Kem Bennett
Blick ins All

 

Jurko Andropow fühlte sich nicht im geringsten vom Schicksal vernachlässigt, als er sein herzhaftes Frühstück zu sich nahm. Er saß auf der Terrasse der Villa der Roten Luftwaffe in Aluschta an der Krim-Riviera und trug nichts außer einem Pyjama. Unter der Terrasse, am Fuße der dreißig Meter steil abfallenden Felsen, glänzte das Schwarze Meer im strahlendsten Blau. Der Tag versprach angenehm warm zu werden.

Nach dem Frühstück zündete sich Jurko eine Zigarette an und vergegenwärtigte sich die Tatsache, daß der Tag ihm ganz allein gehörte; bis Mitternacht war er frei. Er hatte sich noch nicht recht entschieden, wie er den Tag verbringen wollte, und da dies ein ganz besonderer Tag war, möglicherweise sein letzter, hatte er das Gefühl, daß es falsch wäre, zu gleichgültig deswegen zu sein. Und doch reizte ihn irgendwie das Zufällige; auf gar keinen Fall aber wollte er irgendwelche Aufregungen.

Ohne einen festen Plan gemacht zu haben, stand er auf und schnippte seine halb fertiggerauchte Zigarette fort, so daß sie über das Geländer der Terrasse hinunter über die Felsen flog. Dann drehte er sich um und ging in die Villa. In seinem kühlen, sauberen Schlafzimmer zog er sich langsam und sorgfältig an. Er wählte eine leichte Sommeruniform und machte sich sogar die Mühe, die Falten unter dem Gürtel geradezuziehen und die Auszeichnungen, die er errungen hatte, an seiner Brust zu befestigen.

Jurko Andropow war mittelgroß, blond, stark und gesund – außerordentlich gesund. Er war dreißig Jahre alt. Er hatte blaue Augen. Über seine Stirn lief eine lange Narbe, die er sich zugezogen hatte, als er vor sechs Jahren in China aus einem zertrümmerten Flugzeug geschleudert worden war. Er war Pilot der Roten Armee, Major, und hatte während des Koreakrieges Einsätze geflogen.

 

Von der Villa aus führte eine in die Felsen gehauene Treppe hinunter auf die Hauptstraße von Aluschta. Langsam schlenderte Jurko auf ihr hinunter, während er über die weißen Häuser und die Bäume der Parks hinwegblickte. Er schritt auf ein großes Café zu, von dem aus man zum Strand sehen konnte. Hier hatte er sich für mittags mit Olinka verabredet. Jetzt war es kurz nach zehn. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte einen Kwaß. Nach einer Weile gesellte sich ein Bekannter zu ihm, ein Arzt aus Smolensk, der zur Erholung hier war. Sie spielten eine Partie Schach. Er gewann.

Gegen zwölf kam Olinka. Sie war so alt wie Jurko, stammte aus Uzbek und war im Vergleich zu ihm dunkel. Sie gehörte einer Gruppe von Volkstänzern an, die zur Belohnung für eine erfolgreiche Tournee durch Ungarn und Rumänien in Aluschta Ferien machte. Jurko kannte sie seit sechs Tagen. Sie waren einander sehr zugetan. Ihr Zusammensein stimmte beide fröhlich.

Sie gingen schwimmen, und Jurko war über die bewundernden Blicke, die andere Männer dem ebenmäßigen Körper der Tänzerin zuwarfen, stolz. Danach schlenderten sie zum größten Restaurant von Aluschta und nahmen ein kostspieliges Essen ein. Dann, bevor sie müde wurden, kauften sie Karten für eine Fahrt mit dem Motorboot entlang der Küste nach Jalta, zum Botanischen Garten und einem Badestrand. Am Abend kehrten sie nach Aluschta zurück und aßen Kaviarbrötchen und tranken süßen Krimsekt. Nach einem Spaziergang durch die monddurchflutete Landschaft kehrten sie in die Villa zurück und schlichen fast lautlos in Jurkos Schlafzimmer.

Zwei Stunden später, gegen Mitternacht, küßte Jurko Olinka zum Abschied. Sie wußte nicht, wohin er ging. Sie stellte ihm Fragen. Aber Jurko sagte nur: »Ich werde versuchen, dir zu schreiben, Olinischka.« Sie nickte und sah ihn prüfend an. Dann verließ er sie.

Vor der Villa wartete eine dunkle Limousine. Jurko kletterte hinein. Wenige Stunden später, in einem Militärtransportflugzeug, das nach Osten über das Kaspische Meer flog, überdachte Jurko die Ereignisse des Tages, erlebte ihn in Gedanken noch einmal von Anfang bis Ende. Es war ein seltsamer Tag gewesen – ein guter Tag, entschied er. Aber warum seltsam? Dieser Tag hatte doch nichts Besonderes gebracht? Die Antwort kam mit plötzlicher Klarheit; während der letzten paar Stunden hatte er all die Dinge getan, die ein Mann tun konnte – er hatte gelebt und geatmet, gesehen, gehört und gerochen, hatte seine Muskeln und seinen Verstand gebraucht, gegessen, getrunken und geliebt – aber, und das war wohl das Geheimnis, er hatte all dies in dem Bewußtsein getan, daß es etwas Kostbares war. Das machte den Unterschied aus.

Während er noch in Gedanken bei Olinka weilte, schlief er ein.

 

Das Startfeld war geräumt, und der Countdown hatte begonnen. Dewjat, wossem, sem, sehest, pjat, tschetyre …

Jurko fühlte sich unbeschwert und von allem Alltäglichen losgelöst, während er den ruhigen Worten im Kopfhörer lauschte; er fühlte, wie sein Puls schlug, fühlte, wie er hart schluckte, um die Trockenheit in seiner Kehle zu mildern, erkannte das leere Gefühl, das man bei einer ungeheuren geistigen und körperlichen Anspannung im Magen verspürt, er beobachtete, wie sich allmählich Furcht in ihm ausbreitete.

tri, dwa, ODIN!

Die Beobachter in den Kontrollstationen, die durch gefärbte Glasscheiben blickten, waren benommen und fast taub.

Nach einem Moment des Zögerns begann die große Rakete zu beben, eine Ewigkeit, die sich in Jurko Andropows Gedächtnis einprägte; dann wurde sie hochgeworfen, ein Kreischen, Schlingern, wie in einem blitzartig hochfahrenden Lift, der ihn aufstöhnen ließ, ihn in Schweiß badete.

Gegen sechs Uhr an diesem Abend, nicht einmal vierundzwanzig Stunden, nachdem Jurko sich von Olinka in Aluschta verabschiedet hatte, erfuhr die Welt, daß die Sowjetunion erfolgreich einen bemannten Satelliten in eine fast perfekte Umlaufbahn um die Erde gebracht hatte. Er wurde Gamma genannt.

Jurko hatte seine in alle Richtungen verstellbare Liege in einen Sitz umgewandelt. Dies war ein mühsamer Vorgang; sein Körper und sein Kopf und der Spezialanzug, den er trug, waren so mit Drähten, Röhren und Kabeln durchzogen, daß er sich nur langsam, wie ein Roboter, bewegen konnte. Die Kammer, in der er saß, war zylinderförmig, nur knappe zwanzig Zentimeter höher als sein Kopf, wenn er sich aufsetzte. Ihr Durchmesser betrug einen Meter fünfzig. Neben ihm, eingebaut in die eine Lehne seines Sitzes, waren Radio, Magnetofonband, Temperaturkontrollen, Fernsehschirm und die Bedienungsorgane für das öffnen und Schließen der Sichtluken. An der anderen Seite des Sitzes, in Reichweite seiner rechten Hand, befanden sich Instrumententafeln mit Hebeln, Knöpfen und Schaltern. Diese kontrollierten die halbautomatischen oder mit der Hand zu bedienenden Ausrüstungen des Satelliten. Alle anderen Ausrüstungsgegenstände waren vollautomatisch.

Jurkos Anzug war mit Vorrichtungen versehen, durch die er sich Nahrung zuführen, sich mit Beruhigungspillen einschläfern konnte, falls notwendig, und durch die er seine Sauerstoffzufuhr regeln konnte.

Er befand sich jetzt gut sechs Stunden im Raum. Er fühlte sich leicht benommen und übel. Aber er hatte gar keine Angst. Er war nicht erregt oder angespannt; dieses Stadium hatte er viel früher durchschritten. Für diesen Ablauf war er endlos trainiert worden, Woche für Woche und Monat für Monat. Dadurch hatte er sich an all dies so sehr gewöhnt, daß ihm die Situation wie etwas ganz Normales und Vertrautes vorkam.

Er hatte gerade eine Reihe von Beobachtungen in ein Instrument gegeben, das dieses chiffriert zur Erde weiterleiten würde. Vor einer Stunde hatte er über Radio zu der Welt gesprochen; sie hatten ihm gesagt, daß seine Signale aufgenommen und über jedes Radionetz der Erde gesendet worden waren. Er hatte der Menschheit beschrieben, wie er die Erde sah, wie eine strahlende, schimmernde Ganzheit, versteckt hinter Wolkenschleiern und in Ozeane und Kontinente aufgeteilt; sie war so groß, daß er selbst von seiner Warte aus nicht alles auf einmal umfassen konnte. Später hatte er die Sterne beschrieben. »Glitzernd«, hatte er gesagt, »mit einer unvorstellbaren Helligkeit.« Er hatte versucht, lyrisch zu sein, um der Situation gerecht zu werden. Er hatte aber bald bemerkt, daß er sich wiederholte, und er war schnell zu dem militärischen, sachlichen Ton zurückgekehrt.

Jetzt hatte er für ein paar Stunden wenig oder vielmehr gar nichts zu tun. In seinem Kopfhörer klang die Stimme eines Technikers, der eine sich periodisch wiederholende Überprüfung vornahm: »Hallo, Gamma!«

In der Stimme klang das Bewußtsein der Wichtigkeit dieser Situation mit. »Hallo, Genosse Major Andropow, alles in Ordnung?«

»Bestens«, antwortete Jurko lakonisch. »Sagen Sie den Ärzten, daß die Gravitationsübelkeit nachläßt.«

»Jawohl, Genosse Major.«

Wieder breitete sich Stille aus.

Jurko fühlte sich jetzt körperlich wohler, die Benommenheit und das Schwindelgefühl der ersten Stunden ließen nach. Er war zufrieden. Er hatte zuvor leichte Kopfschmerzen verspürt, die jetzt glücklicherweise nachließen. Natürlich fühlte er sich noch immer seltsam schwerelos, aber seine menschliche Anpassungsfähigkeit, die in sich ein kleines Wunder darstellte, bemühte sich, das Fremdartige zu etwas Vertrautem zu machen. In wenigen Stunden, dessen war er sicher, würde dieser Vorgang vollendet sein und er sich akklimatisiert haben.

In wenigen Stunden … der Gedanke kehrte immer wieder zurück, diesmal mit einem völlig veränderten Gefühl. Er sah, wie sich die Stunden vor ihm dehnten – die Tage. Plötzlich überkam ihn Panik, er fühlte die Einsamkeit, die ihn einhüllte. Dieses Gefühl überraschte ihn, ließ ihn den Atem anhalten. Mit größter Sinnesanstrengung beherrschte sich Jurko, er kämpfte die Furcht nieder, distanzierte sich von der Einsamkeit. Es war gefährlich, sich ihr hinzugeben, das wußte er. Er suchte nach einer Ablenkung.

Zwischen den Schaltern und Hebeln an seiner linken Hand befand sich auch eine Einrichtung, die es ihm ermöglichte, Filme auf die Bildwand zu werfen. Ein zweiter Schalter projektierte die Seiten von mikrofotografischen Büchern gegen den Schirm, und mit einem dritten konnte er Musik ertönen lassen. Die Psychologen hatten an alles gedacht – oder jedenfalls hatten sie es versucht.

Er verschob eine Wählscheibe und drückte einen Knopf. Auf dem Bildschirm vor ihm erschien die Titelseite eines Buches. Es war eine Arbeit über Astronomie – die neueste. Das Buch war nicht zu schwierig, aber auch nicht zu einfach geschrieben, und Jurko hatte es schon seit Monaten lesen wollen. Auf dem Umschlag war das Foto eines Spiralnebels zu sehen, das die Amerikaner mit ihrem riesigen Teleskop in Mount Palomar aufgenommen hatten. Jurko lehnte sich leicht nach vorn, um es besser betrachten zu können. Bewunderung erfüllte ihn, für den Nebel sowie für die amerikanische Technologie, die dieses Foto ermöglicht hatte. Er warf einen Blick zu den Sichtluken, die jetzt verschlossen waren, und stieß ein kurzes Lachen aus. Wenn sich je ein Mann am richtigen Ort befunden hatte, um über Astronomie zu lesen …

 

Alle siebenundneunzig Minuten bewegte sich Gamma einmal um die Erde. Für die Wissenschaftler und Techniker unten inmitten der Kara-Kum-Wüste waren jetzt bereits ein Tag und eine Nacht seit dem Start der Rakete vergangen. Der Satellit jedoch war während dieser gleichen vierundzwanzig Stunden fast fünfzehnmal von der Nacht zum Tag übergewechselt. Aus einem unerklärlichen Grund, den er sich auch nicht bemühte zu analysieren, war diese Tatsache eines der ersten Dinge, die Jurko auf die Nerven fielen. Ein anderes war das, daß seine Bewegungsfreiheit beschränkt war. Während seines Trainings hatte er immer längere und längere Perioden in diesem Sitz verbracht, bis zu einer Woche, in genau dem gleichen Sitz mit denselben Vorrichtungen. Aber das war nur Training gewesen, eine Vorspiegelung der Umstände – ein ermüdender Test –, weiter nichts. Dies aber, die wahre Begebenheit, stellte sich als etwas anderes heraus. Schon jetzt lechzte sein Körper nach Bewegung, und es fiel Jurko immer schwerer, diese Forderung zu ignorieren.

Einen guten Teil des Tages hatte er eine Menge zu tun. Um Gewicht zu sparen, war der Satellit zum Teil mit Handbedienungskontrollen ausgestattet. Ungefähr alle sechs Stunden, wenn er sich in Radiowellenweite des Startfeldes und der Forschungsstation in Turkmenistan befand, sendete Jurko eine Serie von chiffrierten Beobachtungen aus, die er während der vorhergegangenen zwei Stunden aufgenommen hatte. Seine Beobachtungen umfaßten Messungen der Gravitation der Erde und der magnetischen Felder, sowie ihre elektrischen Ladungen; sie umfaßten ebenfalls Messungen und Analysen kosmischer Strahlen und solarer Strahlung. Sie umfaßten das Aufzählen von Meteoren. Zwischendurch mußte er noch von fünfzig verschiedenen Instrument ten und Tafeln die Werte ablesen, er mußte auch Fotos aufnehmen, wozu er die eine oder die andere der verschiedensten, halbautomatischen Kameras benutzte, die der Satellit mit sich führte. Diese Fotos zeigten die Sonne, die Erde und ihre Wolkenformationen, den Mond, die Planeten und Sterne. Endlich mußte er zu festgelegten Zeitpunkten Radaraufzeichnungen ablesen. Einmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden durfte er eine Übertragung überschlagen, um zu schlafen.

Obgleich er auf diese Weise voll beschäftigt war und obgleich er während seiner Freizeit Filme ansehen oder Bücher lesen konnte, sah sich Jurko nach weniger als zwei Tagen Aufenthalts im Raum der Tatsache gegenüber, daß er sich langweilte und daß er bis zu einem Grad ruhelos wurde, wie er ihn nie zuvor gekannt hatte. Das Aufzeichnen seiner Beobachtungen stellte, obgleich es Zeit in Ansprach nahm, wenig Anforderengen an seine Intelligenz; er war kein Wissenschaftler, und die Routinearbeiten waren so weit wie möglich vereinfacht worden. In vielen Fällen wußte er nicht einmal, was der Grund dieser Aufzeichnungen war, noch wozu sie gut sein sollten. Von dem Zeitpunkt an, ab dem er sie nur als gewöhnliche Handlangerarbeit betrachtete, waren sie für ihn nichtssagend und langweilig.

Am Abend des zweiten Tages, als er versuchte, sich auf sein Astronomiebuch zu konzentrieren, hatte er den plötzlichen und mächtigen Wunsch, seinen Helm vom Kopf zu reißen, die Drähte und Röhren von seinem Gesicht und der Brust zu entfernen und die Faust durch die schimmernde Scheibe des Bildschirms zu schmettern. Er riß sich zusammen, lehnte sich zurück, schloß die Augen, um sich zu entspannen. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf, schaltete den Projektor des Mikrobuchs ab und spielte statt dessen eine Aufnahme klassischer Musik. Er liebte diese Musik. Ein paar Minuten lang erfreute er sich an ihr, aber dann stellte er fest, daß er gar nicht mehr hinhörte, daß sie ihn nicht berührte, daß er die Geräusche in seinen Ohren als Störung empfand – wie etwas, das man ertragen mußte. Mit einer heftigen Bewegung seiner linken Hand stellte er sie ab.

Jurko lehnte sich zurück, sein Atem ging schwer; unbeweglich starrte er gegen die grüne, metallene Decke seiner Zelle, die dicht über seiner Nase war. Sie schien ihn niederdrücken zu wollen. Was war los? Während des Trainings hatte er mit viel schwierigeren Situationen fertigwerden müssen als mit dieser hier. Andere Männer vor ihm hatten die einsame Gefangenschaft in viel kleineren Raumkapseln überlebt, unter viel schlimmeren Bedingungen. Warum also fühlte er sich nach nur achtundvierzig Stunden so demoralisiert?

 

Angestrengt dachte er nach, mußte sich aber eingestehen, daß er den Grund nicht kannte. Seltsame Gedanken waren ihm gekommen … Lag es vielleicht daran, daß es für ihn keinen richtigen Tag und keine richtige Nacht gab? Konnte es die Luft sein, die er atmete? Oder die Nahrung, eine Diät, die die Ärzte nach Hunderten von Experimenten für ihn zusammengestellt hatten und die er jetzt kaum herunterzuschlucken vermochte? Auf jede dieser Fragen antwortete sein Verstand mit nein. Aber er wußte, daß nicht er selbst antwortete, sondern der Wissenschaftler, der Theoretiker, der die Fragen durch ihn beantwortete.

Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas schien ihn niederziehen zu wollen. Das wußte er. Und es flößte ihm Angst ein. Er mußte an Pflanzen denken, die dem Boden entrissen waren und allmählich verdorrten. Was war es aber wirklich? Mußte denn ein Mensch, der in den Weltraum hineinverpflanzt war, weit entfernt von der Erde und seinen Artgenossen, mußte dieser Mensch wie eine entwurzelte Pflanze verdorren?

Er gestand sich ein, daß diese Möglichkeit gar nicht so abwegig war.

Am Morgen des dritten Tages weckte ihn ein Signal im Kopfhörer. Mühsam richtete er sich auf und antwortete.

Eine ihm bekannte Stimme fragte: »Zdrasvutje, Jurko. Wie geht’s?« Es war Jumascheff, der Chefpsychiater und ein alter Freund.

»Zdrasvutje, Feodor«, antwortete Jurko. »Ich lebe noch. Alles geht so gut, wie man es erwarten kann.« Nach kurzem Schweigen antwortete Jumascheff: »Deine Stimme klingt bedrückt, Jurko – habe ich recht?«

»Ein wenig.«

»Hast du schon eine der Belebungstabletten aus deinem Vorrat benutzt?«

»Ja«, antwortete Jurko. Am vorhergehenden Abend hatte er, um die Furcht in sich zu bekämpfen, zwei Amphetamin-Tabletten genommen. Die Folge davon waren drei Stunden wilder, unkontrollierbarer geistiger Aktivität gewesen.

»Sie tun mir nicht gut«, sagte er. »Ich kann sie nicht noch einmal nehmen.«

»Stellst du außer diesen Depressionen noch andere Symptome fest?« fragte Jumascheff ruhig.

»Ja, zeitweise fühle ich mich furchtbar ruhelos, und dann wieder langweile ich mich entsetzlich«, sagte Jurko. »Es ist viel schlimmer als je zuvor während des Trainings, Feodor.«

Jumascheff hielt inne, um nachzudenken. Jurko konnte ihn atmen hören. Ohne von dieser Tatsache beeindruckt zu sein, stellte er fest, daß es eigentlich eine außerordentliche Sache war, daß er hier draußen im Raum, außerhalb der Atmosphäre der Erde, hören konnte, wie in Rußland ein Wissenschaftler atmete. »Vielleicht«, bemerkte Jumascheff zögernd, »vielleicht sollten wir daran denken, dich herunterzuholen, Jurko. Was meinst du?«

Versuchen, mich herunterzubringen, dachte Jurko. Die Verringerung der Geschwindigkeit und der Fall zurück zur Erde würde die größte Gefahr der ganzen Operation darstellen. Allein der Gedanke daran erschreckte ihn. »Nein«, entgegnete er rasch. »Noch nicht.« Er wußte, daß er aus Furcht gesprochen hatte, nicht aus sachlichen Entscheidungen heraus, und daß er eigentlich hätte ja sagen sollen.

»Ich werde dich in sechs Stunden noch einmal fragen, Jurko«, sagte Jumascheff.

»Gut.«

Und von da an bestärkte ihn sein Stolz zu neuem Leben. Während dieses Tages, dem dritten in dem Satelliten, hielt er sich immer wieder vor Augen, daß es undenkbar war, vor weniger als sechs Tagen aufzugeben. Sechs Tage – das war das Ziel. Seine Nahrung, der Sauerstoff, sämtliche Instrumente waren so gebaut, daß er sechs Tage lang auszuhalten vermochte; er erinnerte sich daran, daß er aus Tausenden anderen für diese Aufgabe ausgewählt worden war, daß es unzählige Rubel gekostet hatte und die Anstrengungen der besten wissenschaftlichen Gehirne in ganz Rußland, um ihn hier heraufzubringen, und daß jede Stunde, die er länger im Raum weilte, den Ruhm dieses Unternehmens und dieser Leistung erhöhte. Er war ein Patriot. Ohne ein Fanatiker zu sein, glaubte er an Sowjetrußland, an die Wissenschaft, an den Fortschritt, und tief im Inneren fühlte er, daß es undenkbar war, das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hatte, zu verraten. Und er war auch ein Offizier der Armee.

Während dieses Tages hielt ihn eine Mischung von Stolz und anerzogener Disziplin aufrecht.

 

Am vierten Tag bemerkte Jurko, wie sein Körper schwächer wurde. Bis jetzt hatten seine Sorgen seinem psychologischen Zustand gegolten, ein Nachlassen seiner physischen Fähigkeiten hatte er nicht verspürt. Aber jetzt wurde er zunehmend schwächer. Komischerweise hatte dies die Wirkung, ihm ein angenehmeres Gefühl als zuvor zu verschaffen. Denn er entspannte sich instinktiv und bemühte sich, sich auszuruhen.

Er war zu apathisch, um die normalen Ablesungen vorzunehmen. Dann aber, kurz bevor die Übertragung fällig war, regte sich sein Stolz, und er war wieder fähig, klar zu denken. Es würde weder vernünftig noch patriotisch sein, bis zum bitteren Ende zu warten, dachte er. Seine Erfahrung hatte ihn ungeheuer wertvoll gemacht – aber nur wenn er lebte. Tot wäre er absolut wertlos.

Er wußte, daß er starb – vielleicht langsam, aber ganz sicher.

Als Jumascheff über Radio zu ihm sprach, bat er darum, heruntergeholt zu werden.

 

Chefpsychiater Jumascheff klopfte an die Tür des Kontrollbüros und trat ein.

Neresenko, der Kontrolloffizier, ein untersetzter, grauhaariger Mann von Fünfzig, saß an einem großen Schreibtisch, auf dem ein kleines Modell eines Satelliten aus Gold stand. Er hatte es von der Akademie der Wissenschaften erhalten, als er im Jahre 1957 den Sputnik vor dem amerikanischen Vanguard gestartet hatte. Neresenko war kein Wissenschaftler; er war ein Enthusiast. Jumascheff mochte ihn nicht.

 

»Andropow hat darum gebeten, heruntergeholt zu werden.«

Neresenko erhob sich aus seinem Stuhl. »So?« Er mußte aufblicken, um Jumascheff ansehen zu können, der sehr hochgewachsen und dünn war. Aber das machte Neresenko nichts aus; die Überzeugung seiner Überlegenheit und sein Selbstvertrauen waren mehr als genug, um die Notwendigkeit, zu großen Männern aufzusehen, zu kompensieren. »Und müssen wir das dann auch tun?«

»Es ist meine berufliche Überzeugung, daß wir es tun sollten«, antwortete Jumascheff.

Neresenko räusperte sich. Einen Augenblick lang ging er im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschlungen. Als er sich umdrehte, um Jumascheff anzusehen, waren seine Augen zusammengezogen und kalt, sein Gesicht ausdruckslos. »Dies ist vertraulich«, sagte er. »Gestern teilten wir dem Genossen Ministerpräsidenten mit, daß wir hoffen, Gamma die vollen sechs Tage lang im Umlauf zu lassen. Der Genosse Ministerpräsident war von dieser Nachricht so entzückt, daß er sie an die ausländischen Presseagenturen weitergab. Wenn wir Andropow aber jetzt herunterbringen, am vierten Tag, werden wir an Prestige verlieren. Verstehen Sie mich, Feodor? Glauben Sie noch immer, daß wir ihn herunterbringen sollten?«

»Ich glaube, daß, wenn wir ihn noch für zwei weitere Tage da oben lassen, er dann entweder sterben oder verrückt werden wird«, antwortete Jumascheff. Er zügelte seine innere Erregung. Neresenko mochte Gefühle nicht.

»Wie sind Sie zu dieser Überzeugung gelangt?«

»Ich habe mich sehr oft mit Andropow unterhalten. Es war nicht schwierig, seine Gefühle zu erkennen; ja, er hat sie sogar offen zugegeben. Ich kenne ihn gut. Er ist nicht einer, der aufschreien würde, bevor er verletzt ist.«

Neresenko zuckte die Achseln. »Also gut«, sagte er. »Ich respektiere Ihre Meinung. Ich denke, wir sollten eine Beratung abhalten. Würden Sie, bitte, ein Zusammentreffen arrangieren? Ich denke, der gesamte medizinische Stab sollte teilnehmen.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Jumascheff holte tief Luft und hob den Kopf, um etwas zu sagen. Aber im letzten Moment änderte er seine Meinung. Er wußte, daß es nutzlos sein würde, Einwände zu erheben. Neresenko wollte sich decken. Er wollte Anonymität. Gut, er sollte sie haben. Er, Jumascheff, wußte, daß die anderen Ärzte ihn unterstützen würden. Ein Nachteil war nur der, daß es einige Zeit dauern würde …

Er nickte. »In einer Stunde also?«

»Wenn Sie es so schnell arrangieren können«, antwortete Neresenko. »Aber vergessen Sie nicht, ich will alle Ärzte dabei haben.«

»Sie sollen sie haben«, sagte Jumascheff und verließ das Büro.

 

Jurko Andropow fühlte sich besser. Sie würden ihn herunterholen. Das Wissen darum hatte wie eine schmerzstillende Tablette auf ihn gewirkt. Er fühlte sich weiterhin schwach, aber es störte ihn nicht mehr. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, daß seine Bitte vielleicht nicht erfüllt werden könnte.

Er fürchtete sich nur noch wenig vor der Landung. Wenn es soweit war, wollte er sich eine Injektion geben. Bis jetzt würde ihn der Stolz davon zurückgehalten haben, aber Jurkos Stolz hatte während der Tage im Raum stark gelitten. Er hatte jetzt viele Dinge verstanden. Das Wichtigste war, daß er ein Individuum war, das im Schema der Dinge nur einen sehr geringen Platz einnahm. Vor vier Tagen noch hatte er geglaubt, daß er selbst gewählt hatte, in den Raum getragen zu werden. Jetzt aber war ihm bewußt geworden, daß er die Entscheidung eigentlich gar nicht selbst getroffen hatte. Man hatte ihn gefragt, ob er sich zur Verfügung stellen wollte. Er hatte mit ›ja‹ geantwortet, denn wenn er ›nein‹ gesagt hätte, so wäre das höchst erstaunlich gewesen, ein Brechen der Regeln, eine Zurückweisung des Ruhms. Dies, so sah er es jetzt, war keine freie Entscheidung gewesen.

Und jetzt, in diesem Augenblick, war er noch machtloser, seine Bestimmung zu ändern, als je zuvor. Ob er lebte oder starb, das hing völlig von anderen ab! Dieses Wissen war eine Beruhigung für ihn; es erlöste ihn von der Verantwortlichkeit.

Ohne Hast oder Unruhe überlegte er, wie er die restliche Zeit im Raum verbringen sollte. Einen Augenblick lang war er von dem Gedanken an Musik sehr angetan; zum Lesen war er zu schwach, und er fürchtete, daß ihn in seiner augenblicklichen Stimmung ein Film nur irritieren würde. Seine Hand griff zu dem Schalter des Bandspielers.

Dann zögerte er. Ihm war ein Gedanke gekommen, ein sehr logischer Gedanke; sollte er nicht eigentlich die Gelegenheit ausnutzen, die Sterne zu betrachten? Sollte er nicht zum letztenmal das Privileg nutzen, das kein anderes menschliches Wesen mit ihm teilte – nämlich fähig zu sein, die ganze Schönheit der Himmel zu sehen, die hier nicht durch die Atmosphäre getrübt war? Anstatt also die Musik aufzudrehen, drückte er den Knopf, der die Gatter von den Sichtluken zurückschwenkte. Der Satellit befand sich auf der dunklen Seite der Erde, und er konnte hinaussehen. Hätte er sich auf der Sonnenseite befunden, so wären die Gitter, die direkt der Sonne zugewandt waren, automatisch geschlossen geblieben, um ihn vor der ungehemmten Kraft der solaren Strahlung zu schützen.

Er wandte den Kopf zur Seite. Hinter zwei Sichtluken und der Hälfte einer dritten zeichnete sich die Milchstraße wie ein schimmerndes Band ab. Eine Galaxis, dachte Jurko. Er erinnerte sich daran, was er in dem Astronomiebuch gelesen hatte. Nicht nur waren die Sterne unzählbar, sondern auch die Galaxien – so ähnlich jedenfalls hatte es in dem Buch gestanden. Galaxis für Galaxis … jede wenigstens so groß wie unsere eigene. Und andere noch viel, viel größer. Viele, die erst geboren wurden, andere, die starben. Aufstrahlende Sonnen und verbleichende Sonnen. Abkühlende Planeten. Sich formende Atmosphären. Aufsprießendes Leben, Moose und Gräser auf felsigem Grund, Zellen, die sich in lavawarmem Wasser vervielfältigten …

Auf all dies, dachte Jurko, schaue ich jetzt hinab. Auf all dies.

Er machte einen hellglänzenden Stern aus und beobachtete, wie er sich von einer Seite der Sichtluke zu der anderen hin bewegte. Der Stern schien sich zu bewegen. Aber natürlich war er selbst es, in seinem Satelliten, der sich bewegte … Aber auch die Sterne bewegten sich, so hatte es in dem Buch gestanden …

 

Ein Komputer tickte. Dvinski, der Chefastrophysiker, durchquerte den Raum mit einem Zettel in der Hand, den er Neresenko reichte. Dvinski war ein großartiger Wissenschaftler. Aber als Mensch war er nervös und ließ sich zu unerwarteten Äußerungen hinreißen. »Das ist der schnellste Termin, zu dem wir ihn herunterholen können, Genosse«, sagte er. Er zog eine Grimasse. »Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß wir ihn nicht gern in Nordamerika ‘runterkommen lassen möchten – oder inmitten des Ozeans.«

Ohne einen Blick darauf geworfen zu haben, reichte Neresenko den Zettel an Jumascheff weiter. Er liebte solche Gesten; Desinteressiertheit deutete auf Selbstkontrolle hin, Abstand und Selbstkontrolle waren die Vorbedingungen für einen Führer; folglich war er, Neresenko, eine Führernatur.

»Zweiundzwanzig Uhr vierundvierzig«, sagte Jumascheff. »Noch zwei Stunden. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Genosse, dann würde ich jetzt gern die Zeit an Jurko durchgeben.«

»Ich werde Sie begleiten«, sagte Neresenko.

Im Senderaum ließ sich Feodor Jumascheff neben einem Mikrofon nieder. Einer der Techniker gab ihm mit dem Daumen ein Zeichen. »Hallo!« rief Jumascheff. »Jurko! Hier ist Feodor. Kannst du mich hören?«

Es kam keine Antwort. Jumascheff runzelte die Stirn. Noch einmal versuchte er es: »Hallo, Gamma. Jurko! Jurko! Hallo, Jurko! Ist alles in Ordnung, Jurko? Kannst du mich hören?«

Keine Antwort. Jumascheff wandte sich dem diensthabenden Offizier zu. »Er antwortet nicht. Könnten seine Batterien versagt haben?«

»Nein, Genosse Doktor. Wir erhalten seine automatischen Signale.«

»Könnte es sein, daß sein Sender kaputt ist?«

»Ja, das wäre möglich.«

»Lesen Sie ihm einfach den Zeitpunkt vor«, schlug Neresenko vor. »Es ist möglich, daß er selbst empfängt, aber nicht antworten kann.«

»Hallo, Jurko«, sagte Jumascheff langsam und deutlich in das Mikrofon. »Wir holen dich herunter, Jurko. Hörst du mich? Wir bringen dich herunter. Um zehn Uhr vierundvierzig wirst du beginnen, abzusteigen. Ich wiederhole. Um zehn Uhr vierundvierzig wird das Landemanöver eingeleitet.«

Plötzlich erscholl Jurkos Stimme aus einem Lautsprecher. Sie klang laut – vor Erregung, nicht durch die technischen Übertragungsmittel. Jumascheff zuckte zusammen.

»Nein«, sagte Jurko mit schwacher, aber erregter Stimme. »Nein, Feodor, noch nicht.«

»Warum nicht, Jurko?« fragte Jumascheff. »Sag mir, warum du es nicht willst.«

Neresenko lächelte. Jumascheff hatte den Beginn dieses Lächelns bemerkt und spürte es zwischen den Schulterblättern.

Schweigen.

Wieder fragte Jumascheff: »Jurko! Warum sollen wir dich nicht herunterholen? Du hast mich doch darum gebeten, Jurko. Erinnerst du dich nicht daran?«

»Es ist schwer zu erklären«, antwortete Jurko. Seine Stimme klang seltsam. Jumascheff runzelte die Brauen und stieß eine Verwünschung aus.

»Ich habe etwas zu tun«, fuhr Jurkos Stimme fort. »Ich kann es nicht erklären. Es ist sehr wichtig. Es hat etwas mit dem Universum zu tun, Feodor. Es ist sehr wichtig. Ich kann es nicht erklären. Nicht jetzt. Später. Später …«

Jumascheff war aufgesprungen und blickte Neresenko an. »Er muß trotzdem heruntergeholt werden«, rief er. »Haben Sie nicht seine Stimme gehört? Ich bestehe darauf. Als Chefpsychiater mache ich meine Autorität geltend.«

»Aber er hat doch darum gebeten, nicht heruntergebracht zu werden, Feodor«, protestierte Neresenko. »Seien Sie doch vernünftig …«

»Was ist Ihnen lieber? Heute ein geistig normaler Mann oder morgen ein Wahnsinniger?« Ärger klang in Jumascheffs Stimme mit. »Das ist die Wahl, Neresenko! Was wird Ihnen den größeren Ruhm verleihen? Denken Sie doch nach!«

Neresenko dachte nach. Er runzelte die Stirn und warf die Unterlippe auf. Dann zuckte er die Schultern. »Ich überlasse es Ihnen, Jumascheff«, sagte er. »Wenn Sie die Verantwortung übernehmen wollen …«

Im Raum falteten sich die Antennen von Gamma zusammen. Preßluftdüsen drehten die Kapsel um 180 Grad, bis ihre spitze Nase genau in die entgegengesetzte Richtung ihrer Kreisbahn zeigte. Auf die Millisekunde genau wurde in Turkmenistan ein Kreis vollzogen, der von den Rechenautomaten vorherbestimmt war. Raketen zischten aus dem viereckigen Schwanz des Satelliten.

Jumascheff beobachtete den Vorgang von der Kara-Kum-Wüste aus. Er drückte das Auge fest auf die Linse eines mächtigen Teleskops. Plötzlich richtete er sich auf und wandte sich abrupt ab. Der gefährlichste Augenblick war gekommen. Wenn der Satellit genügend an Geschwindigkeit verloren hatte, standen die Chancen gut. Wenn nicht, war alles vorbei; das große Experiment würde mißglückt sein und Jurko Andropow müßte verbrennen. Jumascheff konnte sich nicht erklären, warum er eigentlich hinsehen wollte. Er nahm eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.

In der offenen Tür des Komputerraumes erschien Dvinski. »Bis jetzt ist alles gut gegangen, Feodor«, rief Dvinski. »Er tritt jetzt in die Atmosphäre ein, und wir haben kein Anzeichen für übergroße Hitze.«

»Danke!«rief Jumascheff. Er drehte sich um und ging auf einen Helikopter zu, der mit angelassenem Motor auf ihn wartete.

Jurko war noch bewußtlos, als sie ihn aus dem Satelliten zogen. Er hatte die Betäubungsspritze gewählt. In dem Helikopter, der ihn zurück zu dem Versuchsgelände brachte, kam er zu sich. Jumascheff war bei ihm.

»Feodor!« Jurko streckte die Hand aus. Lächelnd ergriff Jumascheff sie. Währenddessen betrachtete er den Mann auf der Liege prüfend. Er schien schwach, aber die Augen waren hell – sehr hell und glänzend. In ihnen lag kein Anzeichen von Wahnsinn. Jumascheff erkannte das genau, und er fühlte sich erleichtert.

»Feodor«, sagte Jurko wieder, seine Stimme klang leise, aber dringend. »Hör zu! Es ist etwas passiert. Ich habe die Sterne angeschaut. Ich begann zu verstehen. Hörst du mir zu?«

»Ja, aber ich meine, du solltest jetzt nicht sprechen.«

»Ich muß sprechen. Ich … es läßt sich sehr schwer erklären. Ich begann gerade zu verstehen und zu sehen, Feodor. Ich … ich sah eine Einheit.« Jurko schloß die Augen. Er schwitzte. Jumascheff runzelte die Stirn. »Es ist alles eine Einheit«, fuhr Jurko fort. »Es ist ein Leben, Feodor. Alles paßt ineinander. Alles ist aufeinander abgestimmt. Alle Teile arbeiten zusammen. Das habe ich gesehen, Feodor. Ganz klar. Es besteht gar kein Zweifel, nicht der geringste. Spreche ich einigermaßen vernünftig?«

»Ja, Jurko.«

»Und ich verstehe jetzt viele Dinge, über die ich mir vorher nie Gedanken gemacht hatte. Ich verstehe, daß weder Zeit noch Entfernung ihre richtige Bedeutung haben – nicht in unserer Vorstellung. Hast du je darüber nachgedacht?«

»Nein, Jurko«, sagte Jumascheff. »Möchtest du dich nicht lieber entspannen? Es wäre besser, wenn du jetzt ein wenig schliefest.«

»Bitte«, flehte Jurkos Stimme.

»Bitte, hör mir zu, Feodor. Jedes Ding hat seine eigene Zeit – kannst du das verstehen? Alles hat seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum. Für ein Elektron ist der Atomkern entfernt; für uns ist die Sonne entfernt. Verstehst du, was ich meine? Kannst du die Wichtigkeit erkennen?«

»Nein«, antwortete Jumascheff sanft. »Für alles gibt es eine Zeit, Jurko. Du siehst die Sterne, und ich sehe einen Mann, der durch ein phantastisches Experiment erschöpft ist. Aber, da du mir nicht gehorchen willst, werde ich dir jetzt eine Injektion geben.«

»Feodor!« rief Jurko. »Feodor, versuch es doch! Bitte, versuch zu verstehen. Hör zu! Ich habe das Universum gesehen, Feodor – als ein Ganzes, als eine vollkommene Einheit. Es ist ein Wesen – ein lebendes Wesen! Alles ist geordnet. Alles hat seinen Platz. Wir haben unseren Platz. Verstehst du denn nicht? Ich habe alles gesehen, Feodor, alles! Ich begann zu verstehen, wofür wir, die Menschheit, existieren. Deshalb habe ich gebeten, nicht heruntergeholt zu werden …«

Die Nadel glitt in das Fleisch. Jumascheff zog sie aus Jurkos Arm und zog die Zudecke hoch. »So«, sagte er sanft. »Jetzt wirst du schlafen, Jurko. Das ist besser für dich.«

Jurko erwiderte nichts. Er wandte den Kopf von seinem Freund ab und schloß die Augen.

 

Es war Morgen. Jurko saß aufrecht im Bett. Die Luft im Zimmer wurde durch einen Ventilator gereinigt, es war angenehm kühl – das Zimmer eines Helden, eines Helden der Sowjetunion. Durch das Fenster konnte er über die endlose, von der Sonne ausgedörrte Turmani-Wüste blicken. Er liebte diesen Anblick mehr als den der Instrumente in dem Satelliten. Über seinen Knien lag ein Tablett. Er aß weichgekochte Eier.

Jumascheff trat ein. »Zdrasvutje, Jurko.«

»Zdrasvutje, Feodor.«

»Wie fühlst du dich?«

»Gut, ich habe zwölf Stunden lang geschlafen.« Jurko lächelte.

Jumascheff setzte sich. »Nun«, sagte er, »dann kann ich mir vorstellen, daß du gern alles erzählen möchtest. Beginn ganz von vorn.«

Jurko runzelte die Stirn und legte den Löffel nieder. Er hob die Kaffeetasse auf und blickte nachdenklich hinein.

»Was wolltest du mir eigentlich gestern im Helikopter sagen?« fragte Jumascheff. »Ich bemühte mich, zuzuhören, aber ich konnte es nicht verstehen.«

»Hast du jemals versucht, dich an einen Traum zu erinnern, von dem du wußtest, daß er von größter Wichtigkeit war«, fragte Jurko, »der aber, wie sehr du dich auch immer bemühtest, blasser und blasser wurde, Stück für Stück, bis nichts übrigblieb als das Wissen, daß du ihn geträumt hast?«

Jumascheff nickte.

»Das ist es, was ich jetzt tue.«

»Aber«, sagte Jumascheff, »ich verstehe das nicht. Es war doch kein Traum, nicht wahr? Du hast mir doch gestern abend keinen Traum erzählt?«

»Nein. Nein, es war kein Traum.« Jurko stellte die Kaffeetasse nieder. »Gestern nacht, Feodor, in dem Satelliten, da war alles klar – kristallklar, ich habe nicht geträumt. Wenn du willst, dann habe ich vielleicht Visionen gehabt, aber ich war völlig wach. Ich glaube nicht, daß ich je wieder so wach sein werde. Ich schien das Universum zu sehen, als eine Ganzheit … Fast möchte ich sagen, als etwas Festes. Jedenfalls, im großen und ganzen als ein Modell. Ich …« Jurko hielt inne. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Feodor, ich kann es nicht erklären.«

»Ich glaube, daß du es sehr gut tust.«

»Nein.« Wieder schüttelte Jurko den Kopf, diesmal bestimmter.

Jumascheff schwieg. Fast schüchtern – und es war sonst nicht seine Art, schüchtern zu sprechen – sagte er: »Ich hätte mich gestern abend mehr bemühen sollen, zuzuhören, Jurko. Ich sehe jetzt ein, daß du recht hattest. Du hattest etwas zu sagen, das du nicht behalten konntest. Es tut mir leid, daß ich dir die Injektion gegeben habe.«

Jurko zuckte die Schultern und lächelte. »Ich glaube nicht, daß es einen großen Unterschied macht«, antwortete er. »Ich glaube nicht, daß man das in Worten ausdrücken könnte; vielleicht ist das auch das große Geheimnis.«

Jumascheff nickte. »Vielleicht hast du recht«, sagte er.

»Ich war wohl ein bißchen verrückt, was?« fragte Jurko. »Glaubst du, daß meine Visionen Halluzinationen waren, Feodor, und daß sie keine Bedeutung haben?«

Jumascheff schüttelte den Kopf. »Nein, Jurko.«

»Das glaube ich auch nicht«, sagte Jurko. »Ich bin nicht jemand, der sich Halluzinationen hingibt – oder Visionen. Ich bin nicht einmal ein großer Denker.«

Jumascheff erhob sich. »Du hast mich veranlaßt, darüber nachzudenken, ob ich mich nicht für den nächsten Satelliten freiwillig melden sollte, Jurko«, sagte er. Er lächelte, aber in diesem Lächeln lag kein Sarkasmus. »Ich lasse dich jetzt allein – vielleicht erinnerst du dich wieder. Ich habe den anderen gesagt, daß sie dir gegen Mittag ihre Fragen vorlegen können. Paßt dir das?«

Jurko nickte. »Ich danke dir, Feodor.«

Der Psychiater verließ das Zimmer.

»Freunde«, sagte Neresenko ein paar Tage später bei einer Diskussion auf höchster Ebene, »ich glaube, daß wir ruhig sagen können, die grundsätzlichen Probleme der Raumfahrt besiegt zu haben. Genosse Major Andropow hat während seiner Reise in Gamma beträchtlich gelitten. Unter anderem hat er uns gesagt, daß das Gefühl der Ruhelosigkeit fast unerträglich wurde und daß es ihm fast unmöglich war, die geistige Lethargie, die durch die Bedingungen im Satelliten hervorgerufen wurde, zu bekämpfen. Er hat erwähnt, daß dafür vielleicht bisher unbekannte Gründe vorhanden seien. Es ist jedoch meine Meinung, daß die offensichtlichen Gründe auch die richtigen sind. Ich glaube, daß er an Platzangst litt und an der Unfähigkeit, sich zu bewegen, was noch durch die Unsicherheit, die Einsamkeit und die Fremdheit seiner Umgebung gesteigert wurde. Ich glaube, daß wir ganz andere Ergebnisse erzielen, wenn wir zwei oder drei Männer zusammen in den Raum schicken und wenn die Entwicklung der Raketen es gestattet, ihre Bewegungsfreiheit zu vergrößern.« Neresenko blickte sich im Raum um, um den Gesichtsausdruck seiner Zuhörer zu beobachten, und dann, anscheinend befriedigt, starrte er wieder auf seine Notizen.

»Genosse Major Andropow berichtet weiter«, fuhr er fort, »daß er an Halluzinationen litt, vor allem während des letzten Teils seines Fluges. Dies müßte uns zu denken geben, wäre es nicht erst passiert, als er schon körperlich geschwächt war und nachdem er eine ziemlich lange Zeit hinaus in die Himmel gestarrt hatte.« Neresenko lächelte. »Daraus könnte man schließen, Genossen, daß es für Raumfahrer schlecht ist, in die Ferne zu gucken. Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann schlage ich vor, daß wir uns dieses Übels auf ganz einfache Weise entledigen. Wir brauchen der Besatzung nur zu untersagen, die Sichtluken zu benutzen, oder wir bauen überhaupt keine Sichtluken mehr ein, dann kann so etwas nicht wieder vorkommen. Radar kann das menschliche Auge zum größten Teil ersetzen, viele Dinge kann es noch besser tun …«

Am anderen Ende des Tisches starrte Feodor Jumascheff auf die Tischplatte. Er mußte an Jurkos Augen im Helikopter denken, an seine Stimme, an die seltsamen Dinge, die er versucht hatte zu erklären, und daß er, Jumascheff, sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, zuzuhören. Warum, so fragte sich Jumascheff, während Neresenko seine Ausführungen fortführte, wollen sie dann überhaupt in den Raum hinaus? Um Wissen zu erringen, um Mineralien zu gewinnen, aus militärischen Vorteilen, um die Struktur der unbewohnten Planeten zu untersuchen … und so weiter, und so weiter? Jumascheff fühlte Zweifel in sich aufsteigen. Jurkos Gespräch hatte ihm den winzigen Zipfel eines ganz anderen Grundes gegeben, eines Grundes, den niemand zuvor bedacht hatte …

Neresenko hatte geendet. Beifallsklatschen ertönte. Jumascheff beteiligte sich nicht daran. Statt dessen blickte er den Kontrolloffizier stirnrunzelnd an. Neresenko und alle, die wie er dachten, verstanden das wirkliche Problem nicht. Sie würden es auch nie verstehen …