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Mitte September zog ein milder Nachsommer über die nordwestlichen Beskiden.
Gomulka sagte zu Holt: »Eigentlich sollten wir uns nicht beklagen. Weißt du noch, wie wir uns während der Flak-Ausbildung unterhielten, wozu der stumpfsinnige Drill gut ist? Damit man Sehnsucht nach dem Einsatz bekommt.«
Sie saßen zusammen auf der Latrine. Das war hier der einzige Ort, wo man ungestört ein paar Worte wechseln konnte. Gomulka war seit dem Urlaub schweigsam und in sich gekehrt. Sie rauchten. Über das Lager brach die Dämmerung herein.
»Hast recht«, antwortete Holt. Essen stand mir bis oben ran, dachte er, und jetzt wünsch ich mich zurück. Alles, was kommen kann, ist besser als dieses Lager!
Die Gerüchte von einem bevorstehenden Einsatz verstummten nicht. Jeder hatte anfangs mit Unruhe und Angst an diesen Einsatz gedacht, heute gab es wenige, die ihn nicht herbeiwünschten. »Man ist verdammt vergeßlich«, sagte Holt. »Wir werden uns eines Tages hierher zurückwünschen!« – »Bis jetzt haben wir’s jedesmal schlechter erwischt«, meinte Gomulka. Holt sog an der Zigarette. »Gottesknecht war ein märchenhafter Vorgesetzter!« – »Die Flak war überhaupt die reinste Sommerfrische«, erwiderte Gomulka. »Dort haben sie uns wenigstens noch wie Menschen behandelt.« Holt nickte.
Hier trieb ein von morgens fünf bis abends sieben minutiös geregelter und genau vorgeschriebener Tagesablauf die Jungen an die Grenze der Erschöpfung. Holt hielt durch, er war gesund und kräftig, er schickte sich drein, daß Obervormann Schulze ihn zwanzigmal mit Karabiner und Sturmgepäck über die Eskaladierwand jagte und nahm alle Strapazen als Training. Nur Härte, dachte er, wird mich die Anstrengungen des Krieges ertragen lassen! Aber der Ton, der hier herrschte, zermürbte ihn doch, die Schikane, das ausgeklügelte und dabei so einfache System, den Willen jedes einzelnen zu brechen.
Das Lager, auf dem Gelände einer Gärtnerei, war von einer hohen Ziegelmauer umgeben. Dicht beim Tor lag die große Verwaltungsbaracke mit Wachlokal, Arrestzelle und den Wohnungen der Führer. Dahinter dehnte sich der Appellplatz, hundert Meter im Quadrat, mit Schlacke bestreut. Die Gärtnerei, rings um die drei Unterkunftsbaracken, war in ein Übungsgelände mit Aschenbahn, Eskaladierwand und Wassergraben, Feldstellungen, Unterständen, Schützengräben und Drahthindernissen verwandelt worden. Die Arbeitsmänner wurden militärisch ausgebildet. An die Stelle des Spatens war der Karabiner getreten.
Holt gehörte mit Gomulka, Wolzow und Vetter zum Trupp des Obervormanns Schulze und lag mit ihnen zusammen in einer Stube, in einem der großen, unwirtlichen Barackenräume, in dem gewöhnlich fünfzehn Arbeitsmänner mit einem Stubenältesten untergebracht waren. Aus der Batterie und Holts ehemaliger Klasse waren noch ein paar andere Schüler zur gleichen Abteilung eingerückt.
Obervormann Schulze war ein grober, stiernackiger Bursche von zwanzig Jahren. Über dem unbewegten, leeren Gesicht floh die Stirn flach nach hinten. Den wasserhellen Augen fehlte jeder menschliche Ausdruck, sie blickten so tierhaft drein, daß Holt das Gefühl nicht loswurde, er habe es mit einem angezogenen Affen zu tun. Der deprimierende Eindruck wurde verstärkt durch die zu lang herabhängenden, mit Muskelwülsten bepackten Arme und eine reichliche Körperbehaarung, die Holt morgens beim Waschen mit immer neuem Ekel erfüllte. Die Intelligenz des Obervormanns reichte gerade, empfangene Befehle weiterzugeben, mit einer eigenartig gequetschten Stimme, die sich zu heiserem Gebrüll erheben konnte. Er verfügte über ein paar auswendiggelernte Dienstvorschriften, war trotz seiner Beschränktheit nicht ohne Schläue und dabei von rücksichtsloser Ungerechtigkeit. Er verfolgte jeden, der intelligenter war als er selbst, mit Mißtrauen und Haß.
An diesem Abend hackte Schulze auf Vetter herum. Christian Vetter war nicht mehr dick oder schwammig, er war gewachsen und überragte Holt an Körpergröße. In den sechs Wochen hatte er sich mehr als Holt und Gomulka an den rohen Ton gewöhnt und eine Reihe von Angewohnheiten angenommen, deren er sich noch bei der Flak geschämt hätte. Er rülpste, ließ rücksichtslos die Darmwinde fahren und quatschte mit den anderen in gemeinen Worten von Weibergeschichten, was Holt um so abstoßender und alberner fand, als Vetter noch immer vor jedem weiblichen Wesen einen roten Kopf bekam.
Obervormann Schulze bediente sich in seiner Begriffsarmut zweier immer wiederkehrender Schimpfwörter: »Sie Untier« und »Sie nasser Sack«. Die Bezeichnung Untier, fand Holt, paßte am besten auf Schulze selbst, wie er so dastand, nach vorn geneigt, das tote Gesicht vorgeschoben und die langen Arme in die Hüften gestützt. »Sie nasser Sack!« brüllte er mit seiner gequetschten Stimme Vetter an. »Mit Sie wer ich noch fertig, aber jetzt falln Sie um, Sie Untier, das kost zwanzig, vonwegen über mir lustig machen!« Vetter kippte gehorsam nach vorn auf den Fußboden und zählte laut: »Eins … zwei … drei …«
Holt zog sich aus und baute sorgfältig an seinem Kleiderpäckchen. Überflüssig, daß ich mir solche Mühe geb, dachte er dabei. Es ist sowieso ein Lotteriespiel, wen es trifft! Fast alle lagen schon auf den Strohsäcken, nur Wolzow fehlte noch.
Holt kletterte auf sein Bett. Wolzow hatte sich eine Ausnahmestellung erobert. Nach außen hin knallte er vor Schulze die Hacken noch lauter als andere, aber hinter dieser Kulisse der Subordination soufflierte er dem Obervormann beim Dienst und flüsterte ihm alles ein, was nötig war, das Ansehen des Truppführers bei den Vorgesetzten sprungartig zu heben. Wolzow verhalf Schulze zu der Anerkennung, sein Trupp sei der beste der Abteilung. Wolzow organisierte den Dienst, und der Obervormann befahl mit armen Worten, was Wolzow durchdacht hatte. Wolzow war der eigentliche Führer des Trupps. Schulze fügte sich und fuhr gut dabei, in der Illusion, daß er der Vorgesetzte und Wolzow eine Art Adjutant sei. Das einzige Originale an Schulze war das Schimpfen und Brüllen und das Leuteschinden.
Wolzow zeigte sich seit den Urlaubstagen finster und verschlossen, was Holt auf den Drill schob. Wer weiß, ob ich mich nicht auch so verändert hab … Er rauchte, obwohl das Rauchen im Bett verboten war. Aber er konnte sich nicht entschließen, die Zigarette auszudrücken. Vetter und ein blonder, gutmütiger Bauernbursche aus dem Harz hatten Stubendienst und fegten eifrig den geölten Bretterboden. Der Obervormann saß angekleidet an seinem kleinen Tisch neben der Tür. Endlich polterte Wolzow in die Stube. Er hatte im Speiseraum den Dienstplan abgeschrieben und reichte Schulze das Blatt. Der Obervormann rief: »Ich verles den Dienstplan von morgen!« Dann gab er Wolzow das Papier zurück. Wolzow las: »5 Uhr wecken. – 5 Uhr 20 bis 5 Uhr 29 Frühstück. = 5 Uhr 30 raustreten zum Morgenappell. – 6 Uhr bis 8 Uhr 45 Ordnungsdienst. – 9 Uhr bis 10 Uhr 44 Waffenausbildung: Panzerfaust. – 10 Uhr 45 bis 10 Uhr 59 Pause. – 11 Uhr bis 11 Uhr 55 Abteilungsunterricht: Verhütung von Geschlechtskrankheiten römisch zwei. – 12 Uhr bis 12 Uhr 45 Mittagessen, anschließend Mittagsruhe. – 13 Uhr 30 raustreten und Abmarsch zum Scharfschießen, Karabinerübungen III und IV. – 20 Uhr Abendessen. – 21 Uhr Nachtruhe.« Wolzow bückte sich und flüsterte Schulze ein paar Worte zu. Der Obervormann rief: »Karabinerübung IV wird mit Gasmaske geschossen, bis morgen früh Meldung bei mir, wer neue Klarscheiben braucht!« Holt verbarg die Zigarette hinter der hohlen Hand. Käm der Schulze nie drauf! Wenn die Kerle nichts sehn und lauter Fahrkarten schießen, dann wär das Donnerwetter da!
Schulze gab noch den Stubendienst bekannt: »Wenskat und Huber … Daß Sie früh ranhaun, daß Sie gleich Kaffee holn könn!« Er ging von Bett zu Bett, in zehn Minuten war Stubendurchgang. »Gomulka, natürlich Ihr Kleiderpäckchen, saumäßig, raus, Sie Untier, wegen Sie fällt der ganze Trupp auf!« Er warf Gomulkas Uniformstücke durch die Stube. Gomulka sprang schweigend aus dem Bett und las seine Sachen zusammen.
Holt hatte endlich die Zigarette ausgedrückt und überdachte schläfrig den kommenden Tag. Ordnungsdienst, üble Schinderei. Waffenausbildung, Panzerfaust, kann interessant werden. Abteilungsunterricht, wieder mal Geschlechtskrankheiten, die eine Stunde geht vorbei. Dann raus zum Schießstand, ein Elend, diese Marschiererei.
Schulze, an der Tür postiert, meldete: »Stube fünf mit ein Obervormann und vierzehn Mann fertig zur Stubenabnahme!« Unterfeldmeister Böhm, der Zugführer, ging als »Führer vom Dienst« durch die Baracken. Er mochte guter Laune sein, denn sonst pflegte er gleich an der Tür loszubrüllen: »Sauerei! Mistloch!!« Heute trat er schweigend in die Stube. Hoffentlich bleibt er friedlich, dachte Holt. Da ging es schon los: »Füße vorzeigen!« Holt hing die Beine aus dem Bett. Gomulka war vorhin barfuß auf den geölten Fußboden gesprungen und hatte sich danach die Sohlen nur flüchtig an einem Lappen abgewischt. »Dreckschwein, Misthund!« schrie der Unterfeldmeister. »Schulze, sehn Sie sich diese Sau an!« – »Raus, Sie Untier!« schimpfte Schulze. Gomulka zog die Hose über und lief in den Waschraum.
Böhm stand unschlüssig in der Stube. Jetzt überlegt er, ob’s genug ist, dachte Holt und sah den Unterfeldmeister suchend umherblicken … Jetzt geht’s los, jetzt findet er bestimmt was! »Was ist denn das?« sagte Böhm langsam. »Ein Gewehr ohne Mündungsschoner?« Er brüllte: »Wem gehört der Karabiner!?« Holt beugte sich weit aus dem Bett, bis er den Gewehrständer sehen konnte: Gott sei Dank, meins ist es nicht! Jemand sprang aus dem Bett. »Sie wahnsinnige Gestalt! Sie irrsinniges Vieh, Sie wahnsinniges!« Jetzt ist er in Fahrt, jetzt geht es weiter! »Fünfzig Kniebeugen, das Gewehr in Vorhalt, ich bring Ihnen bei, wie man mit seiner Waffe umgeht, Sie hohläugiges Gespenst!« Er hat immer neue Schimpfwörter, dachte Holt. »Und hier: Staub unter dem Gewehrständer! Und dort: eine Kippe im Aschenbecher, Jesusmariaundjosef: eine Kippe!« Jetzt ist der Stubendienst dran, dachte Holt, armer Christian!, und wütend: Die Kippe hat der Schulze ausgedrückt, als Böhm reinkam! »Dreck, überall Dreck!« tobte der Unterfeldmeister. »Die Kerle scheißen wohl in die Ecken, ja, was ist denn das für ein Sauladen, ein Schweinekoben, ein stinkiger Affenstall, verdammt!« Stille. »Alles raus, los, raus, alles!« Holt sprang aus dem Bett, vier, fünf Handgriffe, er war angezogen, er schnürte schon die Schuhe zu. »Schulze! Fünfzehn Minuten Nachtschliff, aber im dritten Grad! Häschen-hüpf will ich sehn!« Und wieder brüllend: »Ihr werdet robben, bis euch der Nabel glänzt!«
Holt lief langsam in die Nacht hinaus, bis Schulzes gequetschte Stimme »Achtung!« rief. Im Gänsemarsch trabten sie in Richtung Hindernisbahn durch die Gärtnerei. Die Aschenbahn entlanggehüpft, mit vorgestreckten Händen, dann auf dem Bauch gekrochen, es war finster, man konnte mogeln. Zurück in die Stube: Handtuch, Seife, ab in den Waschraum. Jetzt wird er wohl Ruhe geben, jetzt ist er befriedigt!
Sie krochen in die Betten. Der Unterfeldmeister stand mitten in dem trüb erleuchteten Raum. »Ich bring euch Ordnung bei!« sagte er beinahe sanft. »Ich lehr euch, was Sauberkeit ist, ihr unerzogenen Ferkel, ich mach noch Menschen aus euch … und wenn ihr drüber krepiert!« Er ging zur Tür. »Gute Nacht!« Holt wickelte sich in eine Decke. Schlafen, nichts als schlafen!
»Aufstehen! Raus!« Holt sprang im Halbschlaf aus dem Bett und wurde erst im Waschraum völlig wach, als er sich kaltes Wasser über Hals und Schultern laufen ließ. Jede Minute, die er jetzt gewann, kam dem Bettenbau zugute. Zurück in die Stube! Es war halb dunkel, Licht durfte nicht gebrannt werden.
Der Bettenbau war das Problem seines derzeitigen Lebens. Ein schlechtgebautes Bett bedeutete ein eingerissenes Bett, und dieses löste das Strafgericht Schulzes aus. Der Obervormann besaß alle Vollmachten, das Bett zum zweiten, dritten oder vierten Male einzureißen, unter Preisgabe der Mittagspause und jeder Minute der kargen Freizeit, immer wieder, bis zum Zapfenstreich und darüber hinaus. Es gab Fälle, da das Bett fünfzehn-, auch zwanzigmal am Tage gebaut worden war, und Schulze stand dabei und riß es zum fünfzehnten oder zwanzigsten Male wieder ein. Ein schlechtgebautes Bett hieß, einen Tag lang ununterbrochen gequält und gepeinigt zu werden.
Es war schwer, das Bett zur Zufriedenheit des »Führers vom Dienst« herzurichten, und unmöglich, wenn der »Führer vom Dienst« Böhm hieß. Die Strohsäcke lagen hier, von allen Seiten sichtbar, auf dem eisernen Bettgestell. Sie sollten geometrisch exakte Quader darstellen, mit waagerechter Oberfläche, senkrechten Längsseiten und rechtwinkligen Kanten. Also wurden Bretter oder Kartonstreifen unter dem Laken verborgen. Man hatte gelernt, trotz eines zerlegenen Strohsacks mit Hilfe von Latten und Hölzern das Laken so zu spannen, daß alles ganz ideal aussah. Aber bei Böhm nützte das nichts. Böhm betrachtete die Betten nicht, er befühlte sie.
Holt kämpfte den üblichen Kampf, er fühlte sich heute schlecht in Form, das machte ihn mutlos. Er drückte und knetete und stapelte die zusammengefalteten Decken millimetergenau übereinander. Währenddessen goß er einen Becher des lauwarmen Kaffees hinunter und kaute lustlos einen mit Kunsthonig bestrichenen Brotkanten. Noch zehn Minuten! Wenskat, ein Schlächtergeselle aus dem Westerwald, fegte geschäftig. Wenn das Bett jetzt keine Gnade fand, dann war es Gottes Wunsch und Wille oder des Schicksals oder vielleicht eben auch nur Böhms, aber das blieb sich gleich. Holt zog die Drillichjacke über. Koppel, Mütze, Fingernägel, Schuhputz, Halsbinde – alles in Ordnung! Er fuhr noch einmal mit der Bürste über die Knobelbecher. Dann verschloß er vorsichtig den Spind. Hier riskierte man nicht nur, wegen »Verleitung zum Kameradendiebstahl« bestraft zu werden, hier riskierte man, daß tatsächlich der Tabak verschwand, und dann war es das beste, zu schweigen, denn hier war nicht der Dieb, sondern der Bestohlene schuld.
Fertig! Holt schaute auf Schulze, Schulze schaute auf Wolzow, Wolzow schaute auf die Armbanduhr. Schulzes Strohsack sah erbärmlich aus! Kunststück, sein Bett war ein Obervormannsbett! »Fertigmachen zum Raustreten!« Jemand hastete zur Tür herein und schimpfte: »Nicht mal in Ruhe kacken kann man hier!«
Durch das geöffnete Fenster schrillte die Trillerpfeife. Es war nun hell. Im Osten hinter den Bergen flammte der Himmel. Aus allen Baracken liefen die Mannschaften zum Appellplatz. Das Antreten klappte nicht schlechter als sonst, doch Böhm schrie: »Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach hinten weg … marsch, marsch!« Hundertachtzig Mann trabten über den Platz, daß die Schlacke stiebte. »Hinlegen!« Auf und Nieder, zehn-, zwölfmal, bis endlich die Pfeife schrillte. »Achtung! … Euch Schweine werd ich muntermachen!« brüllte Böhm. »Nach hinten weg … marsch, marsch!« Erst als Oberfeldmeister Lesser, der Abteilungsführer, aus der Verwaltungsbaracke trat, gab Böhm sich zufrieden.
Das übliche Zeremoniell: Meldung, Flaggenhissung, Ausgabe der Parole … Hinweise fürs Scharfschießen? Wolzow wird schon aufpassen! »Abteilung … rechts um! Im Gleichschritt … marsch!« Die Kolonne zog um den Appellplatz, das gehörte nun schon zum Ordnungsdienst. – »Ein Lied!« Vorn stimmten sie an: »Ich habe Lust …« Holt murmelte: »Ich habe Lust …«, hinten schrie es: »Lied durch!« Das war Lessers Leib- und Magenlied. »Drei … vier!« Das Marschieren war tatsächlich leichter und weniger stumpfsinnig, wenn man sang. Holt dachte: Das geht jetzt anderthalb Stunden so, dann kommt die Schleiferei in den Trupps! – »Ich habe Lust im weiten Feld …« Holt schrie: »Zu streitää-än mit dem Feind!« Schlafen müßte man, dachte er, statt hier im Kreis herumzumarschieren! Schulzes gequetschte Stimme, ohne Rücksicht auf die Melodie, klang an seiner Seite: »… wohl als ein tapfrer Kriegesheld …« Als Hilfsausbilder hat man gar kein schlechtes Leben, überlegte Holt, während er sang: »… der’s treu und ree-eeed-lich meint!«
»Lied aus!« brüllte Böhm. »Nennt ihr das vielleicht singen, ihr kastrierten Ratten? Wartet, ich werd euch die Stimmritzen öffnen! Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach links weg … marsch, marsch! Hinlegen! Auf!« So ging das fünf Minuten. Dann wieder: »Drei … vier! Ich habe Lust …« Holt war noch außer Atem, aber er brüllte, was die Lungen hergaben. Plötzlich dachte er: Böhm ist weg, vielleicht reißt er jetzt mein Bett ein! »Wohlan, die Fahne weht«, sang er, und: »Es helfe mir der Herre Gott zum Sieg …« Holts Bett war nicht eingerissen. Er setzte den Stahlhelm auf und nahm den Karabiner aus dem Ständer. Die Trupps suchten sich in der Gärtnerei einen Platz, in einem Grabenstück oder hinter dem Mauerrest eines zerstörten Treibhauses. Nun war »kriegsmäßiges Verhalten« vorgeschrieben. Schulze nahte mit einer Übungspanzerfaust. Man hörte Wunderdinge von dieser Waffe. »Leistet enorm viel«, sagte Wolzow, »wenn du gut triffst.« Holt und Wolzow standen rauchend abseits, das Rauchen war vor dem Mittagessen verboten, aber Schulze achtete heute nicht darauf. Er hatte mit sich selbst zu tun. »Der T 34/85«, erzählte Wolzow, »wie er seit vorigem Jahr im Einsatz ist, hat eine Frontpanzerung von fünfundsiebzig Millimetern, das haut die Panzerfaust durch, wenn sie günstig trifft.« Schulze befahl: »Antreten! Gewehre zusammensetzen!« Sie standen im Halbkreis um ihn herum. »Die Panzerfaust!« begann er. »Die Panzerfaust ist ein Panzerbekämpfungsmittel. Ein Panzerbekämpfungsmittel für den Infanteristen, und heißt Panzerfaust. Fahrn Sie fort, Wolzow!« Wolzow sprach konzentriert, in leicht dozierendem Ton. Schulze schrie zwischendurch: »Wiederholen Sie, Wenskat!« Wenskat war nicht dumm, aber träge, er machte: »Ha?« und wurde eine Weile über die Aschenbahn gejagt. Wolzow erklärte das Prinzip der Hohlladung; die Panzerfaust sei eine Hohlladung, die auf den Panzer geschossen werde und im Aufprall detoniere. Ob Schulze nicht länger die Rolle des Zuschauers spielen oder ob er sich die heimliche Angst abreagieren wollte, die er vor diesem Thema gehabt hatte, blieb unerfindlich. »Fallen Sie um«, schrie er plötzlich den Arbeitsmann Kranz an, »fünfzig Sachen pumpen!« Ringsum schaute man interessiert zu, wie Kranz sich abmühte und langsam ermattete.
Unterfeldmeister Böhm trat um die Mauerecke. »Weitermachen!« Er war mittelgroß, etwa dreißig Jahre alt, und seine wäßrigen blauen Augen drückten stets Mißtrauen aus. Im Zivilberuf war er Inhaber einer Stehbierhalle in einer rheinischen Industriestadt. Auch heute sah er mißtrauisch von einem zum andern und ließ wiederholen. Es ging nicht ohne Gebrüll ab. »Holt, was erlauben Sie sich zu grinsen?« – »Herr Unterfeldmeister, mein Gesicht hat gezuckt!« – »Der Bauch«, schrie Böhm, »der vollgefressene Wanst soll Ihnen zucken, so werden Sie jetzt robben! Nieder! Bis zum Wassergraben!« Holt ließ sich Zeit. Stärkt die Muskeln, dachte er verbissen. Als er zurückkehrte, war Böhm schon bei der nächsten Gruppe. Schulze erklärte mit mageren Worten die Bedienung der Panzerfaust. Wolzow führte das praktisch vor. »Werner, Sepp, Christian, aufpassen! Die Panzerfaust ist wichtiger als alles andere!« Der Unterricht endete mit der üblichen Einpaukerei. Vier Handgriffe, zehnmal wiederholt und zehnmal geübt. Erstens Sicherungsdraht lösen, zweitens Visier hochklappen … Visier hochklappen, zum Kotzen stur ist das, dachte Holt. Drittens Sicherungsschieber in Stellung »entsichert« schieben … Das hängt mir ellenweit zum Hals heraus! Viertens Feuertaste drücken, erstens, zweitens, drittens, viertens, Draht, Visier, Sicherungsschieber, Feuertaste, das vergeß ich mein Lebtag nicht mehr, und wenn ich hundert Jahre alt werde! Anschlagsarten, hinten mindestens zehn Meter frei wegen des Feuerstrahls, Rückstoß gibt’s keinen, und immer wieder erstens bis viertens, Draht bis Feuertaste, Anschlagsarten, los, zeigen Sie noch mal, jetzt Sie, jetzt Sie hier, Sie Untier, jetzt Sie noch mal, wehe, das klappt nächstens nicht, wehe! Ob man freilich trifft, dachte Holt, bleibt vorläufig unklar. Ob ich die Nerven hab, so ein Ding auf fünfzig Meter gegen einen Panzer abzuschießen?
»Keine Sorge!« erklärte Wolzow, als es endlich vorüber war. »Wenn ein Sherman seine dreiunddreißig Tonnen gegen dich loswälzt, dann drückst du von allein ab!« – »In die Hosen!« rief Wenskat.
Unterricht in der Kantine. »Der Knochenschuster!« sagte jemand. »Achtung!« Irgendwer meldete irgendwem. »Heutiges Thema für den Abteilungsunterricht: Verhütung von Geschlechtskrankheiten römisch zwei. – Hinsetzen.« Ein blutjunger Feldunterarzt trat vor die Abteilung und setzte sich nachlässig auf die Tischkante. Er begann in leichtem Plauderton. Seine Laszivität war eher zynisch als derb. Er liebte es, die übelsten Dinge im Diminuitiv zu nennen und versah sie mit niedlichen Beiwörtern, etwa so: »Was wir Ärzte den syphilitischen Primäraffekt nennen, das ist ein ganz reizendes Geschwürchen …« Wenn er jemanden zur Beantwortung einer Frage aufforderte, pflegte er ihn mit einer unverständlichen Krankheitsbezeichnung zu kennzeichnen: »Sie, ja, der Struma mit den Basedow-Augen!«
»Wir hatten übrigens gesehen«, sagte der Feldunterarzt, »daß man sich die böse Syphilis notfalls auch auf dem Klo holen kann. Wie ist denn das nun mit dem Tripper? Kann man sich denn auch das Tripperchen auf dem Abort anlachen? Sie … ja, Sie dort, den Spund mit der blühenden Impetigo contagiosa staphylogenes mein ich, stehn Sie auf, Sie wandelnder Grind, antworten Sie!« Vorn erhob sich ein Arbeitsmann mit schorfbedecktem Gesicht und stammelte: »Nein, aber doch nicht, das geht nicht.« – »Das ist ein verhängnisvoller Irrtum«, sagte der Feldunterarzt. »Warum haben Sie sich übrigens nicht krankgemeldet? Sie verseuchen ja das ganze Protektorat! Setzen. Natürlich kann man den Tripper auch auf dem Klo bekommen, allerdings nur, wenn man dort mit seinem Mädchen die einschlägigen Dummheiten treibt.« Und in dieser Tonart ging es weiter …
Morgen Revierreinigen, Zeugputz und so weiter, dachte Holt, da ist ein Spindappell fällig, und ich muß die Parabellum verstecken. Bloß früh nicht auffallen, sonst muß ich nachmittags die Latrine scheuern! Wäsche tauschen, vielleicht rückt der Kammerchef neue Fußlappen raus …
Die Stunde ging zum Glück rasch vorbei. Händewaschen, Anzug säubern, Eßbesteck, Haare kämmen, Fingernägel, womöglich steht Böhm am Eingang und läßt sich die Hände zeigen … »Raustreten zum Mittagessen!« Tatsächlich, Böhm stand an der Tür: »Zeigt eure Krallen her!« Holt durfte passieren, hinter ihm ging das Gebrüll los: »Ist denn so was möglich, o Gott, diese Toppsau! Scheren Sie sich zur Hölle!«
Zwei Trupps aßen zusammen an einem langen Holztisch, dreißig Mann, eng aneinandergedrückt. Der Stubendienst schleppte Waschschüsseln voll Pellkartoffeln heran, einen Eimer graubrauner Soße, in der undefinierbare Fleischfetzen schwammen. »Achtung!« Der Abteilungsführer, Oberfeldmeister Lesser, gefolgt von Feldmeister Böttcher, stapfte zwischen den Stuhlreihen hindurch zu seinem Tisch, wo er gemeinsam mit den Zugführern aß. »Tischspruch!« Aus einer Ecke brüllte jemand auf sächsisch: »Kartoffeln mit Soße und Zwiebeln dazu, das läuft durch die Hose bis in die Schuh!« Der Oberfeldmeister lachte, dann rief er: »Alle Mann …« – »… ran!« brüllte die Abteilung.
Holt fand das Essen miserabel, aber er hatte Hunger und aß große Mengen Kartoffeln.
Es war üblich, beim Essen ekelerregende Dinge zu erzählen, und es galt als Zeichen soldatischer Tugend, dessen ungeachtet weiterzuessen.
Böhm trat in die Kantine, einen dicken Packen Briefe unter dem Arm. Heute muß für mich was dabei sein, dachte Holt. Er hatte bisher vier Briefe von Gundel erhalten. Böhm verteilte die Post an die Truppführer. Holt schielte auf Schulze. Der setzte sich wieder und legte die Briefe mitten in die Kartoffelschalen und Soßenflecken hinein. Auf der Stube teilte er aus.
Holt sah auf die Uhr: gleich eins. Er zog einen Schemel ans Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Er riß ungeduldig den Umschlag auf. Als er letzthin an Gundel schrieb, hatte er sich gehenlassen. Es gab Tage, da ihn Schikane, Gebrüll und Drill zur Verzweiflung trieben. In einer solchen Stimmung hatte er sich Gundel anvertraut. Zu Mutlosigkeit und Bedrückung hatten sich trübe Erinnerungen gesellt, und das Ergebnis waren konfuse und abstrakte Worte gewesen, die ihn am anderen Morgen reuten.
Nun überflog er ihre Zeilen; ganz am Ende stand: »Ich kann verstehen, daß du manchmal traurig bist.«
Ihre Handschrift war kindlich und wenig ausgeschrieben. In den ersten beiden Briefen war ihr sprachlicher Ausdruck ungeschickt und holpernd gewesen, aber nun schrieb sie so unbefangen, wie sie gesprochen hatte. »Lieber Werner, stell Dir vor, was ich gestern erlebt habe! Beim Einkaufen hat mich eine Dame angesprochen.« Erst hatte es »Frau« geheißen, aber das Wort war durchgestrichen. »Sie hat ihren Namen genannt: Gomulka.« Seltsam! Holt las gespannt weiter: »Dann hat sie gefragt, ob ich nicht einen Augenblick Zeit habe. Auf der Straße sagte sie, Du bist ein guter Freund von Sepp. So heißt ihr Sohn. In der Badeanstalt hattest Du mir erzählt, daß Deine Freunde Gilbert und Sepp heißen. Da habe ich ihr geglaubt. Du sollst Frau Gomulkas Mann erzählt haben, daß Du bei uns gewesen bist und daß es Dir gar nicht gefallen hat. Auch die Leute nicht. Wenn Du das erzählt hast, mußt Du Herrn Gomulka ja sehr gut kennen. Dann hat sie gefragt, was ich in meiner Freizeit mache. Und ob ich sie nicht einmal besuchen will? Sie war sehr nett. Ich weiß gar nicht, warum. Sie hat gesagt, leider hat sie keine Tochter, so ein junges Mädchen wäre ihr schon recht, manchmal am Abend, und auch sonntags. Als Besuch. Wenn ich nicht will, erzählt sie auch keinem davon, und ich kann vom Hügelweg durch die Gärten kommen, daß es keiner sieht. Ich habe gesagt, daß ich es mir überlegen muß, aber vielleicht komme ich doch einmal, wenn es ihr wirklich recht ist. Lieber Werner, Du mußt mir schreiben, ob ich hingehen soll und was es für Leute sind. Du weißt ja, warum ich mit vielen nichts zu tun haben will.«
Was haben Gomulkas für Gründe, Gundel einzuladen? Menschenfreundlichkeit? Holt erinnerte sich: … das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben … Sie habe viel Arbeit, schrieb sie, aber sie sei das Anpacken ja gewöhnt. Die Kinder machten doch Freude, obwohl sie frech zu ihr seien, denn sie habe Kinder gern, auch freche. Die Bitte um eine Photographie könne sie ihm nicht erfüllen, denn sie habe keine. Dann jener Nachsatz und am Ende der Wunsch: »Schreib mir bald wieder, wenn es Dir nicht zuviel Mühe macht.«
»Fertigmachen zum Raustreten!« Holt sagte zu Gomulka: »Lies mal, Sepp?« Er hatte Gomulka Gundels Schicksal erzählt. Gomulka nahm den Brief. »Warum lädt deine Mutter sie ein?« fragte Holt. »Was weiß ich?« entgegnete Gomulka.
2
Das Antreten zog sich in die Länge. Der Abmarsch zum Scharfschießen verzögerte sich. Oberfeldmeister Lesser ließ auf sich warten. Ein Kradmelder war ins Lager gerollt, nun hieß es, der Chef telefoniere. Die Abteilung stand Gewehr bei Fuß, Gerüchte machten die Runde, Feldmeister Böttcher und die Zugführer wurden vom Appellplatz weg zur Schreibstube gerufen. Auf einmal war es kein Gerücht mehr: Einsatz!
Die nächsten Stunden ging im Lager alles drunter und drüber. Schulze schrie: »Wolzow, Wenskat, Holt, Gomulka, Huber … mitkommen!« Sie holten drei Kisten Patronen. Während in der Stube scharfe Munition verteilt wurde, meckerte Vetter: »Zweihundert Schuß pro Mann, wer soll denn das schleppen?« Aber Wolzow wies ihn zurecht.
Am frühen Abend stand die Abteilung marschfertig. Holt stützte sich auf den Karabiner. Der Tornister drückte. Am Koppel lasteten die gefüllte Patronentasche, Seitengewehr, Infanteriespaten, Gasmaske, Brotbeutel und Feldflasche. Die Armbinden mit dem Hakenkreuz waren befehlsgemäß von den Uniformen abgetrennt worden. Oberfeldmeister Lesser trat vor die Front. »In der verbündeten Slowakei«, schrie er, »wollen die Feinde des Reiches, unterstützt von bolschewistischen Fallschirmspringern, der schwer ringenden Front in den Rücken fallen! In einem Aufruf hat der slowakische Staatspräsident erklärt, daß der Abschaum der Gesellschaft aufgeboten worden ist, um in der Slowakei ein Chaos zu entfesseln und den Boden reif für den Bolschewismus zu machen! Da die slowakischen Kräfte zu schwach sind, hat Staatspräsident Tiso den großen deutschen Verbündeten um Truppen zur Niederwerfung der Bolschewistenhorden gebeten.« Er stand breitbeinig vor der Front, die Brauen zusammengezogen. »Wir übernehmen Wachdienste und unterstützen die Kampftruppen bei Verlade- und Entladearbeiten, gegebenenfalls natürlich auch im Kampf. Jetzt könnt ihr zeigen, was ihr gelernt habt.« Der dicke Feldmeister Böttcher übernahm das Kommando und ließ die drei Züge abrücken. Auf dem Bahnhof standen Viehwaggons bereit.
Die Maschine dampfte langsam aus der Station, dann stand der Zug viele Stunden in der Nacht. Holt schlief, in eine Decke gewickelt, auf dem harten Boden. Am nächsten Tag hielt der Zug abermals viele Stunden auf freier Strecke. Ein Gerücht lief von Wagen zu Wagen: »Der Lokführer ist getürmt!« Gomulka lachte unterdrückt. Am Nachmittag ging es endlich weiter. In der folgenden Nacht blieb der Zug mit einem Ruck stehen, so daß die Arbeitsmänner durcheinanderrollten. Draußen war Geschrei, schon krachten ein paar Schüsse. »Raus!« schrie Wolzow. Holt sprang mit dem Karabiner in die Nacht. Vorn blitzten Schüsse. Wolzow schoß stehend ins Dunkel. Bei der Maschine brüllte jemand wie besessen: »Stopfen! Stoooooopfen!« Das Licht einer Taschenlampe huschte über die Gleise. Wolzow lief nach vorn, wo nun ein rotes Signallicht leuchtete. Oberfeldmeister Lesser brüllte: »Ihr wahnsinnigen Säcke! Ihr verdammten Idioten!«
Die Arbeitsmänner standen auf dem Bahnkörper neben dem Zug. Wolzow berichtete: »Eine Brücke. Natürlich bewacht. Da zeigen die Posten ein Langsamfahrt-Signal, der Lokführer hält, die Posten im ersten Wagen knallen gleich wild drauflos. Da haben die Brückenposten natürlich zurückgeschossen, die wußten auch nicht mehr, was gespielt wird.« Die Maschine zog ruckend an, alles kletterte durch die Schiebetüren in die Wagen. Holt sah auf der Brücke ein paar Gestalten stehen, Gewehre umgehängt. »Ist was passiert?« – »Komischerweise nicht«, sagte Wolzow, »aber das ist ein mieses Zeichen, daß keiner getroffen hat!«
Am nächsten Tag erreichten sie endlich das Ziel. Der Zug lief in einen Güterbahnhof ein. Gleisanlagen, Schuppen und Stellwerke dehnten sich weitflächig bis zum Wald. Ein paar Kilometer weiter überspannte eine Eisenbahnbrücke das tiefeingeschnittene Tal eines schmalen, reißenden Flusses. »Das ist der Gran«, erklärte Wolzow nach einem Blick auf die Karte. Die Stadt lag eine halbe Wegstunde vom Güterbahnhof entfernt zwischen dichten Laubwäldern, eine kleine, verschlafene Stadt mit wenigen Straßen. Sie marschierten durch die engen Gassen. Obwohl es Mittag war, sah man kaum einen Menschen. Sie sangen: »… her zu uns, daß wir die Saat beginnen, ein Hunger ist in die Augen gesetzt, neue Lande, neue Lande wollen wir uns gewinnen.« Sie marschierten durch die Stadt hindurch und hinaus aus dem verwinkelten Straßengewirr auf einen großen freien Platz. Dort befahl Böttcher Halt. Ein größeres freistehendes Gebäude kehrte die Front mit dem Eingang dem Platz und der Straßenmündung zu, ein zweigeschossiges Schulhaus, von einem weitflächigen, dicht bepflanzten Garten umgeben, der mit niedrigen Lattenzäunen zu beiden Seiten des Gebäudes an den Platz grenzte. Die Giebelwände waren kahl und fensterlos. Die Fenster an der Frontseite waren im Erdgeschoß eng vergittert, desgleichen die Kellerfenster.
»Scheißquartier!« sagte Wolzow, während er das Gewehr absetzte. »Schlecht zu bewachen!« Böttcher hatte mit den Zugführern das Schulhaus besichtigt und gab Befehle. »Erster Zug Wachdienst. Zweiter Zug räumt die Schule aus. Dritter Zug holt Stroh ran. Los, auf dem Hof Gepäck ablegen, Waffen werden ständig mitgeführt. Gewehre umhängen. Links um. Zugweise Reihe rechts, ohne Tritt marsch. Mitkommen.«
Holt trat durch den Eingang, die wenigen Stufen hoch, dann wichen die Mauern zu beiden Seiten weit zurück und umschlossen eine geräumige Eingangshalle. Dort zweigten links und rechts die Korridore mit den Klassenzimmern ab. Geradeaus, dem Eingang unmittelbar gegenüber, führte eine breite Holztreppe ins Obergeschoß. Rechts daneben ging es wieder ein paar Stufen hinab und dann an der Kellertür vorbei durch die Hoftür ins Freie. Von der Eingangshalle sah man links, vor dem Korridor, durch eine Tür in einen kleinen Raum. Dort stand der Hausmeister, ein dunkelhaariger Mann von fünfzig Jahren. Böhm schnauzte ihn an: »Schlüssel her, los! Sie scheren sich weg hier! Weg, Mann!« brüllte er. Der Hausmeister verstand offensichtlich kein Deutsch. Nun verließ er durch die Hoftür das Schulhaus.
Holt arbeitete bis zum Abend. Er half, Schulbänke und Katheder auf den Hof zu räumen. Der dritte Zug brachte Wagenladungen voll Stroh heran. Sie schleppten die Ballen in alle Klassenzimmer.
Am anderen Tag hatte der zweite Zug Wachdienst. Böhm teilte ein. Der erste Trupp mit Obervormann Schulze übernahm die Quartierwache, der zweite Trupp mit Obervormann Rößler die Stadtstreifen, der dritte mit Obervormann Berger die Wache am Bahnhof, der vierte mit Obervormann Lachmann die Wache an der Eisenbahnbrücke. Böhm erklärte: »Die Brückenwache schießt von zwanzig bis sechs Uhr ohne Anruf, in dieser Zeit hat die Bevölkerung Ausgehsperre. Die Quartier- und die Bahnhofswache schießt nach einmaligem Anruf. Die Stadtstreifen nehmen alle Zivilisten fest, die nach einundzwanzig Uhr auf der Straße angetroffen werden. In der Polizeistelle, wo das Wachlokal ist, sind feste Zimmer. Die Polizei geht nachts keine Streifen. Am Tage werden ständig Ausweise kontrolliert, eine Liste der gültigen Papiere hängt im Wachlokal. Sind noch Fragen?« Niemand meldete sich. Böhm fuhr fort: »Die Slowakei ist mit uns verbündet, aber die Bevölkerung ist aufsässig und deutschfeindlich. Die örtlichen Polizeiorgane genießen kein Vertrauen, wenn irgendwas passiert, werden sie festgenommen und entwaffnet. Bei allen Verhaftungen rücksichtslos zupacken! Widerstand mit allen Mitteln brechen! Es ist besser, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, als verdächtige Elemente laufen zu lassen.« Er las aus seinem Notizbuch ab: »Jedoch ist nach Möglichkeit darauf zu achten, daß mit dem Reich sympathisierende Bevölkerungsteile korrekt behandelt werden.« Er befahl: »Gewehre umhängen!« Dann legte er die Hände an die Hosennaht: »Zweiter Zug … stillstann! Parole ›Morgenlicht‹.« Er hob den Arm zum Gruß. »Vergatterung!« Die Trupps zogen sofort zur Ablösung.
Schulze und seine Leute nisteten sich im Erdgeschoß ein, links, in dem Zimmer des Hausmeisters, das als Wachlokal benutzt wurde. Dort waren ein paar Munitionskisten aufgestapelt; auf einem Tisch lag das Wachbuch. Holt hatte gemeinsam mit Gomulka von Mitternacht bis zwei Uhr morgens Posten zu stehen. Die anderen beiden Züge waren am Vormittag zu den wenigen umliegenden Dörfern marschiert, wo sie Heu und Stroh zu beschlagnahmen und zum Bahnhof zu bringen hatten. So war der Trupp Schulze allein im Schulhaus.
Am Mittag saß Holt mit Wolzow im Wachlokal. Wolzow hatte deutsche Zeitungen aufgetrieben, sie waren nicht mehr ganz neu. Er rauchte und las. Holt fragte: »Wie sieht es an den Fronten aus?« Wolzow ließ das Blatt sinken. »Daß Finnland kapituliert hat, das weißt du? Bulgarien hat nun auch die Beziehungen zum Reich abgebrochen. Und an der Invasionsfront muß es eine üble Geschichte gegeben haben, die Front scheint in Auflösung zu sein. Nur an der Riviera gibt es noch feste Linien. Lyon ist gefallen, die Mosel erreicht.« Er fragte mürrisch: »Genügt das? Im Osten hat die Entwicklung einen reißenden Verlauf angenommen. Im Mittelabschnitt stehn sie vor Warschau …« – »Warschau?« rief Holt erschrocken. – »Ja. Der Aufstand ist immer noch nicht niedergeschlagen. Im Nordabschnitt greifen die Russen an, bei Narwa sind sie durch die Front gebrochen. Nun rollt auch in der Ukraine eine Offensive, die Russen können bald in den Karpaten sein, sozusagen Wand an Wand mit uns hier. Das siebenbürgische Kronstadt ist schon gefallen. Der Stoß zielt offenbar nach Ungarn hinein … Noch was? Ja, richtig, die V 2! Die Briten scheinen sie nicht schlechter zu verdauen als die V 1.«
Holt fragte, wie er schon oft gefragt hatte: »Wie soll denn das um Gottes willen weitergehen?« – »Na, halt irgendwie«, sagte Wolzow. »So’n Krieg ist zum Glück recht zählebig, und jetzt wird ja auch allerhand getan, ihn wieder ordentlich hochzupäppeln! Goebbels hat ganz radikale Maßnahmen zum totalen Kriegseinsatz erlassen, Schulen werden geschlossen, fast das ganze Schrifttum wird stillgelegt, das preußische Finanzministerium ist aufgelöst, und so weiter. Hier, im ›Völkischen Beobachter‹, der ist allerdings schon bißchen älter, da ist eine Rede abgedruckt, die der Staatssekretär Dr. Naumann zum Eintritt ins sechste Kriegsjahr gehalten hat, in Danzig. Es heißt hier, Doktor Naumann gab …« – »Laß mich lesen!« sagte Holt. Wolzow reichte ihm die Zeitung. Holt überflog den Vorspann: »… gab ein ungeschminktes, durch keinerlei Winkelzüge beschönigtes Bild der Lage … getragen von der Gläubigkeit des Nationalsozialisten … seinen Zuhörern gleichzeitig die deutschen Siegeschancen überzeugend zu begründen vermochte … klang die Kundgebung in einem einzigen großen Bekenntnis zum Führer und seiner Idee aus …« Wo steht denn die Begründung unserer Siegeschancen? Das muß ich unbedingt lesen! Er überflog den Wortlaut: »… totaler Erfolg daher nur durch einen totalen Einsatz möglich … Wellenberge und Wellentäler … Tage des Eintritts in das sechste Kriegsjahr fallen in ein solches Wellental … unseren Feinden einige Tatsachen zur Kenntnis gebracht, in denen die Überwindung aller Krisen bereits vorgezeichnet … Erstens: der Führer ist nicht vom deutschen Volk zu trennen, und das deutsche Volk steht bedingungslos zu ihm … zweitens: das deutsche Volk ist nationalsozialistisch, nicht allein in glücklichen, sondern erst recht in schweren Tagen … drittens: es gibt kein Versagen der deutschen Heimat, in der Gewißheit des Sieges …« Ja aber die Begründung der Siegeschancen, wo ist sie denn? Holt las hastig weiter: »… kämpfen wir um die Zeit, die wir zur Mobilisierung unserer Reserven noch benötigen …« Aha! Wolzow fragte: »Spielst du einen Offiziersskat mit?« Holt schüttelte den Kopf. Er las. »Unsere Gegner täuschen sich«, las er, »wenn sie sich am Vorabend des Sieges wähnen … neue Divisionen rücken an die Front … Festung Deutschland wird verteidigt werden, wie nie zuvor eine Festung verteidigt wurde, dann aber wird unsere Stunde kommen …« Dann, dachte Holt, dann … wann? »… steht das deutsche Volk … gehärtet und im Schmelztiegel seines Kampfes gestählt wie nie zuvor … wilden und fanatischen Entschlossenheit durchdrungen, sein Land, sein Leben und seine Weltanschauung bis zum letzten Blutstropfen zu behaupten … Weltanschauung … kämpft für sie, in schlechten Tagen mit größerer Entschlossenheit als in den guten und glücklichen Stunden …« Aus. Ende.
»Da hast du den ›Völkischen‹«, sagte Holt, »mir reicht es jetzt wieder mal, Gilbert, mir reicht es wirklich! Wer ist dieser Naumann?« – »Ein SS-General, SS-Brigadeführer, er wird ein ›an der Front gehärteter politischer Soldat genannt‹ … Also, wenn du nicht mitspielst, dann leg ich mir eine Patience!«
Gomulka trat ins Wachlokal. »Werner, wir müssen gleich ablösen!« Holt setzte den Helm auf und nahm den Karabiner. Sie warteten am Hintereingang. Der große, quadratische Hof war an drei Seiten vom Garten umgeben, und der buschreiche, mit Obstbäumen und Ziersträuchern bepflanzte Garten grenzte an den nahen Wald. In der Mitte des Hofes stand eine Pumpe, rechts am Zaun ein Schuppen, und daneben führte eine Pforte in den Garten. Hinter der Pumpe, dem Hofeingang gegenüber, wohnte der Hausmeister in einem kleinen Gartenhaus aus roten Backsteinen.
Bei der Pumpe lümmelten ein paar wachfreie Arbeitsmänner, Wenskat, Baruffke, Zöllner und Meermann, auch Vetter war dabei, alle halbnackt, sie hatten sich dort gewaschen. Holt sagte: »Sieht vorläufig aus wie’s große Los, der Einsatz, neben dem Lagerbetrieb eine Erholung!« Gomulka antwortete nicht. Holt sah aus dem Gartenhäuschen ein junges Mädchen treten und über den Hof zum Schuppen gehen. Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt und hatte sehr helles und langes Haar. »Schau dir an, was die Slowaken für hübsche Mädchen haben!« sagte er. Aber Gomulka schwieg hartnäckig.
Beim Brunnen pfiff Wenskat schrill auf zwei Fingern, jemand rief langgezogen: »Heeeee! Puppchen!« – »Die solln sich was schämen«, sagte Holt, »was soll die denn von uns denken!« Er ging über den Hof. Gomulka folgte ihm. »Haste gesehn, Holt?« fragte jemand. »Das wär meine Hutnummer, wie?« Holt sagte: »Benehmt euch!« – »Quatsch doch nicht, Mensch«, sagte Wenskat, »hier so’n Zimt machen wegen der Slowakischen!«
Das Mädchen brachte zwei Zinkeimer aus dem Schuppen und näherte sich zögernd der Pumpe. »Die will Wasser holen!« krähte Vetter. Holt sah, als sie herankam, daß sie große blaue Augen hatte. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie erinnerte ihn in allem, in Gang und Haltung und in der Art, wie sie den Kopf trug, an Uta. Wenn die Kerle unverschämt werden, dachte er, dann … Aber er dachte zugleich: Vorsicht, daß ich nicht wieder in irgendwas hineintreib …
Das Mädchen stellte einen Eimer unter das Wasserrohr. Wenskat rief: »Na, Kleine, willst dir von uns bissel pumpen lassen?« Das Mädchen verstand wohl kein Deutsch und nahm das rohe Gelächter unbewegt hin. Sie wollte den Pumpenschwengel fassen, aber Wenskat streckte rasch ein Bein aus und schrie: »Nix daitsch, wos? Verstehste nicht? Was wir wollen, ist international!« Sie versteht wirklich kein Deutsch, dachte Holt, und er fuhr Wenskat an: »Nimm die Knochen weg … los!« Wenskat sagte verständnislos: »Was willste? Bist wohl …« Holt sagte drohend: »Du nimmst sofort das Bein weg, oder es setzt was!« – »Der Kerl spinnt lauwarm«, sagte Wenskat, aber er zog doch den Fuß zu sich heran. Das Mädchen trat an den Brunnen, füllte die beiden Eimer und trug sie zum Gartenhaus. Die Arbeitsmänner sahen ihr nach. Wenskat sagte böse: »Wie meinst’n das, daß du wegen der mit mir Streit anfängst, ha?« An der Hoftür brüllte Schulze: »Holt, Gomulka! Posten ablösen!«
Mißmutig standen sie zwei Stunden auf dem Gehsteig vor dem Eingang. Die Stadt lag wie ausgestorben. Am späten Abend rückten die beiden Züge ins Quartier und füllten den Schulhof mit Lärm. Als es Mitternacht war, ging Holt mit Gomulka die Streife um Schule und Garten. Gomulka begann unvermittelt: »Das ist die Tochter vom Hausmeister, Milena heißt sie. Der Schulze hat ein Auge auf sie.« – »Schulze?« rief Holt. »Dieser Pavian?« – »Als er von ihr erzählt hat, da hab ich zum erstenmal in seinem Gesicht etwas wie einen Ausdruck gesehn. Übrigens keinen guten.« Was reg ich mich auf? dachte Holt. Sie geht mich nichts an! Aber … sie soll wissen, daß hier nicht alle dumm und rüpelhaft sind. Gomulka sprach weiter: »Warum hast du sie an der Pumpe in Schutz genommen?« – »Ich sag dir was!« rief Holt wütend. »Wenn der Schulze … Also, daraus wird nichts!« – »Sieh dich vor«, sagte Gomulka bedächtig. »Angriff auf einen Vorgesetzten, Kriegsgericht, aber soweit kommt es gar nicht, gegen den Schulze hast du keine Chance, der dreht dir einfach den Hals um. Der Wolzow würde mit ihm fertig, aber auf den rechnest du besser nicht. Und außerdem …« – »Halt!« rief Holt und sprang erschrocken in die Deckung der Mauer. Er hob den Karabiner. Aus dem Dunkel rief es die Losung. Es war Böhm. »Halten Sie das Maul! Brüllen Sie nicht so rum!« Holt meldete. Keine besonderen Vorkommnisse. Böhm meckerte: »Auf Posten wird nicht gequatscht! Passen Sie lieber auf!« Er trug eine Maschinenpistole um den Hals und tauchte wieder im Dunkel unter. Sie setzten den Rundgang fort. Holt meinte nach einer Weile mit gedämpfter Stimme: »… und außerdem?«
Gomulka blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um, er durchforschte mit seinen Blicken die Nacht. »Seit hier die Aufstandsbewegung ist«, flüsterte er, »soll hier, wie im ganzen Osten, nicht nur der Kommissarbefehl gelten, sondern auch der Führererlaß über die Behandlung von Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner … Das heißt, wenn sich einer was gegen die Slowaken zuschulden kommen läßt, wird er nicht kriegsgerichtlich, sondern nur disziplinarisch bestraft.« Kommissarbefehl, Führererlaß? »Woher … weißt du das?« fragte Holt befremdet. »Der Erlaß ist ja berüchtigt«, antwortete Gomulka ausweichend. »Kannst ja mal Wolzow fragen, der weiß das alles! Der Erlaß wird der Truppe nicht mehr bekanntgegeben, nur den Führern, denn wenn ihn die Soldaten erfahren haben, dann sind sie so verroht, daß die Disziplin gelitten hat.« – »Woher weißt du das?« fragte Holt abermals. »Das ist ja gleichgültig«, meinte Gomulka. »Ich sag dir’s, damit du gewarnt bist. Du kannst dich nicht mal auf die Kriegsgesetze berufen, wenn du dem Mädel gegen Schulze beistehst.« Sie gingen weiter. Dieser widerwärtige Schulze, dachte Holt haßvoll, dieser bösartige Gorilla! Aber sein Haß war mit Hilflosigkeit gemischt. »Da soll ich also zusehn, wenn er sich an dem Mädchen vergreift?« Er ereiferte sich: »Das sagst du?« Gomulka zeigte zunächst keine Absicht, zu antworten. Aber dann sagte er doch: »Daß du dich so in Wut hineinsteigerst, nimm mir’s nicht übel, Werner … Das machst du doch bloß, weil es um ein Mädchen geht.«
Holt war gekränkt. »So …«, sagte er. »Und die Russen, in der Batterie damals, waren das auch Mädchen?« Gomulka antwortete nachdenklich: »Nein … Du hast recht. Sei nicht böse«, bat er, »ich dachte nur …« Er hat recht, dachte Holt, nein, er hat doch nicht recht … Vielleicht ist es immer noch wie vor einem Jahr, als ich glaubte, mit Gilbert für … Gerechtigkeit kämpfen zu müssen, damals, als mich die Marie Krüger behext hatte, daß ich dem Meißner an den Kragen wollte … Das war kindisch. Nein, es war nicht kindisch, aber … Es hat keinen Zweck, dachte er. Was ist Gerechtigkeit? Vielleicht ist alles falsch … oder vielleicht ist Mitleid wirklich Schwäche, und Ziesche hatte doch recht, und wahre Gerechtigkeit ist Härte, wenn wir Deutschen … Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte er.
Die nächsten Tage brachten schwere Arbeit. Transportzüge mit SS-Einheiten trafen auf dem Bahnhof ein. Die Arbeitsmänner entluden Waggons: Waffen und Gerät, Kraftfahrzeuge, auch Pferde und Fuhrwerke, leichte Feldgeschütze und Minenwerfer. »Jetzt geht’s den Banden an den Kragen!« frohlockte Vetter. »Jetzt dauert das keine acht Tage mehr!« Wolzow fluchte, als sie stundenlang Munitionskisten und Granatkörbe schleppten: »Das könnten auch die Slowaken machen, das faule Volk hockt daheim in den Stuben!«
In der Mittagspause löffelte er aus dem Kochgeschirr den faden Eintopf. »Eine kriegsstarke SS-Division ist das. Ich hab gehört, es sollen Spezialverbände sein, die Division hat in den Pripjet-Sümpfen Partisanen gejagt, die haben Erfahrung in so was!« Sie stapelten weiter Munitionskisten auf die wartenden Fahrzeuge. Ein paar Kisten Gewehrmunition wurden in der Schule abgeladen.
Eine Woche war verstrichen, ohne daß der Einsatz etwas anderes als Arbeit gebracht hätte. Der September ging zur Neige, aber das Wetter blieb sommerlich warm. Nur die Nächte waren schon kalt und neblig.
Holt lag eines Tages im Schulgarten in der Sonne und schaute in den Himmel. Er hörte Schritte. Das blonde Mädchen ging den Gartenweg entlang, mit einem Laubrechen und einem großen Henkelkorb. Holt sagte vernehmlich: »Guten Tag.« Sie blickte rasch zu ihm hin, dann schaute sie wieder geradeaus, aber sie erwiderte seinen Gruß, indem sie flüchtig mit dem Kopf nickte.
Na also! dachte Holt befriedigt, sie kann unterscheiden zwischen denen und meinesgleichen!
In der folgenden Nacht stand er mit Wolzow an der Eisenbahnbrücke Posten. »Horch!« sagte Wolzow. In der Ferne grollte schwerer Kanonendonner. Es war gegen drei Uhr, die schmale Mondsichel stieg über die Berge. Holt fröstelte. »Hört sich an wie eine richtige Schlacht!« Wolzow entgegnete: »Aus dem Gebirge holt die so schnell keiner raus! Berge bis zweitausend Meter … da schaffst du nur mit Brachialgewalt Ordnung!« Holt erwog, Wolzow zu fragen, was es mit jenem »Kommissarbefehl« auf sich habe, aber irgend etwas hielt ihn zurück, die wachsende Entfremdung, eine unerklärliche Scheu … Das Geschützfeuer blieb bis zum Morgen hörbar. Als sie am Mittag in die Stadt zurückkehrten, hielten vor der Schule ein paar verdreckte Lastwagen. Auf dem Hof lagerten etwa zweihundert SS-Leute, zwischen Gewehrpyramiden und Gepäckstücken. Wolzow setzte sich zu ihnen. Dann brachte er Neuigkeiten. »Von wegen in acht Tagen Schluß«, sagte er, »das war eine Illusion! Überall geht’s los, das halbe Land ist in Aufruhr, ganz in der Nähe haben sie eine Garnison niedergemacht. Die SS ist ganz schön abgekämpft. Die Partisanen, sagen sie, sind nicht schlechter als reguläre Truppen, manchmal noch zäher, weil ihnen die SS grundsätzlich den Pardon verweigert. Die Russen schmeißen ihnen Waffen ab, die Partisanen sind mitunter besser bewaffnet als die SS, alle mit Maschinenpistolen. Bin gespannt, wann es hier bei uns losgeht.« Vetter erzählte: »Der erste Zug hat heut vormittag in der Stadt Haussuchungen nach Waffen gemacht. Gefunden haben sie nichts!«
Am frühen Nachmittag rückte die SS ab. Im Haus blieben nur der Wachtrupp vom dritten Zug und Schulzes Trupp, der nach der Brückenwache dienstfrei hatte. Die Arbeitsmänner lagen im Stroh und schliefen. Aber Holt litt es nicht im Zimmer. Er schlenderte ziellos über den Hof und in den Schulgarten.
Dort traf er die blonde Slowakin. Sie schleppte einen großen Korb, der mit Holz gefüllt war, mit Ästen und Reisig. Holt sagte: »Lassen Sie mich das tragen!« Er nahm ihr den Korb ab und trug ihn zum Schulhof. Er fragte über die Schulter: »In den Schuppen?« – »Ja.« Sie versteht also doch Deutsch, dachte er überrascht. Sie schloß die Tür auf. Er setzte den Korb in einer Ecke ab, wo viel Holz auf einem Haufen lag. Sie war ihm gefolgt und sagte freundlich: »Danke.« Er richtete sich auf. Er war verwirrt, denn sie stand nahe bei ihm. Er faßte sie plötzlich an den Schultern und zog sie an sich, aber da schlug sie ihn mit solcher Heftigkeit ins Gesicht, daß er taumelte. Wut stieg in ihm auf. Er dachte eine Sekunde lang an Gewalt. In seinem Inneren sagte eine Stimme: Etwas davon ist auch in dir! Die Scham schlug wie eine Welle in ihm hoch.
Das Mädchen hatte den Hackklotz zwischen ihn und sich gebracht, hatte das Handbeil herausgerissen und stand nun lauernd, nach vorn geneigt. Mit der Rechten umklammerte sie den Schaft des Beiles, während sie langsam den linken Arm hob und zur Tür wies. Sie sagte nur ein einziges Wort: »Hinaus!« Er wollte eine Entschuldigung stammeln, eine Rechtfertigung, etwas von einem Mißverständnis, aber aus ihren Augen traf ihn ein Blick so abgründigen Hasses, daß er wortlos den Schuppen verließ.
Er ging in den Garten. Er sah das Mädchen rasch über den Hof laufen, zum Gartenhaus hin, sie trug noch immer das Beil in der Hand. Aber das alles drang gar nicht in sein Bewußtsein. Im Schulgarten stand er wie geistesabwesend zwischen den Sträuchern. Er versuchte, dieses erstickende Gefühl der Scham loszuwerden. Er dachte: Die soll sich nicht aufspielen! Schließlich bin ich ein Deutscher, und sie … Da wuchs das Schamgefühl ins Unerträgliche. Sein Gesicht brannte, wie vom Feuer versengt.
3
Drei Tage später hielt Trupp Schulze wieder Quartierwache. Holt saß in der Wachstube, als Schulze das Zimmer verließ und die Stufen hinab zur Hoftür ging. Ein paar Minuten später brüllte Böhm vom Kellereingang her: »Schulze … Schulze!« brüllte er noch einmal. Wenskat trat ins Wachlokal und sagte grinsend: »Der Schulze hört jetzt nischt, der ist der Kleinen in den Garten nachgeschlichen, dem hing richtig die Zunge raus!«
Das traf Holt wie ein Schlag. Aber da stand Böhm in der offenen Tür: »Pennt denn die ganze Wache? Los, Holt, Gomulka, mitkommen!« Wenskat verschwand auf dem Hof. Holt stieg die Kellertreppe hinab. Er kramte unter einem Stapel Patronenkisten einen Kasten Pistolenmunition hervor, den Böhm für seine Maschinenpistole brauchte, und trug ihn mit Gomulka ins Wachlokal. Da stürzte Wenskat ins Zimmer. Sein Gesicht war verzerrt. »Wache! … der Schulze, im Garten, Herr Unterfeldmeister … tot!«
Böhm starrte Wenskat an, sein Mund öffnete und schloß sich. Dann überschlug sich seine Stimme: »Mitkommen!« Sie rannten über den Hof in den Garten. Zwischen den Büschen lag Schulze. Der Anblick war furchtbar. Wolzow beugte sich ungerührt über den Toten. Die Stirn klaffte von einem Beilhieb. Er lag auf dem Rücken, die Beine waren im Hinstürzen seltsam nach hinten geknickt. Waffenrock und Hose waren geöffnet. In der linken, krampfhaft verschlossenen Faust hielt er ein dichtes Büschel hellblonden Haares. Wolzow richtete sich auf. »Der ist hin.« Er sah sich suchend um. »Dort!« Holt sah im Gras ein Beil liegen, das Beil.
»Herr Unterfeldmeister!« schrie Wenskat. »Die Blonde vom Hausmeister! Er ist ihr nachgegangen, und als ich sehen wollte, wo er bleibt, da lag er hier!«
Böhm lief schon los. Sie folgten ihm. Aus dem Schulhaus stürzten immer mehr Leute. Böhm rüttelte an der Klinke des Gartenhäuschens. »Tür einschlagen!« Wolzow stieß mit dem Kolben des Karabiners zu, daß es donnerte, immer wieder, bis das Schloß barst. Der Korridor lag offen vor ihnen. Wenskat stürmte als erster hinein, durchmaß mit wenigen Schritten den Vorraum und riß die Tür auf.
Mitten im Zimmer stand der Hausmeister, ein Jagdgewehr im Anschlag, der Schuß krachte. Wenskat brach schreiend zusammen. Böhm riß dem Hausmeister das Gewehr aus den Händen und schlug mit dem Kolben auf ihn los, er brüllte: »Verbrecher! Bandit! Slawenvieh!« Der Hausmeister fiel zu Boden, Böhm trat ihn mit den benagelten Stiefeln und tobte: »An die Wand … Sofort an die Wand!« Das Mädchen stand am geöffneten Fenster, einen halbgefüllten Rucksack zu Füßen.
Böhm fuhr auf das Mädchen los: »Die Hände hoch, du Aas!« Das Mädchen hob die Arme. »Vetter, Wolzow!« schrie Böhm. »Den Wenskat ins Krankenzimmer! Gomulka, Schwedt, den Banditen auf die Beine bringen, aber schnell, an die Mauer, Gesicht zur Wand! Holt, stehn Sie nicht rum, das Aas abführen, Gesicht zur Wand … Wirst du wohl die Arme oben lassen, du Hurenstück! Meermann, Runge … mitkommen!« Er lief davon. Gomulka und Schwedt hoben den Hausmeister auf, er wankte vor ihnen durch den Korridor auf den Hof. Das Mädchen folgte unaufgefordert.
Holt ging ein paar Schritte hinter ihr. Sie hielt die zitternden Hände im Nacken verschränkt, das Haar fiel über Hände und Schultern. Er trug den entsicherten Karabiner unter dem Arm. Die Linke umklammerte den Kolbenhals, der Finger lag am Abzug. Wenn sie wegläuft, dann muß ich schießen. Dann werde ich schießen. Sein Blick suchte einen Punkt zwischen den Schulterblättern. Etwas links, dachte er, dann spürt sie nichts.
Der Hausmeister lehnte den zerschlagenen Kopf gegen die Mauer des Schulhauses. Das Mädchen trat neben ihn hin. Holt stand dicht dahinter, das Gewehr in den Händen, er dachte: Gleich kommt Böhm wieder, dann muß ich schießen …
Böhm brüllte von der Haustür her: »In den Keller! Los, vielleicht bewegt ihr euch ein bißchen schneller!« Böhm öffnete unten ein stockdunkles Loch, ein massives Gelaß mit eiserner Tür. »Schwedt, Sie bleiben als Posten hier, bis ich Ablösung schicke. Die andern mitkommen.«
In der Wachstube stand der Trupp beisammen. Wolzow meldete: »Wenskat tot. Vier Mann auf Posten!« Böhm überflog die Gesichter, er murmelte die Namen: »Gomulka, Holt, Vetter, Zöllner, Meermann, Matzke, Runge … Schwedt im Keller … Wolzow, Sie übernehmen den Trupp! Ich hab mit dem Oberfeldmeister telefoniert. Er ist am Bahnhof. Wenn er zurückkommt, will er die beiden verhören. Er sagt, es stinkt, es stinkt überall, und es stinkt auch hier ganz gewaltig … Der erste Zug ist zurückgerufen worden. Der dritte Zug war nicht zu erreichen. Die Wachen werden heut nacht verdoppelt. Wolzow … Schulze ins Krankenzimmer. Dann das Erdgeschoß von Stroh säubern, ist zu brenzlich, alles hoch ins Obergeschoß, bloß das Wachlokal bleibt hier. Ich muß zur Brücke. Sie melden die Wache beim Oberfeldmeister, sobald er zurückkommt. Lassen Sie sich Befehle geben.«
»Erster Trupp hört auf mein Kommando«, rief Wolzow. »Vetter, Posten verständigen, die werden vorläufig nicht abgelöst! Zöllner und Meermann, Schulze holen!« Vetter ging durch die Tür. Wolzow rief: »Arbeitsmann Vetter, wollen Sie nicht den Befehl wiederholen?« – »Jawohl«, sagte Vetter verdattert. – »Ich bin mit Truppführer anzureden!« – »Jawohl, Truppführer!« – »Los, ab! … Ordnung muß sein«, schrie Wolzow. »Wir räumen die Zimmer im Erdgeschoß aus.«
Der erste Zug rückte ein. Das Haus dröhnte von Hammerschlägen. Sie nagelten von innen die herausgerissenen Türen gegen die Erdgeschoßfenster. Irgendwer befahl, auch die Flügel der Eingangs- und der Hoftür dazu zu verwenden. »Hauptsache, sie können uns keine Bomben durch die Fenster schmeißen«, sagte Unterfeldmeister Rischka, der den ersten Zug befehligte. Gegen Abend kehrten Lesser und Böttcher zurück. Wolzow meldete sich bei ihnen im ersten Stock. Als er die Treppe wieder herabkam, sagte er zu Holt: »Kannst die Parabellum tragen, er hat nichts dagegen.« Am Abend war auch Böhm wieder da, und Holt sah ihn hinter dem Oberfeldmeister in den Keller steigen. Wolzow brachte die Nachricht: »Die beiden werden morgen der SS übergeben.« Holt antwortete nicht.
Endlich wurde es ruhig im Haus. Der erste Zug unter Rischka übernahm mit je zwei Trupps die Bahnhofswache und den Streifendienst in der Stadt und rückte ab. Der zweite Zug wurde zur Brücken- und zur Quartierwache eingeteilt. Am späten Abend holte Böhm noch einen der beiden Trupps von der Schulwache zur Brücke. »Drei Trupps an die Brücke …«, sagte Gomulka, »und nur ein Trupp für die Schule?« – »Sie faule Sau!« schrie Böhm. »Da werden Sie eben nur alle drei oder vier Stunden abgelöst, ich brauch die Leute! Die Brücke ist wichtiger als das Quartier, der Oberfeldmeister hat das so befohlen!« Widerstrebend ließ er den Obervormann Rößler zurück. Wolzow stellte drei Doppelposten auf, vor dem Eingang auf der Straße und im Hof. Der dritte patrouillierte durch das Schulgelände.
Sie saßen im Wachlokal, Wolzow, Holt, Gomulka, Vetter, auch der Obervormann Rößler, ein ruhiger Mensch, der nur manchmal im Jähzorn üble Schimpfwörter hervorstieß. Wolzow rauchte eine dicke Zigarre und kommentierte die Tagesereignisse. »Wir sind vierzehn Mann hier, dazu Böttcher und Lesser. In der Nacht soll der dritte Zug zurückkommen, dann sind wir genug Leute.« Vetter meinte: »Also, diese Nervosität, so was! Wenn sie so aufgeregt sind, dann gibt es meistens überhaupt nichts.«
Holt verließ das Wachlokal. Das Gerede war ihm zuwider.
Er stand einen Augenblick an der Haustür und sah die beiden Posten unbeweglich im Dunkel … Er dachte an das Mädchen im Keller; dieser Gedanke quälte ihn wie ein körperlicher Schmerz. Ich hätte sie erschossen, dachte er. Er war unfähig, damit fertig zu werden. Er warf sich im Obergeschoß ins Stroh, aber er fand keinen Schlaf.
Elf Uhr löste er mit Gomulka den Streifenposten ab. Gomulka schärfte den anderen ein: »Daß ihr nicht etwa auf uns schießt!« Sie liefen langsam ihre Runde, die Straße vor dem Schulhaus entlang, durch den Garten um den Hof herum und auf der anderen Seite wieder zur Straße. Der Zaun beiderseits des Schulhauses war niedergelegt worden. Sie schwiegen und horchten angespannt in die Dunkelheit.
Es war Mitternacht. Sie verließen den Schulgarten und traten auf die Straße. In der Stadt, ganz nahe, knallte ein Schuß. Holt erstarrte. Eine wüste Schießerei begann. Rasche, dünne Feuerstöße aus Maschinenpistolen, dazwischen in immer dichterer Folge Gewehrschüsse. Beim Eingang brüllte es: »Steh!« Dann knallte es auch dort. Gomulka lief los, zum Eingang hin. Holt hörte hinter sich hastende Schritte durch das Gebüsch des Gartens brechen. Er schoß. Vor ihm in der Dunkelheit blitzte das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole. Jenseits des Schulplatzes, wo die Straße zwischen den Häusern stadtwärts führte, setzte heftiges Feuer ein, verstummte, flackerte wieder auf. Nun fielen auch aus dem Schulhaus Schüsse.
Holt hörte Schritte über das Pflaster hallen, jemand lief von der Stadt her auf den Garten zu, stürzte hin und schrie: »Hiiiilfe!« Holt war mit ein paar Schritten bei dem Gefallenen, der auf dem Bauch lag, den Kopf hob und röchelte: »Die Stadtwache … Die Streifen … Alles …« Dann klirrte der Kopf mit dem Helm auf das Pflaster: Am Straßenausgang jenseits des Schulplatzes begann ein Maschinengewehr zu feuern, in kurzen Stößen.
Holt flüchtete zwischen die Gartenbüsche. Aber auch auf dem Hof schoß es, hinter ihm im Garten, ganz nahe, überall. Er lief auf die Straße, lief nahe der Mauer am Schulhaus entlang, warf sich zu Boden und kroch zur Tür hin. Vor dem Eingang lag einer der Posten, der andere auf der Schwelle. Holt kroch über ihn hinweg ins Treppenhaus. Dort lag Rößler, unbeweglich.
Holt schrie: »Nicht schießen!« Er rollte sich zur Seite aus dem Schußwinkel des Maschinengewehrs, das seine Feuerstöße durch den Eingang ins Schulhaus schickte. Ununterbrochen fetzten Geschosse gegen die Wände. Oben, in der Vorhalle, blitzten in regelmäßigen Abständen die Abschüsse eines Karabiners auf.
Holt kroch, eng an die Wand gedrückt, die wenigen Stufen hoch und fand in der Halle endlich Deckung hinter dem Mauervorsprung. Wo die Tür ins Wachlokal führte, kniete Wolzow, in Hemdsärmeln und barhäuptig, und sandte Schuß auf Schuß durch die Tür ins Freie. Holt sah Vetter aus dem Wachlokal eine geöffnete Patronenkiste zu Wolzow hinschieben.
Wolzow lud. Er brüllte zu Holt hinüber, und bei dem Lärm der Schüsse konnte man sich nur schreiend verständigen: »Hast du’s geschafft, Werner? Zum Hoftor! Dort steht bloß der Kranz!«
»Wo ist Sepp?« schrie Holt zurück. Wolzow deutete mit dem Ellenbogen ins Wachlokal. »Streifschuß im Gesicht! Vetter hat ihn verbunden!«
Holt rechnete: Gilbert, Christian, Sepp und ich, sind vier. Rößler tot: fünf. Die Straßenposten tot: sieben. An der Hoftür einer: acht. Schwedt und Schwerdtfeger standen auf dem Hof, die sind wohl auch gefallen: zehn. Fehlen sechs Mann.
»Wo sind denn die anderen?« schrie er. Wolzow ließ sich von Vetter einen geladenen Karabiner reichen und gab das leergeschossene Gewehr zurück. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Die breite Holztreppe, die ins Obergeschoß führte, lag dem Eingang unmittelbar gegenüber. Ununterbrochen klatschten Geschosse in die Holzstiegen. Wolzow schoß wieder. Im Blitzen der Abschüsse sah Holt auf den zersplitterten Stufen drei regungslose Gestalten liegen, eine vierte lag am Fuß der Treppe in der Halle. Zehn und vier sind vierzehn. »Und Lesser und Böttcher?« schrie er. Wolzow antwortete zwischen zwei Schüssen: »Sind oben. Die traun sich nicht über die Stiegen runter!« Eine Kugel schlug dicht vor seinem Gesicht in den Mauervorsprung, der Putz stiebte. »Vetter, meinen Helm!« schrie Wolzow. Vetter reichte ihm den Stahlhelm.
Holt sprang endlich die Treppe hinunter zur Hoftür. Zu seiner Rechten führte die Kellertreppe hinab. Auch durch die geöffnete Hoftür schlugen ununterbrochen Schüsse herein und klatschten in die Mauer. Kranz stand eng an den Türrahmen gepreßt und schoß auf den Hof hinaus. Er hörte, als das Schießen einen Augenblick nachließ, wie Böttcher im Obergeschoß laut »Obacht!« rief, dann fiel in der Halle klirrend ein Gegenstand zu Boden.
Holts Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Wolzow fischte mit dem Gewehrlauf ein in Papier gewickeltes Päckchen zu sich heran, las und warf es Holt hin. Dann begann er wortlos wieder zu feuern. Holt hob das Päckchen auf, ein Schlüsselbund fiel zu Boden. Er drückte sich tief in die Ecke zwischen Hof- und Kellertür, entzündete ein Streichholz und las: »Befehl vom Oberfeldmeister. Sofort die Gefangenen erschießen! Schlüssel anbei. Böttcher.«
Holt warf das Streichholz weg. Die solln lieber sehn, daß sie runterkommen, dachte er. Er drehte den Zettel in den Händen. Er sah Kranz noch immer eng an den Türpfosten gepreßt und dann und wann einen Schuß zum Brunnen hinüberfeuern. Von der Straße her schoß das Maschinengewehr wütend seine Feuerstöße durch die Tür. Die Treppe war der Kugelfang. Da kommt keiner runter, dachte Holt, der Lesser nicht, der Böttcher nicht. Er warf den Karabiner auf den Rücken.
Während er sich die Kellertreppe hinabtastete, begann sein Herz vor Angst wie rasend zu schlagen. Er zog die Parabellum und entsicherte sie. An der Mauer entlang fühlte er sich zu der Eisentür hin. Als er sie gefunden hatte, stand er und horchte. Er mußte sich erst beruhigen, so sehr zitterte er vor Angst und Aufregung. Von oben drangen gedämpft die Schüsse zu ihm herab. Er zog den Schlüssel und öffnete. Das Licht eines Kerzenstummels fiel auf ihn.
Der Hausmeister stand schützend vor seiner Tochter. Holt stieß hervor: »Ihr müßt weg hier! Aber ich kann euch nicht rauslassen, sonst erschießen sie mich!« Das Mädchen starrte ihn an. Jetzt wird sie endlich begreifen, daß sie mir unrecht getan hat, dachte Holt. Der Hausmeister sprach mit seiner Tochter. Sie rief: »Schieß doch, Faschist!« Er schrie unbeherrscht, in seiner Nervosität durch dieses unverständliche Gebaren gereizt: »Red doch keinen Unsinn! Ich muß euch erschießen, und was ist, wenn jetzt einer kommt, dann bin ich dran, was soll ich denn tun?«
Sie redete hastig auf den Hausmeister ein, der mißtrauisch auf Holt und auf die Pistole blickte und dann irgend etwas antwortete. »Schnell doch!« rief Holt ungeduldig. – »Haben Sie Schlüssel?« – Holt nickte. – »Gegenüber ist Werkzeug … Eine Brechstange!« – Holt blickte zu dem winzigen, vergitterten Fenster hoch. Er verstand. Er probierte die Schlüssel an der gegenüberliegenden Tür. Das Mädchen stand schon neben ihm: »Geben Sie her!« Sie öffnete, und der Hausmeister schob Holt zur Seite und suchte in dem stockdunklen Loch, bis er ein großes, doppelt u-förmig gebogenes Eisen fand. Das Mädchen schloß ab und gab ihm die Schlüssel zurück. Holt steckte die Pistole weg. Der Hausmeister kletterte auf eine hochgekantete Kiste und wuchtete mit dem Eisen an den Gitterstäben. Holt sagte: »In fünf Minuten müßt ihr weg sein, dann kann ich melden, ihr wart schon fort, als ich runterkam.« Sie nickte. Er wollte die Eisentür schließen, aber plötzlich sagte er heiser: »Und wenn uns eure Leute heut nacht … dann denk an mich!« Sie sah ihn groß an. »Schlagt eure Anführer tot! Wir werden sagen, daß sie euch nichts tun!« Verrückt, dachte Holt, sie ist verrückt! Er warf die Tür ins Schloß, drehte den Schlüssel um und lief nach oben.
Er trat gerade in dem Augenblick wieder in den Hausflur, als Kranz an der Hoftür das Gewehr fallen ließ, sich nach vorn neigte, sich immer mehr zusammenkrümmte und dann lautlos nach rechts auf die Seite fiel, mitten in die offene Tür. Holt kniete hinter der Mauer nieder und schob den Gewehrlauf hinaus. Bei der Pumpe blitzten wieder Schüsse auf. Kranz streckte sich, dann lag er unbeweglich. Holt schoß das Magazin leer. Er lud und wartete. Sinnlos, dachte er.
Im Haus war es auf einmal ruhig. Auch Wolzow schoß nicht mehr. Aber auf der Straße feuerte noch immer das Maschinengewehr. Das geht doch nun schon eine Stunde so, dachte Holt. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht eins. Wolzow brüllte: »Werner?« Auf dem Hof verstummte das Schießen. Der entfernte Gefechtslärm war nun deutlich vernehmbar. Wird am Bahnhof sein, dachte Holt. Im Garten brach Gebüsch. Auf dem Hof rief jemand fremdartige Worte. Jetzt sind sie weg, dachte er. »Werner!« brüllte Wolzow wieder. Holt antwortete: »Der Kranz ist auch tot! Und die Gefangenen hab ich nicht erschießen können. Die waren getürmt!«
Wolzow riß das Gewehr hoch, auch Vetter schoß, sehr rasch hintereinander knallten die Abschüsse der Walther-Pistole. Dann war wieder Ruhe. »Plötzlich an der Tür waren sie!« rief Vetter. »Wollten einfach rein, so was!« Auf einmal verstummte auf der Straße das Maschinengewehr. Eine mächtige Detonation erschütterte das Schulhaus, eine zweite, dritte, vierte, der Boden bebte, von der Decke fiel Putz. Dann war es totenstill. Wolzows Stimme: »Herr Oberfeldmeister! … Das war oben!« Niemand antwortete. »Rauch«, schrie Wolzow, »es brennt!«
Holt lehnte sich an die Mauer. Aus. Vorbei. Er hörte Wolzow rufen: »Laßt keinen rein!« Dann jagte er die Treppe nach oben. Auf den Hof fiel flackernder Feuerschein. Wolzow polterte wieder die Treppe hinab, kam um die Ecke zu Holt und sagte: »Feierabend! Lesser und Böttcher sind hin … Handgranaten! Das Stroh brennt überall.« – »Gilbert!« schrie Holt. – »Sei doch still!« Wolzow nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Holt sagte: »Wer ist denn noch da?« Wolzow antwortete: »Wir vier von Anton, sonst keiner.«
Der Feuerschein schlug heller auf den Hof hinaus, auch durchs Treppenhaus flackerte rotes Licht. »Im Dunklen wär eine Chance gewesen«, sagte Wolzow, »aber jetzt knallen sie uns ab, wenn wir durch den Feuerschein laufen, darauf warten die in aller Herrgottsruhe.« Er dachte nach. »Wir müßten längst weg sein! Als es losging, hätten wir uns sofort zur Bahnhofswache durchschlagen müssen, das wär richtig gewesen, das können wir dem Lesser auf den Grabstein meißeln … Der Lesser«, sagte er plötzlich wütend, »hat’s gewußt, daß es heut losgeht.« Vetter rief: »Hier fällt solcher Kalk von der Decke!« – »Laß ihn fallen«, rief Wolzow zurück, »paß lieber auf den Eingang auf!« Er dachte wieder nach. »Sag mal, hast du etwa den Hausmeister auskneifen lassen?« – »Nein.« – »Komisch. Wie sind denn die getürmt?« – »Durchs Fenster.« – »Aber die Fenster sind doch vergittert!« – »Die Stäbe waren rausgebrochen«, rief Holt, »Herrgott, was wird denn aus uns? Sollen wir hier verbrennen?« – »Sei mal still!« sagte Wolzow. »Wo führt das Fenster hin? Auf den Hof?« – »Nein, in den Garten unter der Giebelwand.« – »Gib den Schlüssel her«, sagte Wolzow, »ich schau mir das an!« Er lief die Kellertreppe hinab. Über Holt fauchte und prasselte das Feuer, Fensterscheiben zerklirrten und fielen auf den Hof.
»Mensch!« rief Vetter entrüstet. »Dort drüben, am Schulplatz, dort laufen sie rum! Die denken wohl, wir sind nicht mehr da?« Er schoß, der Schuß dröhnte, als Antwort jagte das Maschinengewehr einen Feuerstoß durch die Tür, daß die Treppe splitterte. Holt sah auch hinter dem Brunnen und beim Gartenhäuschen ein paar Gestalten, auf die der Feuerschein fiel, aber er schoß nicht.
Wolzow tauchte in der Kellertür auf. »Wenn wir ein bißchen Glück haben, kommen wir in den Garten. Mal sehn, wie’s weitergeht.« Es geht also doch weiter, dachte Holt, es ist noch nicht alles zu Ende … »Und Sepp?« – »Wundschock. Wir nehmen ihn mit. Paß auf! Christian muß mit Sepp weg. Wir bleiben noch.« Er überlegte schon wieder, mit schräggelegtem Kopf. Holt rief ungeduldig: »Also los doch!« – »Na, einen Moment! Hab dich doch nicht so! Was ist denn heut mit dir los? Ich überleg bloß. Ob die uns hier noch raushaun? Kampfauftrag hatten wir keinen. Ich denke, man kann den Ausbruch verantworten.«
»Gilbert!« brüllte Holt. »Hör auf! Sonst hau ich allein ab!« – »Das wirst du nicht tun«, sagte Wolzow, und er war böse. »Auf gar keinen Fall! Organisierter Rückzug: ja. Aber nicht türmen!«
Holt dachte entgeistert: Vier Mann … und organisierter Rückzug!
Vetter und Gomulka krochen durch die Halle. Dann standen sie bei Holt. Gomulka stützte sich auf Vetter und auf seinen Karabiner. Er war erschöpft, sein Gesicht sah blaßgrau und eingefallen aus dem Mullverband hervor, die Lippen schimmerten bläulich, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. »Hast du Schmerzen?« fragte Holt. »Fast gar nicht«, antwortete Gomulka schwach. Er verschwand mit Vetter im Keller.
Auf der Straße schoß wieder das MG. Wolzow schoß zurück, er brüllte: »Schieß, Werner!« Jemand rannte aus dem Lichtschein in die Dunkelheit des Gartens. Holt schoß den Karabiner leer, über ihm tobte das Feuer, nun krachten Ziegel und Balken auf den Hof … Wolzow war neben ihm und steckte das Seitengewehr auf den Karabiner. »Laden, dann weg!« Sie flüchteten in den Keller. Holt stieg auf die Kiste und kroch durch das Fenster. Wolzow reichte ihm die Gewehre nach. Dann tauchten sie ins Gebüsch des Gartens. Gerettet! Holt blickte zurück. Das Feuer raste, die Flammen schlugen aus den Fenstern und hoch über dem Dach zusammen.
Unbehelligt erreichten sie den Bahndamm und folgten ihm zum Bahnhof. Hinter ihnen, in der Stadt, verstummte das Schießen. Sie mußten Gomulka stützen und kamen nur langsam voran. Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den Bahnhof, wo noch immer Schüsse knallten. Sie warteten, weit abseits im Wald versteckt, bis es hell wurde und auch hier das Feuer verstummte. Die Reste der Bahnhofswache hatten sich in einem Stellwerk verschanzt.
Ringsum war alles ruhig, als sei in der Nacht nichts geschehen. Sie meldeten sich bei Unterfeldmeister Rischka, der bleich und demoralisiert zwischen seinen Leuten hockte.
Gomulka kam bald wieder zu Kräften. Er ließ sich von Holt ein neues Verbandpäckchen um den Kopf wickeln. Der Schuß war vorn schräg über die Wange gefahren und hatte bis zum Ohrläppchen eine fingerlange Fleischwunde gerissen, die stark geblutet hatte.
Wolzow und Vetter zogen unterdessen mit ein paar Mann in die Stadt und fanden sie verlassen und menschenleer. Gegen zehn Uhr traf zögernd, in einzelnen Trupps, der dritte Zug beim Bahnhof ein, führerlos und stark gelichtet. Er war am Abend auf dem Rückmarsch weit außerhalb der Stadt angegriffen und auseinandergetrieben worden. Der Zugführer war gefallen. Die Trupps hatten sich in den Wäldern versteckt. Wenig später erschien Böhm mit einer fünf Mann starken Bedeckung am Bahnhof. Auch die Brückenwache war angegriffen worden. Böhm übernahm das Kommando über die Abteilung, lief mit dem Notizbuch herum und versuchte, die Verluste festzustellen. Die Abteilung war von hundertfünfundachtzig auf hunderteinunddreißig Mann zusammengeschmolzen.
Holt zitterte bei dem Gedanken an die kommende Nacht. Er lag in einem Kornspeicher. Wolzow trieb sich draußen herum; am Nachmittag sagte er: »Wenn’s dunkel ist, dann kommen die wieder.«
Aber am späten Nachmittag rollte eine motorisierte SS-Einheit in die Stadt. Die Arbeitsmänner drängten sich vor dem Bahnhof um die Lastwagen. Vetter rief: »Schau mal, was die für tolle Waffen haben!« – »Sturmgewehr 44«, sagte Wolzow, »eine neue Maschinenpistole.« – »Wenn wir so was hätten«, rief Vetter, »da hätten wir heut nacht bestimmt gesiegt!«
Holt saß teilnahmslos auf der Betonrampe eines Güterschuppens. Wenn sie wiederkommen, dann verlieren wir wieder fünfzig Mann. Und morgen abermals. Und spätestens übermorgen bin ich dran. Noch zwei Tage … Böhm ließ antreten. Die Arbeitsmänner kletterten auf die Lastwagen. Die SS stand Gewehr bei Fuß vor dem Bahnhof und blieb.
Die Fahrzeuge rollten in einem Tal den Weg entlang, der dem Lauf eines reißenden Gewässers folgte. Das ferne Geschützfeuer, das seit dem Morgen über den Bergen grollte, kam näher und näher. Am Abend erreichten sie ein Dorf in einem weiten Talkessel. Der Ort war mit SS vollgestopft. Die Abteilung erhielt eine windschiefe Feldscheune als Quartier. Endlich gab es warmes Essen und Verpflegung. Die Abteilung hatte in der Schule alles Gepäck verloren. Holt war noch im Besitz des Brotbeutels und verstaute darin Konserven und Brot. Zigaretten und Tabak hoben die Stimmung. Holt brachte Gomulka zum Verbandplatz. Ein Sanitäter besah die Wunde und sagte verächtlich: »Mach keinen Zimt wegen dem Läusebiß … Was hast du gehabt? Einen Wundschock willst du gehabt haben bei dem Kratzer? Du bist ja bescheuert!«
Am anderen Tage rückte ein Großteil der SS ab, nur die Stäbe und Troßeinheiten blieben zurück. Böhm hatte ausgeschlafen und zeigte sich sehr geschäftig. Aus den Beständen der SS erhielt die Abteilung eine dürftige neue Ausrüstung, Brotbeutel, Feldflaschen, Feldspaten und jeder eine Zeltbahn. Die drei Züge, zu vier Trupps, waren nun nur noch je einundvierzig Mann stark; als Truppführer wurden Arbeitsmänner, als Zugführer die dienstältesten Obervormänner eingesetzt. Sechs Mann waren überzählig, aus ihnen bildete Böhm einen »Kommandotrupp«, den er Wolzow übergab; Wolzow suchte sich Holt, Vetter, Gomulka und noch zwei andere aus. Am Nachmittag brachte Wolzow Schnaps. Der Alkohol gab Holt nur für kurze Zeit Kraft und Entschlossenheit zurück. Dann beherrschte ihn wieder das trostlose Gefühl von Verlassenheit und Angst.
Böhm schleppte den Kommandotrupp ständig mit sich herum. »Kommandotrupp? Eine Leibwache hat er gewollt!« sagte Holt. – »Wir sind die Leibstandarte Adolf Böhm«, rief Vetter, auf den die Ereignisse keinen sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten.
4
Die Abteilung erhielt einen neuen Einsatzbefehl. Wolzow erzählte. »Heut nacht hat die SS ein Dorf mit einer wichtigen Straßenkreuzung erobert und ist sofort weitergezogen. Wir sollen den Ort besetzen und die Kreuzung bewachen. Endlich mal ein eindeutiger Kampfauftrag, da weiß man doch, woran man ist!«
Sie marschierten, über dichtbewaldete, mächtig ansteigende Berghänge, durch urwüchsige Laubwälder, auf Waldpfaden und Pirschwegen. Böhm orientierte sich nach der Karte. Ein Trupp zog als Vorhut voraus, die Abteilung folgte in Schützenkette, weit auseinandergezogen. Auf einem breiten, befestigten Fahrweg, unangefochten, wenn auch vom Marsch erschöpft, erreichten sie am Nachmittag ihr Ziel.
Vor ihnen öffnete sich ein grünes Tal, das sich langgestreckt, etwa drei Kilometer breit, von Osten nach Westen zog. Der Fahrweg stieß im Süden aus den Wäldern heraus, den steilen Berghang hinab ins Tal, und jenseits der Talsohle, im Norden, wieder hoch in die bewaldeten Berge. Die Talsohle entlang, von Osten nach Westen, floß ein breiter Wildbach durch versumpfte Wiesen, und seinem Lauf folgte eine Straße, die im Westen hinter einer Krümmung des Tales verschwand. Wolzow taufte sie Talstraße. Wo beide Wege einander im rechten Winkel schnitten, dort sah man ein halbes Dutzend Häuser, und am Bach ein paar niedrige Gebäude. Das war die ganze Ortschaft.
Am Fuße dies Berges, auf den Wiesen, befahl Böhm Halt. Die weit auseinandergezogene Abteilung sammelte sich. Die Kreuzung lag etwa einen Kilometer vor ihnen. »Der erste Zug«, schrie Böhm, »gräbt sich hier links und rechts der Straße ein, Front nach Süden gegen die Berge. Zweiter und dritter Zug Gewehre umhängen! Ohne Tritt … marsch!« Etwa hundert Meter vor der Straßenkreuzung ließ er abermals halten. »Der dritte Zug marschiert über die Kreuzung und über die Brücke, bis etwa einen Kilometer hinter das Dorf, und gräbt sich dort ein, Front nach Norden gegen den Berghang. Dritter Zug abrücken!« Er zog die Karte hervor und beriet sich mit Rischka.
Holt sah sich um. Die Wiesen waren sumpfig. Kein Spaß, sich da einzugraben, dachte er. Fünfzig Meter vor ihm, rechts an der Straße, lag ein Haus, ein Wirtshaus offenbar. Links sah Holt drei einzelne Gehöfte, dann die Talstraße, dahinter den Bach, den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Die Gebäude jenseits des Baches, Haus und Schuppen, gehörten zu einer Sägemühle, wie Holt an den Bretterstapeln auf dem Hof erkannte. Im Osten der Ortschaft war der Bach gestaut. Dort zweigte ein Arm des Gewässers ab, lief unter der Straße hindurch und dann durch das Gelände der Sägemühle, ehe er wieder in den Bach zurückmündete. Rechts an der Talstraße, etwa zweihundert Meter östlich der Kreuzung, sah Holt ein weiteres einzelnes Gehöft liegen, niedergebrannt, in Trümmern.
Die beiden Unterfeldmeister berieten noch immer. Wolzow hatte sich einfach dazugestellt. Der Kommandotrupp war ihm gefolgt und stand um die beiden Führer herum. »Also gut«, sagte Böhm, »der zweite Zug nimmt im Dorf Quartier.« Wolzow legte die Hände an die Hosennaht und fragte: »Warum graben sich der erste und der dritte Zug einen Kilometer außerhalb des Dorfes ein? Man soll seine Kräfte nicht unnütz teilen!« – »Hörn Sie auf, Sie dreifacher Idiot!« brüllte Böhm außer sich. »Wer hat Ihnen erlaubt, hier dämlich herumzuschwafeln?« Wolzow setzte umständlich den Helm auf. Böhm schrie: »Der zweite Zug wie befohlen ins Dorf, als Reserve! Die Züge bleiben liegen, wo sie sind, auf freiem Felde sind wir denen über, ich laß mich doch nicht wieder auf einen Häuserkampf ein! An die Talstraße stelle ich Doppelposten, und Sie Idiot, Sie mit Ihrem Kommandotrupp, Sie werden Wache schieben, bis Ihnen das Gekröse zum Arsch heraushängt!« Die letzte Beschimpfung kam schon schwächer, seine Wut war verflogen. »Gewehre zusammensetzen! Es darf geraucht werden!« Er warf sich ins Gras und knöpfte die Feldflasche los. Wolzow! Der Kommandotrupp sucht Quartiere aus!«
Sie stiefelten den staubigen Weg entlang. »Schau mal, dort!« sagte Wolzow und wies mit der Hand nach rechts. Vor der Giebelwand des Wirtshauses neben der Straße lag ein grauer Haufen erstarrter Leichen. »Hat die SS Gefangene umgelegt!« Er rief über die Schulter: »Vetter, schaut euch links die drei Gehöfte an!«
Wolzow, Holt und Gomulka standen auf der Wegkreuzung. Sie gingen über die Brücke zur Sägemühle. Holt folgte Wolzow ins Wohnhaus. Gomulka öffnete die Tür zur Werkstatt. In den Räumen des Wohnhauses waren die Wände von Einschlägen zerhackt. Wolzow stapfte die Treppe hoch ins Obergeschoß. Holt sah unter dem eingeschlagenen Fenster einen Leichnam liegen, mit zertrümmertem Gesicht. Er lief ins Freie.
Aus der anderen Tür, die im rechten Winkel zur Wohnhaustür und nur wenige Schritte entfernt in die Werkstatt führte, trat in diesem Augenblick Gomulka, nein, er trat nicht, er taumelte. Er hielt sich an der Klinke fest, so daß er die Tür unwillkürlich hinter sich zuzog, dann fiel er gegen die Mauer. Sein Gesicht war grünlichgelb. Er krümmte sich zusammen, er schlug beide Hände vors Gesicht.
»Sepp!« rief Holt erschrocken.
Gomulka ließ die Hände sinken. Er stöhnte. Er sah Holt an. Aus seinen Augen sprach unbeschreibliches Entsetzen. »Geh nicht rein!« schrie er. »Mein Gott, geh nicht rein!« Abermals bedeckte er das Gesicht mit den Händen.
Holt war ratlos. Das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung schnürte ihm die Kehle zu. Gomulka sagte dumpf: »Doch … geh rein … Los, geh!«
Holt nahm den Karabiner von der Schulter, aber er hängte ihn wieder um, zog die Parabellum und entsicherte sie. Er riß die Tür auf und schaute in einen schmalen Korridor. Er trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er spähte vorsichtig in das kleine Büro. Nichts. Schließlich ging er in die Werkstatt.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Dann sah er. Was er sah, war so über alle Maßen grauenhaft, daß es sich in seinem Hirn erst wie aus Mosaiksteinchen zu einem vollständigen Bild zusammenfügen mußte. Aber dann begriff er. Alles um ihn begann sich zu drehen, vor seinen Augen wurde es rot und dann schwarz. Er hielt sich am Türpfosten fest. Er wollte fliehen, aber die Glieder versagten und begannen haltlos zu zittern.
Er sah: Eine Kreissäge. Auf dem mit Sägespänen bestreuten, blutgetränkten Boden lagen russische Uniformstücke verstreut, und dazwischen ein paar über den Knien abgesägte Beine, eine Hand, ein Stück Schenkel. Auf dem Tisch der Kreissäge lag der nackte, armlose Oberkörper eines Menschen. In die Brust war ein großer Sowjetstern geschnitten. Aus dem Leib hatte das runde Sägeblatt die Gedärme herausgezerrt, und Eingeweide, Fleischfetzen und Kot erfüllten den Raum mit einem unerträglichen Gestank.
Jemand polterte durch die Tür und prallte zurück. Es war Wolzow. Auch er wurde aschfahl. Er zog die Schultern nach vorn, sein Kopf kippte zur Seite. Dann packte er Holt am Arm und zog ihn ins Freie.
Holt wankte ein paar Schritte in den Abend hinaus. Er spürte, wie ihm der Mageninhalt hochkam. Er erbrach sich. Wolzow sagte neben ihm: »Immer raus damit … Jetzt geht’s schon wieder besser!« Dann stieß er Holt mit der Faust in den Rücken: »Los, weg hier!«
Sie gingen die Straße zurück und trafen Vetter mit den anderen. »Zwei Gehöfte sind ganz ordentlich«, sagte Vetter, »aber keine Sau im Stall, nicht mal ’n Karnickel!« – »Halt’s Maul!« sagte Wolzow.
Er ging zu Böhm. Böhm fragte: »Wo?« Wolzow deutete mit der Hand ins Dorf. Böhm hob die Schultern und schüttelte den Kopf, aber da rief Wolzow: »Wir haben auch Nerven, gehn Sie doch hin und sehen Sie sich an, was für eine Sauerei die SS dort angerichtet hat!« Rischka zog Wolzow zur Seite, nestelte seine Feldflasche los, und Wolzow nahm sie und trank. Holt sah das alles teilnahmslos mit an. Wolzow reichte ihm die Feldflasche. »Trink! Los doch, es ist Schnaps, das hilft, nimm noch einen Schluck, du auch, Sepp!« Holt trank und gab die Flasche weiter.
Vetter führte den Zug zu den beiden Gehöften. Bald wurde es dunkel. Böhm stellte den Kommandotrupp an den Talweg. Holt und Gomulka wachten nach Osten hin, bei dem einsamen, ausgebrannten Gehöft.
Wolzow durchstreifte das Dorf. Gegen Mitternacht kontrollierte Böhm die Posten, mürrisch und mißgelaunt. Als er gegangen war, kam Wolzow wieder und rauchte bei Holt und Gomulka eine Zigarette. Er erzählte: »Ich hab ihm noch mal vorgeschlagen, die beiden Züge ins Dorf zu holen. Ich hab ihm gleich vorhin gesagt, wir müssen die Mühle abbrennen, aber er will nicht. Wenn sie das Dorf einnehmen und die Bescherung in der Mühle sehen, dann lassen sie ihre Wut an uns aus. Ich versteh die SS nicht! Wenn man so was macht, läßt man’s doch hinterher nicht offen rumliegen.« Er trat die Zigarette aus. »Ich komm wieder.« Er tauchte in der Nacht unter.
Gomulka hatte den Abend kein Wort gesprochen. Seine Bewegungen waren fahrig. Jetzt, da sie in der Dunkelheit beieinanderstanden, sagte er plötzlich: »Ich hab es gewußt. Aber ich hab es nicht geglaubt.« Erst nach Minuten fuhr er fort: »Jetzt glaub ich alles.«
Holt nahm den Karabiner von der Schulter und legte ihn auf die Patronentasche. Auge um Auge, Zahn um Zahn, dachte er. »Gnade Gott uns allen, wenn wir nicht siegen!«
»Siegen!« sagte Gomulka verächtlich. »Das gibt es nicht. Das darf nicht sein, daß so was siegt!«
Holt antwortete nicht. Eine halbe Stunde verging. Es war still, nur der Bach rauschte.
»Ich hab, seit ich in die Schule gehe, nicht mehr an Gott geglaubt«, sprach Gomulka wieder, und seine Rede war verworren. »Ich kann auch nie mehr an Gott glauben … Aber daß es den Teufel gibt, das glaub ich.« Er sprach mit entstellter Stimme: »Seit ich das heute gesehen hab … und wenn ich nun denk, wie es werden wird mit Deutschland, dann hör ich meine Mutter, wie sie mir früher einmal aus der Bibel vorgelesen hat. Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden … und werden begehren zu sterben, und der Tod wird vor ihnen fliehen … Und ich seh das Kriegsende … das fahle Pferd, von dem es heißt: Und der darauf saß, deß Name hieß Tod. Und die Hölle folgte ihm nach …«
Holt schauderte. Nun wußte er das Gefühl zu deuten, das ihn seit Stunden nicht mehr losließ. Es war Todesangst. Er horchte mit allen Sinnen in die Dunkelheit. Der Mond ging erst frühmorgens auf. Das Rauschen des Baches deckte alles zu. In einsamer Nacht, und auf verlorenem Posten.
Wolzow rief die Losung, noch ehe seine Schritte laut geworden waren. »Was Neues? Nein? Es ist gleich eins.« Er stand regungslos. »Böhm hat sich hingelegt. Ich geh jetzt mal zum dritten Zug. Wenn was ist … schießt lieber zu früh als zu spät.«
Die Nacht sog ihn auf.
Es wurde empfindlich kalt. In der Dunkelheit leuchtete nun blaß der weiße Nebel, der aus dem Bach stieg und langsam über die Wiesen kroch. Gomulka flüsterte an Holts Ohr: »Ich hör was!« Holt starrte in die Nacht. »Dort vorn!« Holt sah und hörte nichts. Gomulka hob das Gewehr.
»Warte!« Holt ging langsam den Weg entlang. Er dachte: Das ist falsch, da kann Sepp nicht schießen. Aber er ging doch weiter. Endlich blieb er stehen und lauschte. Nichts. Nur der Bach rauschte. Holt drehte sich um und horchte nach Süden über die Wiesen hin. Nichts.
Ein klirrender Schlag traf seinen Helm, glitt ab, traf die Schulter, warf ihn hin, im Fallen drehte er sich um sich selbst, dann traf ein zweiter, kraftvoller Kolbenschlag seinen Körper. Der Klang einer gewaltigen erzenen Glocke dröhnte in seinen Ohren, hob ihn hoch über das Tal, bis er das einsetzende Schießen nur noch von fern vernahm, das Geschrei der Kämpfenden, das Brüllen Wolzows, der den dritten Zug auf der Brücke in einen Feuerhagel hineinführte. Aber das alles war schon ausgelöscht. Ein großes, warmes Glücksgefühl erfüllte ihn.