; vermutlich rechnete er damit, daß ich mit einer meiner zunehmend direkter werdenden Tiraden über das Bauwerk anfing. Aber nicht in dieser Nacht.

»Boaz, warum die Ungeduld, die Pyramide an einem bestimmten Tag fertiggestellt zu haben? Sicherlich hätten ein oder zwei Monate mehr doch nichts geschadet.« In den vergangenen Monaten hatte er alle hart angetrieben, und vor allem in den letzten sechs Wochen.

»Es gibt jedes Jahr nur einen Tag, an dem wir den Einweihungstag abhalten können«, sagte er. »Wären wir an diesem Tag nicht bereit gewesen, hätten wir ein weiteres Jahr warten müssen.« Er stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Und ich glaube nicht, daß ich so lange hätte warten können. So nahe dran, und dann gezwungen sein, noch ein Jahr zu warten.«

Ein Jahr, dachte ich. Ein Jahr, um ihn so tief mit Liebe zu erfüllen, daß er schließlich sein Erbe als Elementist antreten würde, und sei es auch nur um meinetwillen.

»Was ist so besonders an dem dritten Tag von jetzt an?«

Ich fühlte, wie er unruhig wurde. »Das ist der Tag des Jahres, an dem die Sonne den Zenit ihrer jährlichen Reise am Himmel erreicht. In drei Tagen wird die Kraft der Sonne am Mittag ihren Höhepunkt erreichen, und eine Stunde lang wird sie stärker sein als zu jedem anderen Zeitpunkt des Jahres.«

»Die Pyramide ist auf Licht angewiesen, nicht wahr?«

»Ja.«

Seine Erwiderung war so kurz angebunden gewesen, daß ich ein anderes Thema anschnitt, das allerdings genauso gefährlich war. »Was wird nach dem Einweihungstag mit all den Sklaven hier in der Siedlung geschehen? Du wirst sie nicht mehr brauchen.«

»Machst du dir Sorgen um deine Freunde, Tirzah? Sorgst du dich darüber, was ich mit dir machen könnte?«

»Shetzah!« Seit meiner Ankunft hatte ich auch die Flüche Ashdods gelernt. »Natürlich mache ich mir Sorgen um alle meine Freunde. Sie bedeuten mir sehr viel; ohne ihre Liebe und Hilfe hätte ich nicht überlebt. Ich frage mich, ob du daran denkst, sie alle den großen Wasserechsen zum Fraß vorzuwerfen!«

»Du machst dir wirklich Sorgen, was? Keine Angst, süße Tirzah, sie sind viel zu wertvoll, um sie zu verschwenden. Wir werden einen Großteil ihres Wertes durch den Weiterverkauf wieder hereinbekommen. Man wird sie auf die Märkte von Setkoth schicken, vielleicht auch noch nach Adab und andere Städte im Norden, und zwar schon in den nächsten Wochen.«

»Boaz…«

Er legte den Arm um meine Taille und zog mich auf sich. »Und ich muß zugeben, daß ich es kaum erwarten kann, sie gehen zu sehen, Tirzah. Denn dann weiß ich, daß ich deine ungeteilte Zuneigung habe…«

»Die hast du jetzt schon, Boaz«, sagte ich leise.

»Und dann weiß ich, daß ich nicht mehr überall in Schatten und Nischen Ausschau nach Attentätern und Rebellen halten muß. Wann wollen sie zuschlagen?«

»Seit ich bei dir wohne, bin ich von den Sklaven und ihren Unterkünften isoliert. Glaubst du ernsthaft, sie würden mir ihre Hoffnungen auf Freiheit zuflüstern?«

»Mach dir nichts vor, Tirzah«, flüsterte er aufgebracht. »Du wirst deine Freunde niemals wiedersehen. Dein Leben spielt sich jetzt bei mir ab.«

»Boaz!«

»Ganz allein bei mir! Ich werde Kiamet und den anderen Wachen befehlen, daß du diese Siedlung nicht verlassen darfst, es sei denn in meiner Begleitung.«

»Boaz…«

»Maße dir nicht zu viel an wegen der Vertraulichkeiten, die ich dir in den vergangenen Wochen erlaubt habe, Tirzah. Ich stehe zu kurz vor dem Ziel, um jetzt noch das Risiko eingehen zu können, die Pyramide an jemanden zu verlieren, gleichgültig an wen!«

Ich runzelte überrascht die Stirn. Was sollte das denn nun wieder bedeuten?

Aber dann griffen seine Arme wieder stärker zu und seine Stimme wurde sanfter. »Komm, Tirzah. Ich habe den ganzen Tag Höflichkeiten mit den Gästen ausgetauscht und auf jedes Wort achten müssen. Ich will dich nicht anfauchen müssen, vor allem hier nicht, im Bett. Komm schon.« Seine Hände wurden sanfter. »Komm.« Und er tat Dinge mit seinem Mund, die besser waren als reden.

 

 

»Boaz! Wieso liegst du noch im Bett? Ich dachte, wir könnten einen Spaziergang im Garten machen.«

»Zabrze!« Boaz hatte genau wie ich fast schon geschlafen, und jetzt schoß er hoch. »Was…?«

»Ah«, sagte Zabrze leise und kam von der Tür zum Bett. »Jetzt verstehe ich. Eine sehr ungewöhnliche Situation für einen Magier, nicht wahr, Boaz?«

Ich rollte mich herum und griff nach meinem Gewand, da ich gehen wollte, aber Zabrze verhinderte es, indem er sich auf das Bett setzte und nach meinem Arm griff. »Nein. Tu das nicht. Ich hätte vor einem solchen Überfall nachdenken sollen.« Glücklicherweise glitt sein Blick von meiner Blöße zu der seines Bruders. »Aber ich war mir sicher, daß ich dich alleine vorfinden würde, Bruder.«

»Was ist denn, Zabrze?«

»Ich wollte mit dir unter vier Augen sprechen, Bruder. Aber jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.« Er lächelte mich an. »Ich würde bestimmt nicht aus dem Bett einer solchen Frau geholt werden wollen. Nein. Wir können später miteinander sprechen.«

Er stand auf und ging zur Tür.

»Zabrze!«

»Nein«, erwiderte er. »Später, Bruder. Was ich gerade gesehen habe, darüber muß ich in Ruhe nachdenken, glaube ich.«

Und dann war er weg.