23

 

 

 

Ich wartete, während Boaz mit dem Vorarbeiter über die Verkleidung sprach, dann folgte ich ihm, während er langsam um die Pyramide herumging und sie mit in den Nacken gelegtem Kopf betrachtete. Ich fragte mich, wie er überhaupt etwas sehen konnte, denn das Glas spiegelte die Sonne so grell wider, daß ihm die Augen weh tun mußten.

Der Wind zupfte an meinem Kleid, und ich strich es wieder glatt. Dieses Kleid stand mir besonders gut; ein dunkles Violett mit einem feinen Goldmuster. Ich lächelte, als meine Finger den seidigen Stoff berührten. Ob ich Boaz wohl überreden konnte, mir ein scharlachrotes Gewand zu schenken, das bestimmt ebenfalls sehr gut zu meiner Hautfarbe passen würde.

Ich schaute mich um. Gruppen von Arbeitern waren damit beschäftigt, den Platz um die Pyramide herum zu pflastern und zu fliesen, statt an der Pyramide selbst zu arbeiten. Viele Hunderte legten eine breite Prachtstraße vom Flußufer durch Gesholme bis zur Pyramide an; es waren viele Gebäude abgerissen worden, um sie bauen zu können und ungezählte Sklaven schliefen jetzt im Freien oder waren zusätzlich in den benachbarten Wohnhäusern untergebracht worden.

Sieben Wochen bis zum Einweihungstag, und die Vorbereitungen waren in vollem Gang.

Ich lächelte verstohlen einen jungen Mann an, der ein paar Schritte entfernt den Boden pflasterte. Er sah besonders gut aus, und ich konnte Bewunderung in seinen Augen lesen, als er mich ansah.

Ich seufzte. Das war alles so langweilig. Ich wußte nicht, warum Boaz darauf bestand, daß ich ihn bei diesen Inspektionen begleitete. Vielleicht wollte er mich einfach nur vorzeigen. Das rief ein kleines Lächeln in mir hervor, und ich schüttelte mein Haar kokett. Boaz mochte es, wenn ich mein Haar offen trug, und es wuchs zusehends. Würde es noch einen Monat brauchen, bis es mir bis zur Taille reichte? Oder nur drei Wochen?

Ein paar Magier drängten sich an mir vorbei zu Boaz und sprachen leise mit ihm. Sie lächelten und nickten gelegentlich; alle waren mit der Pyramide zufrieden.

Wir hatten jetzt die Südrampe erreicht, und Boaz führte uns zum Eingang der Pyramide hinauf. Der inzwischen stärker gewordene Wind bauschte mein Kleid, und ich runzelte vor Anstrengung die Stirn, als ich versuchte, es immer wieder neu zu ordnen. Vielleicht hätte ich praktischere Kleidung zu diesem Anlaß anziehen sollen.

Dann traten wir ein.

»Was tust du hier?« fragte Boaz scharf, und ich schaute überrascht auf, in dem Glauben, daß er mich gemeint hatte.

Aber vor ihm stand eine Gruppe Arbeiter, die offensichtlich nach getaner Arbeit gehen wollten.

»Im Osthauptschacht ist Glas zerbrochen, Exzellenz«, antwortete ihr Anführer.

Ich grinste. Mein Vater war unter ihnen, auch wenn die Götter allein wußten, was er bei dieser Gruppe zu suchen hatte. Aber Arbeiter wurden oft zu Aufgaben abkommandiert, für die sie überqualifiziert waren, wenn sie mit ihrer eigentlichen Arbeit fertig waren, und vielleicht war das der Fall bei Druse.

»Nun«, sagte Boaz, »ihr hättet schon vor einer Stunde fertig sein sollen. Ich wollte, daß das Innere für diese Inspektion geräumt ist. Ich werde nicht…«

Er hielt inne und starrte sie an, genau wie ich und die anderen Magier, der Vorarbeiter und die verschiedenen Wächter.

Jeder Mann dieser Gruppe, mein Vater eingeschlossen, hatte gewimmert. Verängstigt. Verloren.

Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor? Boaz war nicht einmal nahe dran gewesen, die Geduld zu verlieren, und…

… und dann ließ mich ein Instinkt die Männer in dieser dicht zusammengedrängt stehenden, unterwürfigen Gruppe zählen.

Elf. Die nächste Primzahl nach der sieben.

»Nein«, flüsterte ich. »Vater, bitte komm da weg…«

Boaz warf mir einen scharfen Blick zu, dann richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf die Männer.

»Vater!« rief ich und machte einen Schritt nach vorn.

Boaz gestikulierte, und Kiamet hielt mich fest.

»Nein«, sagte Boaz. »Nein. Es gibt nichts, was wir tun könnten.«

Er wollte nichts tun.

Die elf Männer zitterten jetzt am ganzen Leib, die angsterfüllten Augen weit aufgerissen. Druse blinzelte, dann starrte er mich an. »Tirzah!« schrie er und streckte die Hand nach mir aus.

Ich schluchzte auf und versuchte, mich aus Kiamets Griff zu befreien, aber er war stark und hielt mich immer noch fest.

»Tirzah!«, mein Vater hörte nicht auf zu schreien. Dann begann er zu sterben.

Die Pyramide genoß das alles sicherlich sehr. Sie hatte jetzt vier Mal den Tod geschmeckt und gelernt, daß je länger das Mahl dauerte und je qualvoller es war, desto süßer die Lust für sie wurde.

Ich war außer mir und schrie, während die anderen mit Entsetzen oder Neugier zusahen, wie die Männer starben.

Die Pyramide verwandelte sie langsam und erbarmungslos in Stein.

Zuerst die Füße. Sie waren alle barfuß, weil sie das zerbrechliche Glas des Schachtes hatten betreten müssen, die Sandalen hatten sie am steinernen Eingang der Pyramide zurückgelassen. Also standen ihre Füße auf dem Stein, ihre bloßen Füße, und die Pyramide drang durch ihre Fußsohlen in sie ein.

Die Haut ihrer Füße wurde grau, dann steinern stumpf. Das Übel arbeitete sich in kriechenden, sich windenden grauen Schlangen in die Höhe, die Schienbeine hinauf, die Unterschenkel, die Oberschenkel.

Die Männer litten Qualen. Sie wanden sich und versuchten wegzulaufen, aber sie konnten es nicht, denn ihre Füße waren aus Stein und mit der Pyramide fest verwachsen.

Das Grau kroch erbarmungslos höher. Ihre Hüften, ihre Bäuche, und jetzt rissen ihre Schreie ihr Inneres auseinander, aus einem Mund sah ich Blut hervorschießen. Ein Mann schnappte nach Luft, um zu schreien, und er würgte daran, dann versuchte er es erneut, und seine Augen quollen hervor, und er würgte und erbrach sich, und das Erbrochene waren Steinsplitter.

Ich wollte wegsehen, ich wollte mich abwenden und mein Gesicht an Kiamets Brust verbergen, aber ich konnte es nicht, denn es war mein Vater, der da vor mir starb, mein Vater, der mich geliebt und der mich großgezogen hatte und den ich trotz seiner Fehler liebte.

»Ys…«, flüsterte er, und seine Stimme war rauh und krächzend, als würde er sie durch eine aufgerauhte Kehle zwingen. »Ys…«

Bei den Göttern! Er wollte mich mit meinem Geburtsnamen ansprechen!

Er konnte nicht mehr atmen, denn der Stein hatte seine Brust erreicht; die Adern in seinem Hals traten hervor und pochten wild, dann verblichen auch sie zu Grau, und seine Augen, die mich noch immer anstarrten, traten hervor, und aus einem Augenwinkel sickerte Blut, das sich auf seinen Wangen in Steintränen verwandelte, und dann zerplatzte das eine Auge, und dann, glaube ich, war es vorbei, denn sein Gesicht war nur noch eine Skulptur… die Skulptur eines Mannes, der unter solchen Qualen gestorben war, daß sie für alle Ewigkeit in sein Gesicht gemeißelt war.

Stille.

»Solche Macht!« flüsterte Boaz, und das löste das Entsetzen, das mich gelähmt hatte.

»Du kaltblütige Echse!« schrie ich. »Fließt denn nur Stein in deinen Adern?«

Er drehte sich um und starrte mich an. Das tat jeder, und ich glaube, meine Stimme mußte bis zu den vielen Männern gedrungen sein, die auf der Rampe oder in ihrer Nähe standen und die elf zu Stein erstarrten Männer anstarrten.

»Das war mein Vater, der da vor deinen Augen gestorben ist, und du stehst einfach nur da und teilst uns deine Bewunderung mit?« Ich hatte keine Angst. Nicht die geringste.

»Die Pyramide ist ein Ungeheuer, Boaz! Ist es gut, daß sie zerstört und tötet? Ist das gut? Gefällt dir das? Ist es das, was dein Vater gewollt hätte?« Oh, bei den Soulenai, ich hätte erkennen müssen, daß ich damit nichts erreichen würde – außer meinen eigenen Tod herbeizurufen.

Ich riß meinen Arm aus Kiamets Umklammerung und beschrieb damit einen großen, allumfassenden Bogen. »Wie kannst du dastehen und das Böse preisen, während du dich zur gleichen Zeit danach verzehrst, das Lied der Frö…«

Er schlug mich.

Mein Kopf prallte mit solcher Wucht gegen Kiamets Brust, daß er bestimmt eine Prellung davontrug.

Dann packte Boaz mein Haar und riß mein Gesicht zu sich heran. In seinen Fingern wogte der Zorn und die Macht der Eins.

»Gut, daß die Glasnetze so gut wie fertig sind«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne, »denn jetzt kann ich es mir leisten, mich von der unverschämtesten aller Glasschleiferinnen zu befreien!«

Er stieß meinen Kopf wieder gegen den Wächter. »Steck sie in den Kerker, Kiamet, und sperr sie ein. Kein Essen. Kein Wasser. Sag mir Bescheid, wenn sie tot ist.«

Ich hörte, wie er wegging. »Und holt jemanden, der diese nutzlosen Felsklötze in den Lhyl wirft. Weit weg von den Anlegestellen. Ich will nicht, daß die Schiffe ihren Kiel daran beschädigen.«

 

 

Die Zellen im Kerker der Siedlung waren aus dickem Stein gebaut, um auch die widerspenstigsten Sklaven von einer Flucht abhalten zu können. Es gab keine Fenster, und die wenige Luft, die hereinkam, drang durch einen Spalt zwischen zwei Steinblöcken hoch oben in einer der Wände.

Es gab eine dicke Holztür, die fest verriegelt war. Sonst nichts. Keine Pritsche, keine Decken. Und kein Wasser. Nicht einmal einen Eimer, in den ich mich hätte erleichtern können.

Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und weinte. Mein Vater war tot. Und es war alles meine Schuld. Die Soulenai hatten mich mit der Aufgabe betraut, Boaz dazu zu bringen, seine Herkunft als Elementist anzunehmen und die Pyramide zu zerstören. Aber ich hatte nichts anderes getan, als mich an das bequeme Leben einer ausgehaltenen Geliebten zu gewöhnen. Ich hatte meine seidenen Kleider gestreichelt und das gute Essen genossen. Ich hatte stundenlang geübt, meine Augen mit Kohol zu schminken und meine Lippen rot anzumalen. Ich war durch die Gärten geschlendert und hatte den Fischen in den Teichen zugesehen. Ich hatte an den Übersetzungen gearbeitet und die Herausforderung genossen – das verfluchte, verzauberte geschriebene Wort! Ich war anschmiegsam und unterwürfig gewesen und hatte mich in dem Beifall des Magiers gesonnt. Und nachts hatte ich das Krebsgeschwür in meinem Unterleib, das mein zerstörter Schoß darstellte, in die Tiefen meines Bewußtseins gedrängt und mich ihm hingegeben, in dem verzweifelten Verlangen, daß er mich packte und an sich zog.

Alles das hatte ich getan, und in der Zwischenzeit war die Pyramide gewachsen.

Und hatte meinen Vater verschlungen.

Ich hatte Druse und die Soulenai verraten, und ich hatte mich selbst verraten. Ich hatte meinen Leib für ein leichtes, bequemes Leben dargeboten.

Ich krümmte mich zusammen und hoffte, daß der Tod schnell kommen würde.

 

 

Aber das tat er nicht. Am Tag war die Zelle glühend heiß, in der Nacht eiskalt. Am Abend des ersten Tages war mein Hals rauh und verlangte nach Wasser. Es war mir gleichgültig. Ich weinte und weinte und wußte gar nicht mehr, woher all die Tränen kamen.

Die Nacht währte eine Ewigkeit. Ich glaube, irgendwann fiel ich ins Delirium, denn ich fand mich in der Unendlichkeit gefangen, und ich rief nach Boaz, der mich retten sollte, und dann verfluchte ich mich für diese Schwäche.

Der Morgen kam und mit ihm die Hoffnung. Vor der Tür ertönte ein Geräusch, und ich glaubte, sie würde sich öffnen, aber es war bloß der Wechsel der Wache. Also ließ ich mich wieder zu Boden sinken, lag da und starrte die Steinmauer vor mir an.

War Druse dazu verurteilt, für alle Ewigkeit im Schlamm des Flußbettes zu liegen? Raguels Seele war verlorengegangen, weil wir ihre sterblichen Überreste nicht zur Zuflucht im Jenseits hatten schicken können. Genauso würde Druses Seele verloren sein. Er war kein Elementist gewesen, aber das hätte Isphet nicht davon abgehalten, ihn in die Zuflucht zu verabschieden.

Würde Druses Seele bis in alle Ewigkeit mit seinen steinernen Augen in das schlammige Leben des Flußgrundes starren müssen?

»Es tut mir so leid«, flüsterte ich heiser, aber das war kein großer Trost für eine Seele, die durch die Schwächen einer Tochter im Stich gelassen worden war.

Der Tag war ein Alptraum. Die Zelle verwandelte sich fast in einen Backofen, und mein Durst wurde zu einem wilden Tier. Am späten Nachmittag saß ich an der Tür, hämmerte dagegen, flehte, schrie mit dem Rest Stimme, der mir noch geblieben war, nach nur einem Becher Wasser, nur einem kleinen. Boaz würde es auch gewiß nie erfahren…

Ich wollte sterben, aber nicht auf diese Weise. Ich wollte einen schnellen Schwertstreich. Einfach. Voll Erbarmen.

Und nun flehte und bettelte ich am frühen Abend darum.

Die Wächter rührten sich nicht.

Mein Hals schwoll so an, daß ich keine Laute mehr hervorbrachte, und ich fiel in ein weiteres Delirium, um mitten in der Nacht zitternd und frierend aufzuwachen.

Ich versuchte aufzustehen, schluchzte trocken.

Ich blinzelte, dann blinzelte ich noch einmal. Durch die Spalten im Mauerwerk drang schwach das Mondlicht, und rief ein Funkeln auf den Wänden hervor.

Es war Eis.

Ich glaubte zu halluzinieren, aber schließlich streckte ich die Hand danach aus und berührte es… eine hauchdünne Schicht hochwillkommenen Eises. Ich erhob mich auf die Knie, wäre beinahe umgefallen, und leckte das Naß von den Steinen, wimmerte wieder, als die Flüssigkeit durch meinen geschwollenen Hals sickerte, segnete die Götter, die mir dieses Geschenk geschickt hatten.

Vor Fieber und Kälte zitternd kroch ich die Wände entlang, schabte mir an Händen, Kinn und Nase die Haut ab, leckte hemmungslos vor Angst und Gier, gleichgültig darüber, daß ich zusammen mit der Feuchtigkeit den Schmutz von Jahren in mich hineintrank.

Ich wollte nicht sterben.

Der Tag verging, aber er dauerte eine Ewigkeit. Ich lag auf dem Boden und bettelte darum, daß die Sonne unterging und die Nacht hereinbrach.

Als es soweit war, schaffte ich es, mich auf Hände und Knie aufzurichten, fast wie ein Tier, und ich wartete darauf, daß sich das Eis bildete.

Ich glaubte, es würde nie geschehen. Suchend glitt meine Zunge über die Wände; ich glaubte, es würde nicht kalt genug, wurde von der Angst erfüllt, daß meine rauhe Zunge verhinderte, daß sich das Eis bildete. Aber schließlich fand ich eine feuchte Stelle, und ich fing an zu schluchzen vor Erleichterung, und ich verbrachte eine Stunde vergeblich damit, die Tränen aufzuhalten, denn ich wollte sie nicht verschwenden. Ein weiterer Tag verging, dann eine weitere Nacht, und dann vielleicht noch mehr Tage und Nächte, aber da bin ich mir nicht sicher, denn ich starb.

 

 

»Sie ist tot, Exzellenz. Seht Ihr?«

Das hörte ich wie in einem Traum, aber ich schlug die Augen nicht auf, denn sie waren verklebt. Davon abgesehen war ich wirklich tot und verspürte keine Neugier mehr.

Aber es war seltsam, daß die Stimme Kiamets Stimme so sehr ähnelte. War Kiamet mir in die Ewigkeit gefolgt? So ein netter Mann. So freundlich.

Eine Hand ergriff meine Schulter und drehte mich herum. Mein Kopf schlug gegen den Steinboden. Das tat weh, und ich war wütend. In der Ewigkeit hatte Schmerz keinen Platz.

Ein Schritt ertönte, dann kniete jemand neben mir nieder.

Stille.

»Du bist ein Narr, Kiamet. Sie atmet noch.«

»Exzellenz, ich war mir ganz sicher! Es sind acht Tage vergangen. Niemand…«

»Geh, Kiamet, und schließ die Tür. Öffne sie nicht, bevor ich dich rufe.«

»Ja, Exzellenz.«

Also war ich nicht tot. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich geweint.

Er kniete dort eine lange Zeit, und ich glaubte, er wartete darauf, daß ich starb. Dann vergrub sich eine rauhe Hand in meinem Haar und zog meinen Kopf hoch, und dieses Mal gelang mir ein protestierendes Krächzen.

»Du dummes Mädchen«, sagte er, und ich glaubte seine Stimme brechen zu hören. Aber das konnte nicht stimmen.

Das war nur eine Ausgeburt meiner Phantasie. »Mein armes dummes Mädchen.«

Und dann wurde mir Wasser ins Gesicht gespritzt.

 

 

Jemand trug mich zurück in seine Residenz. Nicht Boaz, denn er hätte niemals zugelassen, daß ihn jemand so sah. Vermutlich Kiamet. Ja, ich glaube, es war Kiamet. Ich wurde auf Boaz’ Bett niedergelegt, und konnte es kaum glauben, denn ich muß völlig verdreckt gewesen sein. Dann ertönte Boaz’ Stimme.

»Geh und laß niemanden herein.«

»Ja, Exzellenz.« Ich hörte, wie sich Kiamets Schritte entfernten.

Ich hatte die Augen noch immer nicht geöffnet, denn ich war der festen Überzeugung, daß das den Zauber brechen würde. Ich wurde von Fieber und Schmerzen eingehüllt und war wohl dem Tode sehr nahe. Doch ich war zu mutlos, um um mein Leben zu kämpfen.

Er beugte sich über das Bett und zog mir das Kleid aus, warf es mit einem Laut des Ekels zur Seite. Mein Körper war in eine Schicht aus getrocknetem Schweiß und Blut gehüllt, von der nächtlichen Suche nach Wasser an den Wänden zerschunden; meine Haut hatte eine Farbe zwischen gelb und grau angenommen.

So hatte sie zumindest ausgesehen, als ich sie das letzte Mal betrachtet hatte, und das war… wie lange her? Zwei Tage? Drei? Ich bezweifelte, daß die Zeit ihr Aussehen verbessert hatte.

Dann hob er mich auf seine Arme, was mir sehr weh tat, denn seine Berührung war grob und mein ganzer Körper schmerzte. Er trug mich durch das Gemach, dann in einen der hinteren Räume. Hier war es kühler, und ich versuchte mir vorzustellen, wo wir uns befanden.

Er ließ mich fallen.

Ich wollte mich an ihm festklammern, aber ich war zu schwach, und ich schaffte es nicht.

Im nächsten Augenblick wurde ich von kühlem, duftenden Wasser eingehüllt, und ich mußte mich an die Oberfläche kämpfen und rang keuchend und spuckend nach Luft, als mein Kopf das Wasser durchbrach. Ich war in dem großen Schwimmbecken gelandet.

»Also willst du doch leben.« Er sprang in das Becken, dann fühlte ich, wie er mich ergriff und festhielt. »Dann lebe, verflucht noch mal. Lebe!«

Und ich trank das Wasser in großen Zügen. In der Zelle hatte er mir ein paar Tropfen eingeflößt, aber das hier… das… Ich nahm noch einen großen Schluck.

»Das reicht.« Er griff wieder in mein Haar und zog meinen Kopf nach hinten, damit ich nicht mehr trinken konnte. »Zu viel auf einmal, und du wirst dich umbringen. Hast du verstanden?«

»Nein, Exzellenz, das tue ich nicht«, schaffte ich hervorzustoßen. »Nennt mir einen Grund, Exzellenz, warum sollte ich mich nicht umbringen, wenn Ihr damit nur eine weitere Chance bekommt, mich zu töten?«

Die kleine Ansprache war fast zu viel für mich, und ich würgte; das getrunkene Wasser brachte meinen Magen in Aufruhr.

Er zog mich näher zu sich heran, stützte mich in dem tiefen Wasser. »Tirzah…«

»Ertränkt mich jetzt!« sagte ich. »Es wird Euch später viel Mühe ersparen!«

Er starrte mich an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kiamets Eintreten – der gute, treue Kiamet – hielt ihn davon ab.

»Exzellenz« – der Mann lag vor Angst fast auf den Knien – »Exzellenz, ich habe mir etwas angemaßt, ich dachte… jemand, der sich im Heilen auskennt… Kräuter…«

»Isphet!« keuchte ich.

Und dann war Isphet in dem Raum und verneigte sich, warf eine Tasche auf den Fliesenboden. »Exzellenz«, sagte sie und hob den Kopf. Bei meinem Anblick riß sie entsetzt die Augen auf. Ohne auf einen Befehl von Boaz zu warten, sprang sie ins Wasser.

»Wir werden sie waschen, Exzellenz, und dann muß sie sich unbedingt hinlegen. Kiamet, raus hier. Exzellenz, Ihr werdet sie halten müssen, während ich sie wasche.«

Und beide Männer gehorchten.

Als mich Boaz später wieder zu Bett gebracht hatte, gab mir Isphet etwas zu trinken, dann rieb sie meinen ganzen Körper mit lindernden Salben ein.

»Exzellenz«, sagte sie und drehte den Kopf ein Stück zur Seite, wo Boaz stumm und unergründlich am Fuß des Bettes stand, »sie muß von jetzt an jede halbe Stunde eine kleine Menge Flüssigkeit zu trinken bekommen. Heute abend, wenn es ihr dazu gut genug geht, etwas leichtes Essen. Ich werde einen Kräutertrank mischen, der ihre Schmerzen etwas lindern wird, und einen anderen, damit sie traumlos durchschläft. Ich werde bei ihr bleiben…«

»Nein«, sagte Boaz. »Du hast genug getan. Misch die Kräuter und geh.«

Isphet wollte aufgebracht etwas erwidern, schlug aber den Blick nieder und gab nach. »Wie Ihr wünscht, Exzellenz. Aber sie braucht Pflege. Wenn…«

»Ich werde dafür sorgen.«

»Dann ruft mich, wenn Ihr mich braucht, Exzellenz.« Sie stand auf und beschäftigte sich eine Weile damit, die Kräuter zu mischen und sie in zwei Schalen bereitzustellen. Dann gab sie mir noch etwas zu trinken und strich mir das Haar aus der Stirn.

»Tirzah«, sagte sie mit tränenverschleierten Augen. »Lebe.«

Ich gab mir Mühe zu lächeln und ergriff ihre Hand. »Danke dir, Isphet. Ich versuche es.«

»Nun.« Sie brachte ein zittriges Lächeln durch die Tränen zustande. »Wenigstens habe ich es heute geschafft, seit sechs Jahren das erste vernünftige Bad zu nehmen.«

Das ließ auch mich lächeln, und sie wischte sich die Tränen ab, stand auf, verbeugte sich vor Boaz und ging.

Stille kehrte ein.

 

 

An diesem Tag fühlte ich mich sehr unbehaglich, aus vielerlei Gründen. Als mich Kiamet zu Boaz’ Residenz zurückgetragen hatte, war ich dem Tod so nahe gewesen, daß ich mir nur des Unbehagens meines Körpers bewußt gewesen war. Während ich mich erholte, meine Lebensgeister erwachten, flammten stechende Schmerzen in mir auf. Aber ich lag stumm da, während sich die Schmerzen ausbreiteten, denn ich wollte ihnen nicht nachgeben, wollte Boaz nicht die Befriedigung verschaffen, daß ich litt.

Er saß an seinem Schreibtisch, schrieb wie wild. So fern von mir, als trennten uns Meilen statt nur Schritte. Er hatte dort ein kleines Stundenglas stehen, und wenn es anzeigte, daß ich trinken mußte, dann kümmerte er sich darum. Er hielt mir den Kopf und erlaubte mir kleine Schlucke des mit Honig gesüßten Wassers, das Isphet für mich angerührt hatte. Stumm, mich beobachtend.

Am späten Nachmittag kam er wieder einmal, um mich zu versorgen, blieb diesmal aber stehen, als er sah, daß ich große Schmerzen litt.

»Du hättest etwas sagen sollen.«

»Ich wollte Euch nicht stören, Exzellenz«, sagte ich mit nur wenig Respekt in der Stimme.

Er setzte sich auf die Bettkante und richtete mich auf, hielt mich mit einem Arm, während er mir mit der anderen Hand Isphets Schmerzmittel gab. Dann bettete er meinen Kopf behutsam zurück in die Kissen.

»Ich bleibe bei dir«, sagte er, und das tat er auch, saß neben mir, hielt meine Hand und streichelte sie sanft.

Die Schmerzen ließen nach, und dankbar sank ich in Schlaf.

Ich erwachte am frühen Abend. Ohne ein Geräusch, wie ich glaubte, aber Boaz bemerkte es dennoch und kam zu mir herüber.

»Die Pyramide wird Euch vermissen, Exzellenz. Ihr habt den ganzen Tag mit mir verbracht.«

Seine Lippen wurden schmal. »Kannst du etwas essen?«

Ich nickte, und er verließ den Raum. Ich hörte ihn leise mit Holdat sprechen, und ich hörte auch, daß dieser und auch Kiamet sich nach mir erkundigten.

Beinahe hätte ich gelächelt. Boaz mußte sich wie belagert fühlen.

Holdat kehrte mit einer kleinen Schale zerdrückter Früchte zurück, wie sie Mütter ihren Kleinkindern zu essen geben. Mit etwas Sirup verdünnt waren sie fast zu Brei geworden. Er lächelte mich an, dann ging er.

Boaz fütterte mich. Ich wollte seine Hand wegstoßen, er machte eine gereizte Geste, und so ließ ich ihn weitermachen. Vielleicht linderte das seine Schuldgefühle.

Ich aß das Obst auf, ein wenig überrascht, daß mein Magen nicht rebellierte.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er.

»Wenn Ihr wollt, Exzellenz.«

»Hör auf damit, mich in diesem Tonfall Exzellenz zu nennen!« fauchte er.

»Wie soll ich Euch dann anreden? Wieviel Freundlichkeit soll ich denn Eurer Ansicht nach in meine Stimme legen?«

»In diesem Raum darfst du mich Boaz nennen. Draußen sprichst du mich mit Exzellenz an. Aber wenn du nicht etwas Respekt in deine Stimme legen kannst, würde ich es vorziehen, wenn du mich gar nicht ansprichst.«

»Ich erinnere mich, daß Ihr mich schon einmal gebeten habt, Euch Boaz zu nennen – in diesem Bett. Am nächsten Morgen habt Ihr mich für diese Anmaßung Todesqualen leiden lassen.«

Das ließ ihn verstummen. Dann… »Ich hatte Angst. Ich war…«

»Du warst ehrlich dir selbst gegenüber gewesen, Boaz. Ehrlich genug, um mich etwas von dem Mann sehen zu lassen, der du wirklich bist. Aber ich glaube, wenn du in Zukunft so ehrlich sein willst, würde ich es vorziehen, anderswo zu sein. Noch einen Angriff von dir werde ich nicht überleben.«

»Wenn du willst, daß ich aufhöre, dir wehzutun«, erwiderte er, »dann hör auf, mir einen Grund dafür zu liefern!«

»Was? Es hat dich niemand gezwungen, mir dieses Buch zu zeigen! Es hat dich niemand gezwungen, mir…«

»Was hast du dir nur dabei gedacht, mitten in der Pyramide mir diese Dinge an den Kopf zu werfen?«

»Ich war gerade Zeugin geworden, wie mein Vater einen Tod starb, den nicht einmal der schlimmste Verbrecher erleiden sollte. Ich habe zugesehen, wie elf Männer einen solchen Tod starben, ganz zu schweigen von den anderen, die vorher schon gestorben sind. Mein geliebter Vater hat mich angefleht, ihn zu retten, und ich konnte es nicht. Und du hast nur die Macht der Pyramide bewundert. Ich…«

»Hätte ich dich noch mehr sagen lassen, hätte die Pyramide keinen von uns am Leben gelassen.«

»Hättest du dort zugegeben, daß ich recht habe, hätte uns die Pyramide bestimmt nicht am Leben gelassen«, erwiderte ich leise.

Er warf mir einen finsteren Blick zu, dann stand er auf; der Stoff seines Gewandes rauschte ärgerlich. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, nahm die Feder und fuhr fort zu schreiben.

Die Feder kratzte unentwegt über den Papyrus. Auf und ab. Der Abend wurde zur Nacht. Holdat kam und holte das Tablett, aber diesmal lächelte er nicht.

Kratzte auf und ab, in einem fort.

Schließlich warf Boaz die Feder hin und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er saß ein paar Minuten so da, dann erbebten seine Schultern, und er stand auf.

Ich rechnete damit, daß er zu mir kam, aber er begab sich zu dem Regal und nahm den Froschkelch. Er stand da, betrachtete ihn, schließlich kam er doch zu mir.

»Ich habe mehr als acht Tage hier gesessen und diesen Kelch in Händen gehalten«, sagte er, den Blick auf das Glas gerichtet. »Wenn Kiamet mir die Nachricht deines Todes überbrachte, wollte ich ihn hochheben und an der Wand zerschmettern. Ich glaubte, das würde meinen Schmerz lindern.

Aber als Kiamet dann kam, mit eingefallenen Augen und einer so grauen Haut, als hätte er selbst diese acht Tage in der Zelle verbracht, und sagte: ›Exzellenz, ich glaube, sie ist tot‹, da glaubte ich durch meinen Schmerz die Frösche aufschreien zu hören.«

»Was haben sie gesagt, Boaz?«

Er holte tief Luft und erwiderte meinen Blick. Ich glaube nicht, daß ich jemals in den Augen eines anderen Menschen eine solche Qual gesehen habe. »Sie sagten: Umarme sie, tröste sie, liebe sie, umarme sie, tröste sie, schütze sie, liebe sie. Und…« Er brach ab und sammelte sich. »Und ich stellte den Glaskelch behutsam ab und eilte zu dir. Tirzah…«

Er stellte den Kelch auf den Tisch, und er legte sich an meine Seite und nahm mich in die Arme. »Tirzah, das ist alles, was ich jemals wirklich wollte. Dich zu umarmen, zu trösten, zu hüten, zu lieben. Alles, was ich je wollte.«

»Du hast die Frösche gehört?« fragte ich.

Er antwortete nicht.

»Boaz«, sagte ich schließlich, »es gibt andere Wege, Macht zu erlangen, als die Eins und die Pyramide sie bieten.«

Wenn ich weiterleben durfte, dann würde ich mein Versprechen an die Soulenai nicht länger hinausschieben.

»Tirzah, ich werde mich nicht kindlichen Phantasien hingeben.« Sein Tonfall war jetzt hart, und ich fühlte, wie sich sein Körper versteifte. Dann jedoch zwang er etwas Humor in seine Stimme. »Wie ich sehe, waren meine vielen Predigten über die Eins doch umsonst.«

»Zahlen und starre Parameter besitzen nicht die Schönheit, nach der ich mich sehne«, sagte ich leise. »Wenn du willst, erzähle ich dir eines Tages, wie ich die Welt verstehe.«

Er dachte darüber nach, dann wandte er sich abrupt von mir ab und setzte sich auf. »Eines Tages, Tirzah. Aber nicht heute. Ich will es jetzt nicht wissen.«

Er nahm den Becher mit Isphets Kräutertrank und schenkte etwas ein… in den Froschkelch. »Komm jetzt, es ist Zeit, daß du schläfst.«

Ich lächelte, als das Glas meine Lippen berührte (laß uns dich umarmen, trösten, lieben), dann trank ich gehorsam. Ein traumloser Schlaf würde schön sein. »Boaz?«

»Hmmm?«

»Warum berührt die Kammer zur Unendlichkeit das Tal?«

Er versteifte sich, zog sich aber nicht in sich zurück. »Woher weißt du das?«

»Du hast mich lesen gelehrt.«

»Ach ja, nun gut.« Er dachte darüber nach. »Das Tal enthält die Macht, die wir brauchen.«

»Es ist eine finstere Macht. Bestimmt haben die Todesfälle… die Art und Weise der Todesfälle dir das gezeigt. Weißt du, was du da tust?«

Ich hatte mich zu weit vorgewagt. »Nichts wird mich von der Pyramide abbringen, Tirzah. Keine kindischen Hoffnungen, nicht Mythen noch Legenden. Nichts. Ich habe den größten Teil meines Lebens auf dieses Ziel hingearbeitet. Ich werde meinen Traum auch jetzt nicht aufgeben.«

Dann schwieg er, aber er saß bei mir, bis ich einschlief.

Am Morgen ging er zurück zur Pyramide.