Lee
Sutton
Ein Herz und eine Seele
…
Die Kirche bestand aus einem bunten Durcheinander von Türmen, Pfeilern und Bögen, die irrational in das Nichts reichten – aber Ruhe und Frieden vermittelten. Quincy Summerfield eilte daran vorbei und stürzte die Treppen zur Untergrundbahn hinunter – er konzentrierte sich nur auf seine eigene Art Frieden. Hastig drängte er sich durch die Menge und wich den Blicken aus, die ihm folgten. Dieses Chaos von Menschen war für ihn eine Qual, aber wegen des Regens hätte er vielleicht den Zug verpaßt, während er auf ein Taxi wartete.
Er lehnte sich gegen einen Pfeiler nahe der Schienen. Nach außen hin wirkte er in seinem gutsitzenden Übermantel und dem blauen Hut kühl und zufrieden, aber innerlich zitterte er. Er hatte das schon öfter durchgemacht – wenn jedes menschliche Auge ihn in diesen qualvollen Zustand trieb; und selbst die Ordnung und strenge Zucht in seinem Büro konnten nicht verhindern, daß er in Gegenwart seiner Angestellten verwirrt war. Sieben nacheinanderfolgende Interviews hatten ihm den Tag zur Hölle gemacht. Er hatte die Bewerber nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht und dann die fünf besten Leute für 50 000 Dollar im Jahr für seine Firma engagiert. Jetzt aber würde er nach den erschöpfenden Interviews wenigstens einen Tag völliger Abgeschlossenheit benötigen. Vielleicht würde es sogar besser sein, seine Frau, Charlotte, die er zwar Ordnung und Selbstkontrolle gelehrt hatte, wegzuschicken.
In diesem Augenblick erreichte ihn das volle Lachen eines Mädchens, und er spähte hinter dem Pfeiler hervor. Ein junges Mädchen mit langem, schwarzem Pferdeschwanz hatte gerade die Plattform betreten, sie trug ein paar Zeichenmappen unter dem Arm. Voller Abscheu bemerkte er ihre vollen Brüste, die sich unter einer zu bunten Bluse abzeichneten. Ihr schmutziger Trenchcoat war geöffnet. Ihr voller Mund war vor Lachen verzogen, während sie die Habseligkeiten ihrer Handtasche, die ihr entfallen war, zusammenlas. Für Quincy Summerfield bedeutete sie ein Ausbund von Unordnung.
Er zwang sich, seinen Blick von ihr abzuwenden. Er hatte das schockierende Gefühl, sie schon lange zu kennen, aber seine Vernunft sagte ihm, daß er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie war wie der Teil eines Alptraums, der mit ans Tageslicht gedrungen war. Er betete darum, daß er nicht im gleichen Abteil mit ihr fahren müßte. Als er durch die Schiebetüren trat, sah er, wie sie den Wagen nebenan betrat.
Quincy setzte sich neben eine grauhaarige Frau mit leicht gebräunter Haut, die eine wohltuende Ruhe ausstrahlte. Jetzt, da er sich von der Menschenmenge auf dem Bahnsteig entfernt hatte, fühlte er sich ein wenig wohler. Mit fast würdiger Miene setzte er sich nieder, gerade aufgerichtet, das lange, schmale Gesicht mit dem gestutzten, grauen Schnurrbart erhoben und ruhig. Diese Wirkung erzielte er jedoch nur durch größte Anstrengung.
Ein Beamter stieß die Tür am Ende des Wagens auf. Herein kam das Mädchen im Trenchcoat, die vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Ihre gute Laune schien sich auf alle Anwesenden im Wagen zu übertragen. Für einen kurzen Augenblick erwachte selbst das ausdruckslose Gesicht des Beamten zum Leben. Mit einem dankbaren Aufseufzen ließ sie sich Quincy Summerfield gegenüber im Sitz nieder. Ihre Mappen rutschten neben ihr zu Boden.
Quincy Summerfield blickte auf die schmutzigen Regenflecken seiner gutgeputzten Schuhe. Er fühlte ihre Augen auf sich ruhen. Er begann innerlich zu zittern und blickte auf. Er bemühte sich krampfhaft, sie völlig zu ignorieren.
Aber ihre Gegenwart war zu überwältigend. Er mußte ihr schweres Parfüm riechen, das von Moschus durchtränkt war. Wie hypnotisiert kehrten seine Augen wieder zu ihr zurück, zu der unordentlichen Kleidung, den albernen, durchweichten Ballettschuhen an den Füßen. An ihrem Hals baumelte ein billiger, moderner Schmuckstein an einem Lederband. Sein Blick richtete sich auf ihre Lippen. Jetzt zitterte er noch stärker, seine Füße wurden zu Eisklumpen.
Dann begegnete er ihren klaren, dunkelbraunen Augen. Züngelnd, das war das richtige Wort für sie. Harte, kalte Augen.
Er scharrte mit den Füßen auf dem Boden. Dieser verdammte BH ist viel zu eng … Seine Hand fuhr an seine Brust. Ein Tropfen von dem Hut fiel kühl und hart auf ihre Nase. Seine Brüste taten ihm weh. Eine heiße Dusche, wenn der Boiler in Ordnung ist … Dann werde ich allen erzählen, daß ich das Bild verkauft habe … Charlotte wird mir etwas Warmes zu trinken richten … O Gott, mir ist so komisch! Ob Arthur mich heiraten wird, wenn …? Ein außerordentlich abscheulich aussehendes Mädchen – wie aristokratisch mit Schnurrbart – billige Schlampe.
Ich sehe alles so komisch. Das bin ich, aber es ist kein Spiegel da. Wer ist Charlotte, Arthur, Quincy? Ich bin Quincy. Ich bin … Dieser Mann. Dieses Mädchen. Jesus Maria. Ich denke seine, ihre Gedanken. Ich will aussteigen!
»Ich will aussteigen!« Der grelle Aufschrei des Mädchens ließ alle Anwesenden im Wagen auf die Füße springen. Mit wild rollenden Augen stand sie einen Augenblick da, dann sank sie ohnmächtig zu Boden.
Quincy Summerfield zitterte am ganzen Leib, er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Er war sich eines schweren Gewichts bewißt geworden, als die Welt in Dunkelheit zerronnen und das Mädchen auf den Boden gestürzt war. Er fühlte jede Regung, die sie, auf dem Boden liegend, im Halbbewußtsein verspürte. Sein Atem ging schwer. Menschen hoben sie auf. Er fühlte ihre Augen wieder flattern. Der Spiegel, Spiegel, Spiegel – ihres Bewußtseins, seines Bewußtseins, ihres Bewußtseins, der farbigen Frau mit den ruhigen Gedanken, die sie in die Arme schloß. Dann schrie das Mädchen furchtbar auf, und seine Kehle schmerzte.
Kreischend hielt der Zug an. Quincy sprang auf und rannte blindlings durch die Schiebetür. Fast riß er eine ältere Dame um. Sie fuchtelte mit ihrem Regenschirm hinter ihm her.
»Ungehobelter Kerl!« Die Worte folgten ihm, während er die Plattform entlanglief, die Ledersohlen seiner Schuhe hallten durch den Raum. Sein Gesicht war verzerrt. Leute blieben stehen und starrten ihm nach, aber er kümmerte sich nicht darum. Der Hut fiel ihm vom Kopf. Er stolperte, fiel fast hin. In seinem Kopf wirbelten seine Gedanken und ihre Gedanken wild durcheinander. Gleich würde erden Ausgang erreicht haben, bald würde er weit weg sein, draußen, weg von den Menschen, weg von dem Mädchen, in freier Luft.
Die farbige Frau – sie wird mir helfen. Sie nahm seine Bilder auf! Er bezwang einen Aufschrei; unter den verzerrten Visionen taumelte er dahin. Er wußte kaum, wie er dahin gekommen war, aber endlich stand er auf der Straße, ohne Hut, mit zerrissener Hose, und schwenkte die Arme nach einem Taxi.
Zum Glück hielt eins gleich an.
»Wohin?«
»Zum Grand Central. Beeilen Sie sich, um Gottes willen!«
Durch ihre Gedankenbilder hindurch blickte er auf seine Uhr. Das Glas war gebrochen, sein Handgelenk schmerzte. Schwer atmend ließ er sich in die weichen Polster sinken. Völlig erschöpft schloß er die Augen und gab sich einer einzigen Vorstellung hin.
Sein BH saß zu eng. Er griff nach hinten, lockerte den Verschluß und atmete leichter.
»Gleich wird Ihnen besser sein, meine Liebe«, sagte eine weiche Stimme. »Jetzt haben Sie etwas, das Sie Ihrem Mann erzählen können.« Das braune Gesicht lächelte. »Sie sind doch verheiratet?«
»Aber ich bin nicht schwanger!« rief er.
»Was ist los?« fragte der Taxifahrer über die Schulter hinweg. »Was sind Sie nicht?«
Quincy Summerfield öffnete die Augen und richtete sich steif auf. »Ach, ich habe mir nur ein paar Dialoge für ein Hörspiel überlegt«, sagte er verzweifelt.
Der Taxifahrer brummte vor sich hin und fuhr weiter.
Summerfield blickte sich um. Es war ein Taxi wie jedes andere. Ein kleines Schild verkündete, daß der Fahrer Barney Cohen hieß. Es regnete. Die Menschen stemmten sich gegen den Regen, wie sie es sonst auch taten. Er versuchte, alle anderen Bilder zur Seite zu schieben. Aber es gelang ihm nicht.
Als er die Augen schloß, befand er sich in einem schmutzigweißen Waschraum, ein übler Geruch hüllte ihn ein, darunter mischte sich schweres Parfüm. Eine Frauentoilette. Er blickte in den Spiegel, in sein weißes, zitterndes Gesicht, ein Frauengesicht mit erschreckten, braunen Augen. Er legte Lippenstift auf. SIE legte Lippenstift auf, zwang er sich in Gedanken zu sagen. Sie schüttelte den Kopf und schloß die Augen.
Sie sind noch immer da, dachte sie. Ja.
Was ist geschehen, um Himmels willen? In ihren Gedanken spielte die gleiche Furcht mit wie in seinen eigenen.
Furcht. Einen langen Augenblick lang teilten sie dieses Gefühl.
Dann kämpfte er darum, seine Gedanken wieder zu ordnen. Kein Grund zum Fürchten. Nichts. Ich habe mich nicht verändert. Es ist so wie immer. Sie, du bist derselbe. Sie. Ich. Derselbe.
Jesus, Jesus, drängte sie sich mit ihren Gedanken ein. Unser Vater … Das Gebet verzerrte sich zu einem Wirrwarr religiöser Vorstellungen.
Die abgründige Tiefe ihres Aberglaubens brachte ihn wieder zum klaren Denken. Ich habe nichts zu befürchten. Er zwang sich, diesen Gedanken immer wieder zu wiederholen. Ich bin derselbe. Du bist derselbe. Irgendwie … Eine Sekunde lang verlor er die Kontrolle über sich … Wir haben völligen geistigen Kontakt hergestellt. Ich weiß, was Sie denken, fühle, was Sie fühlen, und Sie kennen meine Gedanken, meine Gefühle.
Seine beruhigenden Worte schienen ihr wohlzutun. Er fühlte, wie ihre Gedanken versuchten, seinen Körper zu fühlen, seinen männlichen Körper, und er erlaubte sich, sich ihres weiblichen Körpers voll bewußt zu werden.
Eine tiefe Welle erotischer Gefühle erfaßte sie beide: Ihn im Taxi, sie eine Viertelmeile von ihm entfernt vor dem Spiegel. Er konnte spüren, wie ihr Atem schneller ging.
»Aber das ist ja sagenhaft«, hauchte sie, während sich ihre Vorstellungen von Arthur und Fred mit seinen Erinnerungen an Charlotte vermischten.
Ich muß mich ablenken! Er zerstampfte die Vorstellungen, als wären es blasse, gefährliche Würmer.
»Anhalten!« rief er.
»Um Himmels willen, Freundchen, wir haben nur noch drei Häuserblocks«, brummte der Taxifahrer, lenkte den Wagen aber an den Randstein.
»Entschuldigung. Ich habe wieder nur laut gedacht.«
»Ein Verrückter«, brummte der Taxifahrer. »Ein Prügelknabe für Verrückte, das bin ich, jawohl.« Er lenkte den Wagen zurück in den fließenden Verkehr.
Sie sind ein kalter, furchtbarer Mann, dachte das Mädchen. Sie schämte sich, ein Gefühl, das ihr fremd war. Es begann gerade … sie suchte nach einem Wort, das dasselbe wie gut bedeutete.
Du bist eine Schlampe, dachte er böse. Das ganze Erlebnis lastete wie ein Alptraum auf ihm. Ich habe einen Alptraum. Genauso wie damals, als ich vierzehn war. Haben sie etwas miteinander zu tun? Sind es nur Reflexionen aus der Gedankenwelt dieser schrecklichen Schlampe?
Sie sind ein Egoist! dachte das Mädchen. Sie war auf ihn und auf sich selbst sehr böse. Angestrengt dachte sie an Arthur, einen behaarten jungen Mann mit …
Quincy biß die Zähne aufeinander und versuchte, ihre Gedanken zu verdrängen, aber es war so, als versuchte er, Wasser zurückzustoßen. Er öffnete die Augen, auf den Lippen einen Schrei. Seine geistige Qual verletzte auch sie.
Schon gut, schon gut. Ich werde aufhören. Aber Sie müssen auch aufhören, so schrecklich zu sein. Schließlich habe ich dies ja nicht getan. Ich habe nicht versucht, uns zusammenzubringen, nicht auf diese Art. Auch sie zitterte jetzt.
»He, Mister. Wir sind da. Grand Central.«
Summerfield drückte dem Mann eine Fünf-Dollar-Note in die Hand und zwängte sich durch die Menge. Fünf Dollar! Sie haben diesem Mann fünf Dollar gegeben! Warum …?
Hatte keine Zeit, zu warten. Muß meinen Zug kriegen. Muß mich davonmachen. Weit fort. Dann werde ich dich vielleicht los.
Während er sich durch die Menschenmenge zwängte, flossen ihre Gedanken unaufhörlich durch sein Gehirn. Bin ich so furchtbar? kamen sie, berührten ihn.
Ja, dachte er. Du bist so furchtbar. Ich kann dich nicht ausstehen. Verdammter Aberglaube. In eine Liebesaffäre mit zwei Männern verwickelt. Unordentlich.
Bilder ihres Appartements zuckten durch seine Gedanken: Moderne Zeichnungen, Gemälde, voller Staub. Im Abwaschbecken Schmutz. Alles so, wie er es nicht ausstehen konnte.
Dann plötzlich erkannte er zum erstenmal, wie tief sie getroffen war, es war, als würde er sich selbst verletzen. Es war aber auch, als wäre ein reicher und verschiedenartiger Teil seiner selbst plötzlich zu neuem Leben erwacht. Für den Teil einer Sekunde tasteten sich seine Gedanken zögernd und voller Mitgefühl zu ihr.
Trotz allem, dachte sie, bewundere ich Sie. Warum? Nun – wir sind jetzt praktisch Seelengefährten.
Seine Abneigung gegen diese Idee war zu tief, als daß er sie aus Rücksieht auf sie oder sich selbst zu unterdrücken vermochte.
Ich hoffe, ich kann Sie wieder loswerden, dachte sie, wobei sie sich verzweifelt bemühte, sich von der heftigen Berührung zurückzuziehen, wie von gewalttätigen Händen.
Aber ich fürchte mich, habe Angst. Diese ESP-Männer … Heftig wühlte sie in ihrer wirren Erinnerung. Haben die ihre Leute denn nicht geschützt, sie Meilen und Meilen voneinander entfernt? Verzerrte Bilder von Männern in weißen Talaren, die »sensitive« Leute voneinander trennten, sie auf die verschiedenartigste Weise schützen, aber doch erfolglos blieben, drängten sich ihm auf. Er ließ sie seine Verachtung darüber, daß sie solchen Unsinn glaubte, heftig spüren.
Aber sie hatte recht. Die Verbindung mit ihr wurde immer klarer, sie verblaßte nicht. Es gab keinen Weg, sie auszuschalten. Und dies alles war begleitet von der fortwährenden und furchtbaren Intimität. Es war fast, als zwänge irgend etwas seine Augen, auf einen verabscheuungswürdigen Teil seiner selbst im Spiegel zu schauen.
Während er den Steinweg zu seinem Haus entlangschritt, war er sich ihrer in ihrem Appartement voll bewußt. Aber er konzentrierte sich darauf, seinen eigenen Gedanken zu folgen. Er blickte auf sein Heim, auf die sauber gemähten Rasenflächen, die sorgfältig gestutzten Hecken, auf das Saubere und Weiße, auf die Bäume, auf dies alles, das ihn beruhigte. öd … kahl … häßlich. Plötzlich spiegelte sich das Haus und seine Umgebung in ihren Gedanken wider. Plötzlich sah er: Kleinliche, bürgerliche Billigkeit. Alles Schöne und Vollkommene wurde plötzlich zum Banalen.
Verdammt!
Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht wehtun. Aber er spürte unter der Oberfläche deutlich ihr Gelächter und ihren Zorn.
Und er konnte sich nicht des Einflusses ihrer Gedanken erwehren. Der Besitz, den er liebte: Billiger Kram. Von einem zweitrangigen Künstler für Leute mit drittrangigem Geschmack.
Und Charlotte – so ruhig und süß. Plötzlich erkannte er, wie einsam sie war, er sah die bitteren Linien um ihren Mund.
Armes Ding, dachte das Mädchen.
Keine Kinder. Keine Liebe. Sie haben sie für Ihre Zwecke mißbraucht – genauso wie die Männer, mit denen Sie arbeiten. Sie … Er konnte ihr nicht entfliehen. Er konnte ihren Zorn, ihre Scham, ihr Gelächter nicht unterdrücken.
Er wagte es nicht, wieder zur Arbeit zu gehen, denn seine Verwirrung wäre bemerkt worden, und das hätte er nicht ertragen können. Glücklicherweise hatte er eine hohe Position, so daß er seine Zeit selbst einteilen und für ein paar Tage zu Hause bleiben konnte.
Aber diese Tage waren für ihn eine einzige Qual. Jeder kleinste Gedanke, jede geringste Gefühlsbewegung wurde von dem Mädchen reflektiert. Und, was noch viel schlimmer war, er empfing auch all ihre Gedanken. Nichts seiner, ihrer geheimsten Gefühle blieben ihr, ihm verborgen. Die wirren Tage endeten in Nächten, in denen ihn verzerrte Träume bedrückten. Es war, als wäre sein ganzes Leben in eine tiefe See verdrängt, in der nichts schwamm als Fremdartigkeit, die durch Zerrspiegel von allen Seiten auf ihn eindrang.
Er blieb drei Tage lang zu Hause. Während dieser drei Tage suchte er verzweifelt nach irgendeiner vernünftigen Erklärung für diesen plötzlichen, schockierenden Kontakt. Er glaubte jetzt beinahe, daß das Wissen um sie schon immer existiert hatte, unter der Oberfläche, ausgeschlossen aus seiner Gedankenwelt, daß es sich jetzt aber nach oben drängte, Aufmerksamkeit forderte – es war die Quelle seiner seltsamen Alpträume gewesen. An jenem Tag in der Untergrundbahn war sein Schutz gegen die Außenwelt durch den anstrengenden Arbeitstag abgetragen; und sie, schützte sie sich jemals? Außerdem hatte sie gerade eines ihrer albernen Bilder verkauft und war bereit, die ganze Welt vor Freude zu umarmen. Es war schon ungeheures Pech, daß sie sich gerade zu diesem Zeitpunkt begegnen mußten. Als ihre Augen einander trafen, brach die dünne Schicht, die sie voneinander trennte, entzwei. Vielleicht war sogar etwas Wahres an der alten Weibergeschichte über die Zauberkräfte von Augen, die Fenster der Seele. Aber natürlich war dies alles abergläubischer Unsinn, er konnte ihn nicht glauben.
Er las in einem Buch von Rhine nach, aber auch das, was dort über verschiedenartige Phänomene außersinnlicher Wahrnehmungen stand, konnte er nicht glauben. Noch eher hätte er geglaubt, daß er wahnsinnig war. Vor allem war er nicht überzeugt davon, daß Entfernungen nichts ausmachten. Er entschloß, sich von ihr durch einen ganzen Kontinent zu trennen, um auf diese Weise zu versuchen, den Kontakt zu brechen. Seine Frau fuhr ihn zum La Guardia Flughafen, von wo aus er die erste Maschine in Richtung Westen nahm.
Das erwies sich als böser Fehler, denn im Flugzeug gab es keine Zerstreuung, so daß ihre Gegenwart so klar wie vorher blieb. Er konnte sich nicht bewegen. Selbst auf ein Buch vermochte er sich nicht zu konzentrieren. Da er eine Bank für sich allein belegt hatte, konnte er sich nicht einmal mit jemandem unterhalten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen, die Augen zu schließen und ihr Leben mit ihr zu teilen. An diesem Abend im Flugzeug gelangte er zu der Überzeugung, daß er, da er sie nicht loswerden konnte, verseuchen mußte, sie zu beherrschen. Es waren ihre seltsamen religiösen Anschauungen, die ihn schließlich überzeugten. Sie spazierte am Abend durch einen kleinen Park; es war Frühling, und die Bäume schlugen gerade Knospen. Sie blieb vor einem Baum stehen, ihr Magen knurrte ein wenig vor Hunger; sie nahm den Geruch der Stadt, das Dröhnen, die Stille der Bäume in sich auf. Die Bäume ragen in die Höhe – zwischen den Steinen der Stadt. Die Knospen springen, Blätter öffnen sich wie Engelsschwingen. Die Wurzelspitzen reichen nach unten in die Dunkelheit. Das sanfte Wippen der Zweige. Wie du, Quincy. Wie das Gefühl deines Körpers, Quincy.
Ihre Augen verfolgten die Linien der Äste, sie folgten den Zweigen. Und als sie an der obersten Spitze des Baumes angelangt waren, sandte sie ihm einen furchtbaren Gedanken – eine Art ekstatische Vereinigung mit dem Leben des Baumes. Und dann blickte sie zu einem Liebespaar, das Hand in Hand den Weg entlanggewandert kam; mit dem geschulten Blick des Künstlers sah sie ihre Körper fast genauso, wie sie den Baum gesehen hatte. Die Körper sehnen sich nach einander. Sind sie nicht wunderbar, Quincy? dachte sie. Schau dir nur die Hüftlinie des Mädchens an, die Schenkel des Mannes. Sie passen wunderbar zueinander.
Kannst du denn an nichts anderes denken?
Ich lasse mir von dir meine Stimmung nicht verderben. Es ist ein zu schöner Abend. Und sie wandte sich einer kleinen Kirche zu. Er verspürte nicht den Wunsch, ihr dahinein zu folgen, und versuchte, sie von der Kirche wegzulenken, indem er ihr Hunger vortäuschte. Aber sie erkannte sein Vorhaben sofort und konzentrierte sich auf ihre eigenen Wünsche. Sie ignorierte seinen Zorn, als sie durch die gewölbte Türöffnung trat. In der dämmerigen Vorhalle kaufte sie eine farbige Kerze und stellte sie vor die Jungfrau.
Es war ein wortloses Gebet. Um Schutz, um Verstehen. Als sie zu der ziemlich grob geschnitzten Statue aufblickte, erkannte sie deren geringe künstlerische Qualität, setzte sich aber darüber hinweg und umgab sie mit einer Vision weiblicher Fülle und Reinheit. Hier war die Frau der Frauen. Wie gut sie versteht, was ich empfinde! So hoch, so schön, und doch versteht sie mich!
Dann erst wandte sie sich von der Jungfrau ab und dem Kruzifix zu. Hier sah sie nur siegreiche, männliche Süße, die an blutigen Nageln hing. Quincy Summerfield versuchte, von ihr loszukommen. Er formulierte ein obszönes Wort, aber wieder achtete das Mädchen nicht auf ihn. Ihre Gefühle waren zu stark. Die Einsamkeit, das Entsetzen, das Wunder und der Ruhm, die in dem Baum, den Knochen und dem Blut aller Menschen in ihren Leiden verkörpert war, wurde in der Figur des Kruzifixes deutlich; das Zeitlose, das sich aus Mitleid zu mir und meiner Schwäche in dem Schmerz der Zeit offenbarte. Einem Impuls der völligen Unlogik folgend, kniete sie nieder; Quincy wand sich in seinem Flugzeug vor Protest. Aber sie war zu unterwürfig. Er fühlte ihren Körper, als sie niederkniete und bemerkte, daß es ihr schwerfiel, das Gleichgewicht zu halten. Er zwang ihr ein kleines Abrutschen des einen Beines auf, und sie fiel lang mit dem Gesicht auf den Boden. Quincy zuckte bei dem Fall selbst zusammen, aber er freute sich trotzdem.
Das ist gemein, mich so zum Narren zu machen.
Auch nicht närrischer, als vor einem Stück Mörtel zu knien. Abscheulich. Was für Unsinn in deinem Kopf steckt. Lauter Unwahrheiten. Sie war wütend. Sie raffte sich auf und starrte auf ihre schmutzigen Hände und auf den Staub an ihrem Frühjahrskleid. Sie dachte an ein Bad und an eine einfache Mahlzeit und verließ schnell die Kirche. Sie beachtete ihn nicht, aber als sie die Treppe zu dem Appartement hinaufstieg, das sie aufgrund von Quincys Drängen einigermaßen aufgeräumt hatte, war sie noch immer wütend.
Für das, was du in der Kirche getan hast, solltest du dich schämen, dachte sie. Ich werde es dir schon erklären. Es ist nicht alles Unsinn. Es ist wahr, und du weißt genau, daß es so ist. Warum mußte ich nur von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet dir begegnen? Bedächtig entkleidete sie sich vor einem Spiegel und musterte sich, so daß er sie auch sehen würde. Ihr Körper war wohlgeformt, groß, mit vollen Brüsten, schlanker Taille und ebenmäßigen Beinen. Sie glitt mit den Händen darüber hinweg, konzentrierte sich auf das Gefühl ihrer Finger, spürte, wie er darauf einging.
Dann hielt sie plötzlich inne, lief zum Telefon und rief ihren Freund Arthur an. Sie zitterte vor Verlangen, Quincy hielt den Atem an und ballte die Fäuste.
Ich fühle mich einsam, Arthur. Könntest du gleich mal herüberkommen? Ich werde im Bad sein, aber komm nur ruhig herein. Also schön, komm zu mir, wenn du Lust hast.
Eine Viertelstunde später taumelte Quincy in den Waschraum des Flugzeugs, schloß sich ein und setzte sich auf den Stuhl. Mit zitternden Fingern nahm er eine Nagelfeile aus der Tasche und streifte seinen Jackenärmel zurück. Seine Zähne waren fest aufeinandergepreßt, seine Augen glitzerten in einem Anfall von Wahnsinn. Er suchte an seinem Arm eine Stelle, an der keine größeren Venen zu liegen schienen. Mit einem heftigen Stoß steckte er die Nagelfeile einen Zentimeter tief in seinen Arm und zwang sich, sie dort zu lassen. Dann schlenkerte er ihn langsam hin und her, wobei er sich von dem Schmerz einhüllen ließ, bis das Mädchen zu schreien begann.
Schick ihn weg, befahl er mit zusammengebissenen Zähnen. Schick ihn sofort weg!
Und als dann schließlich ein ziemlich erstaunter Arthur ihre Wohnung verließ, zog er die Nagelfeile aus seinem Arm und lehnte den Kopf für einen Augenblick gegen das kühle Waschbecken. Er wußte jetzt, wie er sie beherrschen konnte. Sie konnte seine Schmerzen nicht ertragen.
Wenn er sich nicht selbst betrogen hätte, wenn er selbst nicht so schwach gewesen wäre, wäre sie nie mit Arthur so weit gekommen. Aber schließlich war es am Ende ja doch sein Kopf gewesen, nicht die Herrschaft seines Körpers, der gewonnen hatte.
Während er noch den Kopf gegen das Becken lehnte, mit blutigen Armen, im Bewußtsein, daß sie quer über dem Bett lag, halb bewußtlos vor Schmerz und Verwirrung, übernahm er für einen Augenblick die Kontrolle vollständig und zwang sie, sich aufzusetzen. Sie folgte seinem Befehl. Sie protestierte zwar zaghaft, erlaubte ihm dann aber, sie zum Schrank zu führen und den Pyjama herauszunehmen. Er hatte das Gefühl, als bereitete ihr das sogar Vergnügen. Sie genoß ihre völlige Gefühlsgleichheit. Und trotz des Schmerzes in seinem Arm fand auch er, daß darin eine gewisse Wohltat lag; und es war, als wäre es sein völlig eigener Gedanke, welch eine Vollkommenheit eine derartige gemeinsame Erfahrung sein müßte.
Es war ein seltsamer Augenblick für den Beginn etwas Derartigem, aber seine stahlharte Selbstkontrolle, die er bis jetzt aufrechterhalten hatte, fiel zusammen und nahm den Überschwang ihrer Gefühle und seines Schmerzes entgegen. Ihre Bewunderung seiner Stärke erwärmte ihn; sie teilte sogar seinen Triumph, und plötzlich fühlte er sich bei diesem Zustand wohl – es war nicht so sehr die Erfahrung, als vielmehr die vollkommene Einheit von Gedanken und Gefühlen, die jetzt folgten.
Quincy säuberte seinen Arm und band ein Taschentuch darum, und als er zurück zu seinem Sitz gegangen war, brachte ihm die Stewardeß sein Essen. Auch das Mädchen in seinem Appartement aß, und ihre Gedankenverbindung blieb bestehen, während einer des anderen Essen schluckte. Er hatte ihre Gedanken und Gefühle fest unter Kontrolle, und das war etwas Köstlicheres, als er es je kennengelernt hatte. Während er sich immer weiter nach Westen zu bewegte, wuchs der Wunsch nach einer körperlichen Vereinigung mehr und mehr.
Während des ganzen Abends tauschten sie ihre Gedanken aus, er im Flugzeug, sie in ihrer Wohnung; sie machten Pläne für seine endgültige Rückkehr. Selbst im Schlaf blieben sie in Verbindung.
Quincy verließ das Flugzeug in San Francisco und bestieg direkt danach ein anderes, das ihn wieder zurück nach New York brachte. Knapp vierundzwanzig Stunden, nachdem er New York verlassen hatte, kehrte er zurück und schritt die Straße zu ihrer Wohnung entlang.
Aber inzwischen hatten sich die Dinge geändert. Das schäbige Greenwich Village war mit ihren Erinnerungen gefüllt, die jetzt den Vorrang vor seinen eigenen hatten. Alles um ihn herum war jetzt ein Teil von ihr. Ihr ganzes Leben schien ihn einzuhüllen. Ihre furchtbaren, wirren Erinnerungen umgaben ihn, Erinnerungen, die er nicht unterdrücken konnte.
Bei der kleinen Kirche, in der sie zuweilen ihre qualvollen Beichten abgelegt hatte, blieb er stehen – nur, um in das verzerrte Durcheinander ihres Lebens zurückzukehren.
Das ist jetzt vorbei. Alles wird klar und geregelt sein. Wir werden heiraten und dann …
Er fühlte ein unbändiges Verlangen, die Kirche zu betreten und seine ganze Qual hier abzuladen. Frieden zu finden. War es ihr oder sein Verlangen? Erzwang sich, weiterzugehen. Nicht jetzt. Niemals … Jetzt waren es nur noch wenige Schritte … vorbei an dem Ort, an dem Fred und Arthur damals miteinander geboxt hatten. Kannst du nicht aufhören, ständig daran zu denken?
Während er das schlecht beleuchtete Treppenhaus hinaufstieg, teilten seine Gedanken ihre Vorfreude. Sie waren erfüllt von der Erinnerung an all die Male, die sie diese Treppen heraufgegangen war. Sein Herz klopfte vor Erwartung. Er wußte, daß sie in ihrem blauen Nachthemd auf der Bettcouch lag. Er wußte, daß der Cocktailmixer mit Martini gefüllt war, wie nur er ihn zubereiten konnte, trocken und kalt.
Als er den Fuß auf die letzte Treppenstufe setzte, wußte er, daß sie sich lässig von der Couch erhob und auf die Tür zuging; ihre Hand lag auf dem Griff. Die Tür ging auf. Sie stand vor ihm.
Wie ein Schlafwandler ging er an ihr vorbei in das Zimmer, er spürte ihr Parfüm. Sie schloß die Tür, während er sich, wie betäubt, im Zimmer umsah.
Dann kehrten die Gefühle zurück, und er bemerkte, daß der Raum wunderschön war. Die Bilder waren harmonisch geordnet. Trotz des vielen Schmutzes waren die Möbel viel besser als seine eigenen teuren Stücke. Hier war alles reicher und harmonischer, als er es je woanders gesehen hatte.
Und das Mädchen mit dem dunklen Haar, das bis über die Schultern fiel!
Du bist wunderschön. Sie war schön, und sein Gedanke ließ sie vor Freude erröten. Er spürte ihre Bewunderung für sein schmales, weißes Gesicht mit dem grauen Schnurrbart, für seine starke Willenskraft, für seinen schlanken, muskulösen Körper. Und er wußte, daß die Schönheit des Raumes durch sie beide vervollständigt wurde; sie standen hochaufgerichtet und berührten sich nicht. Selbst das Kruzifix in der Ecke fügte sich in das harmonische Ganze ein.
Und sie, er streckte die Hand zu einer einfachen Berührung aus … lehnte sich gegen ihre Brust, gegen ihre, seine Brust. Ihr Mund auf ihrem Mund, ihr, seine Münder gegen …
Dann schien die ganze Welt aus den Fugen zu brechen, und es gab nichts als ihre Leidenschaft, seine Leidenschaft, ihre, seine –
Bis sich seine Vernunft dagegen auflehnte, und er es nicht mehr ertragen konnte. Das Gefühl, der Berührung seines, ihres Mundes nachzugeben, dieses irrationale Durcheinander von Geben und Nehmen auf dem Höhepunkt der Gefühle, dies Bedürfnis, dem er nicht nachgeben konnte noch wollte. Ein Teil seiner selbst machte sich frei von der Einheit, es wuchs, bis es das Chaos von Gefühlen beherrschte und ihn mit kaltem Abscheu erfüllte. Mit eiskalter Klarheit wußte er, was er zu tun hatte, als hätte er es geplant. Er vertiefte sich in ihren Erinnerungen und brachte ein Bild der Reinheit der Jungfrau hervor, die ganz in Blau gekleidet war und in ihrer Armbeuge das heilige Kind trug. Er verstärkte das Bild zu fast durchsichtiger Reinheit des Geistes. Dann löschte er es bis auf das blaue Gewand aus, ein Gewand wie ihr Nachthemd, und ließ darin das Mädchen erstehen, mit vor Lust geöffnetem Mund. Dann wieder formte er das Bild der Jungfrau, die sich langsam, mit nach oben gerichtetem Blick, bewegte.
Die Augen des Mädchens waren starr auf das Kruzifix in der Ecke des Zimmers gerichtet, und seine Gedanken ließen vor ihren Augen einen lebendigen Mann am Kreuz erstehen, der sich vor Schmerz und Qual wand.
Schnell jetzt! Er harte völlige Kontrolle über ihre und seine Gedanken. Leidenschaft – deine Leidenschaft. Er löschte die Christusfigur aus und überfiel sie mit dem zitternden Körper Arthurs, und dann löste er dieses Bild in sein eigenes Gesicht auf. Er wischte auch dies wieder fort und verwandelte es in das des leidenden Christus. Eine weibliche Gestalt mit geöffnetem Mund. Mein Mund ist schrecklich. Nein! Nein! Ich treibe die spitzen Nägel in diese süßen Hände!
Das Mädchen schrie auf und riß sich mit weit aufgerissenen Augen von Quincy Summerfield los.
Das bist du. Du weißt, daß du so bist.
Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, zitterte am ganzen Körper und versuchte, von ihm loszukommen. Sie versuchte, von seiner, ihrer Erkenntnis ihrer Nacktheit loszukommen, während sie, er sich vor Abscheu schüttelte.
Es war genug. Quincy betrachtete sie in Gedanken. Er hatte sich von ihr gelöst.
Jetzt war es nur noch sie allein, die sich abwandte und davonlief, in deren Kopf sich eine Entscheid düng bildete. Sie traf diese Entscheidung ganz allein, und Quincy frohlockte, denn er wußte, daß sie sich selbst verdammte.
Sie lief zu den großen Fenstern, die auf ein kleines Sonnendach führten. Sie riß sie auf und hielt nicht eine Sekunde inne, bevor sie sich über das Geländer in die Tiefe stürzte …
Seine Knie stießen gegen das Geländer, und er zuckte unter dem plötzlichen Schmerz zusammen. Er schloß die Augen und biß die Zähne aufeinander; er wartete auf einen weit größeren Schmerz. Gebäude rasten an ihren Augen vorbei. Im Magen verbreitete sich ein leeres, sinkendes Gefühl. Von der Straße her leuchtete ein Gesicht auf. Die Straße kam näher, näher, näher. O Jes – Das Aufklatschen … roter Schmerz … Bersten!
Und dann gab es nur noch eine gewaltige Dunkelheit, eine langsame Verringerung unbewußten Gefühls. Dann war sie nicht mehr. Quincy Summerfield erhob sich schwerfällig und taumelte zu dem Fenster. Er spähte durch die Vorhänge und sah den steifen, verrenkten Körper, auf den Leute zueilten.
Sie konnte nicht einmal auf eine saubere Art sterben! dachte er.
Er verließ die Wohnung, ohne gesehen zu werden. Er benutzte die Hintertreppe, und niemand begegnete ihm. Wenige Häuserblocks von ihrem Appartement entfernt rief er ein Taxi und ließ sich in ein Hotel fahren. Er war sicher.
Welch ein gesegneter Frieden! Er war sie los – für immer. Nichts war von ihrer verwirrenden, unordentlichen Gegenwart geblieben, als graue Leere, so etwa, wie ein Mann sie verspürt, wenn er einen Arm verloren hat. Aber etwas war doch geblieben: Eine Art grauer, gespensterhafter Makel. Aber auch das würde vorübergehen; in dieser Nacht würde er schlafen, zum ersten Male seit Tagen richtig schlafen.
Er sehnte sich an diesem Abend nicht einmal nach seiner Frau. Er wollte nichts als allein sein – und schlafen. Er war kaum fünf Minuten in dem Hotelzimmer, als er sich schon auf das Bett warf und einschlummerte.
Es war kein tiefer Schlaf, mehr ein Träumen. Er machte sich keine Gedanken darüber, was er getan hatte.
Das war vernünftig und richtig gewesen. Es war allein ihre Schuld gewesen, ihre Schwäche. Aber noch immer verließ ihn nicht dieses graue Gefühl ihrer Gegenwart.
Dies und das Bewußtsein, daß er die Hälfte seines Lebens verloren hatte.
Verloren?
Nein.
Das Gefühl ihrer Gegenwart wurde deutlicher und schien Wirklichkeit zu werden. Er war hellwach …
Hatte er wieder einen Alptraum?
Nein – sie war hier. Sie beachtete ihn nicht. Es war furchtbar.
Sie konzentrierte sich auf ein entferntes Licht, ein Licht, das immer größer wurde, strahlend, mit einer Intensität, die sie nie zuvor gekannt hatte. Das Gefühl der Sehnsucht verwandelte sich in Schönheit, die kaum zu ertragen war.
Seine Gedanken waren plötzlich erfüllt von einer Ordnung, einem Reichtum und einer Fülle von verschiedenen Erlebnissen, an deren Existenz er nie zu glauben gewagt hätte.
Das strahlende Licht kam näher. Und dann kam aus der Klarheit des Lichtes ein unerträgliches Leid; sie entfernte sich von ihm. Entfernte sich von dem Licht – und er fühlte, wie sie wie ein Kind schluchzte, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Immer weiter weg von dem Licht …
Quincy Summerfield wachte auf. Er richtete sich im Bett auf und schrie. Es war der Schrei eines Mannes in höchster Qual.
Denn er konnte sich dem wilden Chaos ihrer ewigen Pein nicht entziehen.