17
Er befahl mich am nächsten Tag zu sich, und in der Werkstatt hatte es dadurch noch mehr den Anschein, daß es tatsächlich meine monatliche Blutung gewesen war, die ihn abgehalten hatte. Als ich zu ihm ging, fand ich mich allein dem Magier gegenüber, unnahbar, leicht in Wut zu bringen, und sehr, sehr vorsichtig.
»Es war dreist von dir, deinen Körper so vor mir zur Schau zu stellen, Mädchen«, sagte er, als ich ihm Hände und Füße wusch.
»Ich werde es nie wieder tun, Exzellenz«, flüsterte ich.
»Und mich dann zu küssen!« fuhr er fort. »Habe ich nicht klar gemacht, daß ich nicht Ta’uz Schwächen teile?«
»Es tut mir leid, Exzellenz!«
»Du warst abstoßend, Tirzah.«
»Ich weiß, Exzellenz.«
Zufrieden setzte er mich an die Übersetzung einer auf Geshardi verfaßten Abhandlung über die Eigenschaften des Quadrates, dann schickte er mich in dem Augenblick fort, in dem ich es wagte, über dem trockenen Text zu gähnen.
Aber er rief mich in der nächsten Nacht wieder zu sich, und der übernächsten, bis ich so müde war, daß Zeldon und Orteas mich an den Vormittagen schlafen lassen mußten.
»Und was sagt er?« fragte mich Yaqob eines Nachmittags, als wir in einem geschützten Winkel standen. Ich beugte mich zu ihm und berührte seinen Körper in der Hoffnung, daß er mich lieben würde, aber er wich gereizt zurück, und ich ließ die Hände sinken.
»Er sagt nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Er ist kalt und unnahbar und denkt nicht daran, darüber zu plaudern, welche Patrouillen er morgen wo hinschickt.«
Yaqob lachte nicht über meinen armseligen Versuch, witzig sein zu wollen, und brachte mich schweigend zur Werkstatt zurück.
Innerhalb einer Woche zeigte die Verstärkung durch die vier Glasmacher ihre Wirkung. Wir mußten nicht mehr so lange arbeiten, und eines Nachmittags hatte ich tatsächlich so gut wie nichts zu tun.
Ich ging nach unten, um mich mit meinem Vater zu unterhalten.
Druse inspizierte ein Dutzend Kelche, mit deren Herstellung ihn ein Magier beauftragt hatte. Sie waren aus rubinrotem Glas und wunderschön, und mein Vater hatte gute Arbeit geleistet.
Er lächelte, als ich sie bewunderte, dann griff er nach einer Ablage unter seiner Werkbank.
»Tirzah, sieh mal. Das hier ist nicht so sauber gebrannt wie die anderen. Kannst du etwas damit anfangen?«
Er drückte mir einen unvollendeten Kelch in die Hände. Er war geblasen, aber nicht fertiggestellt worden, und ich sah den Grund. Das Glas hatte beim Brennen die Farbe von Bernstein angenommen und war nicht mehr rot. Und die Kelchwände waren zu plump für die erlauchten Hände eines Magiers.
»Es ist nichts für ein Glasnetz«, sagte Druse, »aber es ist zu schade, ihn wegzuwerfen…«
Ich küßte ihn auf die Wange. »Es würde mir Freude machen, an etwas anderem zu arbeiten als an dem verfluchten Glas für die Kammer zur Unendlichkeit, Vater. Danke.«
Ich nahm es mit nach oben. Orteas und Zeldon überwachten die Glasanbringung in der Pyramide. Ich setzte mich mit untergeschlagenen Beinen vor die offene Balkontür, drehte das Gefäß langsam in den Händen, lauschte seinen Stimmen, lernte seine Schwächen und Stärken kennen und fragte mich, was ich damit machen sollte.
Ich ertappte mich dabei, daß ich an die Zärtlichkeit von Boaz’ Kuß dachte. Ich dachte an den Mann, der hinter dem Magier verborgen war, und ich mußte lächeln. Dann wurde mir bewußt, daß Boaz in seinem Haus nur Holzbecher hatte. Er würde ein Glasgefäß zu schätzen wissen, und dieses Bernsteinglas war wirklich schön – und würde in seinen Händen wunderbar aussehen.
Ich fragte mich, welches Motiv ihm gefallen würde, und ich erinnerte mich, wie seine Finger das Glas gestreichelt hatten, das ich in Setkoth für ihn erschaffen hatte.
An der Werkbank griff ich nach dem Wachsstift, zögerte und zeichnete dann ein Muster aus hüpfenden Fröschen im Schilf. Ein Frosch spähte verschmitzt hinter dem Schilfrohr hervor; ein anderer sprang in die Höhe, als wolle er in den Kelch hineinhüpfen; einer hockte da, als würde er über Geheimnisse nachsinnen, und zwei weitere jagten einander durch das Schilf, die Gesichter zu einem freundlichen Grinsen verzogen.
Während ich arbeitete, stellte ich mir vor, vom Quaken der Frösche umgeben zu sein, als würde ihr Lied vom Lhyl herübertreiben, aber es war heller Nachmittag, und die Frösche sangen nur in der Morgendämmerung und in der Abenddämmerung.
Als ich an diesem langen Nachmittag mit der aufwendigen Arbeit an dem Froschkelch begann, fragte ich mich nicht einmal, warum ich so viel Sorgfalt und Mühe für ein Geschenk für einen Magier aufwandte. Und ich fragte mich auch nicht, warum ich mir so viel Mühe gab, ihn vor den neugierigen Blicken Zeldons und Orteas’ zu verbergen, oder warum ich in freien Augenblicken immer nur dann an dem Kelch arbeitete, wenn ich allein war.
Eines Tages überraschte Boaz mich und die anderen damit, daß er mich an einem Nachmittag in sein Haus befahl.
Verblüfft starrte ich den Wächter an, der den Befehl überbracht hatte, dann nickte ich und ging zurück in meine Unterkunft, um mich zu säubern und umzuziehen. Es fühlte sich seltsam an, im enthüllenden Licht des Tages in dem Leinenkleid durch die Straßen zu gehen, und ich spürte die Last der Blicke: da geht Tirzah, die arme Tirzah.
Ich schaute zur Pyramide hinauf und wich den Blicken der Passanten aus. Süd- und Westseite waren nun völlig verglast – und an jedem anderen Bauwerk wäre es ein wunderschöner Anblick gewesen.
Als ich sie betrachtete, glaubte ich helle Lichtfunken unter der Glasverkleidung sehen zu können, fast so etwas wie Blitze. Ich runzelte die Stirn und sah genauer hin.
Da, ein Flackern, und ein Stück weiter unten ein Blitz, vielleicht aus einer der Schachtöffnungen.
Dann hörte ich die grobe Stimme eines Wächters, und ich senkte den Blick. Ich hatte das Tor zur Siedlung erreicht, und die Wächter warfen mir einen flüchtigen Blick zu und ließen mich eintreten.
Dies war das erste Mal, daß ich mich tagsüber in der Siedlung aufhielt, und ich verlangsamte meine Schritte etwas, um meine Neugier zu befriedigen. Die Gärten wirkten nun häßlicher, da Dunkelheit und Mondlicht ihre strenge Geometrie nicht mehr verbergen konnten. Selbst die Bäume hatte man in präzise Formen geschnitten, und die Wege waren zu schnurgeraden Linien geharkt, deren Abzweigungen stets im rechten Winkel verliefen.
Boaz’ Haus sah am Tag ebenfalls weniger hübsch aus als in der Nacht. Ich hatte mich daran gewöhnt, es nur in dem pastellfarbenen Licht zu sehen, das seine Linien weicher machte, und jetzt mußte ich erkennen, daß es massiv und kalt und lieblos aussah – vielleicht ein Spiegelbild der Seele des Magiers selbst war.
Fünfzehn Schritt von dem Haus entfernt blieb ich verblüfft stehen. Als Boaz mich das erste Mal zu sich gerufen hatte, hatte ich mich gefragt, warum er nicht Ta’uz’ Residenz übernommen hatte, die viel größer und prächtiger war und sich in der Mitte der Siedlung der Magier erhob. Boaz’ Haus war an eine der Mauern gebaut, und die tiefe Veranda ließ es verschlossen und geheimnisvoll aussehen.
Und sicher.
Dieser Gedanke ließ mich abrupt stehenbleiben.
Es war eins der wenigen Gebäude in der ganzen Siedlung, das von dem Schatten der Pyramide geschützt war! Die Mauer der Siedlung war hoch, und dieses Haus niedrig. Es lag immer im Schatten – aber es war der Schatten der Mauer und nicht der Pyramide. Seine Veranda vergrößerte diesen Schutz noch. Raguel hatte erzählt, daß Ta’uz viele Stunden lang aus dem Fenster seines Hauses die Pyramide angestarrt hatte. Boaz konnte das nicht tun, selbst wenn er es gewollt hätte; sowohl Veranda als auch Mauer versperrten den Blick auf die Pyramide – und verbargen das Haus vor der Pyramide.
Ich mußte an die – zugegeben seltenen – Momente denken, in denen ich einen flüchtigen Blick auf den Mann hatte werfen können, der in Boaz verborgen war. Das war immer in dem Haus geschehen, niemals draußen.
Im Haus, wo er vor der Pyramide sicher war.
Mir wurde bewußt, daß ich nicht nur starrte, sondern auch am ganzen Leib zitterte, und ich zwang meine Beine, sich in Bewegung zu setzen. Möglicherweise beobachtete Boaz mich. Möglicherweise steigerte er sich in diesem Augenblick in eine mörderische Wut, weil er dachte, ich würde seine Befehle nicht befolgen.
Ich lief los und blieb dann vor der Tür stehen. »Exzellenz?«
Er trat aus einem Nebengemach. »Du kommst spät, Tirzah.«
»Ich mußte in mein Quartier, um mich zu säubern und umzuziehen, Exzellenz.«
»Dann wasch meine Hände und Füße und setz dich an den Schreibtisch und verschwende nicht noch mehr Zeit.«
»Ja, Exzellenz.«
Er ließ mich die Abhandlung über das Quadrat aus dem Geshardi weiter übersetzen, und ich beugte mich über den Papyrus und bemühte mich, so sauber und präzise zu schreiben, wie ich nur konnte. Ich hörte, wie Boaz sich hinter mir auf einen Stuhl setzte, dann raschelte ein Papyrus, als er eine Rolle öffnete und las.
Ich arbeitete schweigend etwa zwei Stunden lang, wie ich anhand des im Garten länger werdenden Schattens feststellen konnte, und dieser Schatten erstreckte sich immer weiter über die Siedlung.
Aber er konnte dieses Haus an keiner Stelle berühren.
»Du konzentrierst dich nicht.«
Er stand direkt hinter mir, und ich konnte ein überraschtes Zusammenzucken nicht verhindern. Ich hatte ihn nicht aufstehen gehört.
»Exzellenz, ich habe die Abhandlung fast fertig. Seht, ich bin am letzten Absatz angekommen.«
Er nahm die Seite, auf der ich geschrieben hatte, und überflog sie kurz. »Stimmt. Es wird mich freuen, endlich diese Abhandlung lesen zu können.«
»Ihr könnt kein Geshardi lesen, Exzellenz?« Wieder hatte er mich so überrascht, daß ich ohne Erlaubnis eine Frage stellte.
»Die nördlichen Sprachen sind primitiv und ohne Finesse, Mädchen, und ich habe meine Zeit nie damit verschwendet, sie zu erlernen! Hast du verstanden?«
»Ja, Exzellenz.« Darum also hatte er mich schreiben gelehrt. In Ashdod würden überhaupt nur wenige diese Sprachen beherrschen. Ich wunderte mich, daß er sich überhaupt für eine nördliche Abhandlung interessierte.
»Du hast eine Frage, Mädchen. Sprich.«
»Exzellenz, ich wußte nicht, daß die Geshardi die Macht der Eins anbeten.«
»Das tun sie auch nicht.« Er legte das Blatt wieder auf den Tisch zurück. »Aber sie verfügen über einige halbwegs gebildete Geometer. Vielleicht werden sie eines Tages die Eins verstehen.« Er sah, daß ich noch eine Frage hatte. »Ja?«
»Ihr betet die Eins als Gott an, Exzellenz. Das ist mir nie zuvor klar geworden.«
»Wir beten die Macht der Eins an, dummes Mädchen, nicht die Eins selbst. Sie selbst hat keine Persönlichkeit in sich. Vielleicht betrachten die niederen Kasten die Eins als Gott, Tirzah, denn die Zahl, aus der alle Zahlen entspringen, um dann wieder in ihr zu enden, ähnelt göttlicher Vorsehung. Aber glaube nicht einen Augenblick lang, daß die Eins einen eigenen Verstand und Willen hat…«
»Exzellenz!« Der entsetzte Ruf eines Wächters ließ Boaz verstummen und herumfahren.
»Exzellenz!« Der Wächter stürzte außer sich vor Erregung über die Veranda auf uns zu. »Exzellenz… die Pyramide… ein Problem… Ihr müßt…«
Aber Boaz war bereits draußen und stieß im Laufen die Arme durch das blaue Übergewand. Der Wächter holte ihn ein, Worte sprudelten aus seinem Mund, und ohne nachzudenken eilte auch ich hinaus.
Fünf.
Wer?
Niemand hielt mich auf, als ich hinter Boaz zur Baustelle der Pyramide hineilte. Alle wußten, daß er mich oft holen ließ, und meine Anwesenheit wurde nicht in Frage gestellt.
»Wo ist es geschehen?« fragte Boaz, und der Wächter führte uns die Rampe hinauf in das abscheuliche Ungeheuer hinein.
Überall standen die Arbeiter stumm und blaß herum.
Der Wächter führte uns nur ein Stück den Hauptgang hinauf, bevor er in einen der nach unten abzweigenden breiten Gänge abbog.
In dem Augenblick, in dem ich den Gang betrat, spürte ich sofort, daß etwas Unfaßbares geschehen war – etwas, das mit tobender Kraft gewütet hatte.
Boaz blieb stehen, und wir beide betrachteten die verglasten Wände. Ich zögerte, dann streckte ich meine zitternde Hand aus, voller Unglauben über das, was sich meinen Blicken bot.
»Tirzah?« Boaz sah mich an, als würde ihm jetzt erst bewußt, daß ich ihm gefolgt war, aber er schalt mich nicht, denn auch er stand vor der Wand und strich ungläubig darüber.
Was einst Glas gewesen war, war noch immer warm. Es war gleichzeitig auch tot, und das überraschte mich nicht.
Eine Art Hitze, die so gewaltig gewesen war, daß ich mir nicht vorstellen konnte, was sie hatte entstehen lassen, hatte das Glas mit dem Stein der Pyramidenwände verschmelzen lassen. Die Steinmetzarbeit war jetzt deutlich durch diese funkelnde schwarze Substanz sichtbar, die Glas ähnelte und wiederum auch nicht.
Der ganze Gang war auf diese Art geschmolzen. Jetzt war er ein Tunnel, so schwarz wie die Nacht, und gab dennoch überall Licht ab.
»Hier entlang«, sagte der Wächter und führte uns tiefer in die Pyramide hinein.
Die fünf Männer waren einfache Arbeiter gewesen, die man ausgesandt hatte, um ein scheinbar blockiertes Tor zu überprüfen. Sie hatten den Gang betreten, dann waren die Tore vor und hinter ihnen zugeschlagen.
Keiner der drei Magier, die auf Boaz warteten, hatte dafür eine Erklärung.
»Wir waren nicht einmal in der Nähe des Schaltraums, Boaz«, sagte einer.
»Niemand war dort«, bestätigte ein anderer.
Ihre Worte trieben an mir vorbei. Ich starrte wie gebannt auf die fünf Leichen. Die Gluthitze, die durch diesen Gang getost war, hatte sie verbrannt, aber nicht so sehr, daß man sie nicht mehr hätte erkennen können, und ich konnte immerhin sehen, daß niemand unter ihnen war, den ich kannte.
Und ich konnte deutlich sehen, was die Glut mit ihren Körpern gemacht hatte. Sie hatte ihre Körper zu entsetzlichen Gebilden werden lassen mit verkrümmten Gliedern, und ihre Hände waren zu schwarzen Klauen geworden. Sie dampften noch, und der Geruch war unerträglich.
Ich wandte mich ab, konnte den Anblick nicht länger ertragen. Vier oder fünf Schritt entfernt lagen die geschwärzten Überreste einer ihrer Werkzeugtaschen, die Werkzeuge selbst lagen auf dem Boden verstreut.
Ich sah genauer hin, dann ging ich darauf zu, bückte mich und hob einen Hammer auf.
Ich keuchte auf, nicht nur wegen seines Gewichtes, sondern vor allem deswegen, weil er sich so merkwürdig anfühlte. Er war vollständig in Stein verwandelt worden, so wie auch alle anderen Werkzeuge. Selbst Holzgriffe waren in schwarzen, glasigen Stein verwandelt worden. War das Glas, das von den Wänden und der Decke geschmolzen war, auf diese Werkzeuge getropft? Oder war hier eine Macht am Werk gewesen, die ich nicht begreifen konnte?
»Boaz?« sagte ich unvorsichtigerweise, aber in einem Zustand solchen Entsetzens, daß ich nicht daran gedacht hatte, ihn mit seinem Titel anzusprechen. »Was ist mit dem Hammer passiert?«
Und ich hielt ihn ihm hin.
Er fluchte und schlug mir den Hammer aus der Hand. Er landete mit einem hellen, sauberen Klirren auf dem Boden. »Was machst du hier, Mädchen? Scher dich zurück in meine Residenz!«
»Ich… Boaz…« Ich bewegte mich nicht, aber ich brach in Tränen aus, verzweifelt über das, was ich um mich herum sah, und über die Kälte in seinen Augen.
»Verflucht!« zischte er, grub die Finger in meine Arme und stieß mich dem Wächter zu. »Schaff sie hier raus!«
Dem Wächter kam das sehr gelegen. Er ergriff mich leicht am Arm und zog mich den Gang entlang. Aber ich konnte noch hören, daß Boaz zu den anderen Magiern sagte: »Das ist wesentlich besser, als ich mir hätte träumen lassen. Viel mächtiger. Sehr viel mächtiger.«
Der Wächter begleitete mich zum Haus des Magiers. Ich setzte mich an den Schreibtisch, die geshardische Abhandlung über Geometrie erwartete ihre Vollendung, meine Augen waren sinnloserweise tränenblind.