C M.
Kornbluth
Die tragische
Niederschrift
eines Verschollenen
Man hält mich für verrückt, aber das bin ich nicht – verdammt nochmal, schließlich habe ich 2 Millionen Worte Fiktion geschrieben und auch verkauft, und ich weiß genau, daß man eine Geschichte nicht so anfängt, aber dies ist keine Geschichte, und man hält mich für verrückt – katatonische Schizophrenie mit gemeingefährlichen Anfällen –, aber das stimmt nicht.
Dies ist die erste der Corwinschriften. Wie alle anderen ist sie auf Riz-La-Zigarettenpapier geschrieben, und zwar mit einem Kugelschreiber. Darüber steht, wie bei allen anderen: Dringend. Bitte senden an C. M. Kornbluth, Wantagh, N. Y. Belohnung! Ich sollte hinzufügen, daß dies typisch ist für Corwins Großzügigkeit in bezug auf Zeit und Geld seiner Freunde, obgleich diese seine Einstellung wenigstens dieses Mal gerechtfertigt erscheint. Als sein langjähriger Freund und vor allem als sein literarischer Agent war ich die geeignete Person, an die man sich wem den konnte.
CMK.
Ich muß dich davon überzeugen, Cyril, daß ich völlig normal und das Opfer einer gewaltigen Verschwörung bin – genauso wie du und alle anderen. Eine gewagte Behauptung, aber ich werde sie erklären, indem ich mit größter Sorgfalt alle Vorfälle aufzeichnen werde, die zu der augenblicklichen Situation geführt haben.
Hier endet die erste Schrift. Der Genauigkeit halber sollte ich hier festhalten, daß sie mir durch einen Mr. L. Wilmot Shaw übermittelt wurde, der sie in einer Glückspastete fand, die er im Great China Republic Restaurant in San Franzisko als Nachspeise bestellt hatte. Mr. Shaw hielt es für »einen Publicity-Gag«, schickte mir die Schrift aber trotzdem zu und erhielt meinen Dank postwendend sowie einen Scheck über einen Dollar. Mir war gar nicht aufgefallen, daß Corwin und seine Frau von ihrem Haus in Painted Post verschwunden waren; mir war nur bewußt, daß ich seit Wochen nichts von ihm gehört hatte. Wir besuchten uns nur in unregelmäßigen Abständen. Um offen zu sein: es war leichter, per Post mit ihm auszukommen als von Angesicht zu Angesicht. Um diese Aufzeichnungen nicht zu sehr in die Länge zu ziehen und um Langeweile zu vermeiden, werde ich im großen und ganzen nicht die Herkunft jeder einzelnen Schrift extra erwähnen, außer wenn sie bemerkenswert ist, und nur die Länge anführen. Die erste Schrift ist typisch – ein wenig mehr als hundert Worte. Natürlich habe ich eine Akte aller Korrespondenz angelegt, die mit diesen Schriften zu tun hat, und ich bin darauf scharf, sie den zuständigen Behörden vorzulegen. Ich hoffe, daß die Veröffentlichung dieser Erklärung sie aus ihrer Apathie hervorlockt, mit der sie bisher allen meinen Versuchen entgegengetreten sind.
CMK.
Am Sonntag, dem 13. Mai X956, ungefähr gegen 12 Uhr 30 mittags, erfuhr ich die Antwort. Ich war ziemlich steif und hatte Muskelschmerzen, da meine Frau und ich den ganzen Samstag junge Bäume gepflanzt hatten. Ich grabe gern, aber durch den ungewöhnlich langen Winter war ich ziemlich träge geworden. Vom schöpferischen Standpunkt her fühlte ich mich wunderbar. Seit Monaten hatte ich nichts hervorgebracht, aber mit dem Frühling kehrten auch in mich neue Lebenssäfte zurück. Ideen für neue Stories fielen mir nur so zu; Szenen und Dialogstellen quollen aus meinem Gehirn förmlich hervor; ich brauchte nichts mehr zu tun, als sie auf das Papier fließen zu lassen.
Als die Antwort durch meinen Kopf zuckte, hielt ich sie zuerst für eine Idee, eine Story; für eine sehr gute Story. Ich wollte gerade die Treppe hinuntergehen und sie mit meiner Frau besprechen, da hörte ich die Nähmaschine surren, und mir fiel ein, daß sie darüber geklagt hatte, eine Menge Wäsche flicken zu müssen. Deshalb legte ich die Füße gemütlich auf den Tisch und starrte ausdruckslos durch die Fenster und hing meiner Idee nach.
Wie wär's, dachte ich, wenn man die Idee benutzte, um damit ein wenig die örtliche Situation durcheinanderzubringen, den Fall von Mrs. Clonford zum Beispiel? Mrs. C. ist unsere Nachbarin. Ohne es eigentlich selbst zu wollen, unterdrückt sie ihre ganze Familie. Mr. C. ist ein pensionierter Bahnschaffner mit einer guten Altersversorgung, aber seine Frau besteht darauf, daß er sich wie ein Bauer aufführt, bei Wind und Wetter hinausgeht, und daher kriegt er jedes Jahr eine Grippe, die sie, Mrs. C, mit vielen Pillen und Antibiotika bekämpft. Sein größter Wunsch ist es, die Farm zu verkaufen und sich mit seiner Frau in einem kleinen Appartement in der Stadt niederzulassen. Ihr einziger Wunsch hingegen ist es, sich mit ihren Kühen, Pferden und dem kärglichen Acker zu beschäftigen.
Ich gelangte zu der Überzeugung, daß sich die Situation automatisch von selbst lösen würde, wenn man die Geschichte mit einem Kommentar, der auf die Antwort gestützt war, veröffentlichte. Sie würden ihr Appartement bekommen, die Farm verkaufen, und alle würden glücklich sein, einschließlich Mrs. C. Es würde interessant sein, so dachte ich träge, dies niederzuschreiben, und dann dachte ich, daß es vielleicht noch interessanter wäre, die Geschichte zu probieren – und dann sprang ich mit einem Ruck auf.
Es würde funktionieren. Die Antwort würde funktionieren.
Hastig lief ich eine Liste weiterer Probleme durch, die vom notorischen Säufer unserer Stadt bis zum Wettrüsten mit ferngesteuerten Geschossen führte. Die Antwort klappte. Jedesmal.
Ich war ganz sicher, daß ich paranoid geworden war, denn ich hatte schon viele Dinge dieser Art in der Science Fiction gesehen. Jedes Kind kann ein Dutzend Autoren, Herausgeber und Fans benennen, die plötzlich das Licht gesehen haben und darauf versessen waren, die menschliche Rasse aufwärts zu führen, heraus aus dem alten Trott. Natürlich sah die Antwort logisch und unangreifbar aus, aber zweifellos glaubte der arme Charlie McGandress das gleiche von seinem Projekt, die Menschheit durch das Science-Fiction-Fandom zu vereinigen.
Hier habe ich einige kurz skizzierte Fälle von ScienceFiction-Persönlichkeiten weggelassen, die bis jetzt noch nicht naher untersucht sind. Der Grund dafür wird jedem, der sich schon einmal mit den Paragraphen betreffs Verleumdung befaßt hat, klar sein. Es möge genügen, hier nur zu sagen, daß Corwin behauptet, daß Science Fiction labile Typen anzieht und manchmal auf ganz schmähliche Weise die Grundlagen der Wirklichkeit unterminiert. CMK.
Aber ich konnte meine Idee nicht einfach ad acta legen, ohne sie getestet zu haben. Ich wog die Worte sorgsam ab, ergriff den Telefonhörer und rief Jim Howlett, einen Geschäftsmann unserer Stadt, an. Er war daheim. »Jim, hier ist Corwin«, sagte ich. »Ich habe eine Idee – hoppla! Der Samowar kocht über. Ruf mich in einer Minute zurück, ja?« Ich hängte ein.
Er rief mich nach einer Minute an; ich wartete unser verabredetes Klingelzeichen ab – dreimal lang, zweimal kurz, einmal lang – bevor ich den Hörer abhob. »Was war das mit deinem Samowar?« fragte er mich erstaunt.
»Ach, nur ein kleiner Spaß«, antwortete ich. »Hör zu, Jim, warum versuchst du zur Abwechslung nicht einmal eine Kurzgeschichte? Leg den Roman für eine Weile beiseite.« Er vernachlässigt sein Geschäft und schreibt nämlich gerade mit großer Hoffnung einen historischen Schinken über die Sullivan-Kampagne von 1779, an der unsere Stadt sich während des Revolutionskrieges beteiligt hatte; ich berate ihn dabei ein wenig.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte er. Während er sprach, veränderte sich der Ton seiner Stimme dreimal ein wenig. Das bedeutete, daß wir etwa eine durchschnittliche Anzahl von Mithörern hatten, die unser Gespräch belauschten. »Worüber sollte ich denn schreiben?«
»Hör mal, du kennst doch die Geschichte von unseren Nachbarn, Mr. und Mrs. Clonford«, begann ich. Ich erklärte ihm das Problem genau und gab meinen Kommentar dazu, der sich auf die Antwort stützte. Ich hörte deutlich, wie einige der Mithörer die Luft anhielten. Als ich geendet hatte, sagte Jim: »Ich weiß nicht recht, ob das für mich das Richtige ist, Cecil. Natürlich war es nett, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast, aber …«
In diesem Augenblick betrat ein Kunde seinen Laden, und er mußte Schluß machen.
Ich verbrachte erwartungsvolle vierundzwanzig Stunden. Am Montag abend fuhr die Zeitungsfrau an unserem Haus vorbei und warf die zusammengerollte Ausgabe der Pott Hill Evening Times in die Röhre neben unserem Briefkasten. Ich raste hin, um mir die Zeitung zu holen, riß sie auf und las auf der siebenten Seite:
VERKAUF EINER FARM
Aus Gesundheitsgründen und wegen hohen Alters verkaufen Mr. und Mrs. Ronald Clonford ihre gesamte Farm, mit inbegriffen sind alle Maschinen, Einrichtungsgegenstände und das lebende Inventar. Versteigerung am Samstag, dem 19. Mai, 12.30 Uhr. Bei jedem Wetter; Zahlungsbedingungen: Bar am Tage des Verkaufs. George Pfennig, Auktionator.
Dies ist eins der wenigen Dinge in den Corwin-Schriften, das auf seine Richtigkeit geprüft werden kann. Ich habe in der betreffenden Zeitung nachgelesen und gefunden, daß die Anzeige, wie oben angeführt, veröffentlicht worden ist. Weiter habe ich Mrs. Clonford in ihrer Stadtwohnung interviewt. Sie sagte mir, daß sie der Farmarbeit plötzlich müde geworden wäre. »Habe meine Pferde nicht gerne aufgegeben. Aber die Leute sagten, daß es für Ronnie ein zu schweres Leben war, und ich glaube, sie hatten recht.«
CMK
Ein zufälliges Zusammentreffen? Vielleicht. Ich ging mit der Zeitung nach oben und legte die Füße wieder auf den Tisch. Ich konnte noch hundert weitere Versuche anstellen, wenn ich wollte, aber warum sollte ich meine Zeit vergeuden?
Ich könnte die Antwort leicht in etwa zweihundert Worten auf ein Stück Papier tippen, in die Stadt fahren und es am Gemeindehaus an das Anschlagbrett kleben. Das würde eine Lawine auslösen!
Natürlich tat ich das nicht – aus dem gleichen Grunde, aus dem ich die zweihundert Worte der Antwort bis jetzt noch nicht auf dies Zigarettenpapier geschrieben habe. Es ist ziemlich furchtbar, nicht wahr, daß ich es noch nicht getan habe, daß ein einfacher, durchführbarer Plan, der gesamten Menschheit Frieden, Fortschritt und Gleichheit der Möglichkeiten zu gewähren, verlorengehen kann, wenn, sagen wir, innerhalb der nächsten Minuten ein großer Meteorit auf uns niedergeht. Aber – ich bin ein Schriftsteller. In uns steckt eine gewisse Art von intellektuellem Sadismus. Wir wollen den Leser beherrschen wie ein Matador den Stier; wir lieben es, zu spotten und zu mystifizieren, um zuletzt zu zeigen, was für große Seelen wir sind, indem wir großzügigerweise die Fensterläden aufmachen und die Sonne hereinlassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Lesen Sie weiter. Sie werden an geeigneter Stelle auf die Antwort stoßen.
An dieser Stelle möchte ich mich inbrünstig von der Anschauung, die Corwin unserem Beruf gegen’ über aufbringt, distanzieren. Er hatte – oder vielmehr hat, was ich sehr hoffe – etwas Exzentrisches an sich, und ich betrachte es als unverzeihlich. daß er uns mit all seinem persönlichen Kram behelligt. Ich könnte beispielsweise hervorheben, daß er sich einmal in einer Handschrift aus dem sechzehnten Jahrhundert übte, die dem modernen Leser völlig fremd ist. Der einzig ersichtliche Grund dafür, wie für so viele seiner Gepflogenheit ten, schien zu sein, so viele Leute wie möglich zu verärgern.
CMK
Ja – ich bin ein Schriftsteller. Ein Matador erscheint nicht mit einem Trommelrevolver in der Arena, genausowenig wie ein Schriftsteller die Dinge auf die einfache, direkte Art erledigt. Bei ihm müssen sich die Leute erst ein wenig drehen und winden. Deshalb rief ich Fred Greenwald an. Fred hatte mich schon seit einiger Zeit zu überreden versucht, auf einem der Treffen des Rotary Klubs zu sprechen, aber ich hatte immer gezögert, ihm ein festes Datum zu nennen. Für solche Gelegenheiten habe ich eine kleine Rede parat: »Das Geschäft, ein Schriftsteller zu sein« – sie enthält alles über das archaische System der Tantiemenzahlung, die Schwierigkeit, Geschäftsunkosten zu belegen, das Margaret Mitchell-Steuergesetz und wie dringend es einer Erneuerung bedarf, was Copyright ist und was nicht, und was man sonst noch ganz allgemein über Generäle und Politiker zu sagen hat, die einen mit ihren ewigen Memoiren langweilen. Ich reiche ein paar Korrekturfahnen herum, und gewöhnlich ernte ich Gelächter, wenn ich einen Buchvertrag von Doubleday hochhalte, um ihnen anschaulich zu zeigen, was für eine Länge so was hat, und dann falte ich ihn auseinander, damit sie sehen können, daß noch zweimal soviel darauf steht, als sie je gedacht hätten. Ich hatte das schon bei vielen literarischen Klubs so getan, und jetzt wollte Fred mich auch für sein Rotarier-Treffen gewinnen.
Ich rief ihn also an und sagte ihm, daß ich bereit wäre, am folgenden Donnerstag zu sprechen. »Gut«, sagte er. Über eine Entdeckung, die ich über die Philosophie und die Technik der menschlichen Beziehungen zueinander gemacht hätte, teilte ich ihm mit. Er schluckte ein paar Mal kräftig und sagte dann: »Schön, wir sind sehr aufgeschlossen.«
Das muß ich noch etwas kürzen. Ich habe zwar noch mehrere Packen Zigarettenpapier übrig, aber nicht genug, um die wichtigen Pointen niederzuschreiben, wenn ich ihnen gerecht werden will. Deshalb will ich nur sagen, daß die Ankündigung meiner Rede in der Zeitung vom Dienstag stand. (Stimmt. CMK). Am Mittwoch abend wollte ich meine Aufzeichnungen fortführen. Ort der Handlung: Mein Haus. Das Abendessen war gerade vorüber, und meine Frau und ich hatten uns gerade für einen kleinen Spaziergang bereitgemacht.
An dieser Stelle möchte ich eine besondere Bemerkung einfügen, die eine Schwierigkeit betrifft, auf die ich bei der Beschaffung der nächsten vier Schriften stieß. Diese gelangten auf unerklärliche Weise in die Hände eines gewissen literarischen Agenten, der für seine Banditenmethoden bekannt ist. Unter Nichtbeachtung der Tatsache, daß Corwin der Eigentümer der Schriften und somit auch ihrer literarischen Rechte ist und daß ich, als der Adressat, alle anderen Rechte besitze, brachte er es fertig, sie an verschiedene Magazine zu verkaufen, und zwar als »seltsame Fragmente von Corwins Tisch«. Wie die meisten Menschen, so verabscheue auch ich Gerichtsverhandlungen und Prozesse; deshalb existiert die Agentur dieses Banditen auch noch. Ich kam seinem unerhörtten Preis von fünf Cents pro Wort »plus Postgebühren (!)« entgegen. Erwähnen sollte ich noch, daß ich nicht gehört habe, daß dieser Gentleman je versucht hätte, Corwin oder seine Erben ausfindig zu machen, um die Erlöse des Verkaufs, abzüglich Kommission, zu übermitteln.
CMK
Wir wollten gerade gehen, als ein Auto unsere Straße entlangkam und direkt vor unserem Gartentor hielt.
»Sieh nach, was sie wollen, und schick sie weg«, sagte meine Frau. Sie spähte durch das Küchenfenster zu dem Auto, blinzelte, rieb sich die Augen und starrte noch einmal hinaus. »Es sieht aus wie – nein! Das kann doch nicht sein«, sagte sie unsicher. Ich ging zu dem Wagen.
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte ich die beiden Männer auf dem Vordersitz. Dann erkannte ich sie. Der eine war ungefähr so alt wie ich, ein drahtiger Bursche in einem offenen Sporthemd. Der andere Mann war plump, angegraut und sehr gesetzt, aber fröhlich. Sie waren unverkennbar; von Hunderten von Buchumschlägen hatten sie mich schon angeblickt – der eine mit Stirnrunzeln, der andere lächelnd.
Es war fast unglaublich, daß sie einander kannten, aber immerhin saßen sie in einem Wagen.
Ich grüßte sie mit Namen und sagte: »Das ist aber sehr seltsam. Zufällig bin ich nämlich auch Schriftsteller. Zwar habe ich nie mit Ihnen beiden die Bestsellerliste geteilt, aber …«
Der plumpe, gesetzte Mann machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie denken zu negativ«, schalt er mit erhobenem Zeigefinger. »Denken Sie doch daran, was Sie erreicht haben. Sie besitzen dieses wunderschöne Haus, dessen Wert gerade um zweitausend Dollar gestiegen ist, und dann Ihre liebenswerte Gattin; Tausenden spenden Sie durch Ihre Romane unschuldige Freuden; durch Ihre Hilfe unterstützen Sie die guten Kaufleute am Ort. Und nicht zuletzt haben Sie im letzten Krieg für Ihr Land gekämpft, und Sie helfen ihm weiter durch Ihre Steuerzahlungen.«
Mit krächzender Stimme fügte der Mann im Sporthemd hinzu: »Und selbst wenn Sie nicht genug Kleingeld hatten, um Ihre Steuerschulden bis zum 15. April zu begleichen und jetzt sechs Prozent Zinsen im Monat zahlen müssen – wenn Sie sie nur überhaupt begleichen …«
Bekümmert unterbrach ihn der plumpe Mann: »Aber, ich bitte dich, Michael – du denkst auch nicht positiv. Dies ist weder die Zeit, noch der Ort …«
»Was soll das alles bedeuten?« fragte ich. Denn ich hatte nicht einmal meiner Frau erzählt, daß ich mit der Einkommensteuer für das Jahr 1955 ins Hintertreffen geraten war.
»Lassen Sie uns ins Haus gehen«, sagte der Mann im Sporthemd. Er stieg aus dem Wagen, stieß mein Gartentor auf und schritt gelassen den Weg zur Küchentür entlang. Der andere folgte ihm, wobei er voller Wohlgefallen die von Rosenduft erfüllte Luft unseres Gartens einsog, und ich folgte ihnen mit etwas weichen Knien nach.
Als wir eintraten, sagte meine Frau: »Mein Gott. Sie sind es wirklich.«
Der Mann im Sporthemd rief: »Tag, Baby«, und starrte sie an, als wolle er sie mit seinen Blicken entkleiden. Der plumpe Mann sagte: »Meine Liebe, darf ich Ihnen zu Ihrem ausgezeichneten Rosengarten ein Kompliment aussprechen. Höchst ungewöhnlich für diese Höhe.«
»Danke«, antwortete sie schwach und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen. »Aber das ist ganz einfach, wenn die Nachbarn Pferde besitzen.«
»Ha!« schnaubte der Mann im Sporthemd. »Sehr vernünftig, Baby, Sie züchten Rosen, wie ich Bücher schreibe. Man muß den Leuten genug …«
»Michael!« rief der plumpe Mann. »Würdest du mir bitte sagen, was das alles zu bedeuten hat?« sagte meine Frau zu mir. »Ich habe nicht gewußt, daß du Dr. …«
»Habe keine Ahnung«, antwortete ich hilflos. »Sie scheinen mit mir sprechen zu wollen.«
»Wir wollen uns besser in Ihr Allerheiligstes zurückziehen«, sagte der plumpe Mann schelmisch, und wir gingen hinauf. Der Mann im Sporthemd ließ sich auf die Couch fallen, der plumpe Bursche flegelte sich in den Clubsessel, und ich ließ mich auf dem Büroschemel vor der Schreibmaschine nieder. »Möchte jemand was trinken?« fragte ich, da mich selbst nach einem scharfen Schluck dürstete. »Sherry, Brandy, Whisky, Slibowitz?«
»Ich trinke nie Alkohol«, grunzte der Mann im Sporthemd.
»Ich hätte gern ein Schlückchen Brandy«, sagte der andere. Wir tranken jeder einen Brandy, und dann kam er zu dem Geschäftlichen. »Ich nehme an, Sie haben die diagonale Beziehung entdeckt?«
Ich dachte über die Antwort nach und entschied dann, daß die diagonale Beziehung ein sehr guter Name dafür wäre. »Ja«, antwortete ich. »Schätze, das habe ich. Sie auch?«
»Jawohl. Und Michael auch. Und außer uns noch eintausendsiebenhundertvierundzwanzig andere Schriftsteller. Wenn Sie wissen möchten, wer sie sind, dann wählen Sie die eintausendsiebenhundertvierundzwanzig Männer mit dem besten Einkommen aus den zehntausend freien Schriftstellern im Land aus, und Sie haben die richtigen. Die diagonale Beziehung wird durchschnittlich dreimal im Jahr von jungen, aufstrebenden Schriftstellern entdeckt.«
»Schriftsteller!« rief ich. »Guter Gott, warum ausgerechnet Schriftsteller? Warum nicht Ökonomen, Psychologen, Mathematiker – richtige Denker?«
»Das Gehirn eines Schriftstellers ist etwas Besonderes, Corwin«,sagte er. »Wie sind Sie zu Ihrer Entdeckung der diagonalen Beziehung gekommen?«
Ich überlegte kurz. »Ich arbeite gerade an einer Bürgerkriegssache über Burnsides Bombe«, sagte ich. »Dabei wurde mir klar, daß General Grant frische Truppen hätte einsetzen können, es aber nicht tat, weil Halleck ihn durch seine ständigen telegrafischen Bevormundungen verrückt machte. Das ist ein besonderer Fall der Antwort – wie ich es nenne. Dann erhielt ich einige Daten über mittelalterliche Einstellungen in bezug auf Astrologie aus einem Buch des alten China, in dem ich gerade lese. Ein anderer Spezialfall. Und dann gibt es auch noch diesen Witz, den die Mönche am Ende eines langen Abschreibejobs zu machen pflegten. Liddell Harts Theorie der Strategie macht ungefähr die Hälfte des allgemeinen militärischen Aspekts der Antwort aus. Der kaufmännische Teil wird ganz deutlich in einem Katalog angezeigt, den ich in einem Laden in Chicago erstand und der sich darauf spezialisiert, seltsame Kleider an Neger zu verkaufen. Sie alle führen zu dem allgemeinen Ausdruck, das ist alles.«
Er nickte. »Viele, sehr viele Kombinationen führen zu der diagonalen Beziehung«, sagte er. »Aber nur ein Schriftsteller stößt auf genügend Punkte, setzt sich genügend anscheinend unzusammenhängenden Tatsachen aus. Nur ein Schriftsteller verfügt über genügend Kommunikationsmittel, durch die er die Lücken zwischen Astrologie und – beispielsweise Jazz zu füllen vermag. Wir alle schreiben in verschiedenen Mundarten« – er lächelte dem Mann im Sporthemd zu –, »aber wir sind doch alle Schriftsteller. Mit weitem Horizont, wißbegierig für die verschiedensten Dinge, ausgestattet mit übermächtigen Kräften der Assoziation, die wir ständig anwenden.«
»Warum«, fragte ich logischerweise, »warum, um alles in der Welt, haben Sie dann die diagonale Beziehung noch nie veröffentlicht? Sind Sie hier, um mich davon abzuhalten, darüber zu schreiben?«
»Wir sind eine Interessengruppe«, sagte der plumpe Mann entschuldigend. »Wir haben ein althergekommenes Interesse an Dingen, wie sie sind. Bedenken Sie doch einmal, was die Bekanntmachung der diagonalen Beziehung den Schriftstellern antun würde, Corwin.«
Ich dachte darüber nach. »Ich verstehe«, fügte ich nach ein paar Minuten hinzu. »Ja«, antwortete er. »Wenn die diagonale Beziehung veröffentlicht würde, so würde sie zu einer annähernden Gleichheit eines Einkommens für alle führen, und nur die, die wirklich hart arbeiten, würden darüber hinauswachsen. Dann würde nur noch das Schreiben als solches belohnt werden.«
»Sieht ganz so aus«, sagte ich. »Copyright auf ein Jahr, und schließlich …«
Hier kommt die erste Lücke in den Corwin-Schriften vor. Ich befürchte, daß drei oder vier fehlen. Die vorhergehenden und folgenden Schriften stammen aus einer großen Packung Glückspasteten, die ich in einem Restaurant in New York-City erstand, während ich meinen Untersuchungen nachging. Zweifellos wird sich der Leser wundern, warum ich nicht in der Lage war, die Quelle der Glückspasteten selbst zu erforschen, sondern gezwungen war, sie von einem Mittelsmann zu kaufen. Anscheinend ist der Grund ein höchst phantastischer – der nämlich, daß ich zufällig ein weißes Hemd, dunklen Schlips und einen dunkelblauen Zweireiher trug, als ich dem Eigentümer des Restaurants meine Fragen stellte. Zu spät erfuhr ich, daß dies die übliche Kleidung eines FBI-Agenten ist und daß ich sofort als solcher betrachtet wurde. »Ihr G-Männer«, sagte Mr. Hip, der Eigentümer, zu mir. »Sie können in meinen Büchern nachsehen. Führe sehr hübsche Bücher, alle auf chinesisch.« Und danach antwortete er mir auch nur noch auf chinesisch. Ich habe keine Ahnung, wie er es zuwege brachte, aber anscheinend wußte innerhalb weniger Tage jeder chinesische Händler in den USA und Kanada, daß ein neuer Geheimagent namens Kornbluth in ihren Dingen herumzuschnüffeln versuchte. Als letzte Rettung suchte ich das New Yorker FBI-Büro auf, um etwas Ähnliches wie eine Nicht-Identifikationskarte zu erhalten. Dort versicherte mir ein Mr. Gershon O’Brien, der Spezialist für chinesische Belange, daß mein Unterfangen hoffnungslos sei, da das Motto von Mr. Hip und seinen Kollegen unveränderlich »Sicherheit vor allem« lautete. Und als ich das Büro verließ, begrüßte mich ein Chinese mit höflichem Lächeln. Es war Mr. Hips Buchhalter.
CMK.
»Deshalb, verstehen Sie«, fuhr er fort, »beobachten wir die wirklichen Schriftsteller durch private Detektivagenturen, die uns sofort benachrichtigen, sobald etwas Derartiges in der Zeitung, im Radio oder sonstwo auftaucht. Wir Schriftsteller sind uns alle gleich. Wir haben Sie seit drei Jahren beobachtet, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe ein paar Dollar in Wetten auf Sie verloren; meiner Meinung nach haben Sie sich um ein Jahr verspätet.«
»Was ist Ihr Vorschlag?« fragte ich benommen. Er zuckte die Achseln. »Sie werden Bestseller schreiben. Wir rezensieren Ihre Bücher, und Sie rezensieren die unseren. Wir sagen unseren Verlegern: ›Corwin ist gut, fördern Sie ihn. Werben Sie für ihn!‹ Und er wird es tun, denn wir sind gute Geldanlagen, und er möchte uns nicht verärgern. Wollen Sie Hollywood? Das kann gemacht werden. Viele von uns sind dort. In Kürze werden Sie so reich sein wie wir, und Sie brauchen nichts zu tun, als sich über die diagonale Beziehung auszuschweigen. Nebenbei, Sie haben es doch Ihrer Frau noch nicht erzählt?«
»Ich wollte sie überraschen«, sagte ich. Er lächelte. »Das wollen alle. Oh, diese Schriftsteller! Nun, junger Mann, was haben Sie zu sagen?«
Inzwischen war es dunkel geworden. Von der Couch her ertönte eine heisere Stimme: »Sie haben gehört, was der Doktor über die gesagt hat, die mit uns zusammenarbeiten. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß wir für jene, die es nicht tun, unsere Maßnahmen vorbereitet haben.«
Ich stieß ein Lachen aus.
»Wieder einer von diesen Burschen«, sagte er ausdruckslos.
»Sicherlich ein Grenzfall, Michael?« sagte der plumpe Mann. »Viele sind so.«
Wenn ich gründlich nachgedacht hätte, wäre mir klargeworden, daß ›Grenzfall‹ nicht ›unentschlossen‹ für sie bedeutete; es bedeutete »Gefahr – sofortiges Handeln!«
Sie handelten sofort. Der plumpe Mann, der gleichzeitig sehr kräftig war, schlang die Arme um mich, und der andere näherte sich mir. Ich schrie auf, als ich im Arm den Stich einer Injektionsspritze verspürte. Dann wurde ich steif und wußte nichts mehr.
Meine Frau kam die Treppen heraufgelaufen. »Was geht hier vor?« fragte sie. Ich sah, wie sie auf den Vorhang zulief, hinter dem eine alte Pistole lag. Sie war nicht dumm, aber sie verstanden ihr Geschäft. Ich hörte, wie der plumpe Mann mit sanfter Stimme teilnahmsvoll sagte: »Ich fürchte, Ihr Mann braucht … Hilfe.« Sie wandte sich von dem Vorhang ab, die Augen weit aufgerissen. Er hatte sie an der richtigen Stelle gepackt; wahrscheinlich gibt es nicht eine einzige Frau eines Schriftstellers, die nicht im Innersten den Verdacht hegt, ihr Mann wäre ein potentieller Fall für den Psychiater. »Mein Lieber …«, stammelte sie, während ich betäubt dastand.
Er fuhr fort: »Michael und ich sind vorbeigekommen, weil wir beide die Arbeit Ihres Mannes bewundern; wir waren erstaunt und bestürzt, seine Unterhaltungsweise so … zusammenhanglos zu finden. Meine Liebe, Sie müssen wissen, ich habe in psychotherapeutischen Dingen ziemliche Erfahrung. Haben Sie je – bitte, verzeihen Sie mir meine Offenheit – Zweifel an seiner geistigen Gesundheit gehabt?
»Was ist los, Liebling?« fragte sie mich ängstlich. Ich konnte nur dastehen und sie anstarren. Gott weiß, womit sie mich injiziert haben, aber die Wirkung war, daß mein Geist umnebelt war, daß ich unfähig war, zu handeln, daß sich meine Gedanken im Kreis drehten. Ich war wahnsinnig.
Dieser Vorfall, der anscheinend der letzte plausible Teil von Corwins Geschichte ist, läßt sich durch die heutigen Fortschritte in der Biochemie glaubhaft erklären. Corwin konnte mit lysergischer Säure injiziert sein oder mit Proteinextrakten aus dem Blut von Geisteskranken. Es ist eine Tatsache, daß derartige Injektionen vorübergehende Anzeichen von Geisteskrankheit im Patienten heraufbeschwören. CMK
»Dann ist es jetzt also soweit«, sagte sie wie zu sich selbst. »Zu Weihnachten, als ich den Puter verbrannt hatte, sprach er eine Woche lang nicht mit mir. Schon die Art, wie er mit den Fingern auf den Tisch trommelte, wenn ich etwas sagte! All diese kleinen, verrückten Eigenheiten – zum Beispiel, daß er unbedingt im Waldorf Astoria wohnen muß, wenn er in New York ist, daß aber ich ihm das Haar zu schneiden habe, nur damit er einen Dollar erspart. Ich habe immer gehofft, daß es nur an dem schlechten Wetter lag. Ich hoffte, daß, wenn der Frühling käme …« Sie begann zu schluchzen. Der plumpe Mann streichelte sie wie ein Vater. Ich konnte nur dastehen, starren und warten. Und dann sprang plötzlich Michael auf sie zu und gab ihr auch eine Injektion und …
Hier kommt eine äußerst unangenehme und wichtige Lücke vor. Man kann nur ahnen, daß Corwin und seine Frau in den Wagen geladen wurden, irgendwo hingefahren und getrennt, unter falschen Namen, in verschiedene Anstalten für Geisteskranke eingeliefert wurden. Ein Inspektor eines derartigen staatlichen Instituts schrieb selbst einmal folgende Worte an mich: »… zweifellos gibt es in unserem Staat Orte, die nicht einmal Lizenzen haben, aber wir haben niemals die Anstrengung auf uns genommen, sie zu schließen, und ich kenne auch keinen Paragraphen, der derartige Institutionen für illegal erklärt. Wir sind kein wohlhabender Staat, und ein wenig Sorge um diese Unglücklichen ist besser als gar keine; so ist unsere Anschauung …« CMK
… drei Monate. Ihre Injektionen halten eine Woche vor. Und immer ist jemand da, um mir eine neue zu geben. Sie wissen ja, wie die Helfer in Hospitalen für Geisteskranke sind: Leicht bestechlich. Aber sie täten besser daran, zuverlässigere Typen zu kaufen, denn mein Wärter ist auf eine Sauftour gegangen. Mein Geist lichtete sich heute morgen, und seitdem sitze ich in meinem Zimmer und schreibe. Ich habe auf dem Korridor Zigarettenstummel gesammelt und das Papier zum Schreiben verwendet, den Kugelschreiber habe ich im Büro eingesteckt. Ich denke, das beste ist es, diese Niederschrift in Glückspasteten, die in der Küche angefertigt werden, hinauszuschmuggeln. Beschäftigungstherapie nennt man das. Nun, genug davon. Ich werde die Antwort niederschreiben, in die Bäckerei schleichen, das Zigarettenpapier in die fertigen Formen schmuggeln, Teig darauf rühren und in mein Zimmer zurückkehren. Zweifellos wird mein Wärter inzwischen zurückkommen und mir eine neue Spritze geben. Ich werde mich nicht weigern; ich kann nichts tun als warten.
Die Antwort: Menschen, die eine indogermanische Sprache sprechen, so wie beispielsweise Englisch, haben folgende …
Das ist das Ende der letzten Corwin-Schrift, die ich auftreiben konnte. Es sollte überflüssig sein, die Leser noch einmal extra aufzufordern, sorgfältig alle Glückspasteten zu untersuchen, die ihnen je in die Hände geraten. Die nächste Pastete, die Sie zerteilen, birgt in sich vielleicht das, was mein armer Freund als eine große Erkenntnis für die Menschheit betrachtete, oder vielmehr betrachtet. Vielleicht hat er recht. Seine Geschichte ist zwar ziemlich wild, aber sie ist in sich logisch. Und sie bringt die einzige mir bekannte vernünftige Erklärung dafür, daß gewisse Bücher auf der Bestsellerliste stehen.
CMK