Gefangen zu sein ist stets etwas Demütigendes. Von Angehörigen der eigenen Art und Rasse gefangen zu werden, ist schon schlimm genug – man kann sich wenigstens mit den Gefangenenwärtern unterhalten, kann ihnen die eigenen Wünsche verständlich machen; man kann zu ihnen sogar gelegentlich von Mensch zu Mensch sprechen.
Weitaus erniedrigender ist die Gefangenschaft aber, wenn die Gefangenenwärter einen wie ein Tier niederer Gattung behandeln.
Man konnte es der Mannschaft des Beobachtungsschiffs vielleicht nicht verdenken, daß sie die Überlebenden des interstellaren Linienschiffs Lode Star nicht als Intelligenzwesen erkannten. Fast zweihundert Tage waren seit der Landung auf dem namenlosen Planeten vergangen. Diese Landung war nicht beabsichtigt gewesen. Die Ehrenhaft-Generatoren der Lode Star, die durch einen Zusammenbruch des elektronischen Regulators weit über ihre normale Kapazität hinaus beansprucht worden waren, hatten das Schiff von der regulären Route abgelenkt, weit hinaus in bisher unerforschte Regionen des Raums. Aber kurz danach (ein Unglück kommt selten allein) hatten die Ingenieure den Atommeiler nicht mehr unter Kontrolle, und der Kapitän hatte alle Passagiere und die Mannschaftsangehörigen, die bei der Instandsetzung nicht notwendig waren, evakuiert und sie so weit wie möglich vom Schiff wegbringen lassen.
Hawkins, der erste Schiffsmaat, befand sich mit den Leuten gerade außerhalb der Gefahrenzone, als durch ein Freiwerden von Energie eine nicht allzu starke Explosion hervorgerufen wurde. Die Überlebenden wollten sich umdrehen, um sie zu beobachten, aber Hawkins trieb sie mit Flüchen weiter fort vom Schiff. Zum Glück blies der Wind den Niederschlag nicht in ihre Richtung.
Nachdem sich das Feuer etwas gelegt hatte, kehrten Hawkins und Dr. Boyle, der Schiffsarzt, zu der Unglücksstelle zurück. Die beiden Männer, die die radioaktive Strahlung fürchteten, hielten sich in sicherer Entfernung von dem flachen, noch rauchenden Krater, in dem sich kurz zuvor noch das Schiff befunden hatte. Allem Anschein nach war von dem Kapitän und seinen Offizieren und Technikern nichts übriggeblieben als die pilzförmige Wolke, die über dem Krater hing. Die Überlebenden, etwa fünfzig Männer und Frauen, begannen, sich an ihre Umgebung anzupassen. Es war kein schneller Vorgang – Hawkins und Boyle bemühten sich, zusammen mit einem Komitee, das sich aus den verantwortungsbewußteren Passagieren bildete, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie hatten einen schweren Kampf zu bestehen. Erstens war das Klima gegen sie. Es war sehr heiß, fast fünfundachtzig Grad Fahrenheit. Und außerdem war es sehr feucht – unaufhörlich fiel ein dünner, warmer Sprühregen auf sie herab. In der Luft schwebten federleichte klebrige Gespinste, die sich überall festsetzten – zum Glück verschonten sie die lebende Haut, sondern nisteten sich meist auf toter, organischer Materie, wie der Kleidung, fest. Noch mehr gediehen sie an Metall und dem synthetischen Stoff, aus dem viele der Kleider der Überlebenden gemacht waren.
Richtige Gefahren von außen hätten geholfen, die Moral im Lager aufrechtzuerhalten. Aber es gab hier keine gefährlichen Tiere. Es gab nur kleine, weiche Wesen, die Fröschen nicht unähnlich waren und durch das Unterholz hüpften; in den zahlreichen Flüssen wimmelte es von fischartigen Kreaturen in allen Größen – vom Hai bis zur Kaulquappe.
Seit den ersten hungrigen Stunden hatte die Nahrungsbeschaffung kein Problem mehr dargestellt. Einige hatten einen großen, saftigen Pilz, der an den Stämmen der gewaltigen, farnartigen Bäume wuchs, probiert. Sie hatten ihn als gutschmeckend empfunden. Da sich bei ihnen keine Magenbeschwerden einstellten, hatte man dieses Pilzgewächs als ständiges Nahrungsmittel gewählt. In den darauffolgenden Wochen hatten die Überlebenden noch andere Pilzarten, Beeren und Wurzeln ausfindig gemacht – alle waren eßbar. Sie boten eine willkommene Abwechslung auf dem Speisezettel.
Trotz der fast unerträglichen Hitze vermißten die Schiffbrüchigen vor allem das Feuer. Damit hätten sie ihre Mahlzeiten noch abwechslungsreicher gestalten können, indem sie die kleinen Froschwesen im Wald und die Fische aus dem Fluß fingen und brieten. Einige der etwas Hartgesotteneren aßen diese Tiere roh, aber die meisten anderen Mitglieder der kleinen Gemeinschaft waren nicht dazu zu bewegen. Das Feuer hätte auch geholfen, die Dunkelheit der langen Nächte besser zu ertragen, es hätte durch seine Wärme und durch das Licht das unbehagliche Gefühl der Kalte vertrieben, das durch das unaufhörliche Tropfen des Wassers von jedem Blatt und Ast hervorgerufen wurde.
Bei ihrer Flucht vom Schiff hatten die meisten Überlebenden Taschenlampen bei sich gehabt, aber diese Taschenlampen hatten sich, genauso wie die sie umgebenden Hüllen, aufgelöst und zersetzt. Auf jeden Fall waren alle Versuche, das Feuer mit den Stablampen zu entfachen, fehlgeschlagen. Hawkins hätte darauf geschworen, daß auf dem ganzen Planeten kein einziger trockener Fleck war. Jetzt aber war das Entfachen von Feuer völlig unmöglich. Selbst wenn sie einen Experten unter sich gehabt hätten, der es verstanden hätte, zwei trockene Stäbe aneinanderzureihen, hätte er kein Material gefunden, mit dem er das Feuer hätte in Gang halten können.
Sie richteten ihr ständiges Lager auf dem Kamm eines niedrigen Hügels ein. (Soweit sie dies beurteilen konnten, besaß dieser Planet keine richtigen Berge.) Hier gab es nicht so viele Bäume wie in den Ebenen, und der Boden war deshalb nicht so durchweicht. Es gelang ihnen, Farnwedel auszuwringen und daraus rohe Schutzhütten zu bauen. Diese Schutzhütten boten zwar keine Bequemlichkeit, aber sie ließen wenigstens das Gefühl der Intimität und der privaten Umgebung aufkommen. Mit einer Art Verzweiflung klammerten sie sich an die Regierungsformen der Welten, die sie verlassen hatten, und deshalb wählten sie aus ihren Reihen einen Verwaltungsrat. Boyle, der Schiffsarzt, war ihr Führer. Hawkins unterlag ihm zu seinem eigenen Erstaunen mit zwei Stimmen und wurde daher nur Ratsmitglied. Als er darüber nachdachte, kam er darauf, daß die Passagiere noch immer gegen ihn waren, weil er der Schiffsbesatzung angehört hatte, die sie im geheimen für ihre jetzige mißliche Lage verantwortlich machten.
Die erste Ratssitzung wurde in einer Hütte abgehalten – wenn man den Bau überhaupt so nennen konnte –, die eigens für diesen Zweck errichtet worden war. Die Mitglieder des Rats ließen sich in einem Kreis nieder. Boyle, der Vorsitzende, erhob sich langsam. Hawkins mußte lächeln, als er den nackten Arzt betrachtete. Die Würde, die er zur Schau trug, paßte nicht zu der ungepflegten Gestalt, dem wirren Haar, dem großen grauen Bart.
»Meine Damen und Herren«, begann Boyle.
Hawkins blickte sich um, er betrachtete den nackten, blassen Körper, das strähnige, glanzlose Haar, die langen, schmutzigen Fingernägel der Männer und die ungeschminkten Lippen der Frauen. Wahrscheinlich sehe ich selbst nicht wie ein Offizier und wie ein Gentleman aus, dachte er.
»Meine Damen und Herren«, sagte Boyle, »wir sind, wie Sie wissen, auserwählt, die menschliche Gemeinschaft auf diesem Planeten zu repräsentieren. Ich schlage vor, daß wir auf dieser unserer ersten Sitzung beraten, wie es um unsere Überlebenschancen steht – nicht als Individuen, sondern als eine Rasse –«
»Ich möchte Mr. Hawkins fragen, wie unsere Chancen stehen, gefunden und gerettet zu werden«, rief eines der beiden weiblichen Mitglieder, eine ausgedörrte, altjüngferliche Frau mit spitzen, hervorstehenden Rippen und Wirbelknochen.
»Unsere Chancen sind sehr gering«, antwortete Hawkins. »Wie Sie wissen, ist während der interstellaren Fahrt keine Verständigung mit anderen Schiffen oder Planetenstationen möglich. Als wir die Fahrt stoppten und zur Landung ansetzten, sandten wir einen Notruf aus – aber wir konnten nicht sagen, wo wir uns befanden. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob der Ruf aufgefangen wurde –«
»Mr. Hawkins«, unterbrach Boyle beleidigt, »ich möchte Sie daran erinnern, daß ich der ernannte Präsident dieses Rates bin. Wir werden später Zeit für eine allgemeine Diskussion haben.
Wie die meisten von Ihnen vielleicht schon festgestellt haben, entspricht das Alter dieses Planeten, biologisch gesprochen, ungefähr dem der Erde während der Karbonzeit. Wie wir schon jetzt wissen, existiert keine lebende Art, die uns unsere Überlegenheit streitig machen könnte. Bis zu der Zeit, wo dies geschehen könnte, werden wir uns gut eingerichtet haben und darauf vorbereitet sein –«
»Dann werden wir schon lange tot sein!« rief einer der Männer.
»Wir selbst werden zwar tot sein«, stimmte der Doktor zu, »aber unsere Nachkommen werden leben. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir ihnen einen möglichst günstigen Start geben können. Wir werden ihnen die Sprache übermitteln –«
»Lassen wir die Sprache erst einmal aus dem Spiel, Doktor«, rief die andere Frau, die noch im Rat anwesend war. Sie war schmal gebaut und jung und hatte harte Gesichtszüge. »Ich bin hier, um die Frage unserer Nachkommen zu diskutieren. Ich repräsentiere die Frauen, die fähig sind, Kinder zu bekommen – das sind, wie Sie ja wissen, genau fünfzehn. Bis jetzt haben sich die Mädchen sehr vorgesehen. Wir haben dazu allen Grund. Können Sie als Arzt garantieren, daß sie, ohne die Hilfe von Instrumenten und Medikamenten, ihre Kinder sicher auf die Welt bringen können? Können Sie garantieren, daß unsere Kinder eine gute Überlebenschance haben werden?«
»Sie haben recht«, antwortete Boyle, »wenn Sie betonen, daß ich weder Medikamente noch Instrumente besitze. Aber ich kann Ihnen Versichern, Miss Hart, daß die Chancen, die Kinder sicher auf die Welt zu bringen, größer sind als die, sagen wir, während des achtzehnten Jahrhunderts auf der Erde. Und ich werde Ihnen auch sagen, warum das so ist. Auf diesem Planeten existieren, soweit wir das bis jetzt beurteilen können, keine mikroskopischen Krankheitserreger. Wir sind jetzt schon lange genug hier, um das mit Sicherheit feststellen zu können. Denn wenn es für uns schädliche Mikroorganismen gäbe, dann hatten wir die Anzeichen dafür schon lange an uns bemerkt. Dies, glaube ich, beantwortet Ihre Frage.«
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte sie. »Es gibt noch einen anderen Punkt zu bedenken. Alles in allem sind wir dreiundfünfzig Menschen hier. Männer und Frauen. Darunter befinden sich zehn Ehepaare – die können wir beiseite lassen. Nun bleiben dreiunddreißig Menschen übrig, von denen zwanzig Männer sind. Zwanzig Männer zu dreizehn Frauen. Wir Frauen sind zwar nicht mehr alle jung, aber auch noch nicht zu alt, um Kinder zu bekommen. Was für ein System der Paarung haben Sie sich vorgestellt? Monogamie? Polyandrie?«
»Natürlich Monogamie«, mischte sich ein großer, schlanker Mann ein. Er war der einzige unter den Anwesenden, der Kleidung trug – wenn man das, was er am Leibe hatte, überhaupt noch so nennen konnte. Der Stoff war über und über von schwammartigem Gewächs bedeckt, und an einigen Stellen waren schon große Löcher hineingefressen.
»Also gut«, sagte das Mädchen. »Monogamie. Das ist mir selbst auch lieber. Aber ich muß Sie warnen! Wenn wir uns darauf einigen, dann gibt es sicher Ärger. Und bei jedem Mord, der aus Leidenschaft und Eifersucht begangen wird, ist die Frau genauso bedroht wie einer der beiden Männer – und das möchte ich auf gar keinen Fall.«
»Was schlagen Sie dann vor, Miss Hart?« fragte Boyle.
»Ganz einfach, Doktor. Lassen wir die Liebe aus dem Spiel. Wenn zwei Männer ein und dieselbe Frau heiraten möchten, dann müssen sie das unter sich ausmachen. Der beste Mann bekommt das Mädchen – und behält es.«
»Natürliche Auslese …«, murmelte der Arzt. »Ich bin dafür – aber wir müssen darüber abstimmen.«
Auf der Kuppe des Hügels befand sich eine flache Einbuchtung, eine natürliche Arena. Ringsherum saßen die Schiffbrüchigen – bis auf vier. Einer dieser vier war Dr. Boyle – er hatte herausgefunden, daß zu seinen Pflichten als Präsident auch die eines Schiedsrichters gehörte; außerdem würde er als Arzt am besten erkennen können, wann einer der beiden Kämpfer so schwer verletzt sein würde, daß er aus dem Kampf ausscheiden mußte. Die zweite der vier war das Mädchen Mary Hart. Sie hatte sich mit einem vielverzweigten Ast ihr langes Haar gekämmt und einen Kranz aus gelben Blumen geflochten, mit dem sie den Sieger krönen wollte. War es die Sehnsucht nach einer Hochzeitszeremonie auf der Erde, fragte sich Hawkins, der bei den anderen Ratsmitgliedern saß, oder war es der Rückfall in eine alte und sehr dunkle Vergangenheit?
»Schade, daß diese verdammte Feuchtigkeit unsere Uhren zerstört hat«, sagte der fette Mann zu Hawkins’ Rechten. »Wenn wir etwas hätten, um die Zeit zu messen, dann könnten wir richtige Kampfrunden einteilen.«
Hawkins nickte. Er blickte zu den vier Menschen in der Mitte der Arena – auf die eingebildete, grausame Frau, auf den aufgeblasenen alten Mann und auf die beiden bärtigen jungen Männer mit ihren schimmernden weißen Körpern. Er kannte sie beide – Fennet war ein Kadett der unglückseligen Lote Star gewesen; Clemens, der wenigstens sieben Jahre älter war als Fennet, war ein Passagier, der in den noch unerforschten Außenwelten ein neues Leben hatte aufbauen wollen.
»Wenn wir Wetten abschließen würden«, sagte der fette Mann fröhlich, »dann würde ich auf Clemens tippen. Ihr Kadett hat nicht die geringste Chance gegen ihn. Er hat gelernt, sauber zu kämpfen – Clemens aber kennt alle schmutzigen Tricks.«
»Fennet ist in besserer körperlicher Verfassung«, antwortete Hawkins. »Während Clemens nur ans Essen und Trinken gedacht hat, hat er fleißig trainiert. Sehen Sie doch nur, was Clemens für einen Bauch hat!«
»Was haben Sie gegen gutes gesundes Fleisch und Muskeln?« antwortete der fette Mann und klopfte sich auf seinen gewölbten Bauch.
»Ich bitte um einen fairen Kampf!« rief der Arzt. »Der Bessere soll gewinnen!« Er trat ein wenig zurück und stellte sich neben Miss Hart.
Die beiden Kampfhähne standen einander gegenüber, die Fäuste an den Seiten geballt. Beide schienen zu bedauern, daß die Dinge so weit getrieben waren.
»Los, macht schon!« rief Mary Hart schließlich. »Wollt ihr mich etwa nicht? Wenn ihr noch lange so dasteht, werdet ihr bald alt und grau sein, ohne je eine Frau gehabt zu haben!«
»Sie können immer noch darauf warten, bis deine Töchter erwachsen sind, Mary«, riefen ein paar der Zuschauer.
»Falls ich überhaupt je Töchter bekomme!« rief sie zurück. »Wenn die noch lange so weitermachen, dann werde ich wohl nie welche kriegen!«
»Los!« rief die Menge. »Anfangen!«
Fennet machte die erste Bewegung.
Er trat einen Schritt nach vorn und fuhr mit der rechten Faust gegen das ungeschützte Gesicht von Clemens. Es war kein harter Schlag, aber er mußte schmerzhaft gewesen sein, Clemens fuhr mit der Hand zur Nase und blickte dann auf das Blut an seiner Hand. Er stieß einen knurrenden Ton aus und stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf den anderen. Der Kadett tänzelte nach rückwärts und placierte noch zweimal seine Rechte.
»Warum schlägt er nicht kräftiger zu?« fragte der fette Mann.
»Um sich die Knöchel aufzuschlagen? Schließlich tragen sie ja keine Handschuhe«, erwiderte Hawkins. Fennet blieb jetzt mit gespreizten Beinen stehen und schlug noch einmal mit der Rechten zu. Diesmal aber zielte er nicht auf das Gesicht seines Gegners, sondern auf dessen Bauch. Hawkins war erstaunt, wie gleichmütig der Angegriffene die Schläge entgegennahm – anscheinend war er viel kräftiger, als er aussah.
Der Kadett tänzelte zur Seite … und glitt auf dem nassen Gras aus. Clemens stürzte sich auf seinen Gegner und umklammerte Fennets Körper – aber Fennet riß das Knie hoch und stieß es dem anderen in den Unterleib. Clemens stöhnte, ließ aber nicht los. Eine Hand legte er um Fennets Kehle, die andere stieß er mit gespreizten Fingern in die Augen des Kadetten.
»Das ist nicht erlaubt!« schrie Boyle.
Er ließ sich auf die Knie nieder und ergriff Clemens’ Arme.
Ein Geräusch ließ Hawkins nach oben blicken. Er war nicht ganz sicher, was es war, denn die Zuschauer benahmen sich wie in einer Boxveranstaltung. Man konnte es ihnen nicht verdenken – zum erstenmal seit sie hier waren, ereignete sich etwas wirklich Aufregendes. Vielleicht war es ein Geräusch gewesen, das Hawkins aufblicken ließ, vielleicht aber war es der sechste Sinn, den alle guten Raumfahrer besaßen. Was er sah, ließ ihn einen Schrei ausstoßen.
Über der Arena schwebte ein Helikopter. Er war so gebaut, daß Hawkins sofort erkannte, daß er nicht von der Erde stammte. Plötzlich fiel aus dem glatten, glänzenden Leib eine Art Netz aus Metall. Es begrub die beiden Kämpfenden sowie den Arzt und Mary Hart unter sich.
Entsetzt sprang Hawkins auf die Füße und lief in die Arena. Das Netz schien zu leben. Es wickelte sich um seine Handgelenke, packte ihn bei den Füßen. Jetzt waren auch einige der Zuschauer aufgesprungen und liefen herbei, um ihm zu helfen.
»Halt!« rief er. »Verteilt euch!«
Der Helikopter heulte auf und erhob sich in den Himmel. In unglaublich kurzer Zeit war die Arena für Hawkins nur noch eine blasse grüne Fläche, in der kleine weiße Ameisen hilflos durcheinanderkrabbelten. Dann befand sich die Maschine über den niedrigen Wolken; um ihn herum war nichts als schwebendes Weiß.
Als der Flugkörper schließlich zur Landung ansetzte, war Hawkins keineswegs erstaunt, den silbernen Aufbau eines großen Raumschiffes zu sehen, das zwischen den niedrigen Bäumen auf einer ebenen Fläche stand.
Die Welt, in die sie gebracht wurden, war gegenüber der, die sie verlassen hatten, eine Verbesserung, abgesehen natürlich von der falschen Freundlichkeit ihrer Entführer. Der Käfig, in dem die drei Männer untergebracht waren, ahmte mit bemerkenswerter Genauigkeit die klimatischen Bedingungen des Planeten nach, auf dem die Lote Star notgelandet war. Er war von Glas umgeben, und von der Decke her fiel eine ständige Dusche warmen Wassers auf sie herab. Ein paar kleine Farnbäume gaben nur wenig Schutz gegen diese ständige Berieselung. Zweimal am Tag öffnete sich in der Hinterwand des Käfigs, die aus einer Art Beton gebaut war, eine Klappe, und Pilze von einer bemerkenswerten Ähnlichkeit mit jenen, die sie auf dem Planeten als Nahrung benutzt hatten, wurden hereingeschoben. Im Boden des Käfigs befand sich ein Loch; dies benutzten die Gefangenen für sanitäre Zwecke.
Zu beiden Seiten befanden sich andere Käfige. In einem saß Mary Hart – ganz allein. Sie konnte ihnen zuwinken, ihnen Zeichen machen, aber das war auch alles. Der Käfig auf der anderen Seite beherbergte ein Tier, das wie eine Art Hummer aussah. Auf der anderen Seite der Straße vor ihrem Käfig sahen sie noch andere vergitterte Gebäude, aber sie konnten nicht erkennen, was sich in ihnen befand.
Hawkins, Boyle und Fennet hockten auf dem feuchten Boden und starrten durch das dicke Glas und die Eisenstäbe auf die Wesen, die sie von draußen her anblickten.
»Wenn sie nur. humanoid wären«, seufzte der Arzt. »Wenn sie wenigstens so ähnlich aussähen wie wir, dann könnten wir etwas unternehmen, um sie zu überzeugen, daß wir auch intelligente Wesen sind.«
»Aber sie sehen uns nicht ähnlich«, antwortete Hawkins. »Und wir, wäre die Situation umgekehrt, würden es auch schwerlich glauben, daß drei sechsbeinige Bierfässer Männer und Brüder wären. Versuch’s doch noch einmal mit dem Satz des Pythagoras«, riet er dem Kadetten.
Ohne große Begeisterung brach der junge Mann Blätter von dem Farnbaum. Er riß sie in kleinere Stücke und legte sie dann auf dem feuchten Boden so aus, daß sie ein rechtwinkliges Dreieck mit Quadraten an allen drei Seiten bildeten. Die Eingeborenen, ein großer, ein etwas kleinerer und ein ganz kleiner, beobachteten ihn dabei gleichmütig mit ihren ausdruckslosen, trüben Augen. Der Große fuhr mit der Spitze eines Tentakels in eine Tasche – die Wesen waren bekleidet – und zog ein leuchtendes kleines Paket heraus, das er dem Kleineren reichte. Der Kleine riß die Packung auf und begann, sich die hellblauen Stückchen, die sich darin befanden, in einen Schlitz an der oberen Hälfte seines Körpers zu stecken, der anscheinend als Mund diente.
»Ich wünschte, sie dürften die Tiere füttern«, seufzte Hawkins. »Ich kann diese verdammten Pilze nicht mehr riechen.«
»Fassen wir alles noch einmal zusammen«, sagte der Arzt. »Schließlich haben wir sonst ja nichts zu tun. Sechs von uns wurden mit dem Helikopter aus dem Lager entführt. Man brachte uns zu dem Beobachtungsschiff – ein Fahrzeug, das in keiner Weise unseren eigenen interstellaren Schiffen überlegen war. Hawkins, Sie haben uns doch versichert, daß das Schiff den Ehrenhaft-Antrieb benutzte, oder jedenfalls etwas Ähnliches …«
»Stimmt genau«, antwortete Hawkins.
»Auf dem Schiff werden wir in getrennten Käfigen befördert. Man behandelt uns nicht schlecht. Wir bekommen zu essen und zu trinken. Wir landen auf diesem fremden Planeten, aber wir sehen nichts von ihm. Wir werden gemeinsam mit vielen anderen fremden Geschöpfen in einen bedeckten Wagen verladen. Wir wissen, daß wir irgendwo hingefahren werden, aber mehr nicht. Der Wagen hält an, die Tür öffnet sich, und zwei dieser lebenden Bierfässer erscheinen mit etwas kleineren Netzen und fangen Clemens und Miss Taylor und ziehen sie heraus. Wir sehen sie nie wieder. Wir anderen verbringen die Nacht und den folgenden Tag in verschiedenen getrennten Käfigen. Am nächsten Tag werden wir zu diesem … Zoo …«
»Glauben Sie, daß man sie einer Vivisektion unterworfen hat?« fragte Fennet. »Ich mochte Clemens zwar nie, aber …«
»Ich fürchte, ja«, antwortete Boyle. »Unsere Entführer müssen daraus den Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern gelernt haben. Leider kann man durch Vivisektion nicht die Intelligenz feststellen –«
»Diese verdammten Viecher!« stieß der Kadett hervor.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Hawkins. »Man kann es ihnen nicht verübeln. Wir haben schon viele Tiere untersucht, die uns viel ähnlicher waren, als wir diesen Wesen hier sind.«
»Das Problem ist«, fuhr der Arzt fort, »diese Wesen – wie Sie sie nennen, Hawkins – davon zu überzeugen, daß wir intelligente Wesen sind wie sie. Wie würden sie ein rational denkendes Wesen definieren? Wie würden wir es definieren?«
»Jemand, der den Lehrsatz des Pythagoras kennt, ist für mich ein intelligentes Wesen«, sagte der Kadett brummig.
»Ich habe irgendwo gelesen«, berichtete Hawkins, »daß die Geschichte des Menschen die Geschichte des Feuermachens, des werkzeugbenutzenden Tieres ist …«
»Dann machen Sie doch Feuer«, schlug der Doktor vor. »Machen Sie uns Werkzeuge und benutzen Sie sie.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Sie wissen genau, daß wir nichts Künstliches bei uns haben. Nicht einmal einen falschen Zahn, ja, nicht einmal eine Metallfüllung. Und wenn schon …« Er hielt inne. »Als ich zur Kadettenschule ging, pflegten wir die alten Künste und Handfertigkeiten. Wir betrachteten uns als direkte Nachkommen der Windjammer-Segler, deshalb lernten wir, Seile und Draht zu flechten, Knoten zu machen und alles andere, was dazugehört. Dann kam einer von uns auf die Idee, Körbe zu flechten. Wir waren auf einem Passagierschiff, und wir machten unsere Körbe heimlich, pinselten sie mit grellen Farben an und verkauften sie an die Passagiere als Erinnerungsstücke von dem verlorenen Planeten des Arcturus VI. Es gab eine ziemliche Szene, als der Captain und der Obermaat es herausfanden …«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte der Arzt.
»Ich meine, wir könnten die Beweglichkeit unserer Hände beweisen, indem wir Körbe flechten – ich werde es Ihnen beibringen.«
»Das könnte funktionieren …«, sagte Boyle langsam. »Vielleicht … Andererseits aber darf man nicht vergessen, daß manche Vögel und Tiere auch etwas Derartiges tun. Auf der Erde gibt es den Biber, der ziemlich komplizierte Dämme baut. Oder denken Sie an die Vögel, die für ihre Jungen Nester herstellen …«
Der Wärter mußte schon von Wesen gehört haben, die, bevor sie sich paaren, Nester bauen. Nach drei Tagen fieberhaften Korbflechtens, wozu sie das ganze Bettzeug benutzten und die drei Farnbäume völlig zerrupften, wurde Mary Hart zu den drei Männern in den Käfig geführt. Nachdem sich ihre Freude, wieder jemanden zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, etwas gelegt hatte, war sie doch ziemlich unwillig, als sie den Grund des Zusammentreffens erfuhr.
Es war gut, dachte Hawkins schläfrig, daß Mary bei ihnen war. Wenn sie noch länger hätte allein bleiben müssen, wäre sie sicher übergeschnappt. Trotzdem hatte es Nachteile, Mary hier im Käfig zu haben. Er mußte gut auf den jungen Fennet aufpassen. Ja, sogar Boyle schien Absichten zu haben!
Mary stieß einen Schrei aus.
Hawkins setzte sich mit einem Ruck auf. Er konnte Mary in der einen Ecke des Käfigs erkennen – auf dieser Welt wurde es in der Nacht niemals völlig dunkel –, und auf der anderen Seite des Käfigs sah er Fennet und Boyle.
Hastig sprang er auf und eilte zu dem Mädchen.
»Was ist los?« fragte er.
»Ich … ich weiß nicht … etwas Kleines, mit scharfen Klauen, es ist über mich hinweggekrochen …«
»Ach so«, sagte Hawkins erleichtert, »das war nur Joe.«
»Joe?« fragte sie.
»Ich weiß nicht genau, was er – oder sie – ist«, antwortete Hawkins.
»Ich glaube bestimmt, daß es ein er ist«, sagte der Arzt.
»Wer ist das, Joe?« fragte Mary.
»So etwas Ähnliches wie eine Maus«, erklärte der Arzt. »Obgleich er eigentlich nicht so aussieht. Er kommt irgendwo aus einer Ritze im Boden und sucht nach Nahrungsmitteln. Wir versuchen, ihn zu zähmen –«
»Ihr ermutigt dieses Scheusal auch noch?« kreischte sie. »Ich will, daß ihr etwas dagegen tut – sofort!
Vergiftet ihn, oder fangt ihn. Jetzt sofort!«
»Morgen«, sagte Hawkins.
»Ich will, daß ihr jetzt etwas tut!« schrie sie.
»Morgen vielleicht«, entgegnete Hawkins mit fester Stimme.
Es war leicht, Joe zu fangen. Sie bauten aus zwei Körben, die sie wie eine Austernschale ineinanderschoben, eine Falle. Als Köder legten sie ein großes Stück des Pilzgewächses hinein. Sie befestigten es so, daß der Korb in dem Augenblick zuklappen würde, in dem man an ihm zog. Hawkins, der auf seinem feuchten Bett lag, ohne schlafen zu können, hörte, wie nach einer Weile die Falle zuschnappte. Er vernahm Joes entrüstetes Piepsen, hörte, wie die winzigen Klauen an dem festen Korbgeflecht schabten.
Mary Hart schlief. Er rüttelte sie. »Wir haben ihn gefangen«, sagte er.
»Dann tötet ihn«, antwortete sie schläfrig.
Aber Joe wurde nicht getötet. Die drei Männer mochten ihn gern, sie hatten sich an ihn gewöhnt. Am Morgen setzten sie ihn in einen Käfig, den Hawkins gebaut hatte. Selbst das Mädchen beruhigte sich, als es den harmlosen Ball aus vielfarbigem Fell aufgeregt in seinem Gefängnis auf- und niederhüpfen sah. Mary bestand darauf, das kleine Tier zu füttern, stieß spitze Schreie aus, als die dünnen Tentakel durch das Gitterwerk griffen und das Pilzstück aus ihren Fingern nahmen.
Drei Tage lang beschäftigten sie sich mit ihrem Spielzeug. Am vierten Tag betraten Wesen, die sie für Wärter hielten, mit Netzen den Käfig und trugen Joe und Hawkins fort.
»Ich fürchte, es ist hoffnungslos«, sagte Boyle. »Er ist den gleichen Weg gegangen …«
»Sie werden ihn ausstopfen und in irgendeinem Museum ausstellen«, murmelte Fennet niedergeschlagen.
»Nein«, stieß das Mädchen hervor.
»Das können sie doch nicht tun!«
»O ja, das können sie«, antwortete der Arzt.
Plötzlich öffnete sich die Klappe in der Hinterwand des Käfigs. Bevor sich die drei Menschen in eine Ecke zurückziehen konnten, um Schutz zu suchen, rief eine Stimme:
»Alles in Ordnung, kommt heraus!«
Hawkins trat in den Käfig. Er war rasiert, und seine Haut hatte schon eine etwas gesündere Farbe angenommen. Er trug Hosen, die aus hellem rotem Material geschneidert waren.
»Kommt heraus«, wiederholte er.
»Unsere Gastgeber haben sich entschuldigt, sie haben uns annehmbarere Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Und dann, sobald sie ein Schiff startbereit haben, werden wir die anderen Überlebenden abholen.«
»Nicht so schnell«, sagte Boyle.
»Wollen Sie uns nicht erklären, was geschehen ist? Woher haben sie gemerkt, daß wir rational denkende Wesen sind?«
Hawkins errötete.
»Nur rational denkende Wesen sperren andere Lebewesen in Käfige«, sagte er.
ENDE