10

 

»Wo wir sind? Auf dem rechten Oderufer«, sagte Wolzow. »Vorhin sind wir über die Oder gefahren.« – »Sind wir eben wieder drüben!« rief Vetter. Fern grollte Kanonendonner. Der Wald glich einem Heerlager. Schützenpanzerwagen, Panzergrenadiere, Zugmaschinen, Artillerie, Lastwagen, Selbstfahrlafetten, Sturmgeschütze, ein Depot von Benzinfässern, ein paar Baracken, auch Zelte im Schnee, und überall Soldaten. Burgkert sprach mit einem Oberleutnant. Dann ging er voran. Holt folgte ihm.

Ein Eisenbahngleis schnitt durch den Wald. Ein Güterzug, auf vielachsigen Schwerlastwaggons Panzer mit überdimensional langen, schlanken Rohren. »Panther!« rief Vetter begeistert. Motoren brüllten auf. Über Stapel auseinanderrollender Baumstämme krachten die Panzer von den Waggons und fuhren zum Tanken. Vetter rieb sich die Hände. »Mit solchen Panzern, also da müssen wir siegen, was?« Die achtzehn Panzer rollten ins Dickicht am Waldrand. Die zusammengetrommelten Panzerleute wurden eingeteilt. Burgkert war auf einmal ein wichtiger Mann. »Ich übernehm die Panzer. Dieser Schnösel von Oberleutnant dort, der muß hierbleiben. Die Reise ist ihm zu riskant.« – »Wir fahren mit Ihnen«, sagte Wolzow, »reden Sie nicht, Herr Oberfeld, ich mach Richtschütze, Holt Funker, Vetter Ladeschütze, da haben Sie eine Besatzung, auf die Sie sich verlassen können!« Burgkert sah auf Holt. »Mit zwei Geräten?« Holt nickte. »Rekruten«, sagte Burgkert, und die Hand, in der er die Zigarette hielt, zitterte, »wenn ihr aus den Latschen kippt! Ich steig um und laß euch im Dreck, mir macht das gar nichts aus!« Holt nickte abermals. Er sah gedankenlos ein paar Panzer-III-Fahrgestelle mit aufmontierter Zweizentimeter-Flak in Vierlingslafette auf die Lichtung hinausrollen. Dann folgte er Wolzow zum Chefpanzer. Aufmunitionieren! Das erinnerte an die Zeit in der Flakbatterie. Er zog die Granatpatronen aus den Körben, die man zu ihnen heranschleppte, und reichte sie hoch zu Vetter. Der Oberleutnant ging mit Burgkert die Reihe der Panzer entlang. »Schweinerei verdammte! Die Kerle rauchen! Soll der ganze Wald in die Luft fliegen?«

Holt reichte eine Patrone hoch, er konnte kaum noch die Arme heben. »Bewegt euch!« Man fluchte: »Antreiber, verdammter!« – »Die Moral der Truppe ist keinen Groschen mehr wert!« schimpfte Wolzow. Er setzte sich verschnaufend auf einen leeren Korb.

»Fertig!« Vetter kletterte aus dem Turmluk und sprang auf den Boden. Ein Soldat latschte durch den Schnee, ein kleiner Kerl mit bartstoppeligem Gesicht und einem kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, die Hände in den Taschen des langen Mantels, unter dem ein paar klobige Filzstiefel hervorsahen. »Chefwagen?« Er war zerlumpt und verdreckt. »Klotzsche, nicht bei Dresden. Bin der Fahrer.« Er stieg durch das Luk. Irgendwo im Wald schrie eine Stimme: »Motoren warmlaufen lassen!« Unerträglicher Lärm erhob sich. Burgkert brachte die Funkunterlagen. »Nach dem Abstimmen Funkstille.« Holt lief die Reihe der Panzer entlang und notierte mit froststarren Fingern die Namen der Funker. Der Schnee leuchtete. Nun stieg der Mond über die Wälder. Wolkenfetzen warfen gespenstische Schatten. Eschenhagen, Papst, Adam in den Zugführer-Fahrzeugen, Maaß, Jähner, Gehrke und so weiter, Wenzlau, Leutka, wie sie alle hießen.

 

Holt kletterte auf den Panzer, hing in der Luke und suchte mit den Füßen einen Halt. Im Turm brannte elektrisches Licht. An der Kanone stand Wolzow und rieb mit einem Lederläppchen das Okular der Richtoptik blank. »Fabrikneue Wagen!« schrie er durch das Motorengebrumm. »Sie haben uns zwei davon weggeholt, für den Kommandeur!«

Es war eng im Panzer, alles war mit Patronen vollgestopft. Holt kletterte auf seinen Sitz hinab und setzte die Lederhaube mit den Kopfhörern auf. Er schaltete die Funkgeräte ein und schloß die Morsetaste kurz. Abstimmen auf Dauerton. Er schob sein Gepäck mit den Füßen nach vorn. Vetter hatte ihm Verpflegung hingelegt. Er spürte keinen Appetit. Er fühlte sich beengt zwischen den Stahlplatten, in der stickigen Luft. Ein Lied ging durch seinen Sinn: »Dann wird uns der Panzer zum ehernen Grab …« Er schaltete am Bordsprechkasten und hörte Wolzows unbekümmerte Stimme: »Christian, daß du mir nicht Panzergranaten und Sprenggranaten verwechselst, das kann den Kopf kosten!« – »Ruhe!« schrie Holt durchs Kehlkopfmikrophon. »Gequatsche, unnützes! Vetter, du bist Ladeschütze, nennst du das einen munitionierten Panzer? Ich hab keinen einzigen Gurt am MG!« Im Mittelwellengerät, das die Verbindung nach oben hielt, pfiff endlich der Dauerton, und dann eine scharfe Stimme: »Kommandeur an alle, kommen!« Holt hörte Sturmartillerie und Panzergrenadiere und gab seinen Namen bekannt. »Aber Leute, wozu gibt es Decknamen auf der Funktafel?« – »Schnauze, Idiot!« schrie es im Kopfhörer. »Wer ist hier Kommandeur, du oder ich? Piep nicht so’n langen Ton, du bist hier nicht in der Kaserne! Funkstille. Bei Abfahrt auf Empfang! Fertig!« Der Kommandeurfunker war noch nicht verstummt, da brüllte schon Porschke von der Sturmartillerie: »Was ist denn das für ein blöder Heini?« Fern meckerte eine Stimme: »Der blöde Heini ist ein Leutnant, der soll heißen Josef von Ägypten, denn er trägt einen bunten Rock und dünkt sich mehr denn seine Brüder!« Holt schüttelte den Kopf und schaltete ab. Über das Ultrakurzwellengerät rief er die Panzer: »Chef an alle … kommen!«

Alle fünfzehn Panzer meldeten sich. »Funkstille! Die Russen peilen! Ende.« Holt saß trübsinnig auf seinem Ledersitz. Vetter kletterte in den Bauch des Panzers hinab und machte Holts MG schußfertig. »Daß du so munter bist!« sagte Holt. – »Wir haben mit der Verpflegung solche Tabletten bekommen, die machen munter, deine hat Gilbert!«

Noch immer klirrte der Frost in den Baumwipfeln. Holt ging langsam durch den Wald. Überall liefen die Motoren der Panzer, der Sturmgeschütze und Schützenpanzerwagen. Holt sah Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, Panzer-III-Fahrgestelle mit Flak, Feldhaubitzen auf Panzer-IV-Fahrgestellen, eine überlange 8,8-Zentimeter-Kanone auf Selbstfahrlafette. Schwer bepackte Infanteristen zogen im Gänsemarsch durch den Wald und lagerten sich bei den Panzern. Die Panzergrenadiere saßen fahrbereit in ihren Wagen. Das Motorengeräusch löschte das ferne Grollen der Front aus. Im Osten, über den Wäldern, dämmerte der Morgen.

Holt lief zum Panzer zurück. Oberfeldwebel Burgkert hatte die Karte über das Schutzblech gebreitet. Wolzow leuchtete mit der Taschenlampe. Er hielt Holt ein kleines Röhrchen hin. Pervitin? Mal sehn, wie’s wirkt. Holt studierte Burgkerts Gesicht.

Der Oberfeldwebel war wieder alkoholisiert, seine Stimme rollte, die Hände zitterten nicht mehr, die eingefallene Gesichtshaut straffte sich. Er nestelte an der Feldflasche und trank. Er redete mit Wolzow endlos über den Kampfauftrag. »Sind Kampfgruppe Bredow … die Panzer nehmen die Spitze. Sturmgeschütze, Artillerie auf Selbstfahrlafetten, nennen sich Sturmartillerie-Abteilung, folgen dichtauf, dann zwei Bataillone Panzergrenadiere, auf Schützenpanzerwagen. Bei uns sitzt eine Sturmkompanie auf. Dann ist noch motorisierte Artillerie da, der müssen wir erst Platz schaffen, ein Regiment Infanterie auf Lastwagen soll auch noch nachkommen.« – »Bißchen wenig Panzer«, sagte Wolzow. Burgkert erklärte die Lage, redete von einem mächtigen Brückenkopf des Gegners auf dem linken Ufer, aber weiter nördlich stehe noch der Rest eines deutschen Korps und halte auf dem rechten Ufer einen Brückenkopf mit einer Pontonbrücke … Kennt sich kein Mensch mehr aus, dachte Holt. »Der Russe hat momentan nur Infanterie in der Front liegen«, sagte Burgkert. »Er formiert sich neu. Das Korps im Norden sollte sich zu uns durchschlagen, ist aber liegengeblieben. Jetzt sollen wir von Süden her durch die Russen zu ihm stoßen und eine Gasse öffnen.« Er fluchte: »Aber das alles geht uns einen Dreck an! Ich hab ganz andere Sorgen! Bis zum Angriffsziel sind es etwa neunzig Kilometer, und die Scheißpanther fahren bloß hundertzehn … Daß wir mit den Panzern durchrammeln, das halt ich für möglich, wenn wir nicht aus Versehen auf eine Bereitstellung fahren. Aber ob der Sprit reicht! Alles andere ist Sache der Infanterie.« Er sah auf die Uhr. »Wir fahren voraus. Holt, sag durch: Chaussee, dann Gelände, bis wir wieder eine Straße schnappen.« Er nahm einen Schluck aus der Feldflasche. Die herumstehenden Infanteristen saßen auf und zogen sich Zeltbahnen über die Köpfe. Holt glitt auf seinen Sitz hinab. Er fühlte sich in eine eigenartige Stimmung versetzt. Undurchschaubare Gefühlswallungen erschütterten ihn, ihm war seltsam klarsichtig, alles war nahe herangerückt, die feinsten Knistergeräusche im Kopfhörer klangen laut und deutlich, das linke Augenlid flatterte. Die Aufregung, dachte er, oder die Tabletten …

 

Mit einem Ruck zog der Panzer an, und die sechzehn Panther setzten sich an die Spitze der Kampfgruppe, gefolgt von den Sturmgeschützen, den Selbstfahrlafetten und der langen Kette der Schützenpanzerwagen. Holt sah durch die Richtoptik des Bug-MGs. Der Wagen brach durch das Unterholz, walzte ein paar junge Kiefern nieder, überquerte die Lichtung, wo die Selbstfahrlafetten mit der Vierlingsflak darauf warteten, sich anzuschließen, und kroch dann auf die Chaussee.

Er kletterte in den Turm und schob den Oberkörper neben Vetter ins Freie. Der Oberfeldwebel ragte bis zum Gürtel aus dem Turmluk. Der Fahrtwind schlug eisig in die Gesichter. Das fünf Meter lange Rohr der Kanone reichte weit über den Bug hinaus. Sie passierten offene Panzersperren, an denen Soldaten wachten. Der Himmel war bedeckt, tiefhängende Wolken trieben von Norden her über die Wälder. »Das rettet uns vor den Schlachtfliegern!« meinte Burgkert mit einem Blick zum Himmel. Vor einer flachen Steigung der Chaussee schaltete der Fahrer und gab Gas. Holt glitt, vom eisigen Fahrtwind durchfroren, in die Tiefe zurück. Auch Burgkert tauchte in den Turm. Holt hörte im Kopfhörer die Stimme des Kommandeurfunkers, der nach der Sturmartillerie schrie: »Kommen! Verdammt, verfluchte Idioten … kommen!« Ganz schön in Fahrt, dachte Holt. Endlich meldete sich Porschke bei den Sturmgeschützen, dann Klein bei den Panzergrenadieren. »Pennst du? Mensch, es sollen Iljuschins oben sein! Aufpassen!« Holt gab die Warnung weiter. Auf einmal hielt der Wagen mit einem Ruck, der Holt vornüber warf. Soldaten umringten den Panzer. Durch die Optik sah Holt am Straßenrand zwei Panzerwracks liegen, im Gebüsch schwere Flak. Der Panzer fuhr wieder an. Holt bediente mechanisch die Funkgeräte. Der Kommandeurfunker sagte leichthin: »Der Russe trommelt ein bißchen auf die Frontlinie, das ist bloß Nervosität, ihr greift an!« Und gleich darauf: »Der Kommandeur kommt später mit der Feldartillerie nach. Meldung, wenn ihr durch seid.« Holt schüttelte den Kopf, aber der Oberfeldwebel begann zu fluchen, dann trank er aus einer Schnapsflasche und schimpfte weiter: »Erst hetzt uns der Alte in seinem Knopflochfieber in dieses Scheißunternehmen, und dann bleibt er zurück, so was lieb ich!«

Wieder hielt der Panzer. Holt steckte den Kopf in die eiskalte Winterluft. Die Chaussee verließ ein dichtes Gehölz. Die Straße lief schnurgerade in die Ebene, in eine öde, weiße Schneewüste. Holt blickte nach Osten. Felder, Wiesen und Buschwerk bis hin zum Horizont. Dort aber, fern, hing es wie ein Nebelvorhang über der Ebene, wie Wolkendunst … Vor dem Panzer standen feldgraue Gestalten mit weißen Helmen. Burgkert starrte lange durchs Fernglas. Dann befahl er Holt, den Kommandeur zu rufen. »Der wird hier gebraucht!« Nichts rührte sich. Nur die freche Stimme Porschkes von der Sturmartillerie lästerte: »Die Herren frühstücken!« – »Holt, du sollst den Kommandeur rufen!« schrie Burgkert wütend. Er hörte mit und rief über den Bordfunk: »Nicht so höflich!« Endlich war die Verbindung hergestellt, und der Kommandeurfunker schnauzte: »Was ist bei euch für eine Sauerei im Gange? Warum greift ihr nicht an?« Burgkert wurde böse. »Ich seh’s von hier, die fetzen in die Front rein, was das Zeug hält!« Die Antwort lautete: »Unverzüglich angreifen.« Burgkert schrie: »Wir greifen an! Aber wenn die halbe Kompanie liegenbleibt, dann solln sie uns kreuzweis …!« Die können uns nämlich gar nichts! dachte Holt. In einer halben Stunde sind wir hinter den Russen. »Unerhört!« kam der Kommandeurfunker wieder. »Feldgendarmerie hinterherschicken …« Burgkert brüllte: »Sie sollen! Sollen sie doch! Dann drehn wir die Rohre um!« Holt schaltete ab.

Die Soldaten, die den Panzer umstanden, grinsten. »Traut euch wohl nicht ins Feuer, ihr Aristokraten? Wir müssen da mit’m bloßen Wanst rein! Die Herren sind sich wieder mal zu schade!« Burgkert trank aus der Schnapsflasche. Dann gab er seine Befehle: »Linksschwenkt, dann rechts um und durch.«

Mit aufheulendem Motor rollte der Panzer von der Chaussee, fuhr am Waldrand entlang, schaukelte wie auf hoher See. Die schwierige Wendung klappte, die Panzer rollten ausgeschwärmt über die Ebene. Am Waldrand fuhr auch die Sturmartillerie in Reihe auf.

Wolzow schrie: »Werner! Laß zwei Wagen vom ersten Zug links raus fahren, daß wir beide Flanken geschützt haben!« Die abgesessene Sturminfanterie keuchte in Rudeln hinter den Panzern her. Holt hörte Burgkert sagen: »Klotzsche, paß auf, daß wir nachher nicht die eigene Infanterie zermanschen!« Er starrte durch die Richtoptik seines MGs. Vor ihm endete die Welt in einer schwarzen Rauchwand, in der ununterbrochen rote und weiße Blitze zuckten. Durch das Motorengedröhn drang nun der Donner der Einschläge bis unter den Kopfhörer. »Luken dicht!« Der Feuervorhang war da, war kein Vorhang mehr, war trüber Nebel, der um die Panzer wogte, schwarzer Rauch, und vor dem Bug des Wagens sprang eine riesige Erdfontäne auf, der Wagen schwankte hinab in einen Trichter. Holt hörte nichts, nicht das Donnern der Einschläge, nicht das Klirren der Splitter gegen die Panzerung, nicht das Geheul der heranfegenden Granaten, er hörte nur das Aufbrüllen des Motors, als Burgkert schrie: »Klotzsche … Vollgas! Durch und drauf!« Der Wagen taumelte durch Trichter, von Einschlägen umzuckt. Holt preßte das Auge an die Optik. Der rechte Panzer war etwa dreißig Meter voraus, und die Sturminfanterie keuchte hinter ihm durch die Einschläge und fiel im Feuer zurück … »Klotzsche! Schützenlöcher! Vorsicht!« Der Panzer wand sich durch Grabenstücke und Löcher. Holt wollte nichts mehr sehen. Der Wald der Einschläge, die Gestalten in den Löchern, die hier in höllischem Feuer lagen, die Trupps der nachfolgenden Sturminfanterie, die der Splitterregen lichtete und die sich verzweifelt an die Panzer klammerten und sich durch Schnee und Dreck schleifen ließen … er wollte es nicht mehr sehen, aber er hörte Burgkert: »Wir sind durch!« Schwankende Erde, von Rauch überweht … und dann zerriß der Nebel, und das Feld lag frei, bis zum buschbestandenen Horizont … Burgkert schrie: »Jetzt paßt auf Nahbekämpfer auf!« Ein ganzes Ausbildungsprogramm wurde in Holt lebendig: wie man sich in den toten Winkel eines Panzers pirscht, wie man sich überrollen läßt, wie man von hinten auf den Stahlkoloß losgeht … Aber wie man im Innern dieses Stahlgrabes sitzt, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, gelähmt vor Angst, das erlebte er zum erstenmal, die Sinne wach wie ein Tier, das sich in Todesangst duckt … Er umklammerte den Handgriff des Maschinengewehrs, es war wie in der Kaserne auf dem Schlingerstand, er sah durch die Optik einen Graben vor sich und fremdartige Helme, sah weiße Tarnmäntel hinter der Brustwehr, hörte Burgkert schreien und den ersten schmetternden Schlag der Panzerkanone … Wolzow schießt! Auf der Grabenböschung sprang eine Fontäne von Feuer, Schnee und Erde hoch. Die Turm-MGs rasselten. Da tauchte der Graben schon unter den Gesichtskreis, der Bug des Panzers senkte sich tief in die Erde und stieg mit brüllendem Motor hoch … Und im Kopfhörer Burgkerts Stimme: »Die Infanterie geht mit dem Bajonett gegeneinander …« Und im Kopfhörer der Schrei des rechten Nebenmannes: »Chefpanzer … Bei uns … ist einer aufgesessen, o Gott, schießt ihn runter! Aaaaah … schießt ihn runter!« Holt schrie: »Wolzow … rechter Nebenmann … hilf ihm doch!« Aber Burgkert brüllte: »Neun Uhr! Sprenggranate!« – »Hab selbst zu tun!« Wolzow riß den Turm nach links. Wieder der rechte Nebenmann, die unkenntliche Stimme des Funkers in Todesangst: »Wir brennen … Hiiiilfe!« Wolzow eiskalt: »Wieder’n Graben, Herr Oberfeld, Schützenlöcher!« Mit einem Ruck hielt der Panzer. Die Kanone schmetterte. Der Fahrer: »Hab ein Schützenloch unter der Kette!« Der Motor raste, der Panzer drehte sich wie ein Kreisel um seine Achse … In Holt stieg das Grausen hoch. Aber der Panzer ließ nun die Gräben hinter sich und stieß in eine von kahlem Gebüsch bestandene Senke hinab.

Links um! Von rechts schoß Artillerie. Wieder klappte das Manöver. Weit auseinandergezogen jagte die Kompanie nach Norden. Die Artillerie faßte die letzten Wagen. Im Kopfhörer Geschrei. Dann Stille. Holt wischte sich über das Gesicht, das naß war von Schweiß oder von Tränen. Wo ist die Infanterie?

Es gab keine Sturminfanterie mehr. Der Panzer kroch auf ein fernes Waldstück zu, krachte hinab und durch das Eis eines zugefrorenen Baches, schob sich schwerfällig wieder hinauf und brach sich dann durch Buschinseln Bahn. Die Züge meldeten sich. Vier Wagen verloren! Der Chef der Sturmartillerie kam: »Sind durch mit Verlusten. Folgen euch.« Und die Panzergrenadiere kamen, schon schwächer: »Kämpfen MGs und Widerstandsnester nieder.« – »Weiter«, rief Burgkert, »Tempo, Klotzsche!«

Sie näherten sich rasch dem Waldstreifen. Vor dem Wagen fuhr eine Erdfontäne hoch. »Pak! Paaaak!« brüllte Burgkert.

Nein, Panzer! Panzer … drei Uhr! Wolzow, Panzergranaten!« Und zum Fahrer: »Klotzsche, links hinter die Büsche, schnell! Wolzow, zwei Uhr, die hohe Buche mit dem abgehackten Gipfel, hast du? Links davon, etwa dreißig Meter, im Gebüsch … hast du ihn?« Der Wagen verkroch sich im Buschwerk und hielt. Die Kanone schmetterte. Über Funk riefen Stimmen: »Halbrechts am Waldrand Panzer!« Die Wagen verkrochen sich in den Strauchinseln, zwischen Hainbuchen, jungen Fichten und Gestrüpp. Die Motoren liefen nur noch leise. Die Kanonade der Panzerkanonen schwoll an. Das meterlange, schlanke Rohr ragte durchs Gestrüpp ins Freie. Wolzow rief: »Klotzsche, ich hab einen Zweig vor der Optik … ein Stück vor!« Der Panzer ruckte an und schob den breiten Bug durch die Büsche. Nun konnte auch Holt durch die Optik das weite Feld bis zum Waldrand übersehen. Die Kanone feuerte. »Der ist gut getarnt!« rief Wolzow. Wieder krachte die Kanone. »Treffer!« rief Burgkert. »Gut, er kraucht zurück, rasch noch eins hinterher!« Die Kanone schmetterte, die Kartusche klirrte in den Sack. Vetter riß das Luk auf und warf die heißen Messinghülsen in den Schnee. Kalte Luft stürzte in den Bauch des Panzers. »Noch einer!« sagte Burgkert. »Mehr links, Wolzow, ein Uhr, knall mal in den komischen roten Busch … ja, etwas höher!« Die Abschüsse der Kanone füllten den engen Raum bis zum Bersten. Da fegte es in die Buschinsel, zerfetzte das Hainbuchengestrüpp, knickte die jungen Eichen, überflammte das dürre Geäst mit gelbem Feuer … »Luke dicht!« brüllte Burgkert. »Wolzow! Einer hat uns entdeckt! Rechts! Drei Uhr! Neben dem Busch … schnell doch, er schießt!« Diesmal knallte ein harter Schlag gegen den Panzer. »Treffer! Ist was passiert?« Der Fahrer rief: »Linke Kette!« Der Motor dröhnte, der Panzer ruckte an und hielt wieder. »Alles heil!« Da schlug es drüben flammend in den Waldrand, zerfetzte Bäume und Sträucher, warf Erde und Gebüsch durch die Luft. »Die Fünfzehner!« rief Burgkert aufatmend. Da kam schon der Ruf über das Mittelwellengerät: »Wir decken sie ein! Geht ran, es sind bloß ganz wenige!« Holt suchte eine Verbindung zu den Panzergrenadieren; sie meldeten sich, fern, kaum zu verstehen: »Liegen in der Einbruchstelle, in schwerem Feuer, wehren Gegenangriffe ab!« – »Sie haben den Einbruch schon abgeriegelt!« schimpfte Burgkert. »Wenn das bloß bei uns mal so schön klappen würde! Los, Klotzsche!« Wieder stand ein Panzer brennend zwischen den Büschen. Aus dem Wald schlug noch immer Feuer. Sie jagten über die Ebene, bogen nach rechts ab und erreichten endlich eine Straße, überquerten einen Bahndamm und rasten weiter, wieder in Wald hinein. Die Sturmartillerie folgte. Eine halbe Stunde lang fuhren sie die Straße entlang, ohne einen Gegner zu sehen. Burgkert stand im offenen Turmluk. Er brüllte: »Iljuschins!« und ließ sich in den Turm fallen, die Luke schlug über ihm zu.

Über die Wälder strichen Schlachtflieger, zogen hoch, wendeten und stießen auf die Straße hinab. Die Panzer verkrochen sich im Gehölz und hielten. Bomben barsten. Bordkanonen hackten ins Gebüsch. Die Maschinen kreisten über dem Wald.

»Jetzt sitzen wir erst mal fest! Ruf die Züge, Holt!« Die Züge meldeten sich. »Ruf die Infanterie!« Die Grenadiere waren nur noch ganz schwach zu hören: »Wehren uns gegen Flankenangriffe mit Panzern.« Burgkert hielt eine frischgeöffnete Schnapsflasche in der Hand. »Panzer? Die haben uns durchgelassen und zerreiben die Grenadiere!« Er trank. Holt rief: »Vetter, steig aus, ob die Luft rein ist!« Vetter kam bald zurück. »Ich hör nichts mehr, sie sind weg!« sagte er. Die elf Panzer krochen auf die Straße und fuhren weiter. Der Wald endete. Ackergelände schloß sich an. Da waren die Schlachtflieger wieder da, und diesmal blieben drei Wagen brennend liegen, nur acht erreichten den schützenden Waldrand. Die nachfolgende Sturmartillerie lag in einem Gehölz fest, von Schlachtfliegern angegriffen, und hatte Verluste. Dann piepte das Rufzeichen, der Kommandeur meldete sich über Tastfunk. Holt schrieb den Spruch mit, und während er schrieb, dachte er: Das quittier ich nicht! Er reichte das Papier zu Burgkert hoch. Die Kampfgruppe befahl: Panzer und Sturmartillerie kehrt marsch, kämpft Grenadiere frei.

Burgkert las den Spruch. Der Funker der Sturmartillerie rief über Sprechfunk: »Habt ihr auch den Irrsinn gehört? Kehrt! Mensch, da gehn wir bis aufs letzte Geschütz drauf!« Burgkert: »Aber wenn die Grenadiere nicht durchkommen, dann hat es keinen Zweck, wenn wir weiterfahren!« Wolzow: »Aber wenn wir umdrehen und die Grenadiere raushauen, ist unser Sprit alle, und dann war der ganze Angriff sinnlos.« Burgkert: »Der Angriff war überhaupt sinnlos. Holt, hast du den Spruch quittiert? Nein? Schlauer Hund! Dreh das Gerät ab! Ruf die Sturmartillerie über UKW. Für den Alten stelln wir uns tot.« Und zum Fahrer: »Klotzsche, los!«

Sie stießen wieder über die Bahnlinie und blieben abermals in einem Wäldchen liegen, viele Stunden lang. Am Himmel kreisten unermüdlich Flugzeuge. Im Kopfhörer das Gespräch Burgkerts und Wolzows. Wolzow: »Die setzen nicht mal eine Panzerkompanie gegen uns ein.« Burgkert: »Die Schlachtflieger tun’s ja auch.« Da Burgkert das Kehlkopfmikrophon nicht abschaltete, hörte Holt den Schnaps durch die Kehle gluckern.

Endlich flogen die Schlachtflieger ab. Die Panzer bogen nach rechts und folgten dem Bahndamm. Der Tag neigte sich schon dem Ende zu. In der Dämmerung passierten sie ein Dorf auf einer endlosen, von Bäumen und Buschwerk bestandenen Ebene. Vom Dorf her feuerten ein paar Panzer. Zugleich, im letzten Tageslicht, stürzten sich wieder Schlachtflieger auf sie. Dann war es Nacht.

Die Dunkelheit nahm schützend die sechs Wagen auf, die übriggeblieben waren und einen neuerlichen Übergang über die Eisenbahnlinie gewannen. Wie flüchtendes Wild verkrochen sie sich in einem Gehölz und hörten auf der nahen Chaussee eine Stunde lang Panzerketten vorüberklirren. Dann fuhren sie weiter, mit offenen Luken, alle Sinne in die Nacht gerichtet. Vor ihnen flammte der Himmel rot vom Feuer der Salvengeschütze, sie näherten sich dem Ziel. Bei aufgehender Mondsichel prallten sie von hinten auf eine Panzerbereitstellung, vielleicht hundert Wagen, die auf einer Lichtung tankten und munitionierten. Als die Kanonade verstummte, waren es noch vier Wagen, die im Dunkel untertauchten. Diese vier Wagen durchbrachen im Morgengrauen mit verzweifeltem Anlauf von hinten die Front, unterliefen noch einmal einen verheerenden Feuervorhang, den Werfer und Artillerie über die deutschen Linien zogen, und rollten dann ein paar Kilometer weiter in ein Dorf. Sie hielten. Burgkert stieg aus und suchte eine Befehlsstelle.

 

Als der Panzer mit hartem Ruck stoppte, fiel Holt nach vorn über die Funkgeräte und legte den Kopf in die Arme. Es würgte und schüttelte ihn. Geschafft, dachte er, gerettet! Er nahm sich zusammen und stieg aus. »Friß Pervitin«, meinte Wolzow, »das pulvert auf! Hast du noch Schoka-Kola? Mach bloß nicht schlapp!« Burgkert war wieder da. »Wir setzen über, eh es hell wird!«

Am vergangenen Tag hatten die Reste zerschlagener deutscher Truppen die Oder erreicht. In dieser Nacht war der Brückenkopf geräumt worden. Nur ein dünner Schützenschleier lag noch draußen im Feuer und wartete auf den Befehl zum Rückzug.

Die vier Panzer rollten die Straße entlang, die unter schwerem Artilleriefeuer lag, erreichten die Oder und kletterten über den Damm. Dort brach ein Wagen im Einschlag einer 21-Zentimeter-Granate auseinander. Die anderen stießen die steile Böschung hinab zum Strand, zerknirschten das Packeis und schoben sich an die Brücke heran.

Halt! Sie stiegen aus und warteten. Infanterie ging über den Fluß. Es wurde hell. Burgkert fluchte.

Die Pontonbrücke war eingefroren. Nur in der Mitte überspannte sie freies Wasser. Dort schob sich das Treibeis immer wieder an den Pontons hoch, drückte gegen den Belag und wurde von Pionieren gesprengt. Seit zwei Tagen lag die Brücke unter Beschuß. Am Tage strichen Schlachtflieger darüber hin und machten den Übergang unmöglich. Immer wieder flickten Pioniere die Einschlagstellen, dichteten die von Splittern zerlöcherten Pontons notdürftig ab.

»Aufsitzen!« Der Panzer faßte mit den Ketten die Brückenplanken. Holt saß im offenen Luk, seine Beine hingen ins Innere. Vetter saß draußen, beide hatten ihre Ausrüstung angelegt. Wolzow stand hinten auf dem Heck, Burgkert im offenen Turmluk, er dirigierte den Fahrer, der als einziger wieder in die tödliche Enge des Panzers hinabsteigen mußte.

Die Brücke lag tief im Wasser. Die Einschläge der Granaten überschütteten sie mit Eis und Stahl. Das ferne Ufer lag hinter weißem, eiskaltem Nebel. Das hab ich schon einmal gesehn, dachte Holt, diese Brücke kenn ich doch … Aber es war nur ein Ölgemälde, ein Bild, das nun in seiner Erinnerung hochstieg. Beresina. Als der Panzer seine sechsundvierzig Tonnen auf den Brückenbelag schob, sanken die Pontons bis zum Rand. Die Brücke hielt. Langsam rollte der Panzer zur Strommitte, näherte sich dem linken Ufer, der zweite folgte. Es war nun taghell.

Da waren die Schlachtflieger da. Am Ufer hämmerte Vierlingsflak. Der zweite Panzer zerbarst in einem Bombentreffer und stand als lodernde Fackel über der Mitte des Stromes. Holt hob schützend die Arme über den Kopf. Der Panzer unter ihm schwankte, eine riesige Wassersäule, mit Eis vermischt, stieg zum Himmel. Zwei Pontons schlugen voll. Die Brücke senkte sich tief, schon war der Belag überschwemmt, der Panzer neigte sich zur Seite, neigte sich mehr, Holt ließ sich auf die Brücke fallen. Auch Wolzow sprang ab. Vetter fiel auf Holt. Burgkert stand noch im Turmluk. Der Panzer kippte von der Brücke in das zerkrachende Eis. Von der Tonnenlast befreit, schnellte die Brücke hoch. Rohr und Kommandantenkuppel ragten aus dem gurgelnden Wasser.

Burgkert gewann einen Ponton. Holt erhob sich taumelig. Ein Schlachtflugzeug fegte mit seinen Maschinengewehren die Brücke leer. Ein schwerer Schlag traf Holt und warf ihn von den Planken in einen Ponton.

Dort lag er, in flachem Wasser, den Kopf nach hinten gestaucht, und langsam schwand sein Bewußtsein. Er sah den grauen Himmel über sich, von Blitzen überflammt, er hörte wieder Gottesknechts Stimme, doch wie fern war das: Durch die sieben Höllen … Dann halluzinierte er: Während die Dämmerung tiefer über sein Bewußtsein sank, sah er über sich das zarte und klare Gesicht Gundels, aber die großen Augen sahen ihn nicht an, und der Mund lächelte nicht. Nebel wogte darüber hin.

 

Holt lag in einer kleinen niederschlesischen Stadt in einem Lazarett, das einmal Reservelazarett gewesen und geräumt worden war und nun als Feldlazarett die Masse der von Osten zurückflutenden Verwundeten aufnahm und versorgte. Gehfähige und Leichtverwundete wurden weitergeschickt. Die Front rückte näher und spülte eine Woge verwundeter, kranker, zermürbter Soldaten vor sich her. Im Seitenflügel wurde ein Hauptverbandplatz eingerichtet. Geschützdonner drang bis in die Krankenzimmer.

Holt lag mit einem Oberschenkeldurchschuß. Das Geschoß hatte kein größeres Gefäß, keine Nervenbahn getroffen. Vier Wochen, sagte man ihm, höchstens sechs … Man war Schlimmeres gewöhnt: Schuß- und Splitterverletzungen mit eitriger Wund- oder jauchiger Gewebsinfektion, Gasödem, metastasierende Allgemeininfektion, Tetanus, Wunddiphtherie … Er hatte die erste, schwere Woche der Wundschmerzen und des Fiebers in einem Zustand der Apathie hinter sich gebracht; dann war die Trübung des Bewußtseins geschwunden, und er hatte in seinem Bett gelegen, an die weiße Decke geschaut und haltlos vor sich hin geträumt, wie als Knabe, als er Weltreisen, Ruhm und Macht in endlosen Tagträumen fortspann … Nun, in den einsamen Krankentagen, malte er sich bunte Traumbilder aus, die in einer abseitigen Welt, in einem zeitlosen Frühling spielten … Die lautlosen Schritte der Ordensschwestern störten ihn nicht. Das Elend der Verwundeten, die Qual der Sterbenden, das alles drang kaum in seine Traumwelt hinein.

 

Holt hatte sein Versprechen gehalten und das Bild an Gomulkas Vater geschickt, aber den Brief des Rechtsanwaltes, der bald darauf eintraf, ließ er unbeantwortet. Er hatte auch an Gundel geschrieben und von ihr Post erhalten. Als dann eines Tages die Schritte benagelter Sohlen und rauhe Stimmen laut wurden, schrak er zusammen. Es riß ihn aus seinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Wolzow war gekommen! Frost, Dreck, Schweiß- und Ledergeruch umgaben ihn. Das Leben brach in das stille Krankenzimmer und mahnte Holt, daß noch nicht alles vorbei war.

Es war Mitte März. Seit einer Woche verließ Holt das Bett und humpelte durchs Zimmer, stand am Fenster und blickte in den Garten. Der Schnee schmolz, warme Luft strich durch das Fenster, dann brach wieder klirrender Frost herein. Gewölk trieb von Westen heran, es schneite, Schneesturm heulte um die Hausecken. Anderen Tages stand ein frostklarer Himmel über der Landschaft. Der Winter trotzte dem fortschreitenden Jahr.

Und nun war also Wolzow gekommen! Er zog einen Stuhl heran, öffnete die Überkleidung und zeigte die Schulterklappen eines Unteroffiziers. »Werner … alter Krieger!« Er war ganz der Alte und doch verändert, gealtert: die Augen lagen tief in den Höhlen, das starke Kinn schob sich vor, die Kaumuskeln an den Kiefern waren wulstig erstarrt. Auch Vetter war da. Er war noch hagerer, fast mager geworden und rief: »Haste’s überstanden? Beeil dich!«

Sie kamen aus der Kaserne. Wolzow erzählte. Breslau war seit langem eingeschlossen, lag schon weit hinter der Front. Nach dem Rückzug über die Oder hatte man sie mit einer Alarmeinheit vergebens und sinnlos gegen den Brückenkopf anrennen lassen. Angriff auf Angriff war liegengeblieben. Dann brachen die Panzer aus dem Brückenkopf. Die zertrümmerten Truppen schlugen sich mit der aufgesessenen Infanterie, wurden geworfen. Schließlich schickte ein Auffangkommando Wolzow und Vetter nach hinten.

»Ein Hauptmann war das«, sagte Vetter. »Hat festgestellt, daß wir eigentlich noch gar nicht fertig ausgebildet waren, so was!« Wolzow sagte: »Hab mir’s gefallen lassen. War ziemlich scheußlich. Immerfort Nahkampf.« Wolzow sagte »scheußlich«? … »Sind wir zu Wehnert zurück.«

In der Kaserne fanden sie alles beim alten. Ausbildungsdienst, Revetckis Gebrüll, Wehnerts Unterricht. »Eines Morgens«, erzählte Wolzow, »kommt Wehnert: ›Meinen Glückwunsch, Unteroffizier Wolzow!‹ Meine Offizierslaufbahn sieht also gesichert aus. So schnell wird selten einer ohne Schule befördert. Wehnert hat gesagt, am besten, ich meld mich gleich wieder an die Front. Hab ich mich also gemeldet.« Vetter: »Ich bin natürlich mitgegangen.«

»Jetzt sind wir auf dem Weg nach vorn«, sagte Wolzow. Er rekelte sich auf dem Stuhl. »Wann bist du wieder soweit? Am besten, du kämst gleich mit! Die Russen machen unerhörten Dampf!«

Jetzt wurden aus allen Betten Fragen laut, ängstliche, verzweifelte Fragen. Wolzow war bis obenhin voll Neuigkeiten. »Die Amis überall am Rhein, Koblenz muß jede Stunde fallen …« – »Aber das Bein macht’s noch nicht richtig, Gilbert …« – »Beeil dich!« sagte Wolzow.

Noch einmal verstrich eine Woche, dann war Wolzow wieder da. Eine unruhige, beängstigende Nacht war vergangen, die Verwundeten hatten kein Auge zugetan; die ferne Kanonade war näher und näher gerückt, bis sich das helle Krachen der Panzerkanonen deutlich vom dumpfen Grollen der Feldartillerie abhob … Als es hell wurde, drang Wolzow ins Zimmer, ungeachtet des Gezeters, das ein paar Schwestern erhoben. Er war verdreckt und band erst an Holts Bett den Helm ab. »Die Russen!« Der Schwerverwundete, der am vergangenen Tag operiert worden war, stöhnte im Fieber. Die anderen lagen vom Schreck gelähmt in den Betten. Wolzow rief: »Panzer sind durchgebrochen! Burgkert holt schon bei der Verwaltung deine Papiere raus.« Eine Schwester protestierte: »Ohne Untersuchung und …« – »Los, Werner!« Holt kleidete sich an. Es mußte gehen.

 

Vor dem Lazarett hielt eine Zugmaschine mit einer 7,5-Zentimeter-Pak. Der Oberfeldwebel war schwer alkoholisiert und rief: »Geht’s wieder?« Die Zugmaschine, mit acht Mann besetzt, rollte los.

Überall sah Holt die Zeichen völliger Auflösung. Stäbe und Verwaltungen bewegten sich fluchtartig nach Westen. Reste zerschlagener Fronttruppen rissen vorrückende Alarmeinheiten in den Strudel des Rückzuges. Durch dieses Chaos schob sich die Zugmaschine mit aufheulendem Motor. Bald zitterte die Luft im Lärm herannahender Panzer. Sie brachten die Pak in Stellung, auf einem verschneiten Hügelkamm. Die Panzer stießen die Chaussee vor, weit hinter der Front, mit aufgesessener Infanterie. Wolzow feuerte auf kurze Entfernung. Die Panzer schwenkten von der Chaussee und nahmen ohne Zögern die Pak an. Die Panzerkanonen brüllten, die Pak fiel in Schweigen. Flucht hinter den Hügelkamm. Ein T 34 lag brennend auf dem Acker. Die Panzer schwenkten auf die Chaussee zurück. Mit der Zugmaschine nach Norden flohen sechs Mann, denen noch alle Glieder zitterten, und einer davon war schwer verwundet.

Ein einzelnes Schlachtflugzeug stieß vom grauen Himmel herab und machte Jagd auf die Maschine; sie sprangen ab und rannten zum Wald, hinter ihnen flog das vollgetankte Fahrzeug in die Luft. Sie wanderten durch Wälder und verlassene Bauerndörfer, bis sie endlich auf versprengte Truppen stießen, Feldgendarmerie und SS. Gerüchte: »Der Russe steht vor Görlitz!«

Burgkert brachte Papiere. Er mußte bleiben. Von Sagan fuhr ein überfüllter Zug nach Cottbus, voller Flüchtlinge und Verwundeter. In Cottbus schickte sich die SS an, die drei in die nächste Alarmkompanie zu stecken und wieder nach vorn zu schicken. Aber Holt mit seinen Lazarettpapieren erhielt auf der Kommandantur für alle drei Marschbefehle.

 

In der Kaserne saßen die Nachkommandos auf gepackten Koffern. Zwei Kompanien waren nach Mitteldeutschland verlegt worden. Der Ausbildungszug der Stabskompanie unter Wehnert sollte irgendwo hinter der Neiße auf Feldwache liegen. Sie machten sich auf die Suche. Der Zug lag westlich Bautzen in einem Wäldchen und bewachte eine Panzersperre.

Holt konnte sich kaum noch an Wehnert erinnern. Der Leutnant hatte nichts an Glanz und Wichs und Bügelfalte eingebüßt; nur ein wenig nervös war er geworden und rückte oft das Koppel, die Mütze zurecht … Wolzow knallte die Hacken.

Die Panzersperre war noch geöffnet. Zwischen dem nahen Wald und einem fernen Hügelrücken zog sich ein System von Feldstellungen hin, Erdbunker und Laufgräben. Im Wald gab es eine Baracke. Der Zug kampierte in den Bunkern und Gräben. Tag und Nacht standen Doppelposten an der Panzersperre. Von Osten her schob sich tagaus, tagein der Flüchtlingsstrom über die Chaussee nach Westen, Greise, Frauen und Kinder, zurückgehende Stäbe, fliehende Parteileute. Die Posten kontrollierten die Marschpapiere. Ein paar Kilometer weiter zurück lag ein Kommando Feldgendarmerie.

Revetcki war mit der Genesenenkompanie an die Front geschickt worden. Boek führte die erste Gruppe, er schrie und tobte nicht mehr, sondern spielte den guten Kameraden. Die zweite Gruppe übernahm Wolzow. Tauwetter setzte ein, es wurde Frühling. Die Gräben füllten sich mit Schlamm und Wasser. Der Verpflegungsnachschub setzte aus, man hungerte.

Eines Abends riefen die Posten nach Wolzow, dessen Gruppe an der Sperre Wachtdienst hatte. Ein großer, offener Mercedes hielt dort, die Scheinwerfer aufgeblendet. Im grellen Licht stand breitbeinig Vetter, die Maschinenpistole angeschlagen. Der zweite Posten stand am Fond. Der Fahrer saß in die Polster gelehnt und rauchte. Drei Offiziere, ein Oberstleutnant und zwei Majore, brüllten durcheinander, in einem schnarrenden Jargon. Einer der Majore, ein hagerer Mann mit Nickelbrille und Geiergesicht, stand neben dem Fahrer, nach vorn über die Windschutzscheibe gebeugt. Wolzow hob grüßend die Hand. »Herr Major?« Vetter kratzte sich mit der freien Linken im Genick und rief unverschämt: »Die haben keine Papiere! Türmen wollen die!« Nun brüllte auch der Oberstleutnant. Da kam Wehnert. »Leutnant! Endlich!« Der Major riß den Schlag auf. Leutnant Wehnert stand im Scheinwerferlicht und grüßte. Der Major redete auf ihn ein. Wolzow beobachtete die Szene mißtrauisch. Der Oberstleutnant gestikulierte, dann stieg er befriedigt in den Wagen. Wehnert befahl: »Geben Sie den Weg frei!«

Wolzow zögerte, aber schließlich machte er einen Schritt zur Seite. Auch Vetter trat an den Straßenrand und warf die Maschinenpistole über die Schulter. Der Wagen stob mit aufheulendem Motor davon. Wehnert ging wortlos zur Baracke zurück. Später sagte er versöhnlich: »Wolzow, in so einem Fall gehört es sich, daß …« Wolzow unterbrach den Vorgesetzten schroff: »Die drei Herren vorhin, das wette ich, die sind getürmt!« Wehnert ließ sich den herausfordernden Ton gefallen. »Die Lage kann es erfordern, daß sich der Offizier als der wertvollste Mann aufspart …« – »Die Lage!« rief Wolzow und schnob durch die Nase. »Die Lage erfordert Kampf bis auf den letzten Mann!« – »Aber nehmen Sie sich doch zusammen!« sagte Wehnert. – »Zusammennehmen? Wissen Sie, was ich nehmen werde, Herr Leutnant? Einen Strick werde ich nehmen! Und wenn ich in Zukunft noch jemanden türmen sehe, dann ist die Kugel zu schade! Dann hol ich den Strick raus, dann zieh ich die Lumpen eigenhändig an der Laterne hoch!« Er war bei den letzten Worten zur Tür gegangen, dort schrie er: »Ich halt mich an den Führerbefehl: Kampf bis zum letzten Blutstropfen! Vorhin hab ich’s nicht beweisen können, sonst hätt ich bloß dem Vetter gewinkt, der hat da gar kein Gewissen, Herr Leutnant … Uns macht das nichts aus, jemanden den Tod in Schande zu bereiten!«

Krachend warf er die Tür hinter sich zu.

 

Holt verließ die Baracke. Er stieg in den Graben, unter den Schritten krachte Eis. Der Schlamm erstarrte. In einem Sappenkopf fand Holt Peter Wiese, in die nasse Decke gewickelt, die Zeltbahn darübergezogen, so saß er, den Kopf nach hinten gegen die Grabenwand gelehnt. Holt setzte sich schweigend neben ihn. Sein Magen knurrte. »Jetzt eß ich die eiserne Ration!« – »Der Leutnant hat’s verboten«, sagte Wiese. Holt kaute. »Du solltest auch was essen, du siehst ja schon halbtot aus …« Aber das Wort reute ihn, kaum daß er es gesprochen hatte.

Wiese lächelte, ein bißchen bekümmert. »Ich denke jetzt viel an ein Buch«, sagte er, »von Hugo. Da heißt es: ›… der Mensch hat einen Tyrannen.‹ Das sagt ein ehemaliges Konventsmitglied. ›… dieser Tyrann ist die Unwissenheit.‹«

»Hast du deswegen in der Schule so fleißig gelernt?« fragte Holt.

Wiese rückte zur Seite und zog die Zeltbahn enger um seine Schultern. »Eigentlich, weil mich an der Welt so vieles irritiert hat … Und ich hoffte … es wäre möglich … ›Der Mensch darf nur von der Wissenschaft beherrscht werden!‹ – ›Und vom Gewissen‹, wird ihm entgegengehalten. Da sagt das Konventsmitglied: ›Das ist dasselbe‹. Stell dir vor, er meint: Wissenschaft und Gewissen ist dasselbe!«

»Dann sind wir ganz gewissenlose Menschen«, meinte Holt, und das Wort weckte in ihm Beklommenheit. Aber … »Der Knack«, rief er, »hat uns doch immer wieder vor einer Überschätzung der Wissenschaft gewarnt! Verwelschung, hat er gesagt. Dem nordischen Menschen entspricht die Beziehung auf das Unendliche …« Wiese sagte: »Ja … Aber … wo es hinführt, wenn man das Maß verleugnet, das weiß ich … wenigstens in der Musik. Dort führt es zu Wagner. Beinahe ins Nichts. Oder überhaupt ins Nichts.« – »Deshalb steht bei den Germanen am Ende immer der Untergang«, sagte Holt. »Schon im Nibelungenlied heißt es, daß Freude zuletzt mit Leid endet …« Er glaubte nichts von alldem, was er sagte. Er dachte: Alles falsch, alles Lüge!

Wenn es möglich wäre, dachte er, daß man den Krieg übersteht, dann müßte man ganz von vorn anfangen, umlernen, suchen, fragen …

»Mach Schluß mit dem Gegrübel, Peter! Jetzt brauchen wir Härte.« Er wickelte sich in seine Decke und versuchte zu schlafen. Und wieder dachte er: Mit verbundenen Augen … im dunklen Zimmer …

 

Am anderen Morgen fuhr Wehnert mit Boek nach hinten, um endlich Verpflegung heranzuholen. Er übergab Wolzow das Kommando. Auf der Chaussee nahm der Verkehr immer mehr zu. »Ich hau mich jetzt bißchen hin«, sagte Wolzow. Holt blieb mit Vetter an der Panzersperre. Er rauchte. Gedankenlos blickte er die Chaussee entlang nach Osten, starrte durch den Morgendunst.

Vetter fragte: »Siehst du das, dort hinten?«

Es kroch wie ein riesiger, grauer Wurm heran, fern, die Chaussee entlang, langsam. Ab und zu wehte ein feiner Knall an Holts Ohr.

»Klingt wie Peitschengeknall!« sagte Vetter.

»Klingt wie Schüsse«, sagte Holt.

Die Posten an der Sperre standen unbeweglich. »Eine Marschkolonne! Eine ganz ulkige! Und so langsam …«

Ein Auto rollte heran, darin ein dicker Zivilist und drei Frauen. Holt kontrollierte die Papiere. Beruf Betriebsführer. »Sagen Sie mal«, fragte er, »Sie haben da doch eine Kolonne überholt …« Eine der Frauen rief: »Wir haben nichts gesehen, gar nichts …« Der Mann gab Gas.

Der graue Zug schob sich näher an die Panzersperre heran und löste sich auf in Trupps. In unregelmäßigen Abständen von zwei oder drei Minuten peitschten dünne Pistolenschüsse durch die Luft. An der Sperre wurde abgelöst. Unter den neuen Posten war Peter Wiese, übernächtig, der Stahlhelm schien ihn zu erdrücken, der Karabiner, der ihm schon immer zu schwer gewesen war, hing schief und kläglich an der Schulter.

»Ausgeschlafen?« fragte Holt. Wiese hatte noch nie geklagt. Holt wendete den Blick wieder nach Osten. Die graue Menschenkolonne schlich langsam näher und passierte die Sperre … An der Spitze SS-Leute, Maschinenpistolen umgehängt, Handgranaten in den Stiefelschäften, und links und rechts des Zuges SS-Leute, die geöffneten Pistolentaschen vorn am Koppelschloß, die Mützen im Genick, junge Gesichter, stumpf, unbewegt, wachsam … Langsam schleppte sich der lange, graue Zug dahin: Gestalten, lebende Skelette, von gestreiftem Drillich umschlottert … hautüberspannte Totenschädel auf dürren Hälsen … nackte, blaugefrorene Füße in Holzpantoffeln … ein Spuk und doch Wirklichkeit … Das lebte, das schleppte sich gebeugt, tödlich erschöpft die Straße entlang, das zog an Seilen schwere Leiterwagen, wankte in Haufen daher, stützte einander, und ein Stöhnen wehte über den Zug, ein Hauch von Tod und Verwesung …

»Das … das ist ein KZ!« flüsterte Vetter aufgeregt. »Alles Schwerverbrecher, solche Untermenschen, Kommunisten!«

Eines der lebenden Skelette wankte und fiel. Die Gestalt in dem gestreiften Drillich lag im Chausseedreck, das Gesicht im Schlamm … Auf der dünnen Jacke sah Holt ein rotes, auf die Spitze gestelltes Dreieck … Die nachdrängenden Gestalten stiegen hilflos darüber hinweg. Ein SS-Mann blieb stehen und stieß mit dem Fuß an das Menschenbündel, nicht derb, mehr probeweise. Der Gestürzte hob mühsam den Kopf, zog ein Knie unter den Leib und blieb dann reglos liegen. Das Gesicht des SS-Mannes blieb unbewegt. Die Runen glitzerten auf den Spiegeln. Er bückte sich und zog den Gestürzten mühelos am Arm hinter sich her zum Straßenrand und warf die gestreifte Gestalt in den Straßengraben. Dann zog er die Pistole. Der Schuß knallte.

Da hing ein spitzer, dünner Schrei in der Luft. Peter Wiese ließ den Karabiner fallen und sprang ungeschickt, mit erhobenen Fäusten gegen den SS-Mann los. Ein Fausthieb warf ihn zurück, aber Wiese kam nicht zu Fall, und er stürzte sich zum zweitenmal auf den Posten, mit seinen schwachen Fäusten; die Mütze mit den Runen und dem Totenkopf fiel in den Dreck … Wiese klammerte sich verzweifelt an dem Posten fest. Der stieß mit dem Pistolenlauf in Wieses Gesicht, schleuderte ihn von sich und schoß.

Mitten auf der Landstraße blieb Peter Wieses Leichnam zurück, an dem die gestreiften Gestalten scheu vorbeistrebten. Holt bückte sich, drehte Wiese auf den Rücken und blickte in das Gesicht, das der Schlag mit der Pistole entstellt hatte. Der Schuß war in den Hals gedrungen »Peter!« sagte Holt. »Mensch … Wiese!« Ein Trupp SS-Leute kam die Chaussee zurück. »Hier, Oberscharführer, er liegt noch genau an der Stelle …«

Holt wandte sich nicht um. Die SS-Leute verschwanden hinter der Biegung der Straße im Wald. Der graue Zug der drillichgekleideten Gestalten endete.

 

Wolzow fluchte. Er brannte sich eine Zigarette an. »Der Wiese war schon immer verrückt! Was gehn ihn diese Verbrecher an!« Vetter rief: »Das hat er von seinem Latein …!« Die Soldaten trugen sieben tote Häftlinge zusammen. Leutnant Wehnert kam zurück und ließ sich von Wolzow unter vier Augen berichten. Man hob unterdessen ein großes Grab aus. Niemand zeigte Mitleid mit Wiese. Wehnert befahl. »Er wird mit den Verbrechern begraben.«

Holt trat an das offene Erdloch. Daß ich jetzt hier zuschau, wie sie ihn verscharren, das ist erbärmlich. Warum lieg ich nicht auch in der Grube, und ein paar SS-Leute dazu? Das wäre eine Lösung gewesen.

Er dachte: Jetzt gibt es für mich überhaupt keine Lösung mehr.

»Zuschaufeln!« befahl Wolzow.

Holt fragte: »Was ist aus … unseren Idealen geworden? Wollten wir nicht für Gerechtigkeit kämpfen? Hast du nicht den Meißner zusammengeschlagen, weil er ein Unrecht begangen hatte?«

»Das war Kinderei«, entgegnete Wolzow. »Damals warn wir dumme Jungs.«

»Und heute? Was sind wir heute?«

»Soldaten.«

»Soldaten …«, wiederholte Holt.

»Jetzt ist es aber genug«, rief Wolzow. »Jetzt reiß dich zusammen! Das ist der ganze Miesepeter nicht wert, daß ein Kerl wie du deswegen umkippt!«

Ein Kerl wie ich! dachte Holt.

Ein Erdklumpen fiel auf Wieses Kopf, der nächste Schaufelwurf bedeckte das entstellte Kindergesicht. Leb wohl! Trag mir’s nicht nach!

Er ging davon.

Er dachte: Dieser Wiese war unter uns der wirkliche Held. Panzerknackerei und Nahkampferfahrung, das ist alles Verzweiflung. Ich kann mich in der Stadt am Fluß nicht mehr sehen lassen. Wie soll ich Wieses Eltern in die Augen schaun, wo ich zugesehn hab? Wie soll ich vor Gundel hintreten? Ich weiß doch, daß die Gestreiften wie ihr Vater waren. Ich hab keinen Finger krumm gemacht, ich hab zugesehn. Jetzt bleibt mir keine Wahl mehr.

Einen imaginären Punkt suchen, festklammern mit dem Blick … und vorwärts, marsch!

 

12

 

Eine Volkssturmeinheit löste den Ausbildungszug ab, besetzte die Feldstellung und übernahm den Wachdienst an der Panzersperre. Wehnert brachte seinen Zug mit der Eisenbahn in die Nähe von Leipzig, wo die Stabskompanie auf ein paar Bauerndörfer verteilt worden war. Hier sollte der Ausbildungsdienst weitergehen, aber der Zug lungerte nur untätig herum, denn Wehnert suchte sich ein Quartier im Nachbardorf und kümmerte sich um nichts. Unteroffizier Boek saß den ganzen Tag im Wirtshaus und legte Patiencen. Wolzow riß alle Befehlsgewalt an sich. »Noch ein paar Tage Untätigkeit, und der Zug wird nicht wieder kampffähig«, sagte er. »Diese Banditen schreiben sich schon die beste Bahnverbindung nach Hause auf!« Holt war seit Wieses Tod wie erloschen, interesselos, er ließ sich treiben. Er hörte geflissentlich keine Nachrichten. Zeitungen gelangten nicht ins Dorf. Ostern besuchte Wolzow die Kompanie, und als er zurückkam, zog er Holt beiseite: »Wir werden eingesetzt! Es wird höchste Zeit!« Er trommelte den Zug aus den Quartieren. »In einer Stunde marschfertig!« Boek zog ein Gesicht, als habe er Essig im Mund.

Wolzow setzte sich zu Holt in die Gaststube. »Burgkert ist wieder da. Der Russe steht an Neiße und Oder. Der Amerikaner ist überall durchgebrochen. Das Ruhrgebiet ist eingeschlossen. Panzerspitzen nähern sich Fulda und Weser. Osnabrück ist genannt worden. Marburg, Gießen … Da wird es Zeit, daß wir zuschlagen!«

Holt antwortete nicht.

Zwei Lastwagen standen bereit. Wehnert blieb im Nachbardorf bei der Kompanie. »Möcht wissen, warum der nicht mitkommt«, knurrte Wolzow. Sie fuhren nach Westen. In der Nacht erreichten sie ein einsames Gasthaus, im Walde. Hier lagerten Soldaten über Soldaten. Wilde Gerüchte liefen um. Vetter erzählte: »Panzer sollen bereitstehn, unheimliche Massen! Wir fahren eine ganz große Gegenoffensive!« Wolzow studierte die Karte. »Wir sind hier südlich Kassel … Der Fluß war die Fulda!« Er sah sich um, tatsächlich standen Panzer bereit, getankt und munitioniert, Panzer III mit der 5-Zentimeter-Kanone, ein paar Wagen umbewaffnet auf die 7,5-Zentimeter-Kampfwagenkanone L 24.

Bei der Einteilung wurden sie auseinandergerissen. Wolzow wurde Kommandant, Holt fuhr als Funker. Die Wagen waren klein und eng, drei Kompanien, vierzig Panzer. Die Mannschaften traten an. Es war noch dunkel. Nun tauchte auch Leutnant Wehnert auf, als Kompanieführer.

Ein Panzer richtete den scharfen Lichtkegel des Scheinwerfers auf einen einarmigen Offizier. Hauptmann Weber! Der Einarmige galt als Draufgänger, als einer, der den letzten Mann hinopferte. Er schrie mit heiserer, durchdringender Stimme: »Deutsche Panzersoldaten! Der Führer ruft zu neuem Kampf im alten Geist. Wo immer deutsche Panzermänner fochten, dort fochten sie siegreich. Wo immer …«

Holt war in Gedanken wieder weit entfernt. Seit ich aus dem Lazarett weg bin, hab ich nichts mehr von Gundel gehört, dachte er. Seine Gedanken flüchteten jetzt oft zu Gundel, um dort nur neue Unruhe zu finden. Der Morgen erwachte.

»Unserem Führer ein dreifaches …« – »Hurra! Hurra! Hurra!« – »An die Wagen … weggetreten!«

 

Die Motoren liefen warm. Die Abteilung fuhr los. Der Fahrer in Holts Wagen, ein alter, müder Mann, rief durch den Bordfunk: »Wenn Jabos kommen … sag mir’s ganz schnell, daß ich rauskann!« Holt saß auf dem Heck. Der Befehl lautete: Die Funker-MGs werden ausgebaut, zur Abwehr von Tieffliegern. Holt hielt das kolbenlose MG auf den Knien. Die Chaussee war schlammig. Sie fuhren nach Westen, dann nach Südwesten. Es wurde hell. Der Tag war klar und wolkenlos.

Hoch am Himmel brummte eine Kette Jagdbomber heran. Sie stießen mit heulenden Motoren auf die Straße herab. Fast alle Wagen hielten, die Besatzungen flüchteten nach links in den nahen Wald. Ein paar Panzer fuhren nach rechts auf freies Feld und kurvten in Schlangenlinien über den Acker. Holt warf das MG in den Dreck, rannte zum Wald und ließ sich ins Gebüsch fallen. Auf dem Feld, auf der Chaussee flogen die vollgetankten Panzer in die Luft, beim ersten Anflug drei, beim zweiten vier, dann war schon eine neue Kette Jagdbomber am Himmel. Die Raketen zischten. Brennendes Benzin floß über die Straße. Immer neue Anflüge. Es war ein Scheibenschießen.

Holt kroch tiefer in den Wald. Er stieß auf Wolzow und Vetter. Eine Mustang raste flach über das Feld, mit stark gedrosseltem Motor, suchte sich einen unbeschädigten Panzer, feuerte mit Bordkanonen in ihn hinein und zog steil nach oben. Der Panzer krachte auseinander. Der Motorenlärm verstummte. In den brennenden Panzern detonierte Munition. »Sammeln!« rief es dünn durch den Wald.

Auf der Chaussee stand noch ein Dutzend unbeschädigter Wagen zwischen den brennenden Wracks. Holts Panzer war noch ziemlich heil. Die herumstehenden Besatzungen saßen auf. Der Fahrer flehte: »Wenn sie wiederkommen … sag mir’s rechtzeitig!«

Sie kamen wieder, als die Kolonne ein paar Kilometer gefahren war und zwischen Chaussee und deckendem Wald ein tausend Meter breiter Ackerstreifen lag. Die Jagdbomber ließen die Panzer stehen und fielen über die fliehenden Besatzungen her. Holt rannte um sein Leben und erreichte den Wald.

Die Jagdbomber stürzten sich auf die Panzer, mit Raketen, Bordwaffen und Bomben. Sie ruhten nicht eher, bis auch der letzte Wagen auseinanderbarst.

 

Die Reste der Abteilung marschierten weiter, kaum bewaffnet, noch fünfzig Mann. »Die wenigsten hat’s erwischt«, sagte Wolzow wütend. »Die meisten sind getürmt.« Sie marschierten bis zum Mittag. Der Himmel bewölkte sich mehr und mehr. Sie erreichten ein Dorf. Von allen Häusern wehten weiße Fahnen. Hauptmann Weber tobte: »Die Fetzen verschwinden!« Wolzow, Holt und Vetter streiften durch die Gehöfte. »Sind noch Truppen in der Nähe?« Ein Bauer wies mit dem Daumen über die Schulter. »Eine Flakbatterie. Die Flieger haben alles zerschossen.« Sie sprachen mit dem Besitzer einer Tankstelle. Der dicke, rotgesichtige Mann rief gedämpft: »Macht Schluß! Jede Stunde können die Panzer kommen!« Wolzow brüllte ihn an, durchschnoberte die Reparaturwerkstatt und blieb vor einer verschlossenen Garagentür stehen. »Aufmachen!« In der Garage stand ein kleiner LKW. »Der Wagen ist beschlagnahmt!« Wolzow holte Leute. Der dicke Mann schrie verzweifelt: »Sie … rauben meine … Existenz!« Wolzow befahl: »Mach ihm eine Quittung, Vetter, Ordnung muß sein!« Vetter setzte sich auf den Pumpensockel und schrieb mit seiner steilen Schülerhandschrift: »Bestätige die ordnungsgemäße Beschlagnahme eines Lastwagens zum Zweck der Kriegführung. gez. Vetter, Panzerschütze. 5. April 1945.« Der Dicke warf ihm den Wisch vor die Füße. Der LKW rollte zum Wirtshaus, wo die Truppe rastete. Die Soldaten stritten sich um die Plätze auf dem Wagen. Hauptmann Weber befahl: Wolzow! Sie führen den Rest der Leute Richtung Heiligenstadt–Mühlhausen. Wir fahren voraus.« Der Wagen rollte davon. Wolzow blieb mit dreißig Mann zurück, es waren fast alles ältere Soldaten, nur wenige vom ehemaligen Ausbildungszug. Wolzow beriet sich mit Vetter. Vetter erklärte: »Wenn ich nicht erst was zu fressen bekomm, macht mir der ganze Krieg keinen Spaß mehr.« Wolzow gab ihm eine Stunde Zeit. Vetter brach in den Dorfkrug ein, es gab Gezeter, es gab einen schimpfenden Gastwirt, der mit der Mistforke vor Vetters Gesicht herumfuchtelte. Vetter brüllte: »Du sollst der erste gewesen sein, der die weiße Fahne rausgehängt hat, du Verbrecher!«

Holt saß müde auf der Bank vor dem Dorfkrug. Die Szene war ihm gleichgültig. Alles war ihm gleichgültig. Wolzow ließ antreten. Im ersten Glied sagte jemand: »Das beste wär Schlußmachen.« Wolzow drohte: »Wer türmt, ist Deserteur, und Deserteure hänge ich eigenhändig auf.« Man murrte nicht, man zeigte kein Zeichen von Zustimmung. Wolzow setzte sich auf die Bank und sah in den Himmel. Die Sonne hinter dem Gewölk näherte sich dem Horizont. Vetter trat aus dem Haus, verteilte ein paar Dauerwürste und erklärte: »Ich koch in der Waschküche Nudeln!« Wolzow saß unbeweglich. Aber dann sprang er auf.

Das helle Klirren der Panzerketten, das Summen von Motoren … Die Panzer näherten sich rasch. Vetter stürzte schimpfend aus dem Gasthof und raffte Helm und Waffen auf. »Reihe … rechts!« Wolzow führte die Gruppe aus dem Dorf.

 

Das Dorf zog sich lang hin. Als sie die letzten Häuser hinter sich ließen, dröhnten die Motoren so nahe, daß die Gruppe in panischer Flucht davonstürzte.

Die Landstraße führte nach Norden. Links dehnte sich eine endlose Brachfläche bis zum westlichen Horizont, wo nun die Wolkendecke auseinanderriß und den grellen, gelbroten Strahlenbündeln der Abendsonne Raum gab. Ein paar ferne Buschinseln, dahinter ein lichtes Birkenwäldchen, boten Schutz und Deckung. Dorthin floh die Gruppe, regellos und ohne Befehl. Rechts der Landstraße lag ein Acker, leicht ansteigend zu bewaldeten Bergen am östlichen Horizont, und über diesem Acker breitete sich schon die Dämmerung aus.

Wolzow schrie: »Das ist falsch!« Er orientierte sich mit einem Rundblick, er brüllte: »Haaaalt! Nach rechts!« Niemand hörte auf ihn. Nur die letzten machten kehrt und rannten auf die Straße zurück, Vetter und vier jüngere Soldaten in schwarzen Panzeruniformen. Wolzow zerrte Holt fluchend am Arm nach rechts. Die anderen flüchteten über die Wiese dem hell erleuchteten Horizont entgegen.

Wolzow wies mit dem Arm nach Osten in die Dämmerung, die tiefer herabsank. »Die Flakstellung!« Holt sah vor den dunklen Bergen den Acker grau und dunkel …

Die Panzer stießen aus dem Dorf heraus, rollten die Landstraße entlang, hielten, schwenkten die Türme nach Westen und feuerten mit Maschinengewehren und Sprenggranaten auf die fliehenden Soldaten, die sich vom hellerleuchteten Horizont wie Schießscheiben abzeichneten.

Wolzow, Holt, Vetter und die vier Soldaten rannten nach Osten über den nassen Acker. Als Holt den Kopf wendete, sah er die lange Reihe der Panzer auf der Chaussee aufgefahren, schwarz und drohend vor dem flammenden Horizont. Holt rannte weiter und erblickte vor sich dunkle Umrisse, wie von Erdwällen oder Bunkern … Wolzow schrie: »Die Flakstellung!« Auf der Landstraße fuhren die Panzer an. Maschinengewehrgarben peitschten durch den Abend.

Sie erreichten die grauen Erdhügel, die Kanonen und Fahrzeuge einer zerschlagenen 8,8-Zentimeter-Batterie. »Die Jabos haben alles zur Sau gemacht!« schrie Vetter. Eine Kanone war aus der Lafette gekippt, ein toter Flaksoldat lag dabei, überall Tote. Das Gelände fiel nach Osten in eine Kiesgrube ab, ein Hohlweg führte in die Kiesgrube hinein. Zwischen zwei niedrigen Sandhängen, fast unsichtbar im Schatten, stand eine Kanone, den breiten Schutzschild nach Westen gekehrt. Wolzow brüllte: »Hierher!« In der Kiesgrube lag umgestürzt ein dreiachsiger Lastwagen, Patronenkörbe waren daneben verstreut, ringsum klafften Bombentrichter. Wolzow zog eine Patrone aus einem Korb. »Panzergranaten! Die Einundvierziger, mit Erdzieleinrichtung! Holt laden, Vetter die Höhe, ich nehm die Seite!« Er stieß Holt hinter die Kanone. Die vier Soldaten in den schwarzen Uniformen schleppten Munition heran. Wolzow brüllte: »Holt … du sollst laden, hörst du nicht!« Holt wuchtete den Verschluß auf, schob eine Patrone ins Rohr, der Verschluß schepperte zu. Holt faßte den Abzug.

Erst jetzt sah er, daß hinter dem Dorf auf der Chaussee nur noch drei Panzer hielten. Die anderen waren weitergerollt. Scharf umrissen hoben sich die drei Silhouetten vom westlichen Horizont ab, wo nun der flammende Sonnenball die Erde berührte und sein Licht über die Ebene warf. Die Kanone stand im Schatten. Vetter, das Auge an der Richtoptik, rief: »Hab ihn!« – »Von rechts nach links!« Das war Wolzow. »Gruppe!« Holt zog gehorsam ab. Der Schuß krachte. Es war wie eine Erinnerung: der alte Donner, der als harter Windstoß den Körper traf, in den ungeschützten Ohren schmerzte und beißenden Rauch in die Augen trieb … Das Rohr lief weit zurück, spie die rauchende Kartusche aus, lief vor, Holt lud, er war leer und ausgeglüht, alles geschah mechanisch. Er hörte, durch das Klingen in den Ohren, Wolzow rufen: »Zu kurz, Vetter! … Gruppe!« Nun schmetterte Schuß auf Schuß hinaus.

Die Panzer mochten gegen den dunklen Osthimmel nur schlecht sehen. In die Kolonne kam erst Bewegung, als der vorderste Sherman als qualmendes Wrack zusammensank. Die anderen zwei Wagen fuhren an, zogen auseinander, drehten sich schwerfällig nach rechts und rollten über den Acker heran.

Während das Rohr wieder zurücklief und Holt automatisch nach einer Patrone langte, sah er, wie eine Rauchsäule sich aufkräuselte und gelbrotes Feuer wie ein riesiger Ball aufsprang … »Gruppe!« brüllte Wolzow, Holt zog ab, die beiden Panzer krochen über den flachen Acker. Und nun blitzten auch ihre Kanonen auf … Neben der Flak flammte der erste Einschlag in die Sandböschung, warf Kies hoch und streute glühenden Stahl über die Kanone. Holt duckte sich. »Gruppe!« Der Luftdruck einer einschlagenden Granate ließ ihn taumeln, er klammerte sich am Verschluß fest, er bückte sich nach einer Patrone, er zog schon ab, er sah in einer blendenden, trichterförmig hochfahrenden Flammensäule den tonnenschweren Turm eines Panzers durch die Luft fliegen, dann riß ihm ein Einschlag die Beine unter dem Leib fort, die Kanone schwankte, der letzte Panzer war sehr nahe. Holt taumelte vom Acker hoch … »Gruppe!« Da hielt der Panzer mit zerschossener Kette keine dreißig Meter vor ihm und spie weißes Feuer, die Turm-MGs blitzten dünn, aber schon umfloß ihn in feurigen Bächen brennendes Benzin … »Gruppe!« Er zerbarst in gewaltiger Detonation.

Die Stille war so beängstigend, daß Holt ein Schauer der Furcht über den Rücken lief. Der Horizont im Westen verblaßte, es war dunkel, der flackernde Schein der brennenden Panzer drang bis an die Kanone. Vetter stand neben der Höhenrichtmaschine, halb in die Knie gehockt, patschte sich mit beiden Händen auf die Schenkel und lachte wie ein Irrer, und plötzlich begann er zu kreischen: »Wir siegen … paßt auf … wir siegen!« Wolzow erhob sich von seinem Sitz, nahm den Helm ab und schrie, mit einem Flackern in den Augen: »Ich mach die ganze Kompanie fertig …! Alle mach ich fertig!« Holt taumelte ein paar Schritte zur Seite. Er bückte sich. Da lagen zwei der jungen Panzersoldaten neben einem Patronenkorb, und die Splitter einer Sprenggranate hatten sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

 

Sie liefen den Bergen entgegen. Hinter ihnen brannten die Panzer. Der Weg stieg an, dann führte er wieder hinab ins Tal. Die beiden Soldaten blieben zurück. Wolzow merkte es erst, als sie wieder ein Dorf erreichten, wo überall weiße Fahnen aus den Fenstern hingen. »Die Schweine wollen alle nicht mehr«, fluchte Wolzow. Ein Gehöft, nahe am Walde, war leer und verlassen. Sie drangen in das unverschlossene Wohnhaus ein. »Wir bleiben!«

Wolzow stapfte die Treppe hoch und warf sich angekleidet, mit verdreckten Stiefeln in ein Bett. Holt übernahm die Wache. Er lief zwischen den Weidenbüschen und dem ersten Gehöft auf und ab. Es wurde empfindlich kalt. Dann dämmerte der Morgen. Fern summte ein Motor. Holt lief ins Haus und jagte die Holztreppe hoch. »Sie kommen!« Ein Auto rollte die Straße entlang, ein offener, viereckiger Wagen, und darin saßen, Gewehre zwischen den Knien, Soldaten mit runden Helmen und khakifarbenen Uniformen. Holt floh durch die Küche, über den Hof. Vom Tor her fielen Schüsse. Wolzow und Vetter blieben im Schutz der Scheunenwand stehen und schossen zurück. Als Holt den nahen, schützenden Wald erreicht hatte, krachte eine Handgranate. Er sah sich um. Die Scheune stand in hellen Flammen. »Das war ich!« sagte Vetter. »Ich hab eine Handgranate ins Stroh geschmissen.«

Sie wanderten nach Nordosten und wichen allen Dörfern aus. Wolzow vertiefte sich in die Karte. Wieder stieg ein Berghang vor ihnen an. Vom Kamm sahen sie einen Fluß, der sich in Schleifen durch die Berge wand. An seinem Ufer lag ein Flecken. Eine weiße Steinbrücke überspannte das Gewässer.

Sie näherten sich vorsichtig der Brücke. Dort lehnte ein Soldat am Geländer, legte den Kopf in den Nacken und trank aus einer Flasche. Die Bewegung war unverkennbar.

Oberfeldwebel Burgkert grinste. Er war schwer betrunken, schwenkte die Schnapsflasche und sagte: »Die Rekruten!« Er ging mit ihnen stadtwärts »Division ›Schlageter‹«. Er trank. »Spähtrupp-Unternehmen. Den Spähtrupp haben die Jabos gefressen. Aber ich hab wieder ein Auto.« – »Sind hier Truppen?« fragte Wolzow. – »Ja. Ich«, sagte Burgkert. Vetter feixte. Burgkert fuhr fort: »Ich warte, bis sie kommen, dann jag ich die Brücke hoch. Zwanzig Panzerfäuste.« – »Zündung?« fragte Wolzow. – »Elektrisch. Haben die Pioniere gemacht, eh sie getürmt sind.«

Burgkert hatte sich in einer Villa verschanzt. In dem dicht bepflanzten Vorgarten waren Löcher ausgehoben, von dort konnte man bis hin zur Brücke sehen. Sie nisteten sich in einem großen Parterrezimmer ein. »Die Leute sind fuchsteufelswild. Die haben kochendes Wasser stehn. Aber nicht für die Amis«, sagte Burgkert.

 

Holt ging ein Stück in den Flecken hinein. In den Straßen standen Menschen vor den Häusern. Überall wehten weiße Fahnen. Holt begriff nur langsam, daß erhobene Fäuste, Flüche und Verwünschungen, daß die Ausbrüche von Haß ihm galten, seiner Anwesenheit, seinen Absichten. Enge Gassen, dachte er, Fachwerkhäuser, sie haben ja recht, ein paar Panzerfäuste, und der halbe Ort brennt ab! Aber weiter reichte sein Denken nicht mehr. Mein Schicksal, ihr Schicksal … Mag es seinen Lauf nehmen.

In der Villa schlief Burgkert einen schweren, betrunkenen Schlaf. Holt legte sich auf den Teppich.

»Sie sind da!« schrie Wolzow. Burgkert fuhr hoch, trank noch einmal und reichte auch Holt seine Feldflasche. Vetter und Wolzow lagen in den Löchern vor der Villa. Auf der Chaussee, dicht vor der Brücke, hielt ein Sherman, mit geöffnetem Turmluk. Der Kommandant starrte durch den Feldstecher. Wolzow legte Panzerfäuste vor sich hin. »Der traut sich nicht rein!« Burgkert kauerte über dem Zündmechanismus. Vetter rief: »Achtung … er macht die Luke dicht!« Motorenlärm sprang auf. Der erste Panzer rollte klirrend über die Brücke, ein zweiter folgte, ein dritter … Burgkert zündete. Die Detonation deckte das Dach der Villa ab und schlug wie eine Sturmbö in den Garten … Ein Panzer hielt vor dem Haus, Vetter sprang mit einer Panzerfaust zwischen die Büsche. Als der Panzer in die Luft flog, krachten vom Fluß her die ersten Sprenggranaten in die Villa. »In die Stadt!« brüllte Burgkert. Der Panzer vor den Schützenlöchern brannte mit einer riesigen, fast unbewegten und stark rußenden Flamme. Vom jenseitigen Ufer feuerten Panzerkanonen in den Flecken. Holt lief die Straße entlang. Fünfzig Meter vor ihm rannten Wolzow und Burgkert, und sie deuteten nach links in eine Gasse und liefen weiter. Holt überquerte die Gasse und sah sich unmittelbar hinter dem Heck eines Panzers, sah den weißen Stern auf blauem Felde, und aus den Auspuffrohren schlug ihm heißes Gas ins Gesicht … Holt ließ sich zu Boden fallen. Ein schmetternder Schlag betäubte ihn. Als er zu sich kam, floß vor seinem Gesicht brennendes Benzin aufs Pflaster, er kroch in die Deckung der Häuser. Von der anderen Seite schoß Vetter eine zweite Panzerfaust ab, und die Detonation warf Holt gegen die Mauer. Er erhob sich und taumelte die Straße hoch. Das Schießen ringsum war verstummt. Wolzow und Burgkert standen in einem Hausflur und spähten die Straße hinab zur Brücke. »Hier … sauf!« sagte Burgkert. Sie liefen durch die Stadt, an einem qualmenden Panzerwrack vorbei. Vetter wartete schon am Ortsausgang, bei einem kleinen, offenen Kübelwagen. Burgkert fuhr mit einem Höllentempo über die Schlaglöcher. Hinter ihnen brannte die Stadt. Der Alkohol stieß Holt noch tiefer in Gleichgültigkeit und Apathie. Er saß auf dem Rücksitz, neben ihm war alles mit Schnapsflaschen vollgepackt. So geht das weiter: auf Panzer lauern, auf Panzer schießen, vor Panzern fliehen, und wieder auf Panzer lauern, ohne Ende. Burgkert fuhr mit halsbrecherischem Tempo.

»Das ist schon die Leipzig–Altenburger Gegend!« sagte Wolzow. Sie jagten zwischen Feldern entlang.

Vor ihnen lag Wald, noch fern. »Jabos!« schrie Vetter. Burgkert bremste scharf. Sie liefen über den Acker zu einer großen Strohmiete. Burgkert machte fluchend kehrt. Aus der Deckung der Strohballen sah Holt, wie der Oberfeldwebel einen Arm voll Schnapsflaschen aus dem Wagen raffte, wie er in einer Wolke aus Feuer und Erde verschwand, während der Jagdbomber steil nach oben zog.

Sie standen um den brennenden Wagen. Burgkert, zur Seite geschleudert, lag tot auf dem Feldweg.

 

13

 

In einem Dorf liefen sie einem Kommando der Feldgendarmerie in die Arme. Mit etwa hundert Versprengten aller Truppenteile wurden sie auf Lastwagen in die nächste Kaserne gefahren; der Gebäudekomplex war hell erleuchtet, als gebe es keinen Luftkrieg. Hier fanden sie Leutnant Wehnert wieder. Er zeigte sich erfreut: »Sie kommen wie gerufen! Ich hab eine Alarmkompanie, es fehlt an Dienstgraden, Gefreite als Zugführer! Sie übernehmen sofort einen Zug, Wolzow!« Der Zug lag auf drei Stuben und wartete, blutjunge Burschen, von überallher zusammengeholt, von Panzerschulen, aus einem ROB-Bataillon der Grenadiere, auch Arbeitsmänner waren dabei, die man in feldgraue Uniformen gesteckt hatte. Auf den Stuben redete man von neuen Waffen, von der großen Wende des Krieges.

In der Waffenkammer saß ein betrunkener Unteroffizier. Jeder nahm sich, was ihm gefiel, auch in der Kleiderkammer, wo Holt endlich den dicken, wattierten Überrock gegen Tarnkleidung aus Segeltuch eintauschte. Den Rest der Nacht und den folgenden Tag lagen sie in einer Stube auf Strohsäcken herum. Wolzow hatte ein Zeitungsblatt aufgetrieben und las daraus vor. »Siegen oder fallen! … Einzige Parole für den Volkskrieg.« Der Wehrmachtbericht sprach von »örtlichen Kämpfen an der Ostfront«, von einer »Abwehrschlacht im Ruhrgebiet«, dann war Schweinfurt genannt und gleichzeitig Erfurt erwähnt. »Da kennt sich keine Sau aus!« sagte Wolzow. »Keine Front mehr, nur überall Panzerkeile …« Man unterhielt sich über die deutschen Siegeschancen. Jemand erzählte von einem BdM-Mädchen aus Aachen, das den Amerikanern fanatisch … Holt lief aus der Stube.

Er stand am Fenster des langen Korridors. Auf dem Hof, unter Bogenlampen, wurden ein paar Selbstfahrlafetten mit der langen 7,5-Zentimeter-Kanone munitioniert. Wolzow schlenderte den Korridor entlang. »Das war eine Panzerjäger-Kaserne. Überall stehen noch Selbstfahrlafetten und Pak mit Zugmaschinen rum, aber es fehlt Sprit … Ein Jammer! Überhaupt … alles desertiert, alles haut ab, seit die Amis über den Rhein sind, wird kaum noch Widerstand geleistet. Ich versteh das nicht!« Er schlug Holt auf die Schulter. »Im Unteroffizierskasino versaufen sie die letzten Schnapsvorräte.«

Sie fanden einen Tisch. Wolzow brachte Bier und Kognak und stützte die Arme auf den Tisch. »Möcht wissen, was mein Onkel macht.« Er trank. Holt saß stumm im Trubel der Betrunkenen.

 

In der Nacht wurden sie alarmiert. Wehnerts Kompanie marschierte aus der Kaserne. Der Leutnant fehlte. Wolzow erklärte: »Er fährt mit dem Kommandeur und dem Bataillonsadjutanten.« – »Sie haben einen LKW voll Fresserei«, rief Vetter. Sie marschierten den ganzen Tag, am Straßenrand entlang, kilometerweit auseinandergezogen. Zurückgehende Truppen begegneten ihnen. »Die einen gehen zurück, die anderen gehen vor. Möcht wissen, was hier gespielt wird«, sagte Wolzow. Abends kampierten sie in einem Dorf, in Scheunen und Ställen.

Im Wirtshaus saß ein Kommando SS. Wolzow spielte mit den SS-Leuten bis tief in die Nacht hinein Skat. Am Morgen erzählte er: »Prächtige Kerle! Die sind übrigens ganz in unsrer Nähe zu Hause. Vorgestern haben sie in einem Maidenlager genächtigt, da war was los! Den Mädchen haben sie so lange eingeredet, die Neger und die Mongolen werden sie fressen, bis sie alles mitgemacht haben.« Er lachte. »Sie warten auf ein paar Führer, die wollen ein fliegendes Standgericht aufmachen.« Mit Genugtuung setzte er hinzu: »Dann gehen sie endlich gegen die Deserteure vor!«

Die Kompanie marschierte weiter. Am Nachmittag wurde sie von Jagdbombern angegriffen. Das Gelände war günstig, es gab kaum Verluste. Dann erreichte die Kompanie das Marschziel, das Dorf Greifensleben. Ein paar Feldgeschütze standen am Dorfrand. Ein Fernsprech-Bautrupp legte Telefonleitungen. In der Gaststube des Wirtshauses richtete Wolzow eine Art Befehlsstelle ein. Er war der einzige, der Initiative zeigte. Die Unteroffiziere Boek und Winkler saßen apathisch am Ofen. Am späten Abend langte eine zweite Alarmkompanie an. Der Führer, ein Oberfeldwebel, war schwer verwundet. Jagdbomber hatten die Kompanie gelichtet. Die Verwundeten wurden ins Nachbardorf gebracht, nach Bucheck, wo der Bataillonsverbandplatz eingerichtet worden war. Als die Telefonverbindung zum Bataillon hergestellt war, ließ es sich Wolzow nicht nehmen, ausführlich den Kampfauftrag zu erläutern.

Das Bataillon hielt drei Ortschaften besetzt, Greifensleben, Bucheck und den Flecken Gerstedt, eine Stadt von fünftausend Einwohnern, von Fabriken umgeben, schwer bombenzerstört. Die Fernverkehrsstraße stieß von Süden nach Norden durch das hügelige, sparsam bewaldete Land, erst an Greifensleben, dann an Gerstedt vorbei, wo der Bataillonsstab eingezogen war. Westlich Gerstedt lag das große Bauerndorf Bucheck. »Wir gehören zur Division ›Körner‹, zu einer neu aufgestellten Armee, deren Südflanke wir hier decken.« Holt hörte es müde und teilnahmslos.

In der Nacht trafen drei 7,5-Zentimeter-Pak auf Selbstfahrlafetten in Greifensleben ein. Gegen ein Uhr wurde im Süden Kanonendonner laut und verstummte bald. Das Bataillon in Gerstedt, wo auch Wehnert untergekrochen war, gab bekannt, daß Panzerspitzen auf der Autobahn im Süden nach Hermsdorf– Glauchau vordrängten. Gegen Morgen rief das Bataillon die Kompanie nach Gerstedt, zur Verteidigung des Gefechtsstandes, wie es hieß. »Und wer bleibt hier?« fragte Wolzow. Die zuletzt angekommene Alarmkompanie war führerlos, sie bestand aus halbausgebildeten Rekruten, Schülern militärischer Spezialschulen. »So einen Haufen kann man doch nicht sich selbst überlassen! Boek, du bleibst hier!« Wolzow telefonierte mit dem Bataillonsadjutanten. Dann sagte er zu Holt: »Ich hab den Eindruck, daß die das alles gar nicht interessiert.«

Draußen stand die Kompanie marschfertig. Boek blieb teilnahmslos und zusammengesunken im Wirtshaus sitzen. Die Kompanie marschierte ab.

Nach anderthalb Stunden, als es hell wurde, sahen sie zur Rechten, ein wenig talwärts, das helle Band der Fernverkehrsstraße, die etwa zwei Kilometer von Gerstedt entfernt nach Norden lief. Über die Landstraße, aus dem Städtchen nach Osten hinab zur Chaussee, fuhren zwei Personenwagen, bogen in die Chaussee ein und rasten nach Norden davon.

Wolzows Gesicht erstarrte. Er lief mit Winkler, Vetter und Holt an der Spitze der Kompanie. Er brüllte plötzlich einen Gefreiten an: »Kommando übernehmen!«, und dann rannte er schon über die Wiesen, Holt hinter sich her ziehend, gefolgt von Vetter und Winkler. In einer Senke stießen sie auf einen mehrere Meter breiten Bach. Endlich gab es eine Brücke. Sie liefen keuchend zwischen die Gärten und Villen. Im Osten glänzte der Horizont. Auf der Straße zeigte ein Wegweiser die Richtung zum Bataillonsgefechtsstand.

 

Der Troß-LKW stand vor einer Villa. Hier liefen viele Telefonkabel zusammen. Auf dem Gehsteig hinter dem Lastwagen türmten sich Munitionskisten, Gewehre, Maschinengewehre, ein Arsenal von Waffen und Munition, unordentlich hingeworfen, in Eile abgeladen. Unter der zurückgeschlagenen Plane sah Holt Kisten mit Verpflegung, Kognak, Kommißbrot, Marmeladeneimer, Kanister mit Butter. Der Fahrer, ein Gefreiter, stand neben dem Führerhaus. Aus der Gartenpforte trat Leutnant Wehnert, einen Koffer in der Hand, den Mantel über dem Arm. Er sah Wolzow, stutzte, ging weiter und reichte seinen Koffer ins Führerhaus.

Wolzow trat vor Wehnert hin, faßte mit der Linken das Schloß der Maschinenpistole, die um seinen Hals hing, und hob die Rechte zum Gruß. »Zweite Kompanie …« Holt war zu abgehetzt, um recht zu verstehen, aber was Wehnert sagte, das verstand er. »Beziehen Sie die vorbereiteten Feldstellungen.« – »Wo ist der Kommandeur?« fragte Wolzow. »Der Kommandeur ist im Begriff, den Gefechtsstand zu wechseln«, sagte Wehnert leichthin, »und ich …« – »… und Sie folgen mir in den Gefechtsstand!« Holt hörte die Drohung in Wolzows Stimme.

Wehnerts Gesicht wurde blaß. Seine blauen Augen richteten sich auf Wolzow. Er faßte mit einer Hand die Autotür, setzte den Fuß auf das Trittbrett und rief in seinem härtesten Befehlston: »Sie haben einen Offizier vor sich! Was erlauben Sie sich!« – »Vetter!« schrie Wolzow. »Nimm dem Fahrer die Schlüssel weg!« Vetter, gehorsam wie ein Schäferhund, schob den Leutnant zur Seite und kletterte ins Führerhaus. Holt hörte ihn schimpfen: »Mach keinen Mist, sonst …« Der Fahrer stieg aus und begegnete Wehnerts Blick mit einem Schulterzucken. Er ging ein paar Schritte die Straße entlang und blieb abwartend stehen.

Wehnert plusterte sich auf: »Sind Sie wahnsinnig! Ich befehle Ihnen …« Wolzow zitterte vor Wut. »Der Kommandeur ist getürmt! Und du willst auch türmen, du feiges Schwein! Den Kompanietroß mitnehmen! Das Desertieren werd ich dir austreiben, du Lump!« brüllte er. »An die Laterne mit jedem, der türmen will!«

Wehnert langte nach der Pistolentasche, aber Vetter packte ihn auf einen Wink Wolzows von hinten am Koppel und riß ihm die Waffe heraus. Alle Aufgeblasenheit fiel von Wehnert ab. Er sah hilfesuchend auf Unteroffizier Winkler. Winkler war blaß, er rührte sich nicht. »Ich enthebe Sie Ihrer Befehlsgewalt und nehme Sie in Haft«, rief Wolzow. »Vetter, reiß ihm die Schulterstücke runter!« Vetter fetzte die silbernen Rangabzeichen ab, daß Wehnert taumelte. Sie schoben ihn durch den Vorgarten in die Villa. Der Gefechtsstand war im Keller, in der geräumigen, sauberen Waschküche eingerichtet. Den großen, aus Brettern und Holzböcken gefügten Tisch bedeckten Karten. Auf einer Bank standen Telefone und ein Funkgerät, auch einen Radioapparat gab es, und unter dem Fenster ein eisernes Feldbett. Ein Ausgang führte in den Garten, ein zweiter durch einen Gang in den Kohlenkeller.

Wehnert stand bleich neben der Tür; er raffte sich noch einmal zu einem Protest auf. »Sie werden sich zu verantworten haben! Winkler, Sie machen sich der Meuterei mitschuldig, wenn Sie …« Wolzow sprang auf den Leutnant zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Vor Holts Blick wurde eine ähnliche Szene lebendig: wie Wolzow am Rabenfelsen Meißner zusammengeschlagen hatte … »Ich werd dir helfen … du Lump!« Wolzow schlug ein zweites Mal zu, und Wehnerts Kopf prallte gegen die Kellerwand.

Holt glaubte den Schlag zu spüren.

Wolzow sagte: »Den möcht ich langsam zu Tode schinden.«

»Großmäuliger Feigling … hat er dich mal genannt«, hetzte Vetter.

In allen Kellern waren die Fenster unvergittert. Wolzow meinte: »Dann wär’s das beste, du legst ihn um, Vetter. Oder noch besser: such einen Strick!« – »Jawohl«, schrie Vetter, »einen Strick suchen, Herr Unteroffizier!« Er machte kehrt. Wehnert rief in Todesangst: »Ich verlange ein Gericht! Ich bin Offizier! Sie haben kein Recht! Winkler, so helfen Sie mir doch! … Das ist doch nicht möglich … um Gottes willen!« Er schrie, mit verschwollenem Mund: »Nicht aufhängen!!«

Vetter brachte eine Wäscheleine.

Wehnert zitterte. »Der Führer«, sagte Wolzow, »hat befohlen: Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande. Hängen wir ihn gleich auf? Winkler?«

Unteroffizier Winkler schwieg. In seinem Gesicht stand Angst. Aber dann schüttelte er den Kopf. Holt sagte: »Nein!« – »Vetter?« fragte Wolzow. »Aufhängen!« rief Vetter. »Nichts wie aufhängen! Wenn ich dran denk, wie der uns geschliffen hat, dann bloß schnell aufhängen! Draußen, am Birnbaum!«

Wolzow sagte: »Da werd ich die Entscheidung treffen.« Er sah Wehnert an und zog den Augenblick in die Länge. Wehnert verlor die letzte Beherrschung und flehte stammelnd: »Wolzow … Gnade!« Seine Zähne schlugen aufeinander. Wolzowüberlegte lange. »Was machen wir mit ihm, daß er nicht türmt? Ich bring ihn bei der ersten Gelegenheit zum Regiment, den will ich hängen sehn!«

Wehnert atmete auf.

Wolzow überlegte noch immer. Vetter trat zu ihm hin und flüsterte etwas, und Wolzows Gesicht verzerrte sich.

»Gut.«

Während Vetter durch den Vorgarten zum Wagen lief, sagte Wolzow: »Der Wehnert wird narkotisiert, damit er nicht türmen kann!«

Vetter flößte dem willenlosen Leutnant Kognak ein, aus einem Trinkbecher, eine ganze Flasche. Wehnerts Augen wurden glasig. Vetter stieß ihn auf das Feldbett, wo er weitertrinken mußte, bis er bewußtlos liegenblieb.

»Erledigt«, sagte Wolzow. Holt wischte sich über die Stirn.

 

»Was wird nun … aus dem Bataillon?« fragte Unteroffizier Winkler.

Wolzow schaute Holt, Vetter und Winkler ins Gesicht. »Das Bataillon wird seinen Auftrag unter allen Umständen ausführen. Das Bataillon hört auf mein Kommando.«

Unteroffizier Winkler wandte überrascht den Kopf zu Wolzow um. Er sagte: »Hier wird aber nirgends mehr gekämpft.« – »Wo ich befehle«, sagte Wolzow, »wird gekämpft! Wer anders denkt …« Er schlug auf die Pistolentasche. Vetter stand mit der Wäscheleine dabei.

Wolzow trat an den Tisch und beugte sich über die Karte. Aus dem Radioapparat ertönte die Stimme des Sprechers. »Aus dem Führerhauptquartier … Großangriff im Osten hat begonnen …« Wolzow starrte das Radio an. »… Panzerspitzen im weiteren Vordringen … Erbitterter Widerstand … Auch westlich Erfurt … Saale zwischen Jena und Halle überschritten …« Und jetzt: »Aufruf des Führers …« Satzfetzen, die sich in Holts Teilnahmslosigkeit hineinschoben: »Berlin bleibt deutsch … Wien wird wieder deutsch …« Wütend schaltete Wolzow das Radio ab. »Wir haben einen Kampfauftrag! Alles andere geht uns nichts an!« Er beugte sich wieder über die Karte. »Holt, stell die Verbindung zum Regiment her!«

Holt probierte mechanisch die Telefone durch. In Greifensleben meldete sich Boek. Wolzow schrie: »Er soll die Selbstfahrlafetten herschicken!« Auf dem zweiten Apparat meldete sich Bucheck, ein Stabsarzt, der von Wahnsinn und Schlußmachen redete. Die aufgeregte Stimme drang blechern aus dem Hörer. »Leg auf!« zischte Wolzow. »Ruf das Regiment!« Aber die Leitung zum Regiment blieb tot. Niemand meldete sich.

Alles getürmt, dachte Holt.

Wehnert, auf dem Feldbett, stöhnte.

 

Wolzow ging mit Holt, Vetter und Winkler durch die Stadt. Eine Hauptstraße, ein kleiner, viereckiger Marktplatz, ein paar schmale Gassen, ringsum Villen in Gärten. Hauptstraße, Markt und die Nebengassen lagen in Trümmern, zerbombt und ausgebrannt. Nordwestlich der Stadt dehnte sich eine Industrieanlage, von einer großen Siedlung umgeben. Dort wehten weiße Fahnen. In der Stadt selbst begegneten sie keinem Zivilisten. Auch die Villen am Stadtrand waren geräumt.

Sie besichtigten die Feldstellungen östlich der Stadt. Der Graben zog sich von Süden nach Norden in Windungen an dem Flecken entlang, dicht vor dem Saum der Gärten. Die Alarmkompanie hielt den Graben besetzt, zweihundert blutjunge Burschen, bis auf ein paar Gefreite führerlos, aber gut bewaffnet. Wolzow zählte neun Maschinengewehre. Die Soldaten hockten in den Gräben, ihr Optimismus war verkrampft. Wilde Gerüchte: »Herr Unteroffizier, kommt Verstärkung, stimmt das?« – »Jawohl«, sagte Wolzow, »auch schwere Waffen!« – »Herr Unteroffizier! Heut nacht sollen im Osten neue Waffen eingesetzt worden sein … der Russe in vollem Rückzug …« – »Sobald die offizielle Nachricht eintrifft, laß ich’s bekanntgeben«, sagte Wolzow.

Am östlichen Ende der Stadt führte die Hauptstraße vom Markt durch die Villen hinab zur Chaussee. Vetter notierte Wolzows Anordnungen. »Hier links und rechts eine Pak in Stellung bringen. Die dritte weiter hinten in die Villengärten.« Winkler blieb im Graben. Sie liefen in die Stadt zurück, die Hauptstraße entlang. »Drei Keller mit Hinterausgang zu Bunkern herrichten … Panzerfäuste hinbringen! Drei Panzerjagdkommandos bilden. Ein Zug als Reserve in die Stadt.« Vom Marktplatz führte ein Gäßchen zum südlichen Stadtrand, wo in der langen Reihe der Villen der Gefechtsstand lag.

Dort klingelte das Telefon. Holt nahm den Hörer ab. Eine rauhe Stimme meldete, die Selbstfahrlafetten seien von Greifensleben nach Bucheck gelangt. »Läßt sich alles gut an«, sagte Wolzow. Er studierte wieder die Karte. Mit gespreizten Beinen am Tisch, nach vorn geneigt, die Arme seitwärts auf die Platte gestützt, so stocherte er mit dem Zirkel herum, maß Entfernungen, rechnete, leise murmelnd.

Holt erinnerte sich unvermittelt, wie Wolzow bei der Flak die Lage erklärt, wie er in der Kaserne am Sandkasten gespielt hatte … Und er sah ihn heute nicht anders als damals über die Karte gebeugt und hörte ihn sagen: »Überlegene Taktik … bessere Stellung … Aufmarsch … Überraschungsmoment …«

Wohin führt das? dachte Holt …

Wie lange noch …?

 

Als es Mittag wurde, langten die drei Selbstfahrlafetten in Gerstedt an. Vetter meldete die Ausführung aller Befehle. Noch einmal besichtigte Wolzow die dünn besetzte Linie, die Bunker in den Ruinen … Dann saßen sie im Gefechtsstand, wo Wehnert noch immer röchelnd im Schlaf lag.

Das Telefon schrillte. Holt nahm den Hörer auf, es war eine Reflexbewegung. Unteroffizier Boek redete aufgelöst und in panischer Furcht von Panzern … Hunderten von Panzern. »Sie halten auf der Höhe von Greifensleben«, schrie Holt. Wolzow sagte: »Die fahren vorbei!« Er schickte Vetter zu den Selbstfahrlafetten: »Wenn sie zu uns hochkommen sollten, werden die ersten in die Stadt hineingelassen!«

Holt dachte: Panzer. Hunderte von Panzern! Er hörte noch Boeks bebende Stimme, aber Wolzow stand wieder an der Karte und hielt Vorträge in den leeren Keller hinein: »Ich glaube kaum, daß sie uns hier mit starken Panzerkräften angreifen … im Süden bereits bis in den Raum Zwickau–Chemnitz … erhebt sich die Frage …«

Seit Tagen war Holt wie gelähmt, er befand sich in einem Zustand der Apathie, und sein Hirn vermochte die Eindrücke der Umwelt nur oberflächlich zu verarbeiten. Aber nun war es, als erwache er, als komme er zu sich. War es Wolzows Stimme, die rauh und schneidend an sein Ohr drang?

Wolzow redete und redete: »… werde die Amerikaner schlagen … nach allen Regeln der Kriegskunst.«

»Wolzow!« schrie Holt und zitterte plötzlich vor Erregung. »Jeden Augenblick können die Panzer …« – »Panzer? Das dauert noch! Also, ich kenn die amerikanische Taktik. Ich werde sie schlagen!« Ein Melder riß die Tür auf und starrte entgeistert auf den schlafenden Leutnant. Dann schrie er: »Panzer! Massen von Panzern!« Wolzow langte nach der Maschinenpistole und packte Holt am Arm. »Raus!« Er schob ihn aus dem Keller.

 

Holt lag im Graben neben Wolzow, nahe der Landstraße. Auf der Chaussee im Tal klirrten Panzer vorbei. Die Kompanie verkroch sich tiefer im Graben. Wolzow sah auf Holt. »Was hab ich gesagt? Sie fahren vorbei!« Er zählte. Bei achtzig hörte er auf zu zählen. Mindestens noch einmal soviel rollten vorbei.

Dann verstummte langsam der Motorenlärm. Ein Melder kroch durchs Gebüsch und stieg in den Graben. Vetters Handschrift: »In Greifensleben motorisierte Infanterie. Boek Leitung durchschnitten und kapituliert.« Wolzow las. Er zischte etwas Unverständliches. Eine Viertelstunde später klirrten wieder Panzerketten heran. Zehn Shermans rollten bis zur Höhe des Fleckens und bogen auf die Landstraße ab. Dort hielten sie lange Zeit. Unterdessen fuhr eine lange Kette von Wagen, mit Infanterie besetzt, auf der Chaussee vorbei nach Norden, Zugmaschinen mit Geschützen, und immer wieder motorisierte Infanterie. Das letzte Dutzend der Fahrzeuge hielt bei den Shermans vor der Stadt.

Wolzow brüllte den Laufgraben entlang: »Die Panzer … vorbeilassen!«

Die zehn Shermans rollten in rascher Fahrt die Landstraße hoch, näherten sich dem Ortseingang und drangen in den Flecken ein, sehr nahe an Holt und Wolzow vorbei. Die beiden Pak, in ihren gut gedeckten Stellungen im Gebüsch, begannen zu feuern.

Wolzow schrie: »In die Stadt! Schnell!«

Holt tauchte ins nahe Gebüsch, lief an einer feuernden Selbstfahrlafette vorbei, hörte stadtwärts Panzerfäuste detonieren, wieder und wieder. Dann hämmerten Maschinengewehre, Sprenggranaten donnerten in die Gärten, Obstbäume zerknickten, blühende Fliederbüsche segelten durch die Luft, ein Schuppen sprang in Fetzen, Feuer, Qualm. Holt rannte über die bebende Erde, erreichte die Hauptstraße, kletterte durch die Ruinen und stieg durch einen Kellergang in den ersten Bunker. Der Keller war verqualmt, durch das Fenster leuchtete gelber Flammenschein, ein paar Soldaten brüllten durcheinander. Jemand drückte Holt eine Panzerfaust in die Hand.

Draußen faßte sein Blick, wie im Traum, einen brennenden Panzer. Aber drei oder vier schossen Sprenggranaten in die Ruinen. Holt lief zur Hauptstraße. Zu seiner Linken, auf dem Marktplatz, flog ein Sherman in die Luft … Rechts ein brennendes Wrack, davor ein Panzer, der mit der Kanone in die Stadt hineinfeuerte.

Jemand warf sich neben Holt aufs Pflaster, das war Wolzow. »Geh ihn an, es ist der letzte!«

Holt lag unbeweglich. Er hatte das rasende Herzklopfen der Todesangst. Aber auf einmal war es vergangen, er spürte seinen Körper nicht mehr, als sei er schwerelos. In seinem Inneren sagte eine herausfordernde Stimme: Geh! Es ist die beste Lösung.

Er erhob sich. Einen imaginären Punkt suchen, festhalten mit dem Blick … und vorwärts, marsch! Er lief gegen den Panzer, fixierte die Walzenblende am Turm; er traf, und die Detonation schmetterte ihn zu Boden.

Ringsum war alles still, nur das Feuer brauste. Wenig entfernt stand ein Haus in Flammen. Holt wischte sich die Augen, die von Staub und Pulverdampf brannten.

»Die Infanterie sitzt ab!« schrie es, und dann: »Vier Panzer sind zurück zur Chaussee!«

 

Am Ortseingang, zwischen den Büschen, in einem Meer von Flammen, brannten die beiden Selbstfahrlafetten … Unteroffizier Winkler keuchte. »Die dritte ist heil … Und die beiden Besatzungen hier …« – »Scheiß auf die Besatzungen!« schrie Wolzow. »Die Kanone brauch ich! Die dritte Pak zurück in die Stadt!« Er stieß Holt in den Graben. Vetter kroch zu ihnen hin, mit einem Maschinengewehr. Holt sah, daß man hinter der Chaussee Granatwerfer in Stellung brachte. Die vier Shermans richteten ihre Kanonen auf die Häuser. Es heulte schon heran und schmetterte in die Stadt … »Laß sie angreifen!« sagte Wolzow. »Gegen ein Dutzend Maschinengewehre bergan über freies Feld! Vetter! Du führst den Zug aus der Stadt zum Gegenstoß …« Vetter kroch zurück. Wolzow brüllte Holt an: »Was ist denn mit dir los? Nimm doch das Maschinengewehr!«

Eine Rakete stieg gleißend empor … Was soll das? Wolzow drehte den Kopf zur Seite, sah nach oben, rutschte, erstarrt vor Schreck, von der Brustwehr in den Graben, und verkroch sich im sandigen Boden … Holt begriff nichts. Da brach das Gewitter los. Jagdbomber glitten über den Himmel, kippten über die Tragflächen und stießen herab, und entlang des Stadtrandes flog in Fontänen und dann in einer einzigen, zusammenhängenden Masse die Erde zum Himmel auf und schmetterte mit Stahl vermengt auf den Boden zurück, und der Boden bebte wie unter vulkanischen Eruptionen … Schwarze Nacht, treibender Rauch, zum Himmel emporsteigendes Erdreich, das den Tag löschte, von rotem, rußigem Feuer und gelben Blitzen durchzuckte Nacht, Detonationen, Raketen, Bomben, dumpfes Gehämmer der Bordkanonen, verschmelzend zu einem einzigen Ton, den das Motorengeheul der niederstoßenden Maschinen überschrie … Holt lag bewegungslos, das Gesicht zum Himmel gekehrt, während rasend schnell die Bilder wechselten: vom Wahnsinn entstellte Gesichter, heranrasende Jäger, brüllende Einschläge, der Graben, der einstürzte, tonnenschwer niedergepreßtes Erdreich, bewegungslose Gestalten, und Feuer, überall Feuer … Das Grauen sickerte tiefer und tiefer in Holts Bewußtsein und löschte jede Regung. Sein Gesicht erstarrte in einer Grimasse.

Die Jagdbomber flogen ab.

Die Stille, die zurückblieb, füllte sich mit dem Geschrei der Verwundeten. Aber schon zitterte die Erde unter den herannahenden Panzern. Die vier Shermans rollten feuernd den Graben entlang, Brustwehr samt Besatzung mit breiten Ketten zermalmend, ein paar Panzerfäuste detonierten, ohne zu treffen, und die Panzer krochen auf die Landstraße und rollten in die Stadt, wo sie die letzte Pak empfing. Aber da riß das Hurra der Angreifer die Überlebenden aus dem Graben hoch.

Holt tauchte aus dem Loch, Augen und Mund voll Sand, riß das MG auf die Brustwehr, zögerndes Schießen setzte ein, Handgranaten barsten. Die Amerikaner waren am Graben, liefen nach links zur Straße hin; dort war der Einbruch gelungen. Die braunen Gestalten sprangen in den Graben und rollten ihn auf … Wolzow brüllte. Holt warf das MG herum. Die Amerikaner strömten regellos und ungeordnet zur Einbruchstelle. Wolzow warf Handgranaten. Wo die Landstraße zwischen die ersten Häuser führte, hieben die Amerikaner alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte oder sein Heil in der Flucht suchte … Wolzow kletterte aus dem Graben, brüllend: »Vorwärts!« Auf der Landstraße stieß die Pak zwischen den Häusern hervor und in den Haufen der Amerikaner hinein, gefolgt von dem Zug, an dessen Spitze Vetter stürmte. Die verwirrten Amerikaner gingen zurück. Die Pak feuerte Sprenggranaten unter die Fliehenden, rollte weit die Landstraße vor und beschoß die Fahrzeuge auf der Chaussee. Wolzow raffte ein paar Leute zusammen und riß sie mit gegen die Landstraße, wo Vetters Leute mit Kolben und Seitengewehr auf die Amerikaner eindrangen. Holt schleppte keuchend das MG, an der Hüfte angeschlagen, die Rechte am Zweibein, die Linke am Abzug. Noch hielt sich unter einer Baumgruppe ein Dutzend Amerikaner, um einen Neger geschart, aber als der Neger fiel, war das Handgemenge entschieden.

Die Kompanie behauptete den Flecken und den verschütteten Graben.

Wolzow geriet in Raserei. Er trieb, im Gesicht weiß vor Wut, einen der jungen Soldaten vor sich her, der während des Handgemenges ins Gebüsch geflüchtet war, trieb ihn zum Straßenrand und schoß ihn nieder. Vetter erschoß mit seinen Leuten ein paar khakifarbene Gestalten, die schon in die Stadt eingedrungen waren und nun vergebens die Hände hoben. Man erschoß auf Wolzows Befehl auch die Verwundeten. Die viel zu weit vorgeprellte Pak stand in Flammen. Aber das alles entging Holt. Er saß weit abseits auf einer Munitionskiste bei den Villengärten, er hatte den Helm abgebunden und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ruhe trat ein. Endlich wurde es Abend.

 

14

 

Im Gefechtsstand brannte eine Petroleumlampe. Wolzow schnallte das Koppel mit der Pistole ab und warf es auf die Bank zwischen die Telefone. Auch Vetter legte die Waffen weg, öffnete den Kragen der Feldbluse und beugte sich dann prüfend über den Leutnant.

»Jedenfalls hat die Kompanie die Stellung gehalten«, sagte Wolzow.

Unteroffizier Winkler stand nahe der Tür; er machte eine fahrige Handbewegung. »Die Kompanie?« Seine Stimme war vom Schreien brüchig. »Es gibt keine Kompanie mehr. Noch fünfzig Mann. Sie sind fertig.«

»Die müssen sich erholen«, sagte Wolzow barsch. »Die müssen weiterkämpfen. Meinetwegen teil Schnaps aus.« Aber Winkler machte keine Anstalten, den Keller zu verlassen. »Die Jabos …«, sagte er heiser, und sein Gesicht war eingefallen, wie tot, und nicht einmal mehr Angst hatte darin Platz, »die Jabos … und unsere Verluste … Es ist Wahnsinn!«

Wolzow schaute auf. Winkler verstummte unter seinem Blick. Wolzow trommelte nervös mit den Fingern auf der Karte. »Die Verwundeten nach Bucheck zurück. Vetter! Häuser am Stadtrand herrichten zur Verteidigung. Feldwachen draußen lassen. Jetzt wird aus den Häusern gekämpft!«

Vetter schrie hackenknallend: »Jawohl, Herr Unteroffizier!« Er raffte Koppel und Maschinenpistole auf. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Wolzow telefonierte mit Bucheck. Er sprach kaum ein Wort und hörte mit unbewegtem Gesicht, was am anderen Ende in die Leitung gesprochen wurde. »In Bucheck ist SS eingetroffen.« Er legte den Hörer auf. »Die werden den Wehnert hängen«, sagte er, während er zum Tisch trat. Dann stand er lange über die Karte gebeugt.

Winkler lehnte erschöpft am Türpfosten. Er hielt die Augen geschlossen, sein Brustkorb hob und senkte sich, als sei er noch immer außer Atem. Er hatte den Helm nicht abgelegt, um seinen Hals hing die Maschinenpistole. »Wolzow«, sagte er, »der Junge … der Kleine vorhin … Es war …« Er verstummte, als Wolzow den Kopf hob, aber sein Blick irrte durch den Keller und blieb auf Holt haften.

Holt hockte zwischen den Telefonen. Er hatte das Grauen nicht verwunden. Der Halbschlaf vermengte die frischen Eindrücke des Gefechts mit vielen Bildern der Vergangenheit. Alles war noch einmal da, die Schlägerei am Rabenfelsen, die verhungernden Gefangenen in der Batterie, die Sägemühle in den Karpaten, die Gestreiften im offenen Grab. Er wehrte sich gegen die Bilder, er wurde sie nicht los.

 

Spät nach Mitternacht kehrte Vetter zurück. Er brüllte seinen Bericht in den Keller.

Holt fuhr zusammen.

»Zur Lagebesprechung«, sagte Wolzow.

Vetter hängte die Maschinenpistole an einen Haken neben der Tür. Wolzow stülpte sich Wehnerts Offiziersmütze auf den Kopf. Er fröstelte und ließ sich von Vetter auch Wehnerts Mantel mit den silbernen Schulterstücken umhängen. Die Petroleumlampe warf seinen Schatten ins Riesenhafte verzerrt gegen die weißgekalkte Kellerwand.

»Meine Herren!« Holt horchte auf. Da war wieder die Stimme, rauh, schneidend, eine fremde Stimme, sie jagte Holt einen Kälteschauer über den Rücken: eine Stimme, die Befehle schrie, die Stimme des Schicksals, und sie stach in die Tiefe seiner Erschöpfung, wie sie einst in alle Träume, in die Urlaubsstunden oder ins stille Krankenzimmer hineingedrungen war, eine Stimme, vor deren Klang es kein Entrinnen gab.

»Die Kompanie hat den ersten Angriff abgewiesen und wird …«

Holt war von bleischwerer Müdigkeit erfüllt. Wolzows Rede wischte diese Müdigkeit fort. Holt hörte zu, und der Augenblick kam, da die Worte aufhörten, bloßer Schall zu sein, da er ihren Sinn aufnahm: »… heldenhaft untergehn …«

Das Wort war oft gefallen. Es hatte in allen Lesebüchern gestanden, von der Heiligen Schar des Pelopidas bis zu den Figuren Ernst Jüngers, und besonders im letzten Jahr hatte es die Spalten der Zeitungen gefüllt: heldenhaft untergehn. Es war Phrase gewesen, Drohung, hysterischer Angstschrei. Aber jetzt, in Wolzows Mund, war es ein Todesurteil.

Es gibt keine Lösung, dachte Holt.

Wolzow hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, aber Holt bewegte verneinend den Kopf. Wolzow rauchte. »Ich bin zeit meines Lebens ein Verfechter des Schlieffenschen Cannae-Gedankens gewesen … schon Clausewitz lehrt, daß konzentrisches Wirken … Napoleon formuliert, der Schwächere darf nicht …«

Das Gerede Wolzows weckte in Holt ein Gefühl der Fassungslosigkeit, als höre er einen solchen Vortrag zum erstenmal. Wer ist das, dachte er, der dort am Kartentisch steht?

»… gekommen wäre, wenn nicht … und ich hätte, falls … gelingen würde, aber … wäre bestimmt gelungen, wenn …«

Hätte, wäre, würde, wenn …

Der Vorhang riß mitten durch. Holt erwachte. Er kam zu sich. Auf einmal sah er den düsteren Keller, den Kartentisch, den betäubten Leutnant nicht mehr unscharf, verzerrt, wie durch Nebel. Auf einmal faßte sein Blick alle Dinge klar und in harten Umrissen. Sein Denken setzte ein, mit einer Folgerichtigkeit, einer Schärfe, die eine halbe Ewigkeit unter Apathie und Gleichgültigkeit begraben gewesen war, wenn er überhaupt jemals darüber verfügt hatte, er, der Suchende mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer … Der Mechanismus seines Denkens pflügte in Sekunden alle Erfahrungen um, deutete alle Eindrücke neu, kehrte sein Leben vom Kopf auf die Füße und lief von der Vergangenheit her unaufhaltsam in die Gegenwart dieser Szene hinein.

Er sah wie gebannt auf Wolzow. Er kannte ihn nun zwei Jahre, eine lange Zeit. Zwei Jahre lang hatten sie zusammen gekämpft. Sie hatten bei der Flak nebeneinander am Geschütz gestanden, sie hatten Tiefangriffe und Bombenteppiche überlebt, sie hatten das Gefecht in den Karpaten überdauert, sie waren im Osten durch den Schneesturm geflohen, sie hatten in einem Panzer gesessen. Vom Dummejungenstreich bis zum Nahkampf gegen die Amerikaner hatten sie alles gemeinsam erlebt. Holt kannte Wolzow, nichts war neu, nichts kam überraschend.

Aber in dieser zweiten Stunde nach Mitternacht, an einem Aprilmorgen des Jahres 1945, war ihm, als habe er bis heute nichts, gar nichts von Wolzow gewußt. Er starrte ihn an, als sei das ein fremder Mensch, der dort groß und wuchtig, mit nervösem Zucken der Brauen am Kartentisch stand, seine Erklärungen mit Handbewegungen untermalte und gerade sagte: »Ich würde einen solchen Angriff …« Ein fremder Mensch, mochte das gelbe Licht der Petroleumlampe auch ein bekanntes Gesicht beleuchten.

Eine geschlagene, ausgeblutete Truppe, dachte Holt weiter, lag draußen zwischen Bäumen und Büschen und in zerbombten Kellern und schlief in tödlicher Erschöpfung, kaum einer ohne durchbluteten Verband, ohne Gehirnerschütterung, ohne Nervenschock.

Es war, als zerbreche etwas in Holts Brust. Der dort, dieser Wolzow, dachte er, steht an der Karte, draußen liegt die Truppe, das sind Menschen, und sie sind doch nichts als die einfachste Größe in einer Gleichung mit vielen Unbekannten, sind nur Pfeile auf der Karte, Schachfiguren, kleine Symbole im großen Sandkasten, sind Gegenstände für Wolzow, sonst nichts. Was aber ist Wolzow für sie, für mich?

Eine Ahnung beschlich Holt, verdichtete sich, wurde zur Gewißheit. Es nahm ihm den Atem. Die Binde fiel von seinen Augen, das dunkle Zimmer wurde hell.

Er ist ihr Schicksal.

Schicksal, dachte er, Vorsehung, Gott, wir sind ausgeliefert, Figuren im großen Spiel … Schicksal, dachte er, mein Schicksal heißt Wolzow.

Wo hab ich meine Augen gehabt, meinen Verstand? Mein Schicksal ist ein Mensch, ein lebender Mensch mit Leib und Hirn und schlagendem Herzen, der sich Macht anmaßt über Leben und Tod, er oder ein anderer, wie hier im Keller, so überall, im ganzen Land, im Kleinen, im Großen … Und er sah nun: Das Anonyme, das System, wohlgeordnet, mit Rangabzeichen und Uniformen, eine Hierarchie der Gewalt ist unser aller Schicksal! Lüge, Betrug war alles, Verdummung war Gott und die Vorsehung nichts als Berechnung! Nicht Schicksalsmacht über Getriebenen, hieß es, nicht Vorsehung über vorgezeichnetem Weg, nicht Gott über Irdischen, Sterblichen, sondern Menschen über Menschen, Machthaber über Machtlosen, und immer Sterbliche über Sterblichen!

Er faßte Wolzow ins Auge. Er hatte noch nie mit solcher Klarheit in einen Menschen hineingesehen. Dieser Unteroffizier mit der Leutnantsmütze, der den Kopf voller Pläne hat, voller durchführbarer und undurchführbarer, auf jeden Fall aber mörderischer Pläne, zugleich voller historischer Ereignisse und Parallelen, für jeden Fehler ein Beispiel und für jeden Toten ein Beispiel, dieser Mensch dort, nicht anders als Ziesche und Ziesches Vater, Böhm, Wehnert und wie all das Gesindel hieß, ist ein Symbol: ein Verbrecher, der mit angemaßter Macht Mensch auf Mensch in den Tod schickt, ein Mörder von Berufung und Beruf. Und ich war sein Werkzeug, seine Kreatur, sein Zutreiber, dachte Holt.

Das Gefühl der Schuld stieg in ihm hoch. Es wollte ihn zurückstoßen in die alte Apathie: Ich hab auf der falschen Seite gestanden, von Anfang an, in der Slowakei, im Osten, immer, bis heute. Ich hab alles mitgemacht. Ich hab geschwiegen und zugesehn. Etwas davon war auch in mir. Und nun bin ich schuldig.

In seinem Inneren braute sich ein neues Gefühl zusammen: brennender Haß. Er verstand nun alles. Er verstand den Ausbruch Gomulkas, damals, an der Panzersperre, er verstand die Worte des Gefreiten: Das sind sie! Das will nicht aussterben, das mordet weiter. Sie sind die schlimmsten. Und er erkannte, auf welche Seite er gehört hätte: zu Sepp, zu dem Gefreiten, zu der Slowakin, zu den Gestreiften. Er sah auf Wolzow: Das sind sie, unsre Verderber, und der dort bereitet schon neue Morde vor, zeichnet Angriffspfeile und erklärt, warum ein Teil der Kräfte von Norden angesetzt wird … ein Teil der Kräfte, alles in allem fünfzig Mann!

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Das Stückchen Land ringsum, dieses Dreieck der Dörfer, Chaussee, Hügel und Bach, das war nichts anderes als ein überdimensionaler Sandkasten, in dem Wolzow Schicksal spielte mit Machtlosen und Verderben plante, sinnlos und mit der gespenstischen Lust eines Menschen, der einer zweihundertjährigen Mörderfamilie entstammt.

Späte Erkenntnis, zu späte Erkenntnis. Signale über Signale wurden mißdeutet und überhört: alles umsonst, dreckige Arbeit, Chlorkohlensäuremethylester, Russengefangene, Zähneeinschläger, Schulhof, Sägemühle, Zug der Gestreiften. Ich war blindes Werkzeug des Verbrechens, Handlanger des Unrechts. Schaurige Bilanz! Achtzehn Jahre umsonst gelebt, achtzehn Jahre mißbraucht und betrogen, und nun schuldig, schuldig. Und der Haß wuchs und schlug wie eine Flamme in ihm hoch: Im Ende lehn ich mich auf, gegen das »Schicksal«, ich biet ihm die Stirn, ich bin stärker, ich spring in die Schranken.

Ich lege Wolzow das Handwerk.

Wolzow sagte: »Wir werden also jetzt sofort die Amerikaner bei ihren Fahrzeugen überfallen. Äußere dich zu den Einzelheiten, Holt.«

Es war soweit. Draußen dämmerte der Tag. Holt setzte den Helm auf. Er dachte flüchtig: Meine Mutter … Aber nichts regte sich bei diesem Gedanken. Mein Vater … er hat mir alles gesagt. Aber er hat mir die Wahrheit hingeworfen, wie man einem Hund einen Knochen hinwirft, da war ich zu stolz und wollte die Wahrheit nicht hören, auch das ist meine Schuld.

»Los, äußere dich!« rief Wolzow ungeduldig.

Holt stand auf und faßte die Maschinenpistole. Er sagte: »Die Truppe geht zurück oder kapituliert.«

Winkler, neben dem Ausgang, beugte sich nach vorn und starrte Holt überrascht an.

Wolzow stützte die Hände auf den Kartentisch und hob das Gesicht.

Holt ging zum Radio. Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Sprechers: »Erbitterte Kämpfe … Durchbruch russischer Panzer zwischen Muskau und Guben … Durchbruch im Raum Wriezen … Durchbruch … Durchbruch …« – »Stell ab!« schrie Wolzow. »Hier wird gekämpft bis auf den letzten Mann!«

Holt sagte: »Es wird nicht mehr gekämpft!«

»Nimm dich in acht«, zischte Wolzow. »Ich hab schon einen umgelegt, eigenhändig, reiß dich zusammen, sonst …«

Holt nahm Wolzows Koppel mit der Pistolentasche und warf es durch die Tür in den dunklen Kohlenkeller.

»Es ist aus, Wolzow!« sagte Holt. Wolzows Gesicht verzerrte sich.

»Winkler!« schrie Holt.

Winkler riß mit einem Griff Vetters Maschinenpistole vom Haken. Vetter fuhr zurück und starrte hilfesuchend auf Wolzow.

Wolzows Hände tasteten über die Uniform, dann sprang er gegen Holt. Holt stieß den Kartentisch um. Die schwere Platte warf Wolzow gegen die Kellerwand. Holt hob die Maschinenpistole, er richtete sie auf Wolzow, er schrie:

»Du bringst keinen mehr um, Wolzow!«

Wolzow starrte in die Mündung der Waffe, starrte in Holts Gesicht und wurde fahl. Aus seiner Stirn brach Schweiß, ein Zittern ging über seine Gestalt. Er blieb unbeweglich stehen.

»Winkler«, sagte Holt. »Sie übernehmen wieder das Kommando. Gehn Sie nicht nach Bucheck zurück, dort soll SS sein, gehn Sie südlich durch die Wiesen oder gleich in Gefangenschaft, wie Sie meinen …« Auf einmal versagte seine Stimme.

Winkler hielt den Türgriff in der Hand. »Komm mit, Holt!« – »Ich komm nach.« Die Tür fiel hinter Winkler ins Schloß.

Wolzow sagte mit einer kratzigen Stimme: »Das ist Verrat! Die Truppe ist noch gut für vierundzwanzig Stunden Häuserkampf!«

Holt fuhr herum. Er schrie: »Gestern waren’s zweihundert; und wieviel sind übriggeblieben? … Du willst hier Lesebuchgeschichten aufführen, aber …« Er brach ab. Bei dem ist jedes Wort vergeblich.

»Ich fühl mich nicht zum Henker berufen«, sagte Holt, »ich geh.« Er rief: »Aber lauf mir nicht über den Weg, Wolzow! Verkriech dich irgendwo, aber laß dich nicht vor mir sehen!«

Er stand schon in der Tür. Als Wolzow nicht mehr die Waffe auf sich gerichtet fühlte, geriet er außer sich. Er schrie, nach vorn geneigt: »Warte, du Verbrecher! Warte, ich hol die SS aus Bucheck, ich komm wieder, du sollst hängen, ich will dich hängen sehn neben Wehnert!« Seine Stimme überschlug sich.

Holt warf die Tür ins Schloß. Er ging langsam durch die Gärten zum Stadtrand.

 

Die Chaussee im Tal war von Nebel verhüllt, und der Nebel verbarg die Fahrzeuge der Amerikaner und hüllte auch die zurückgehende Truppe ein. Holt fand den Graben, die Villen am Stadtrand verlassen. Zwischen Bombentrichtern lagen die Toten. Die Stadt war menschenleer.

Holt stand am Ortseingang bei einem der zertrümmerten Panzer. Die letzten Soldaten zogen gebückt durchs Gebüsch und tauchten im Nebel unter. Dann war Stille. Holt sah zu den Amerikanern hinüber. Nun, da der Bruch vollzogen war, da er sich losgesagt hatte von aller Vergangenheit, fühlte er sich einsam. Was wird nun aus mir? Er dachte an Gomulka.

So stand er lange, an den rußigen Stahl des Panzers gelehnt.

Es war nun taghell. Langsam hob sich der Nebel. Holt hörte Geschrei, das mußte in der Stadt sein. Er wendete sich um und ging in Richtung Marktplatz.

Benagelte Stiefel knallten über das Pflaster. Jemand rannte die Straße hoch zum Ortsausgang, das war Vetter. Holt drückte sich in eine Mauerecke. Aber Vetter kam auf ihn zu, waffenlos und mit dem Gesicht eines Menschen, dem der Schreck Verstand und Überlegung geraubt hat. Er packte Holt an beiden Armen und stammelte: »Der Wolzow … sie wollen ihn …« Er schrie: »Sie wollen ihn hängen!« Der Mund schnappte auf und zu und stieß Worte hervor: »Von Bucheck die SS … die suchen auch nach dir … Ihr Führer ist der Meißner …« Er brüllte verzweifelt: »Der Meißner von daheim … du kennst den doch!«

Die Szene mit Vetter mochte ein Spuk sein, ein Alptraum, aber dann schlug es wie der Blitz ein: Meißner hängt Wolzow! Er dachte daran, zu fliehen, geradewegs zu den Amerikanern, die Chaussee hinab, aber dann stieg in ihm wieder der Haß hoch, die Bilder der Erinnerung waren da: der alte Ziesche, die Sägemühle, die Wachmänner der Gestreiften … Und der Gedanke, in dieser letzten Minute des Krieges das Gewehr umzudrehen, löschte alle Überlegung aus.

Er lief los, durch enge Querstraßen, im Bogen zum Markt, er suchte den Keller, der zu einem Bunker hergerichtet worden war, er pirschte sich durch den Garten und sprang hinab in das Kellerloch. Mit einem Blick überschaute er Waffen und Geräte, die hier zurückgelassen worden waren. Vetter stand bebend am Hinterausgang, der in den Garten mündete. Holt kletterte auf den Kistenstand unter dem Fenster. Er sah Gestalten auf dem Marktplatz, keine fünfzig Meter entfernt, vor der Kulisse eines ausgebrannten Sherman. Er hörte Wolzow schreien. Dann öffnete sich der Kreis. Holt sah Wolzow, die Ellenbogen auf dem Rücken mit einem hellgelben Offizierskoppel zusammengeschnürt, barhäuptig und schon den Strick um den Hals. Man schleifte ihn zu der Brunnenfigur, die aussah wie ein Kandelaber. Der große, blonde SS-Führer war wirklich Meißner. Wehnert stand taumelnd dabei und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf Wolzow, der wie ein Tier brüllte, mit unkenntlicher Stimme.

Das alles sah Holt, und es zog sich sekundenlang wie ein Vorhang über seinen Blick, aber der Vorhang riß mitten durch. Man warf den Strick über die Brunnenfigur. Holt dachte: Die Mörder henken sich gegenseitig!

Er sprang in den Keller. Er raffte ein MG auf. Vetter stand fahl und hilflos im Halbdunkel, eine Maschinenpistole in den Händen. Holt stieg mit dem MG und einem Munitionskasten zum Fenster hoch. Schloß zurück, Deckel auf, Deckel zu, entsichern, runter das Visier, Anschlag.

Jetzt gnade euch Gott!

Wolzow hing unbeweglich an der Brunnenfigur. Die SS-Männer standen scharf und deutlich auf dem Visier. Holt zog ab. Ein Feuerstoß schmetterte heraus. Es war soweit. Die Rechnung wurde beglichen, für die Sägemühle, für die Gestreiften, für Gundels Eltern … Ihm war, als falle die Vergangenheit wie eine Last von ihm ab.

Die erste Garbe warf drei oder vier SS-Männer vor dem Brunnen nieder. Die zweite Garbe faßte Wehnert und einen bulligen Kerl und Meißner, und Wehnert schlug über den Brunnenrand, während Meißner aufs Pflaster stürzte. Die anderen sprangen mit Panthersätzen in die Ruinen. Aber da stiebten vor dem Kellerloch Sand und Steinsplitter auf. Holt war schon entdeckt worden und erhielt von allen Seiten Feuer. Vorsicht, die sind gefährlich, die haben Routine! Da krochen sie schon näher. Aber ich bin auch gefährlich, ich stell mich tot. Das MG schwieg. Fünf, sechs Mann sprangen aus den Trümmern und stürmten heran. Die Garbe faßte sie und warf sie zu Boden. Kommt doch, kommt!

Aber die SS war auf einmal unkonzentriert. Holt sah die versteckten Gestalten nach rechts feuern, als vermuteten sie auch dort einen Gegner. Holt schoß. Die SS erwiderte das Feuer. Dreck stiebte vor dem Fenster auf. Holt legte einen neuen Gurt ein.

Da hackte Vetters Maschinenpistole los, hinten, wo der Kellergang in den Garten mündete. Vetter schrie: »Die Amiiiis!«

Die Amis? Holt feuerte auf einen SS-Mann, der von rechts nach links über den Markt floh und im Laufen das Gewehr fallen ließ, ehe er auf das Pflaster stürzte. Schieß auf die SS! Schieß um dich, wo immer sich was rührt. Das Ende ist da.

Nur Gundel hätt ich gern noch einmal wiedergesehn!

Die Garbe jagte einen fliehenden SS-Mann um die Ecke. Holt sprang auf den Kellerboden. Im Garten peitschten Schüsse. Ausbruch. Nicht im Keller sterben. Er lief in den Garten. Da war kein Vetter mehr. Zwischen den Büschen huschten khakifarbene Gestalten. Holt prallte mit einem Amerikaner zusammen, beide fielen zu Boden, jemand trat ihm auf den ausgestreckten Arm und entwand ihm die Pistole, man überwältigte ihn.