12

 

»Holt«, sagte Gottesknecht eines Tages, »verdient haben Sie’s nicht, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat. Reichen Sie sofort ein Urlaubsgesuch ein, Sie und Wolzow, auch Gomulka, ehe es zu spät ist! Wie’s mit unserer Mannschaftsstärke aussieht, das wissen Sie. Noch ein paar Ausfälle, und mit Urlaub ist’s vorbei!«

Über dem Ruhrgebiet lag eine Hitzewelle. Dunst verschleierte die Mittagssonne. Türen und Fenster der Baracke standen offen, aber kein kühlender Luftzug strich durch die überhitzten Stuben. »Wir sollen den Chef gleich um Urlaub angehn«, sagte Holt. Gomulka rief: »Still!« Wolzow las aus der Zeitung vor: »… ›und so wird die Schlacht im Osten immer mehr zur großen Bewährungsprobe der Einzelkämpfer. Den Vorstößen schneller sowjetischer Kräfte begegnen unsere Kampfgruppen durch Zusammenschluß in einzelnen Widerstandsräumen …‹« Gomulka meinte: »Da hast du tatsächlich recht behalten mit deiner Lageeinschätzung!« Wolzow las weiter: »›Während der feindliche Einbruch in Minsk von Südosten und Nordosten her geschah, stehen weiter südöstlich bis zur Beresina hin immer noch deutsche Truppen, die sich unter fortgesetzten Durchbruchskämpfen nach Westen zurückschlagen.‹« – »Also eingekesselt!« sagte Gomulka und nahm Wolzow die Zeitung aus der Hand. »Außerdem geht eindeutig daraus hervor, daß es im Osten ein Bewegungskrieg geworden ist: ›Der Feind versucht‹, heißt es, ›die Bewegung weiterhin aufrechtzuerhalten.‹«

Holt schielte auf Ziesche. Ziesche schlief, oder er gab vor zu schlafen. »Und noch immer keine Gegenmaßnahmen?« fragte Holt. »Lies den Wehrmachtbericht!«

Gomulka blätterte in der Zeitung. »Gegenmaßnahmen?« Es zuckte in seinem Gesicht. »Moment! Invasionsfront … Also: ›im Mittelabschnitt der Ostfront stehen unsere Truppen bei drückender Hitze in auch für uns verlustreichen Kämpfen …‹«

Wolzow unterbrach ihn: »Da muß was los sein!« Ziesche richtete sich auf und glotzte verschlafen.

»Das hat es im ganzen Krieg noch nicht gegeben«, sagte Gomulka. »Da brauchst du gar nicht so ’n ungläubiges Gesicht zu machen, Ziesche, schau dir die Wehrmachtberichte an, vom Polenfeldzug bis heute! Das ist das erstemal, daß es heißt ›in auch für uns verlustreichen Kämpfen‹.« Er las weiter: »›Die heldenmütige Besatzung von Wilna‹ …« – »Wilna?« rief Holt erschrocken. »Na ja doch«, sagte Gomulka, »Wilna ist schon vor drei Tagen erreicht worden. ›An Wilna vorbei dringt der Gegner weiter nach Westen und Südwesten vor.‹« Er legte die Zeitung fort. »Sieht also nicht nach Gegenmaßnahmen aus.«

Holt saß deprimiert am Tisch. Eben noch hatte er sich auf den Urlaub gefreut. Nun war ihm diese Freude verdorben. Er wunderte sich nur immer wieder über die anderen, die all die niederschmetternden Nachrichten so empfindungslos hinnahmen oder aber ihre Gefühle besser als er zu verbergen wußten. Vetter jedenfalls rief von seinem Bett: »Scheiß auf Wilna! Die solln uns hier mal ausschlafen lassen, das ist wichtiger!«

 

Sie schrieben Urlaubsgesuche. Holt überlegte noch einmal: Was fang ich mit dem Urlaub an? Mutter? Nein. Vater? Nein. Holt hatte seit Weihnachten nichts mehr von ihm gehört und vor ein paar Wochen, als die mitteldeutschen Industriezentren bombardiert worden waren, nur durch eine der vorgedruckten Mitteilungskarten erfahren, daß sein Vater lebte. So blieb nur Wolzows Einladung. Wolzow und Gomulka hatten ihn immer wieder aufgefordert, mitzukommen. Solange man noch Freunde hat, ist alles gut! Freunde, dachte er mit leichtem Mißbehagen. Gab es zwischen Wolzow und ihm nicht eine leise Entfremdung? Aber dann erinnerte er sich an die verwilderte Villa, die Sommertage am Fluß … und an Uta! Dieser Gedanke war unangenehm. Frau Ziesche fiel ihm ein.

Er konnte unmöglich auf Urlaub fahren, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben. Vielleicht hatte sie Zeit, vielleicht konnten sie zusammen verreisen, wie Weihnachten … Er saß sinnend und dachte: Ob es noch einmal so wird wie damals? Seltsam, überall die gleiche Entfremdung! Er zog sich rasch die Ausgehuniform an. »Wo willst du hin?« fragte Wolzow. – »Zum Zahnarzt.« Wolzow begann zu grinsen. Da schrillte die Alarmglocke. Wolzow lief in der Badehose zum Geschütz, das Drillich unter dem Arm.

Die Sonne prallte senkrecht in den Geschützstand. Holt, in der Uniform aus Wollstoff, suchte vor den sengenden Strahlen vergeblich im Mannschaftsbunker Schutz; das Erdreich war so heiß, daß die Luft aus dem Bunker wie aus einem Backofen schlug. Er zog sich die Bluse aus. Schröder, einer der Schlesier, saß statt seiner an der Seitenrichtmaschine. »Feuerbereitschaft!« meldete Ziesche, der auch die Ausgehuniform trug. Sie setzten die Stahlhelme auf. – »Einzelne schnelle Feindflugzeuge …« – »Die obligaten Mosquitos«, sagte Gomulka. Wolzow zog sich den Ladehandschuh wieder aus und setzte sich auf einen Holm.

»De Havilland Mosquito«, sagte er dann träumerisch. »Die sind als Aufklärer vollständig unbewaffnet. Sie fliegen so schnell, daß unsere Jäger sie nur im Sturzflug einholen können.«

Ziesche fragte: »Aus was für Kanälen stammt diese Weisheit eigentlich?« Wolzow warf den Zigarettenstummel auf den Boden. »Das hat im ›Völkischen Beobachter‹ gestanden! Aber du liest ja bloß immer die Schlagzeilen, die Kommentare mußt du lesen! Du bist zwar ein guter Nationalsozialist, aber du könntest dir endlich ein bißchen militärische Sachlichkeit angewöhnen.«

»Rohre Richtung neun!« schrie Ziesche. In der Ferne erhob sich ein dunkles Grollen. »Die 12,8-Batterien in Bottrop schießen!« Wolzow zog sich wieder den Ladehandschuh an und dozierte weiter: »Damit stellst du dir nämlich ein unnötiges Armutszeugnis aus, wenn du die militärische Wahrheit als Zersetzung ansiehst. Nächstens sagst du noch, der Führer treibt Zersetzung, wenn er die Lage als ernst bezeichnet.«

In den Städten heulten die Sirenen Entwarnung. Ziesche schaltete am Mikrophon. »Anton verstanden. Feuerbereitschaft aufgehoben. Die schnellen Feindflugzeuge sind ins Reich eingeflogen … Zwei Mann bleiben an den Geschützen. Die anderen können essen gehen.« – »Ich bleib«, sagte Wolzow. »Sepp, bring mir das Essen her!«

Holt zog die Bluse an und lief zur B 2. Gottesknecht furchte die Stirn. »Pünktlich siebzehn Uhr wieder hier, verstanden? Und hören Sie sich beim ›Zahnarzt‹ mal die Luftlagemeldungen an, wenn Kampfverbände einfliegen, dann kommen Sie sofort zurück!«

 

Holt trabte im Laufschritt zur Straßenbahn. Vor dem Hauptbahnhof stieg er aus und lief zu Fuß weiter. Zehn Minuten später klingelte er bei Frau Ziesche. Sie lief in einem Strandanzug in der Wohnung umher und hatte in der Küche Bier auf Eis stehen. »Seit den letzten Angriffen will Ziesche unbedingt, daß ich hier weggeh! Ich soll zu ihm nach Krakau kommen! Außerdem werde ich dauernd angemeckert wegen der großen Wohnung. Ziesche schreibt, es wäre besser, wenn ich zwei Zimmer abgebe, damit die Volksgenossen nicht sagen können, die Partei macht Schiebung.«

»Eigentlich könntest du hierbleiben, bis ich zum RAD geh«, sagte Holt. »Wir sind vorige Woche gemustert worden. Es sind ja nur noch sechs Wochen.«

»Ausgerechnet nach Krakau!« sagte sie. »Dort sind doch bald die Russen! Da fühl ich mich hier im Keller noch wohler!« – »Hör doch mal zu!« rief Holt. »Ich will was mit dir besprechen!«

Sie hörte sich Holts Urlaubspläne an und überlegte lange. »Es wäre schön«, sagte sie. »Ich kenne einen Ort im Bayrischen Wald … Nein … Es geht nicht! Du hast Urlaub, fährst nicht nach Hause, und gleichzeitig verreise ich, Ziel unbekannt … Das muß ja auffallen!«

Er war enttäuscht. »Überleg dir doch Ausreden!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht riskieren. Es wäre herrlich, aber es geht nicht.« Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Wenn Günter Ziesche nicht wäre!« – »Wenn, wenn!« sagte er. »Alles verdirbt er mir, dieser ekelhafte Kerl!« – »Sei friedlich«, meinte sie. – »Dann bleib wenigstens hier, bis ich zum RAD geh«, bat er, »ich hab sonst niemanden.« – »Werde nicht sentimental, dazu ist gar kein Grund.«

 

Als der Drahtfunk meldete: »Über dem Reichsgebiet befindet sich kein feindlicher Kampfverband«, lag Holt neben Frau Ziesche auf dem Bett. Die Fenster waren weit geöffnet. Er versuchte noch einmal, sie zu überreden: »Hast du nicht irgendwo Verwandte, daß du sagen kannst …« – »Es geht wirklich nicht! Mir tut es selbst leid.« Ihm war, als höre er Schritte in der Wohnung. Das mußte ein Irrtum sein. »Und wenn du vorausfahren würdest«, fragte er hartnäckig, »und ich komm später nach? Da kann doch keinem was auffallen!«

Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle des Schlafzimmers stand Ziesche, tatsächlich, Luftwaffenoberhelfer Ziesche, den Stahlhelm am Riemen in der Rechten; Holt erschrak und zog nur die Steppdecke über Frau Ziesche.

Ziesche sagte hilflos: »Aha … aha … aha!«, und ehe sie noch recht begriffen hatten, war er verschwunden wie ein Spuk. Die Tür blieb offen. Draußen fiel die Vorsaaltür ins Schloß. Holt sagte wütend: »Dieses Schwein … Dieses schwule Schwein!«

Frau Ziesche zitterte vor Schreck. Sie war bleich. »Um Gottes willen!« Er wollte sie beruhigen, aber sie hörte auf nichts und stammelte: »Erledigt … erledigt, er schreibt’s seinem Vater!« Dieser Gedanke schreckte nun auch Holt. Er überlegte schwerfällig, was da zu tun sei. Gilbert muß helfen, und Ziesche muß schwören, nichts zu verraten! dachte er zuerst. Aber dieser Gedanke war sinnlos. Auf Wolzow war nicht zu rechnen, und Ziesche würde sich lieber totschlagen lassen, ehe er darauf verzichtete, seine Stiefmutter samt Holt ans Messer zu liefern. Holt saß im Bett, die Knie bis unters Kinn gezogen, und dachte: Elend, verfluchtes!

Frau Ziesche lag bewegungslos neben ihm. Sie sah auf einmal verfallen aus. »Er jagt mich weg«, flüsterte sie, »er jagt mich einfach weg!« – »Warte ab«, sagte Holt. »Er wird’s nicht erfahren, dafür laß mich sorgen.« Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, aber der Weg in die Stellung war lang, und unterwegs würde ihm schon etwas einfallen. Er stand auf, nahm seine Sachen und ging ins Bad. Er ließ sich eiskaltes Wasser über den Kopf laufen. Frau Ziesche folgte ihm, fröstelnd trotz der Hitze. »Er darf es nicht seinem Vater schreiben«, sagte sie, ein wenig gefaßter. Sie redete auf Holt ein: »Werner, was du tust, ist gleichgültig. Aber er darf es nicht seinem Vater schreiben! Du kennst den alten Ziesche nicht, er ist eitel und rachsüchtig.« Angst griff nach Holt. Er kämmte sich, warf den Kamm hin und sagte: »Ich werde sehen.«

Er fuhr in die Batterie. Natürlich fiel ihm auch auf dem Wege nichts ein. Er dachte: Welch bodenloser Leichtsinn! Das durfte nicht passieren! Und: Ich werde erst einmal mit ihm reden.

 

In der Stube saß Wolzow am Tisch und stocherte mit dem Zirkel auf der Karte herum. Gomulka las. Ziesche fehlte. »Laß ihn mal lieber in Ruhe«, sagte Gomulka. »Er wollte auf Nachturlaub gehen, dann ist er wiedergekommen, mit einer Stinklaune. Jetzt sitzt er in der Kantine und schreibt.« Ziesche schrieb also schon! Es war höchste Zeit.

Es dämmerte in dem öden Kantinenraum. Hinter der Theke schlief der Küchenchef auf einem Stuhl. Vor einem der kleinen, verdreckten Fenster saß Ziesche an einem Tisch und schrieb. Als er Holt eintreten sah, raffte er seine Papiere zusammen. Holt setzte sich ihm wortlos gegenüber. Ziesches Gesicht war noch gedunsener als sonst, war blaß und rotfleckig, und die Augen blickten voller Haß.

Holt sagte: »Hör mal zu!« – »Hau ab«, sagte Ziesche böse. »Hau bloß ab!« – »Sachte!« meinte Holt. Aber Ziesche brüllte los: »Verschwinde, du … du … du Schwein! Mit dir red ich nicht! Du hast die Ehre meines Vaters …« – »Lauter!« sagte Holt. »Noch lauter, damit der Küchenbulle was davon hat!« Der Obergefreite hinter der Theke war aufgewacht und schaute verständnislos auf die beiden Jungen. Dann schloß er seine Schränke ab und verließ die Kantine.

»Ich will dir mal was sagen«, meinte Holt. »Du hast was gesehen, was du besser nicht gesehen hättest. Wir beide denken da anders drüber, es hat gar keinen Zweck, daß wir uns lange unterhalten. Aber daß du dich hinsetzt und brühwarm alles deinem Alten schreibst, das ist … erbärmlich ist das! Wenn du dich beleidigt fühlst und für’n Groschen Mut hast, dann machst du das mit mir ab und läßt deinen Vater aus dem Spiel!«

Es war ein rettender Gedanke: Wenn Ziesche zu bewegen war, die Sache als eine Art Ehrenhandel aufzufassen, dann war viel gewonnen. Aber Ziesche zischte Holt ins Gesicht: »Gib dir keine Mühe!« Und schon wieder schreiend: »Ich laß die Ehre meines Vaters nicht von dir antasten! Schluß! Jetzt ist endgültig Schluß, jetzt wird aufgerechnet, vom ersten Tag an, deine ganze morsche Intellektualität … deine undeutsche Sittenlosigkeit … alles wird abgerechnet …« Seine Stimme überschlug sich. Holt verstummte vor diesem Ausbruch. Heiser fuhr Ziesche fort: »Daß du die Frau zur … zur … daß du sie zur Hure gemacht hast, dafür wirst du von meinem Vater die Quittung bekommen! Du und sie! Und das werdet ihr noch bereuen … bereuen … bitter werdet ihr das bereuen!«

Holt war ratlos. Er sprang auf und packte Ziesche an der Bluse. Aber da schlug lärmend die Alarmglocke. »Da bist du grade noch mal um deine Prügel gekommen!« sagte Holt. Ziesche stopfte zitternd vor Wut seine Papiere unter die Bluse, dann lief er ans Geschütz.

 

»Schneller Kampfverband über Nordwestfrankreich im Anflug auf die Reichsgrenze.« Dabei blieb es. Drei Stunden verstrichen, es wurde Nacht. Die Flakwehrmänner schliefen im Mannschaftsbunker. Ziesche meldete: »Feuerbereitschaft!« In den Städten heulten die Sirenen. »Gleich Vollalarm?« sagte Gomulka verwundert. »Starke Kampfverbände über Holland im Anflug auf den Raum Köln–Essen«, rief Ziesche. Wolzow trieb die Flakwehrmänner aus dem Bunker. Aber die Verbände änderten ihre Flugrichtung und flogen weit im Norden vorüber. »Scheinangriffe, Verschleierungsmanöver«, sagte Gomulka. »Die veralbern uns und die Nachtjäger!« Die Sirenen heulten Entwarnung. Die Luftlagemeldungen sprachen später von Bombenabwürfen im Raum Groß-Berlin.

Holt unterhielt sich mit Gomulka. Von der B 2 her hörte man Kutschera brüllen. Ein paar Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Die Nacht war hell. Am Zenit standen Sterne. Ringsum lagerten Dunstbänke. Im Süden wurde ein Hochofen abgestochen, brennende Gichtgase färbten den Himmel blutigrot. »Was haben die schon für Bomben geschmissen!« sagte Wolzow. »Und die Werke arbeiten immer noch!« Ziesche rief: »Ruhe … Weitere starke Kampfverbände über dem Kanal im Anflug auf den Raum Emden–Oldenburg.« Ringsum in den Städten heulten wieder die Sirenen. Eine halbe Stunde später hieß es: »In Küstennähe starke Nebelbildung. Bomber suchen Ausweichziele.« – »Da kommen sie hierher.« Wolzow sprach mit den Flakwehrmännern: »Wenn sie Christbäume setzen sollten, dann wird erst die Munition aus der Zweitausstattung rangeholt, verstanden?« Das Auf und Ab der Sirenen: Vollalarm! Schon summten am Himmel die Bomberpulks, und nahe im Osten fielen Leuchtzeichen, gleißend hell, sie markierten die Siedlung, die wie eine Insel im Westen zwischen den Werken lag. Nervös tasteten Scheinwerfer über den Himmel und erloschen, ehe die optischen Feuerleitgeräte ein Ziel auffassen konnten. Das schwere Summen der Bombermotoren wuchs von Nordwesten heran. Ringsum setzte wütendes Flakfeuer ein. Die fallenden Leuchtkaskaden erhellten den Geschützstand. Ziesche rief: »Schießen mit Funkmeßgerät!« Und sofort: »Düppel-Störung! Starres Sperrfeuer Richtung drei!« Er brüllte die Richtwerte in den Geschützstand. »Barrikade … marsch!« Die Abschüsse verschmolzen mit den nahen Bombeneinschlägen zu einem einzigen langanhaltenden Donner. Holt, mit einer Kopfbewegung, sah Wolzow breitbeinig hinter dem Geschütz stehen, ohne Helm, und sah ihn mit gleichmäßigen Bewegungen Patrone auf Patrone ins Rohr schieben.

Feuerpause.

Die Flakwehrmänner warfen stumm die leeren Kartuschen aus dem Geschützstand, irgendwer zählte: »Neununddreißig, vierzig, einundvierzig.« Holt dachte erstaunt: Einundvierzig Schuß? Die Kaskaden erloschen. Im Osten war der Himmel nun brandrot, die Flammen schlugen gleich hinter dem zerfetzten Wäldchen, hinter den Schrebergärten hoch. Ein hohles Fauchen drang bis in die Stellung; in der großflächigen, dicht bebauten Siedlung entwickelte sich rasch ein Feuersturm. Einer der Flakwehrmänner, an der Wand des Geschützstandes, krümmte sich zusammen, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Seine Leute … dort drüben«, sagte jemand rauh. »Egal!« rief Wolzow. »Reiß dich zusammen!« Er fettete den Verschluß ein. Wieder zitterte die Luft im Motorengeräusch. »Düppel-Störung!« schrie Ziesche, mit einer kratzigen Stimme, und Holt dachte schadenfroh: Hat er sich vorhin heiser gebrüllt! »Barrikadenfeuer! Höhe fünfunddreißig-dreißig, Seite achtundvierzig-zwanzig, Zünder zwohundert Grad vom Kreuz!« Holt rückte den Kopfhörer zurecht. »Barrikade … marsch!« schrie Ziesche. Aufs neue stiebte bei jedem Abschuß der trockene Staub ins Gesicht. Die Augen brannten, geblendet vom Mündungsfeuer. Er hörte nicht, daß Ziesche Feuerpause befahl. Auf einmal war es still. In die Stille keuchte Wolzow: »Jetzt haben die Schweine Sprengbomben in die Flammen geschmissen!«

Abermals neue Einflüge. Über Frankreich steuerten starke Kampfverbände den Raum Koblenz–Saarbrücken an. »Die haben heut nacht aber viel vor«, sagte Gomulka. Wolzow zog mit einem Flakwehrmann den Wischer durchs Rohr.

Erst morgens gegen vier, als es schon taghell war, wurden die letzten Pulks im Abflug gemeldet.

Holt hatte keine Vorstellung, wie der Streit mit Ziesche beizulegen sei. Als sie die Plane über die Kanone zogen, beobachtete er Ziesche und atmete auf, als er ihn wie alle anderen in die Stube gehen sah, wo er sich erschöpft aufs Bett warf.

Den Papierkram mußte er noch unter seiner Bluse tragen. Einen Augenblick dachte Holt daran, ihm den angefangenen Brief mit Gewalt zu entreißen.

Ziesche schlief, leise schnarchend. Alle schliefen. Nur Holt lag abgespannt und übermüdet wach und suchte einen Ausweg. Er erwog, sich doch noch Wolzow anzuvertrauen, ihn abermals beim Wort zu nehmen … Gegen sieben Uhr trieb ihn die Alarmglocke wieder ans Geschütz.

 

Der Morgen war frisch und klar. Im Osten, wo die Siedlung bombardiert worden war, lagerte eine undurchdringliche Rauchbank und verschleierte den Horizont. Die Leitungsprobe mit den optischen Feuerleitgeräten war kaum vorüber, als schon einzelne schnelle Maschinen gemeldet wurden. Sie flogen den Rhein entlang nach Süden. Ziesche meldete starke Kampf- und Jagdverbände über Südostholland. Gomulka sagte: »Bomber mit Jagdschutz? Da werden sich unsere Jäger freuen!« – Wenn’s nur nicht wieder Tiefangriffe gibt, dachte Holt sorgenvoll.

Wolzow begann zu fluchen. Jetzt, da die Flakwehrmänner die Stellung verlassen hatten und die Jungen allein am Geschütz waren, stellte es sich heraus, daß nachts die Munition aus den Bunkern am Geschütz verschossen worden war. »Also los«, befahl Ziesche, »Patronen von der Zweitausstattung ranholen! Tempo!« Während sie die Körbe über den Acker zum Geschütz schleppten, wurde das Auf und Ab der Sirenen laut. Zugleich erhob sich auf der Befehlsstelle das übliche Geschrei.

Holt warf den zentnerschweren Korb auf den Acker und lief zum Geschütz. Er brachte in der Aufregung nicht den Stecker des Kopfhörers in den Kontakt an der Seitenrichtmaschine. »Rohre Richtung neun!« schrie Ziesche. Irgendwer sagte: »Pfadfinder!« Nur schwaches Motorengeräusch drang an Holts Ohr. Er blickte auf. Drei Maschinen zogen über den Himmel, sehr schnell. Wahrscheinlich Lightnings! In der klaren Luft standen auf einmal schmale, hohe, scharf begrenzte Rauchsäulen. Holt begriff nur langsam. »Sie stecken uns ab, mit Rauchzeichen!« brüllte Ziesche außer sich. Holt sah sich erstaunt nach allen Seiten um: überall standen die Rauchzeichen über der Stellung, vor ihm, beim Kugelbaum mußte das sein, riesenhaft, und hinter ihm, bei der Kantine, und nun erst begriff er, daß dies Zielmarkierungen und sie selbst das Ziel waren … Auch Wolzows Stimme war heiser: »Heut sind wir dran!« Fern, rasch stärker werdend, erscholl Motorenlärm. »Fliegeralarm … Flugzeug neun«! schrie Ziesche verzweifelt. »Schießen mit Kommandohilfsgerät, direkter Anflug!« In Holts Kopfhörer sprach es klar und deutlich: »Seite steht bei neunundvierzig-dreißig …« – »Anton feuerbereit!« schrie Ziesche. »Gruppenfeuer …« – »Schön zügig Patronen her!« rief Wolzow, und Ziesche brüllte überschnappend: »Gruppe!« Holt zog den Kopf zwischen die Schultern und drückte sich eng ans Geschütz. Der Schuß schmetterte und ließ die Kanone aufbocken, die Kartusche klirrte auf einen Holm. In Holt zog Ruhe ein: Gilbert schießt! Noch ehe er das gewaltige Rauschen wahrnahm, diesen heranheulenden Orkan, erlosch der helle Morgen, die Erde hob sich und schwankte und bebte, und Holt war es, als falle er ins Bodenlose … Als er sich aufraffte und nicht wußte, was geschehen war, zitterte die Luft unter den nahen Bombermotoren, und ringsum gab es keinen Geschützstand mehr, nur noch umgepflügte Erde und zersplitterte Balken, und mittendrin kauerte Wolzow am Boden, und vor ihm kniete Gomulka und wickelte ihm ein Verbandpäckchen um die Stirn. Holt spuckte Schlacke und Erde aus. Wo war die Kanone? Er sah sie umgestürzt, statt des schlanken Rohres ragte ein Holm der Kreuzlafette in den Himmel, dahinter lagen ein paar blaugraue Gestalten bewegungslos auf der schwarzen Schlacke. Er kroch zu Wolzow hin, der sich den Helm auf den verbundenen Kopf stülpte: »Los! Zu Berta!« Holt taumelte mühsam hoch, warf einen Blick auf die leblosen Gestalten hinter und unter dem umgestürzten Geschütz, dann lief er über den zerklüfteten Acker. Er sah am Himmel, breit auseinandergeweht, die Rauchzeichen, er sah eine Kette viermotoriger Bomber in geringer Höhe die Stellung anfliegen und warf sich zu Boden. Die Abschüsse zweier Geschütze erschreckten ihn so sehr, daß er sich in einen riesigen Bombentrichter hinabrollte. Dort lag Wolzow, mit blutigem Gesicht, und schrie: »Die zweite Welle!« Der Motorenlärm der tief anfliegenden Bomber war so stark, daß Holt kaum verstand. Wie ein Windstoß fegte es über ihn hin. Zugleich traf ihn die Schallwelle mit solcher Gewalt, daß er sekundenlang nach Atem rang. An seinem Ohr stöhnte Wolzow: »Munition … Jetzt ist Munition in die Luft geflogen …« Das Dröhnen der Motoren ließ nicht nach. Ein einzelnes Geschütz schoß und verstummte. Holt und Wolzow kletterten aus dem Trichter und liefen zu Geschütz Berta.

Dort hatten Gomulka und Vetter und zwei von den Schlesiern Schutz vor den Bomben gesucht und machten nun in fieberhafter Eile die Kanone feuerbereit. Wolzow wuchtete den Verschluß auf. »Werner Geschützführer! Sepp K 1! Christian K 6! Los doch, Schröder, steh nicht rum und mach K 2! Du hier, du bist K 7 …« Holt legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals. Welch Wunder, die Leitung hatte Strom! Mit unbeschreiblicher Erleichterung vernahm er Gottesknechts Stimme. Wolzow rief: »Wir brauchen Munitionskanoniere!« – »Hier Berta!« meldete sich Holt. »Besetzt mit sechs Kanonieren von Anton. Wir brauchen Munitionskanoniere!« – »Ich schick euch Leute vom Funkmeßgerät«, sagte Gottesknecht. »Berta! Wer ist Geschützführer? Sind Sie das, Holt?« – »Jawohl.« – »Wie sind die Verluste an Anton?« – »Ich weiß nicht.« Es summte in der Leitung. »Geschütze … melden!« – »Hier Berta!« Nur das Geschütz Cäsar folgte. Auf der B 2 brüllte Kutschera: »Wollt ihr wohl zu Dora und Emil Notleitungen legen!«

Ein paar Luftwaffenhelfer drängten sich in den Geschützstand. »Was gibt’s auf der B 2?« fragte Gomulka. Es gab nur Schäden durch Luftdruck. Bei Geschütz Frieda waren die Munitionsbunker detoniert. Die Leute vom Funkmeßgerät sagten apathisch: »Dort rührt sich nichts mehr!« Wieder nahte Motorenlärm. Gottesknechts Stimme, im Kopfhörer, fremd und rauh: »Fliegeralarm! Flugzeug neun! Direkter Anflug! … Die dritte Welle!« Holt brüllte die Kommandos heraus, ohne es zu wissen. Die Kanoniere meldeten eingestellt. »Berta feuerbereit!« Er blickte zum Himmel, dort zog abermals eine Kette viermotoriger Bomber heran. »Gruppenfeuer! … Gruppe!« Wolzow lud rasch und sicher. Nur zwei Kanonen schossen. »Gruppe!« Wolzow zog schon ab. Das Rohr fuhr immer höher empor. »Wendepunkt!« Die Kanone schwenkte nach Osten. Das Rauschen der Bomben war im Schießen untergegangen, ringsum wuchsen die Rauchpilze und Erdfontänen zum Himmel, der Geschützstand bebte. Holt keuchte: »Gruppe!« Tatsächlich, Wolzow lud und zog ab; Gottesknechts Stimme sagte im Kopfhörer: »Diesmal ging’s weit daneben!« Wolzow schob in einer wahren Raserei Patrone um Patrone ins Rohr und schoß ohne Befehl und ohne Pause, bis Vetter meldete: »Zünder über Bereich!«

»Feuerpause!« Gottesknechts Stimme im Kopfhörer: »Einen Moment! Luftlage!« Es dauerte lange, bis er sich wieder meldete. »Alle Verbände im Abflug. Feuerbereitschaft aufgehoben.« – »Berta verstanden.« Holt war auf einmal unsagbar müde. Er riß die Hörergarnitur herunter und reichte sie Wolzow, der auf einem Holm saß, den verbundenen Kopf in die Hände gestützt.

Holt lief zu Anton.

Er fand sich in der Stellung nicht zurecht. Zwischen den Geschützen war die Erde wie umgepflügt. Bombentrichter gähnten. Der Geschützstand von Anton war ein Haufen Erde, aus dem zersplitterte Teile der Holzverschalung ragten. Holt kletterte über die Reste des Erdwalles zu der umgestürzten Kanone. Er stieß auf Rutscher, der mit dem Unterkörper zwischen dem Pfahlwerk des Bunkers und der Lafette eingeklemmt und zerquetscht worden war. Der Anblick war schrecklich. Holt wurde übel. Er erinnerte sich unvermittelt an Rutschers große und schöne Schwester … Er stieg über den Leichnam hinweg. Vor einem eingedrückten Munitionsbunker, aus dem die blanken Granatpatronen massenweise herausgerutscht waren, lagen zwei weitere Gestalten. Die eine, kleinere war nicht zu erkennen, denn das Gesicht war zertrümmert und der Stahlhelm bis über die Augen herabgeglitten. Daneben lag Günter Ziesche, noch durch die Geschützführerleitung mit der Kanone verbunden. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, in einer Blutlache, und das Blut war aus Ohren, Nase und Mund geflossen. Das Gesicht war seltsam in die Breite gezogen. Wie ist das nur geschehen? dachte Holt … Rutscher und Ziesche, dachte er … Er kauerte sich auf den Boden, öffnete Ziesche die Bluse, zog die Papiere hervor und steckte sie in die Hosentasche. Dann nahm er ihm die Erkennungsmarke ab, auch dem Kleinen, den er nicht erkennen konnte.

Gomulka war plötzlich bei Holt, noch andere Luftwaffenhelfer und ein paar Mann vom Batteriekommando. Gomulka sah Rutscher, und sein Gesicht wurde grau. Gottesknecht stand erhöht auf dem Erdhaufen, der einmal ein Geschützstand gewesen war, das Notizbuch in den Händen. Holt reichte ihm die beiden Erkennungsmarken. »Der Rutscher … Herr Wachtmeister …« – »Es ist gut. Kümmern Sie sich um Berta.«

Gomulka sprang in einen Trichter, es würgte ihn, er erbrach sich. Dann sagte er: »Bei Frieda … die ganze Bedienung … in Stücke gerissen!«

Holt dachte auf einmal weit zurück. Ich hab das Elternhaus sattgehabt, ich hab die Schule sattgehabt, ich hab es nicht mehr erwarten können, ich hab mich nach dem Krieg gesehnt …

Bei Berta saßen alle bedrückt und schweigend an der Kanone. Nur Wolzow tat, als wäre nichts geschehen. »Sechsunddreißig Bombentrichter«, sagte er. »Bomben von fünfzehn oder zwanzig Zentnern! Und der Erfolg? Zwei Geschütze sind ausgefallen. Das nenn ich aus dem vollen wirtschaften!« – »Laß dich verbinden«, sagte Holt. Durch Wolzows Verband sickerte Blut. Das Haar war verklebt, das Gesicht blutbeschmiert. Wolzow verließ den Geschützstand. Holt teilte die Bedienung neu ein.

Fehlt ein ordentlicher K 7, dachte er, nachts haben wir Flakwehrmänner, und was wird tagsüber? Er brüllte: »Los! Geschützreinigen!« Die Schlesier zogen gehorsam den Wischer durchs Rohr.

Auf dem Fahrweg hielten Sanitätsautos. Gomulka sagte: »Ich werde nie begreifen, was bei Anton passiert ist!« Da traten Kutschera und Gottesknecht in den Geschützstand. Der Hauptmann brüllte: »Heißer Morgen, was? Die Banditen haben meinen Hund erschlagen, das verzeih ich denen nie!« Holt sagte: »Wir brauchen einen K 3, einen K 7 und Munitionskanoniere!« Gottesknecht notierte. »Herr Wachtmeister«, sagte Holt, als Kutschera gegangen war, »darf ich mal telefonieren?« Gottesknecht sah ihn zerstreut an. »Warten Sie. Die Leitungen sind noch überbeansprucht.« Er dachte nach. »Wenn Sie telefonieren, dann können Sie mir eine … Benachrichtigung abnehmen.«

 

Die Baracke war so sehr durchgeschüttelt worden, daß ihr Inneres einem Trümmerfeld glich. Es dauerte zwei Stunden, ehe sie ein wenig Ordnung geschaffen hatten. Ein Bombentreffer hatte die Latrine weggefegt, der Unrat klebte an den Barackenwänden. Wolzow, noch immer mit durchblutetem Verband, stützte beide Hände in die Hüften. »Das ist ein uraltes Kampfmittel«, sagte er. »Schon die alten Römer haben mittels sogenannter Ballisten Scheiße in belagerte Städte geschossen.« Holt schrie ihn an: »Scher dich ins Revier!« Er lief in die Schreibstube, wo Gottesknecht über den Mannschaftslisten saß. »Dreizehn Tote, Holt, es ist furchtbar!« Er klopfte mit dem Stift auf die Liste. »Die Bedienung Frieda bis auf den letzten Mann. Neun von den Schlesiern, die waren alle erst sechzehn.« Holt fragte beklommen: »Wie ist das passiert?« – »Volltreffer. Es müssen Neunhundert-Kilo-Bomben gewesen sein.« – »Und bei uns, bei Anton? Ich versteh das nicht.« – »Eine Bombe ist dicht hinter den Erdwall im Norden gefallen; was an der Nordwand stand, ist gewissermaßen in Feuerlee gewesen … Wer weiter weg stand, muß in den Druck- und Splitterbereich geraten sein.« – »Da hat der Sepp ein Riesenglück gehabt! Er stand links an der Höhenrichtmaschine.« Gottesknecht sagte: »Ihr alle habt ein Riesenglück gehabt.« Er erhob sich. »Ich lasse Sie allein, tun Sie mir den Gefallen.«

Holt wartete lange auf eine freie Amtsleitung. Nun war das Gestern wieder gegenwärtig, so fern, als sei ein Jahr darüber hingegangen. Er wählte. Jetzt könnte sie doch mit mir verreisen, dachte er, aber das Blut stieg ihm zu Kopf bei diesem Gedanken. Frau Ziesche meldete sich: »Ich hab kein Auge zugetan, die ganze Nacht! Was ist los? Seid ihr auch bombardiert worden? Ich hör die tollsten Gerüchte!« – »Ja. Es war schlimm. Wir haben dreizehn Tote.« – »Und Ziesche? Was ist mit Ziesche? Er darf auf gar keinen Fall an seinen Vater schreiben!« Er unterbrach sie. »Ziesche kann nicht mehr an seinen Vater schreiben. Er ist tot.« – »Tot?« fragte sie und zog das Wort in die Länge. »Bist du sicher, daß er nicht schon gestern abend geschrieben hat?« Er stand starr. »Nein. Er hat nicht geschrieben.« Die Verbindung wurde unterbrochen, die Untergruppe verlangte den Chef. Holt schaltete den Apparat nach Kutscheras Baracke.

Er stand unbeweglich in der Schreibstube. Welch Glück, daß die Verbindung abgerissen war! Plötzlich schlugen seine Zähne aufeinander. Er fror. Er trat ins Freie.

Die Stellung wimmelte von Kriegsgefangenen, die an den Bombentrichtern schaufelten. Am Geschütz Anton wartete eine der schweren Zugmaschinen. Ein Dutzend drillichgekleideter Flaksoldaten von der Untergruppe richtete mit Hebebäumen und Seilwinden die umgestürzte Kanone auf. Auch Gottesknecht stand dort, mit Vetter und Gomulka. Ein paar Gefangene arbeiteten schon an dem zertrümmerten Geschützstand. Holt ging zu Gottesknecht. Wolzow meldete sich ab ins Revier. Gottesknecht musterte Holt und sagte: »Jetzt müssen Sie die Zähne zusammenbeißen!« Holt lief davon … Es ist ja vorbei! Er warf sich auf sein Bett.

 

13

 

Wolzow kehrte schon am folgenden Tag in die Batterie zurück. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Man hatte ihm Dutzende von kleinen Holzsplittern aus Stirn- und Kopfhaut gezogen. »Da ist nicht ein Bett mehr frei im Revier«, erzählte er. »Die 109. Batterie hat fünf Tote, die 136. vierzehn. Die Verletzten haben sie bis nach Bochum in ein Reservelazarett bringen müssen.«

Am Abend schaltete er Ziesches kleines Radio ein. »Der Kasten dürfte hin sein!« sagte Gomulka. Aber auf einmal tönte aus dem Lautsprecher die harte Stimme des Sprechers. Holt fuhr kerzengerade auf seinem Bett empor. »… Juli neunzehnhundertvierundvierzig. Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Aus seiner Umgebung wurden hierbei verletzt: Generalleutnant …«

»Das ist …«, rief Gomulka. »Still!« fuhr Wolzow ihn an. »… Mitarbeiter Berger. Leichtere Verletzungen trugen davon: Generaloberst Jodl, die Generale Korten …« Holt blickte immer abwechselnd auf Wolzow und Gomulka. Wolzow beugte sich aufmerksam über das Radio. Gomulka hielt den Mund offen und starrte wie hypnotisiert auf einen Fleck an der Wand. »… Bodenschatz, Heusinger, Scherff …« Vetter richtete sich auf, ganz langsam, und sein Gesicht spiegelte Verständnislosigkeit. »… Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten«, sagte der Sprecher im Radio. »Er hat unverzüglich darauf seine Arbeit wieder aufgenommen und wie vorgesehen den Duce zu einer längeren Aussprache empfangen …« – »Den Duce?« sagte Vetter. »Er hat den Duce …?« Wolzow herrschte ihn an: »Ruhe!« – »… traf der Reichsmarschall beim Führer ein.«

Schluß, aus.

Die harte Stimme war verstummt. Wolzow stand schweigend, den Kopf schräggelegt. Aus dem Radio ertönte Marschmusik. Vetter fragte, als habe er nichts verstanden: »Ein Attentat? Ein Bombenattentat? So ein richtiges Bombenattentat?« Wolzow entschloß sich: »Das müssen wir melden! Wer weiß, ob das außer uns jemand gehört hat!« Er nahm seine Mütze. »Komm, Werner!«

Draußen war es noch immer heiß. Die Sonne stand in den Dunstbänken über dem Horizont. Holt packte Wolzow am Arm. »Was hat das zu bedeuten?« – »Woher soll ich das wissen?« sagte Wolzow. Sie liefen über den Lattenrost, der außerhalb der Feuerstellung unbeschädigt auf dem Acker lag. Zwischen den Geschützständen schaufelten die Gefangenen an den Trichtern.

 

Gottesknecht stand vor der Schreibstube und rauchte seine kurze Pfeife. »Na, ihr Dioskuren?« fragte er freundlich. »Holt, wie sehn Sie denn aus? Ist Ihnen der Schock gestern so tief in die Galle gefahren?«

Wolzow trat einen Schritt an Gottesknecht heran. Der Wachtmeister nahm die Pfeife aus dem Mund und zog ein eigenartiges, gespanntes Gesicht. Er blieb eine Weile schweigend stehen. Dann meinte er: »Es ist gut. Der Chef ist zur Untergruppe gerufen worden und noch nicht zurück …« Er rührte sich nicht vom Fleck. »Der … Führer lebt, sagen Sie?« – »Jawohl. Aber ein paar Generäle sind verletzt, Jodl, Heusinger, Admiral Voß, ich hab mir nicht alle Namen merken können …« Gottesknecht nickt abwesend, tief in Gedanken. Dann rückte er seine Mütze zurecht und verschwand wortlos in der Schreibstube. Wolzow sagte: »Beim Major, da wird der Chef vielleicht schon Einzelheiten erfahren.« – »Ich versteh das alles nicht«, sagte Holt hilflos. »Denkst du, ich?« meinte Wolzow.

In der Stube plärrte das Radio noch immer Marschmusik. Vetter und Gomulka stritten miteinander. »Und Badoglio?« schrie Vetter. »Wie war das bei Badoglio?« Gomulka machte eine abweisende Handbewegung. Er sah erschöpft und verfallen aus. »Hört doch mit dem Gequatsche auf«, sagte Wolzow. Er dämpfte die Musik. Holt saß verwirrt und apathisch auf einem Schemel. Ein paar Flakwehrmänner polterten durch den Korridor in die große Stube. Holt sah auf die Uhr, es war noch nicht acht. Wolzow fuhr ihn plötzlich an: »Sitzt der Kerl hier rum! Du bist mir ein schöner Geschützführer! Hast du denn deine Nachtbedienung schon beisammen?« Holt erhob sich widerwillig.

Während der Leitungsprobe ging Gottesknecht von Geschütz zu Geschütz. »Sie bekommen einstweilen drei Mann von Dora, und Flakwehrmänner. Morgen früh wird neu eingeteilt.«

Holt war so müde, daß er nur noch einen Gedanken kannte: Schlafen, mag kommen, was will! In der Stube warf er sich aufs Bett. Schon nach einer Stunde knuffte ihn Wolzow in die Rippen: »Raus! Gefechtsschaltung!« Der übliche schnelle Kampfverband flog über das Ruhrgebiet hinweg.

Im Geschützstand warteten die Flakwehrmänner, die nun die Nachricht von dem Attentat in der Batterie verbreiteten. Vetter sagte: »Also, mir ist das jetzt restlos klar. Das sind diese Bolschewisten gewesen.« Wolzow meinte: »Und wie kommen die Bolschewisten ins Führerhauptquartier? Wo gibt’s denn so was!« – »Also dann waren das diese Kommunisten«, sagte Vetter.

Einer der Flakwehrmänner sagte leise und gleichgültig: »Kommunisten? Deutsche Kommunisten? Die sind alle im KZ oder im Zuchthaus.« – »Da gehören sie ja wohl auch hin!« rief Wolzow scharf.

Erst kurz vor Mitternacht meldete der Luftwarndienst den schnellen Kampfverband im Abflug über der deutschen Bucht. Wolzow und Holt zerrten die Persenning über die Kanone. Vetter sagte: »Die Flakwehrmänner sind komisch.« – »Proleten«, knurrte Wolzow.

In der Stube drehte Vetter an dem kleinen Radio, aus dem noch immer Marschmusik ertönte. Er sagte aufgeregt: »Der Führer spricht!« Da wurde schon die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand Kutschera, groß und bedrohlich. Vetter brüllte: »Achtung!« Der Hauptmann winkte ab. »Alles in die Kantine! Gemeinschaftsempfang!«

Holt hatte sich nur die schweren, benagelten Schuhe ausgezogen und war angekleidet auf sein Bett geklettert. Übermüdung und Abgespanntheit hatten einen solchen Grad erreicht, daß er alles distanziert wie ein Zuschauer im Kino erlebte, unbeteiligt, gleichsam von fern, ohne innere Anteilnahme. Geht mich alles nichts an, dachte er. Ich wach plötzlich auf, da sitzt Ziesche auf seinem Bett und quatscht: Der nordische Mensch ist zur Neuordnung Europas bestimmt, oder so ähnlich … Holt sprang vom Bett. Ist das tatsächlich erst gestern passiert? Ein Tag ist wie tausend Jahre, aber warum hat Kutschera nicht den UvD geschickt?

»Vetter!« schrie Kutschera, und seine Stimme dröhnte wie ein Gong. »Was sagen Sie zu dem Anschlag auf unseren Führer Adolf Hitler?«

»Ich?« stammelte Vetter. »Was ich …? Meinen Sie, was ich …?« – »Sie pennen wohl!« schimpfte Kutschera. Gomulka sagte unaufgefordert: »Herr Hauptmann, in den letzten vier Tagen haben wir keine fünf Stunden geschlafen!« Kutschera wandte Gomulka das Pferdegesicht zu, aber da rief Gottesknecht auf dem Korridor: »Herr Hauptmann, jeden Augenblick beginnt die Führerrede!«

 

In der Kantine drängten sich übermüdete Luftwaffenhelfer, Obergefreite und Flakwehrmänner. Gottesknecht bediente den großen Radioapparat, der sonst in der Chefbaracke stand.

Holt hatte weit hinten, in einer Ecke, Platz genommen, wo er sich wenig beobachtet fühlte. Er machte es sich auf dem harten Stuhl so bequem wie möglich. Wolzow saß neben ihm. Holt war nur noch halb wach, die klirrende Musik aus dem Lautsprecher wirkte einschläfernd. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen war die Phantasie seltsam rege. Nun verstummte die Marschmusik. Der Ansager redete und redete. Großdeutscher Rundfunk, angeschlossen die Sender … Sender und immer mehr Sender, dann war es still, eine lange Weile, und Holt dachte: Es geht gleich los! … Er legte den Kopf auf die Seite, so sah er Wolzows Profil. Sein Verstand taumelte an der Schlafgrenze entlang. Wolzow ist der beste Mann in der Geschützstaffel, deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen, und so einen Ladekanonier soll sich eine Batterie erst einmal suchen! Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Durchführung gekommen ist, zum wievielten Male?, na, aber das muß der Führer doch eigentlich wissen, komisch, so was merkt man sich doch, also, ich würde mir das genau merken, ein Bombenattentat passiert ja schließlich nicht alle Tage … Holt riß die Augen auf. Der Führer spricht! dachte er. Es war ein Zauberwort von Kindheit an: Der Führer spricht! Und zwar spricht er heute besonders aus zwei Gründen: erstens, damit Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt und gesund bin, zweitens damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte … hoppla, nicht einschlafen! … Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und verbrecherischer dummer Offiziere … Holt fuhr aus dem Halbschlaf hoch … hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen … Holt versuchte, den Schlaf abzuschütteln, es gelang, nur die Augen brannten, aber der Verstand war für ein paar Augenblicke hellwach, Holt hatte das Gefühl, jemand habe ihm einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Offiziere? Ein Komplott deutscher Offiziere gegen den größten Führer aller Zeiten?

»Die Bombe, die von dem Oberst Graf Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter von meiner …«

Stauffenberg? Holt war nicht fähig, sosehr er sich auch Mühe gab, der Rede Wort für Wort zu folgen. Einzelne Satzfetzen hakten sich in seinem Denken fest. Oberst Graf Stauffenberg? Ein Oberst legt eine Bombe? Was hat das zu bedeuten, wie ist das zu verstehen, was war damit bezweckt …?

»… bis auf ganz kleine Hautabschürfungen und Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel …«

Vorsehung, dachte Holt. Er erschlaffte. Müdigkeit und Erschöpfung waren so stark, daß sie auch die Erregung niederzwangen. Ein Schleier zog sich über sein Bewußtsein, seine Gedanken liefen bunt wie im Traum durcheinander. Vorsehung, Schicksal … Daß Ziesche heute morgen umgekommen ist, das ist auch die Vorsehung gewesen, sonst wär mir’s nämlich dreckig gegangen, Gertie und mir … Es ist eben doch gut, daß es eine Vorsehung gibt … Glaube an die Vorsehung, Glaube an Gott … Ich glaube an einen Sinn der Geschichte, das hab ich doch irgendwann einmal gehört, der Doktor Goebbels muß das gesagt haben, in einer Rede … Ich glaube … aber mein Vater, mein Vater? … der hat immer das Gesicht verzogen, wenn einer vom Glauben sprach, von der Vorsehung … Kunststück: Der Intellektuelle glaubt nicht, weil er nicht glauben kann, das hab ich auch gelesen, bei Hanns Johst, und mein Vater ist überhaupt ein typischer Defätist, ein richtiger Miesmacher! In der Schule mußte ich mal zwei Seiten Hanns Johst auswendig lernen: Es gibt in der Provinz des Glaubens keine Problematik, sondern eine Gnade, ja, keine Problematik, sondern eine Gnade, das hab ich damals nicht verstanden, heute versteh ich’s: man muß an den Führer glauben, an die Vorsehung, an den Endsieg, an die Me 163, an die V 1, an den neuen Ein-Mann-Torpedo, auch wenn die Russen bei Wilna weiter nach Westen vordringen, na, und mit der Invasion, vonwegen: die Brust hebt sich im Vorgefühl der entscheidenden Stunde …

»Schlaf nicht!« Holt wurde in die Seite gestoßen, das war Wolzow. Na ja doch! Der Führer spricht! Holt sah sich blinzelnd um: alles starrte wie gebannt auf das Radio. Die heisere Stimme im Lautsprecher schrie: »… wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken zu führen …«

Richtig, der Dolchstoß! dachte Holt schläfrig. Das war wohl die größte Gemeinheit damals! Wenn man sich das so überlegt, ein Dutzend Zuhälter und Deserteure, und sie haben der Front einfach die Waffe aus der Hand gewunden … aber im Lesebuch stand: Und ihr habt doch gesiegt … und schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s zum Sterben, ich bin dabei …

»… ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden …«

Ausgerottet: das hörte Holt noch, dann nickte er ein. Aber Wolzow stieß ihn derb in die Seite: »Mensch, hör zu!« Holt raffte sich noch einmal auf und mühte sich, der Stimme im Radio zu folgen. »… befehle daher in diesem Augenblick: Erstens, daß keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen. Zweitens, daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinen Befehl dieser Usurpatoren …«

Was bedeutet bloß Usurpatoren? grübelte Holt, das muß doch aus dem Lateinischen kommen, ach ja, usu rapere, damit war Wiese mal dran, Peter Wiese, der hat’s gut, der ist daheim und kann schlafen! »… entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen …« Niederzumachen, auszurotten, dachte Holt, er begann zu frieren, aber das ließ ihn wieder munter werden. »… freudig begrüßen«, hörte er verständnislos, da er den Zusammenhang verloren hatte, »daß es mir vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiterführen muß und daher weiterführen werde …« Stille. Eine andere Stimme: »Großdeutscher Rundfunk …« Vorbei!

Ringsum setzte heftiger, wenn auch gedämpfter Stimmenlärm ein, alles redete durcheinander. Holt klapperte mit den Zähnen. »Batterie …«, rief Gottesknecht langgezogen, und der Stimmenlärm verstummte, »… Achtung!« Ein einziges, donnerndes Füßeaufstampfen. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner standen bewegungslos. Kutscheras Stimme, rauh und brüllend wie je, füllte den niedrigen Kantinenraum. »Befehle werden nur von direkten Vorgesetzten entgegengenommen!« Pause. Dann: »Die schwere Heimatflakbatterie 107 steht in bedingungsloser Treue zum Führer! Sollte jemand in der Batterie …« Pause. Dann: »… oder sollte irgendeiner unter den Flakwehrmännern glauben, jetzt könnte man bißchen aufwiegeln, Zersetzung treiben …« Pause. Dann: »Den leg ich selber um, an Ort und Stelle! Da bin ich mir gar nicht zu fein dazu!«

Die Tür fiel ins Schloß. Gottesknecht ließ auf die Stuben wegtreten. Holt sah auf die Uhr. Es war null Uhr dreißig Minuten. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner verloren sich in der Weite des Batteriegeländes, kletterten in der Dunkelheit durch das Kratergebirge der halb zugeschütteten Bombentrichter. Auf der B 2, bewegungslos, mit umgehängtem Gewehr, stand ein Obergefreiter Posten.

Zwei, drei Tage vergingen. Nacht für Nacht dröhnte der Himmel, fielen Leuchtzeichen, lohte das Feuer der Brände.

 

Holt schlief erschöpft. Als ihn jemand wachrüttelte, lag er mit dem Gesicht zur Wand, und es dauerte lange, bis er munter wurde. Er wälzte sich herum, sah die gelbe Schnur, den Stahlhelm … Der UvD stand an seinem Bett. Holt richtete sich auf. Der Obergefreite sagte mit halblauter Stimme: »Werden Sie endlich wach! Sofort zum Chef!«

Zum Chef? Holt schaute verständnislos. Was soll ich früh um vier beim Chef, was will Kutschera von mir? »Was soll ich denn …« – »Reden Sie nicht, stehen Sie auf! Schnell!«

Holt schnürte die Schuhe zu und überlegte. Wieder bemächtigte sich seiner das Angstgefühl und wurde zur Panik: Die Russen! Es kann nur wegen der Russen sein! Hätt ich damals bloß nicht den verdammten Wahnsinn angezettelt! Was gingen mich die Gefangenen an!

»Stahlhelm auf«, sagte der UvD.

Wer mag mich verraten haben? Jetzt, nach drei Wochen? Er fühlte mechanisch mit den Händen nach, ob alle Knöpfe geschlossen seien. Oder … was kann er sonst von mir wollen, mitten in der Nacht? Der Gedanke an Ziesches Tagebuch fuhr ihm durch den Sinn. Ziesches Tagebuch! Aber das hatte Gottesknecht an sich genommen, und Gottesknecht … Nein!

Es war fast taghell. Auf dem Fahrweg hielt ein großer Personenkraftwagen. Vor der Chefbaracke stand Gottesknecht. Holt sah ihn im Vorbeigehen hilfeflehend an. Nickte er nicht beruhigend mit dem Kopf?

In der verdunkelten Chefunterkunft brannte trübes Licht. Der UvD meldete. Dann stand Holt allein, mutterseelenallein, mit dem Rücken zur Tür. Er riß sich zusammen. Die Hacken knallten, der rechte Arm flog zum Gruß empor: »Oberhelfer Holt meldet sich wie befohlen!« Sekunden zogen sich in die Länge, dann sagte Kutscheras Stimme: »Sie können rühren.«

Jetzt erst nahm Holt Einzelheiten des matt erleuchteten Raumes in sich auf. Die Luft war von Tabakqualm verschleiert. Ein unberührtes Feldbett, zwei Sessel an einem Rauchtisch, ein Schreibtisch, Telefon, das große Radio … Hinter dem Schreibtisch hockte ein Zivilist. In einem der Sessel saß Kutschera mit aufgeknöpftem Waffenrock, neben ihm ein fremder Offizier, nein, ein SS-Führer, und Holt entschlüsselte rasch die Schulterstücke: Rangstufe eines Oberleutnants, ein SS-Obersturmführer muß das also sein … Obersturmführer … daß ich mich bloß nicht irre! Zum Glück fiel ihm noch ein, daß bei der SS die Anrede »Herr« wegfiel.

»Näher ran, Holt«, sagte der Hauptmann. Auch wenn er ganz leise sprach, war seine Stimme gewaltig. Holt gehorchte. Der fremde SS-Führer sagte: »Sie sind Werner Holt?«

»Jawohl, Obersturmführer!«

Frage und Antwort fielen Schlag auf Schlag. Kutschera hörte gelassen zu und rauchte.

»Kriegsfreiwilliger?«

»Jawohl, Obersturmführer. Panzertruppe.«

»Was ist Ihr Vater?«

»Mediziner, Obersturmführer. Jetzt Lebensmittelprüfer.«

»Ihr Vater mußte 1938 gemaßregelt werden. Wie stehen Sie dazu?«

Holt zögerte mit der Antwort, aber dann sagte er: »Ich hab seit Jahren kaum Kontakt mit ihm. Er ist mir sehr fremd.«

»Warum sind Sie dann Weihnachten zu ihm auf Urlaub gefahren?«

»Er … hatte mich eingeladen, Obersturmführer.« Das war eine Lüge. »Ich fühlte mich verpflichtet.«

»Sie waren nur einen Tag bei Ihrem Vater, und Sie haben sich dort nicht wie vorgeschrieben auf der Urlauberstelle des Wehrbezirkskommandos gemeldet. Wo waren Sie die anderen drei Tage?«

Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles?

»Los, Antwort!«

»Ich war in einem Dorf im Kreis Wesel … es heißt Dingden. Dort hab ich in einem Gasthof gewohnt. Gasthof ›Zur Quelle‹.«

»Haben Sie sich dort gemeldet?«

»Ins Gästebuch eingetragen und ausgewiesen, Obersturmführer.«

Eine Handbewegung nach links, und der Zivilist hinter dem Schreibtisch nickte und notierte. Sie werden das nachprüfen, dachte Holt, verdammt, da steht ja auch Gertie im Gästebuch! Aber was will er nur von mir, das sind doch alles nur Randfragen …

»Kennen Sie einen Oberst Barnim?«

»Jawohl, Obersturmführer, das heißt, nein …«

»Was denn nun: ja oder nein?«

Das war die entscheidende Frage, Holt fühlte es genau. Schon lief unter dem Stahlhelm Schweiß hervor und rann übers Gesicht. »Ich kenne ihn nicht persönlich, Obersturmführer, ich habe ihn nie gesehen oder gesprochen.«

»Wen kennen Sie aus seiner Familie?«

»Die beiden Töchter, Obersturmführer. Die älteste Tochter kenne ich persönlich, die jüngere nur so vom Sehen.«

»Die älteste Tochter heißt Uta?«

»Jawohl, Obersturmführer.«

»Wann waren Sie mit ihr das letztemal zusammen?«

»Im September, Anfang September vorigen Jahres, Obersturmführer.«

»Wo bewahren Sie die Briefe auf, die sie Ihnen seither geschrieben hat?«

Holt schluckte. »Im Spind, Obersturmführer.«

Eine verbindliche Handbewegung zu Kutschera. »Gottesknecht!« brüllte Kutschera. In Holts Rücken ging die Tür. »Herr Hauptmann?« Der Obersturmführer sagte zu Holt: »Erklären Sie, wo die Briefe liegen!«

Holt blickte auf Gottesknecht. »Mein Spind ist offen … Oben links … eine Mappe, die Briefe sind zusammengebunden …«

»Bringen Sie die ganze Mappe!« sagte der Obersturmführer. Die Tür fiel ins Schloß. Ehe Holt einen Gedanken fassen konnte, ging die Fragerei weiter.

»Kennen Sie einen Leutnant Kiefer?«

Holt überlegte. Kiefer, Kiefer, warte doch mal …

»Antworten Sie!«

»Ich habe einmal in einer Gesellschaft einen Leutnant getroffen, der mit Uta Barnim verlobt war. Ich komm nicht mehr drauf, ob er Kiefer hieß. Kann sein. Er war von der Panzertruppe.«

»Wann war das?«

»Voriges Jahr im Juli, Obersturmführer.«

»Was war das für eine Gesellschaft?«

»Die Schwester eines Klassenkameraden hatte Geburtstag. Ich kam zufällig dazu.«

»Wie heißt dieser Klassenkamerad?«

»Wiese, Obersturmführer.«

Blick auf Kutschera. Kutschera bewegte verneinend den Kopf. Handbewegung nach links, der Zivilist notierte. »Kannten Sie damals die Barnim schon?«

»Nein, Obersturmführer. An diesem Nachmittag hab ich sie kennengelernt.«

An diesem Nachmittag … unvergeßlicher Augenblick! Holt fühlte sich elender als je zuvor, fast kam ihm ein Weinen an.

Die Tür knarrte, Gottesknecht sagte: »Befehl ausgeführt!« und legte Holts Schreibmappe auf den Rauchtisch. Der Obersturmführer nahm die Briefe heraus und blätterte sie durch, es war ein ansehnlicher Packen.

»Sind das alle Briefe, die sie Ihnen geschrieben hat?«

»Jawohl, Sturm … Verzeihung, Obersturmführer.«

»Fehlt keiner?«

»Nein, Ober … sturm … führer.«

»Was ist los?«

»Nichts, Obersturmführer.«

»Die Briefe sind beschlagnahmt.« Nun wurde die Mappe durchgesehen, aber sie enthielt nur unbeschriebenes Papier. Handbewegung nach links, der Zivilist erhob sich und verließ grußlos die Baracke.

Der Obersturmführer richtete den Blick prüfend auf Holt, einen scharfen, durchdringenden Blick aus hellgrauen Augen. Holt hielt diesem Blick stand. Aber in seinem Inneren breitete sich ein Schwächegefühl aus, das seine Knie beben ließ. Die Stimme des Obersturmführers klang sehr nahe: »Wissen Sie, wo die Barnim sich aufhält? Können Sie uns einen Hinweis geben, wo sie sich vielleicht aufhalten könnte?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, Obersturmführer«, sagte Holt, und seine Stimme zitterte.

»Sollte die Barnim Ihnen in Zukunft irgendwelche Nachricht geben, gleichgültig ob brieflich oder telefonisch oder sonstwie, sollten Sie auf irgendeine Weise von ihr hören oder etwas über ihren Aufenthalt erfahren, so haben Sie sofort der Geheimen Staatspolizei, der Polizei oder Feldgendarmerie, notfalls Ihrem Vorgesetzten davon Mitteilung zu machen, unter Hinweis darauf, daß nach der Barnim gefahndet wird. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, Obersturmführer.«

»Nehmen Sie Haltung an!«

Holt zog die Hacken zusammen.

»Hiermit belehre ich Sie darüber, daß Sie sich selbst der schwersten Bestrafung aussetzen, falls Sie im angenommenen Fall eine Meldung unterlassen.«

»Jawohl, Obersturmführer.«

Der Obersturmführer wandte sich an Kutschera. »Ich bin fertig, Hauptmann Kutschera.« Kutschera bellte: »Haun Sie ab, Mensch, und halten Sie gefälligst den Mund.«

Holt bewegte sich nicht. Er preßte verzweifelt die Hände an die Hosennaht. »Herr Hauptmann … Ich bitte, eine Frage an den Obersturmführer …« – »Da müssen Sie doch nicht mich fragen«, schimpfte Kutschera. Der Obersturmführer sah Holt befremdet an.

»Was wollen Sie?«

»Ich bitte fragen zu dürfen«, sagte Holt mühsam, denn Gewißheit wollte, nein mußte er haben, »ob … ob Uta Barnim … Ob der Oberst Barnim …«

»Der Oberst Barnim«, sagte der Obersturmführer drohend und schnell, »ist erschossen worden.«

Ist erschossen worden. Erschossen.

»Und Sie als Deutscher sollen sich Ihr Lebtag schämen, mit diesem Abschaum bekannt gewesen zu sein!«

Kutschera: »Und jetzt raus, Sie, aber schnell!«

Gruß. Kehrtwendung. Tür auf. Tür zu. Die Sonne scheint. Sie steigt aus den Dunstbänken empor. Alles geht weiter. Um acht wird geweckt. Auch ich werde geweckt, und alles war nur ein böser Traum. Zemtzki ist noch am Leben, es gibt keine Short Stirling mehr, keine Kanone und keinen Stubendienst. Es ist alles wieder wie in fernen Kindertagen, als der Vater tröstend sagte: Nein, böse Hexen gibt’s nur im Märchen … Und was dazwischen liegt, zwischen dem fernen Gestern und dem Jetzt, das ist nur ein Traum gewesen. Alles ist nur ein Traum. Hab nur Vertrauen: Wenn der Traum auch drückend ist, einmal wird das Wecksignal geblasen, dann fällt ins Dunkel zurück, was dich bedrückte, und du lachst darüber und schüttelst es ab.

 

Holt ging zum Geschütz Berta. Als gegen sieben Gefechtsschaltung befohlen wurde, hatte er sich wieder in der Gewalt. Wolzow nahm ihn beiseite. Holt sagte: »Ich mußte ein paar Auskünfte geben. Es ist uninteressant und hat nichts mit uns hier zu tun.«

Wolzow sagte: »Na schön, dann eben nicht.«

Der übliche Morgenaufklärer steuerte den süddeutschen Raum an. Dann folgten Kampfverbände und warfen im Raum Bremen Bomben. Gegen elf hieß es: »Starke Jagdverbände im Anflug auf den Raum Köln–Essen.« Die Untergruppe warnte vor Tieffliegern. Holt gab alle Durchsagen unbewegt weiter. Wolzow und Gomulka redeten auf die Schlesier ein, die jede Warnung vor Tieffliegern in Panik stürzte. Dorsten, Haltern und Lünen meldeten Tiefangriffe auf verschiedene Ziele, auch auf Flakbatterien. Vetter wechselte mit einem der Schlesier den Platz und setzte sich an die Seitenrichtmaschine. Wolzow wickelte den leuchtend weißen Verband vom Kopf und drückte den Stahlhelm in die wunde Stirn. Recklinghausen und Dinslaken meldeten Tiefangriffe, dann Moers, Krefeld und Düsseldorf. »Gleich sind sie da!« sagte Holt. Gottesknecht gab einen Rundspruch: »Nehmt volle Deckung!« Wolzow sagte: »Ich schieß Nahfeuer, und wenn ich krepier!«

Sie waren da. Sie stießen vom Himmel, rasten am Horizont entlang, sehr tief. Fern sprang eine riesige Feuersäule hoch. »Öl!« schrie Wolzow. »Die Raffinerien von Gelsenkirchen!« Irgendwo schoß eine schwere Batterie und verstummte wieder. Fern hämmerte Zweizentimeter-Flak. Eine Kette einmotoriger Maschinen flog von Norden heran und stieß auf die Batterie herab. Sie drosselten die Motoren und flogen so niedrig, daß sie beim Abflug über das Wäldchen hinwegspringen mußten. Sie wendeten und flogen von neuem an, drei Mustangs. Erst warfen sie ihre Bomben, dann feuerten sie mit Raketen und Bordwaffen auf die B2 und die Geschützstände. Wild und hemmungslos kurvten sie über der Batterie.

Zwei Geschütze schossen Nahfeuer. Cäsar verstummte nach zwei oder drei Schuß. Berta feuerte sinnlos weiter. Die Jagdbomber flogen immer wieder den Geschützstand an. Einer der Schlesier fiel über einen Holm, Wolzow schleifte ihn zur Seite. Er lud und feuerte. Dann fiel Vetter vom Sitz der Seitenrichtmaschine, und auch Berta verstummte. Die Jagdbomber zogen steil in die Höhe und verschwanden.

Holt und Gomulka bemühten sich um Vetter. Ein Splitter hatte den Stahlhelm getroffen, ohne ihn zu durchschlagen. Vetter erlangte bald wieder das Bewußtsein. »Mensch, du überlebst uns alle!« sagte Wolzow. Er drehte den Schlesier auf den Rücken, dann warf er die Persenning über ihn. Gomulka nahm den Stahlhelm ab und sagte: »Jetzt wird es gottverdammt Zeit, daß wir Urlaub bekommen!« Holt rief: »Starke Kräfte der in den Raum Bremen eingeflogenen Kampfverbände sind nach Südwesten abgedreht. Mit Bombenabwürfen im westfälischen Gebiet ist zu rechnen.« Gomulka setzte den Stahlhelm wieder auf. Wolzow trieb die demoralisierten Schlesier ans Geschütz. Im Norden setzte schweres Flakfeuer ein. Vetter lehnte in einer Ecke und hielt sich den Kopf. »Du mußt mitmachen«, schrie Wolzow, »wir sind nur drei Munitionskanoniere!« Die Bomber flogen nordwestlich vorbei und warfen Bomben auf Duisburg. Die Batterie feuerte. Gegen fünfzehn Uhr wurde die Gefechtsschaltung aufgehoben, eine Stunde später flogen abermals Aufklärer ein, Bomberströme folgten, Jagdverbände und wieder Bomber. Die Jungen blieben sechsunddreißig Stunden lang am Geschütz. Anschließend hatten sie ein paar Stunden Ruhe.

»Das geht so weiter«, sagte Gomulka zu Holt. »Das wird nicht besser, das nimmt kein Ende.« Holt antwortete nicht.

 

14

 

Sie hausten zu viert in der kleinen Stube, bis Gottesknecht alles durcheinanderbrachte. Baracke Berta wurde geräumt für den Ersatz, der nun jeden Tag eintreffen sollte. »Sie dürfen sich aussuchen, wen Sie zu sich in die Stube nehmen wollen«, sagte Gottesknecht, »wie bin ich wieder mal zu Ihnen?« Sie entschieden sich für Kirsch und Branzner. Beide hatten anfangs zur Stammbedienung Anton gehört, waren zu Dora übergewechselt und taten nun seit dem Ausfall zweier Geschütze des Nachts bei Berta Dienst. »Die beiden sind in Ordnung«, sagte Wolzow. Gomulka sagte zu Holt: »Aber der Branzner steckt in der letzten Zeit dauernd mit Kieback zusammen, und mit denen …« – »Seit dem letzten Tiefangriff«, meinte Holt, »ist die ganze Batterie so … fanatisch. Der Angriff hat eine wahre Erbitterung ausgelöst.« – »Ich möchte mal wissen, wieso?« sagte Wolzow. »Wir sind doch ein militärisches Ziel. Das ist doch in Ordnung, wenn sie uns angreifen!« – »Seit dem Attentat haben alle die Übersicht verloren«, sagte Gomulka. Wolzow erzählte: »Gestern abend hat Kutschera die Obergefreiten schleifen lassen, weil der deutsche Gruß immer noch nicht klappt!«

Branzner erwies sich als eine »äußerst zweifelhafte Errungenschaft«, wie Gomulka am Morgen nach dem Einzug zu Holt sagte. Unter dem Eindruck der Zeitereignisse, als Reaktion auf die blutigen Gefechte, hatte Branzner sich sehr verändert. Er sah, wie er schon am ersten Abend beiläufig erklärte, den einzigen Garanten des Endsieges darin, allen Anstrengungen des Feindes den unerschütterlichen und fanatischen Glauben an die Sendung des Führers und die Ewigkeit des Reiches entgegenzusetzen. Natürlich gab es gleich Streit.

Wolzow hörte sich Branzners Erklärung an, mit schräggelegtem Kopf. Holt dachte: Da haben wir ja Ziesche wieder! Aber Branzner übertraf Ziesche noch, denn er war redseliger und wortgewandter, wenn er auch seines schwarzen Haares wegen weniger von Rasse sprach und der völkisch-rassische Gedanke nur gelegentlich in seinen Argumenten Platz hatte.

»Hör mal zu«, sagte Wolzow auf Branzners programmatische Erklärung. »Unerschütterlichkeit, Fanatismus …« Er brach ab und dachte nach. »Wenn einer ein bißchen bekloppt ist, verstehst du, beschränkt, eben dämlich, wie so die meisten sind, dann ist der fanatische Glaube ein ganz brauchbares Mittel, ihn bei der Sache zu halten. Ohne diesen Glauben würden die meisten immerfort aus den Pantoffeln kippen, weil sie keine kriegerische Tugend haben und weil ihnen die höhere Einsicht fehlt. Aber unsereins? Angenommen, der Krieg wäre verloren, so eindeutig verloren, daß es ein Blinder sieht: ich würde trotzdem weiterkämpfen, ohne fanatischen Glauben, ganz einfach weil sich das für einen Soldaten gehört. Was anderes gibt es gar nicht. Hör zu, Branzner! Was meinst du wohl, warum wir neulich als einzige Kanone Nahfeuer geschossen haben, während ihr samt eurem Glauben schön flachgelegen habt? Etwa weil ich fanatisch glaube, daß das was nützt? Quatsch. Nahfeuer nützt gar nichts. Aber es gehört sich so!« Wolzow redete sich in Eifer. »Ein Soldat muß kämpfen, ohne Frage, ob es einen Sinn hat oder keinen! Ein Soldat ist zum Kämpfen da, zu nichts anderem! Dein Glaube, mein Lieber, ist eine verdammt unsichere Sache, er kann in die Binsen gehn, und dann sitzt du da und schnappst nach Luft! Bei mir kann nichts in die Binsen gehn. Bei mir heißt es: Der Soldat hat zu kämpfen. Also wird gekämpft.«

Was Wolzow sagte, gefiel Holt besser als die Forderung nach blindem, fanatischem Glauben. Jetzt wußte er auch, wo Wolzow seine Ruhe hernahm. Er dachte: Leicht ist das nicht, so zu denken wie Wolzow, ohne irre zu werden. Da muß man wohl seit 1750 aktive Offiziere zu Vorfahren haben.

»Kämpfen als Selbstzweck«, sagte Gomulka, »halten wir das mal fest. Kampf ist für dich Selbstzweck, Gilbert, und das läßt sich hören. Mit dieser Einstellung brauchst du keinen Glauben an den Endsieg oder an den Führer. Aber einen Einwand forderst du geradezu heraus. Es ist ein Widerspruch in deiner Auffassung.« Er furchte die Stirn, so angestrengt dachte er nach. »Du hast uns oft genug die Fehler erklärt, die in der Vergangenheit von Feldherren begangen wurden. Terentius Varro, Daun und Karl von Lothringen bei Leuthen, du kannst also nicht abstreiten, daß du einen Zweck des Kampfes anerkennst: den Sieg. Wird deine Überzeugung nicht in dem Augenblick in die Brüche gehn, wo der Kampf aussichtslos ist?«

»Ach wo, ganz und gar nicht! Natürlich, der Kampf soll zum Sieg führen, der Sieg ist das Salz aufs Brot des Krieges. Solange eine Möglichkeit besteht zu siegen, solange wird um den Sieg gekämpft. Aber man kann auch um eine Remis-Lösung kämpfen. Und wenn die Lage aussichtslos ist, dann wird gekämpft, weil sich das so gehört.«

Holt brütete vor sich hin. Wolzows Worte riefen die Erinnerung an ein Buch in ihm wach, an Ernst Jüngers »Das Wäldchen 125«. Eine Stelle in diesem Buch hatte ihn damals beeindruckt, und jetzt war sie gegenwärtig. Er sagte: »Ich glaube, Gilbert hat die … die echte soldatische Haltung.« Er zitierte, was aus der Vergessenheit aufgetaucht war: »›Aber ein höchstes Gesetz erfüllt, wer in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten fällt. Ihrer wird man gedenken, wo immer man die Bitterkeit des Unterganges liebt und den hohen Sinn, den keine Flamme versehrt.‹«

Gomulka sog, mit vorgestrecktem Kopf, dieses Zitat in sich hinein. Nach einem langen Schweigen wiederholte er: »Die Bitterkeit des Unterganges …« Branzner hockte mit mißmutigem Gesicht auf seinem Strohsack, ihm mochte das alles nicht passen. Holt trat ans Fenster. Die Bitterkeit des Unterganges, wiederholte er noch einmal in Gedanken.

 

Gottesknecht riß die Tür auf. »Meine Herren, wollen Sie sich nicht ein bißchen zur Ruhe begeben, ehe das Theater wieder losgeht?« Sein Blick fiel auf Holt. »Was ist mit Ihnen los? Mitkommen! Ich habe mit Ihnen zu reden.« Es dämmerte. Gottesknecht hatte seit dem nächtlichen Verhör kein außerdienstliches Wort mit Holt gewechselt. Jetzt sah er müder und sorgenvoller aus denn je. »Ihr Urlaub ist bewilligt«, sagte er. »Aber ehe ich Sie abfahren lasse, muß ich Ihnen ins Gewissen reden … wegen dieser … Barnims.«

Holt sagte: »Ich weiß von nichts. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ob es mit dem Attentat zu tun hat?« – »Sobald der Ersatz eintrifft, können Sie reisen. Sie fahren zu Wolzow, nicht? Jetzt hören Sie zu! Lassen Sie dort die Finger von den Barnims. Erkundigen Sie sich nach niemandem. Reden Sie mit keinem Menschen. Halten Sie den Mund. Haben Sie das verstanden?« – »Jawohl, Herr Wachtmeister.« – »Und jetzt ehrlich: Macht Ihnen die Sache sehr zu schaffen?«

»Ich … denk nicht drüber nach«, sagte Holt.

Gottesknecht lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. »Sie denken nicht nach …«, wiederholte er. Er murmelte: »Keiner denkt nach … keiner! … Los, legen Sie sich ins Bett!« – »Jawohl, Herr Wachtmeister.«

 

In der Stube wurde wieder gestritten. Wolzow saß auf dem Tisch, rauchte und fragte, als Holt ins Zimmer trat: »Na … und?«

»Ein bolschewistischer Schriftsteller«, rief Branzner erregt, »hat erklärt … Ich glaube, er heißt Ehrenburg oder so ähnlich … Er hat erklärt, daß es für die Bolschewisten nur ein Ziel gibt, und das heißt Berlin!« Er lag im Bett, richtete sich auf und stützte sich auf die Ellenbogen.

»Das braucht dich doch nicht zu wundern«, sagte Wolzow. »Denkst du, die Russen wollen den Krieg nicht gewinnen? Die Eroberung der feindlichen Hauptstadt ist für die Russen das strategische Ziel, das mit dem Siege gleichzusetzen ist. Das kannst du schon bei Clausewitz unter den ›Allgemeinen Grundsätzen‹ der Strategie nachlesen.«

»Du hast mir zuviel Verständnis für die Russen«, sagte Branzner böse. Wolzow lachte nur. Aber auf einmal schimpfte Gomulka: »Das ist ja zum Verzweifeln! Kaum sind wir den Ziesche los, und schon liegt einer im selben Bett und pöbelt uns genauso an! Werden denn diese Stänker niemals alle?«

»Nein!« schrie Branzner, und ein böses Funkeln war in seinen Augen, als er sich nun gegen Gomulka wandte. »Nein! Sie werden nicht alle! Was du beschimpfst, das sind die besten Deutschen, die echten Nationalsozialisten, jawohl! Alle denken so wie ich, ihr seid die schimpfliche Ausnahme, die ganze Batterie denkt wie ich, das ganze deutsche Volk denkt so und glaubt an den Führer, weil er der größte Deutsche ist und der größte Feldherr und … und …«

»Und, und!« spottete Holt. »Nach dem Führer kommst gleich du, was?, der zweitgrößte Deutsche, der zweitgrößte Feldherr, der zweitgrößte Trottel …« – »Ruhe!« brüllte Wolzow. »Seid ihr denn wahnsinnig?«

Aber Branzner saß schon auf seinem Bett, wachsbleich, und er sagte, während er nach den Schuhen angelte: »So … so! Ihr habt es alle gehört! Ihr seid Zeugen! Er hat den Führer einen Trottel genannt! Ich mach Meldung!«

Gomulka rief: »Quatsch doch nicht, Mensch, dich hat er Trottel genannt!« – »Den zweitgrößten«, sagte Branzner. Gomulka meinte: »Sei doch froh, daß es offensichtlich noch einen größeren gibt als dich!« Aber Branzner, während er einen Schuh anzog, schüttelte den Kopf: »Nein, also nein, nein! Keine Ausreden! Nein! Ich stelle eindeutig fest, daß es gar keine andere Auslegung gibt: der Führer ist der größte Trottel!«

Die Tür flog auf. Gottesknecht trat ein. »Branzner!« sagte er streng. »Was höre ich? Was sagen Sie da?«

Schweigen.

»Ich drücke ja beide Augen zu«, fuhr Gottesknecht fort, »wenn sich einer mal eine kernige Bemerkung über die Führung erlaubt. Aber was Sie da eben gesagt haben, das geht zu weit!«

Branzner stand halb angekleidet, einen Schuh in den Händen, vor seinem Bett. Er stammelte: »Ich? Aber ich … Der Holt! Ich meine doch … Das ist doch …« Plötzlich schrie er verzweifelt: »Aber ich hab das doch gar nicht … ich wollte doch bloß … die anderen hatten doch … ich würde doch nie … ich … ich …« – »Nehmen Sie sich zusammen!« rief Gottesknecht. »Was erlauben Sie sich!«

Holt war überzeugt, daß Gottesknecht lange an der Tür gelauscht hatte und im passenden Augenblick eingetreten war. Die Art, wie sein Erscheinen die Szene ins Groteske kehrte und auf den Kopf stellte, erfüllte ihn mit einem Lachreiz und mit Furcht.

Branzner war in sich zusammengesunken und warf hilfesuchende Blicke auf Wolzow, auf Holt, auf Gomulka. Wolzow sagte endlich: »Der Branzner ist ja sonst ein anständiger Kerl, vielleicht hat er es wirklich nicht so gemeint.«

»Wenn niemand etwas gehört hätte, wäre es zweifellos das beste«, sagte Gottesknecht nach einigem Nachdenken.

»Ich hab nichts gehört«, sagte Gomulka. – »Ich auch nicht.« – »Ich hab schon geschlafen.« – »Ich als Nationalsozialist«, sagte Wolzow großartig, »müßte eigentlich darauf bestehen. Aber da will ich halt auch nichts gehört haben.«

»Schön«, sagte Gottesknecht. »Ich bitte mir aus, daß solche sinnlosen Streitereien in Zukunft unterbleiben. Gute Nacht.«

Sie schwiegen, bis die Barackentür ins Schloß gefallen war. Branzner sagte: »Was seid ihr … für Schufte!«

Theater, alles Theater, dachte Holt.

 

Gottesknecht sagte: »Ich seh’s ja, wenn ich Sie nicht gehen lasse, dann leidet Ihre Kampfmoral! Haun Sie ab!« Eine Stunde später langte Holt bei Frau Ziesche an.

Sie packte. Auf dem Korridor standen Koffer, Kisten und Körbe. Frau Ziesche trug eine knallbunte Schürze. Im Schlafzimmer schichtete sie Wäsche in einen Korb. Holt sah ihr zu. »Ja, lebst du denn auf dem Mond?« rief sie. »Goebbels ist Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz geworden. Sämtliche Theater, Varietés und Kunstschulen sind geschlossen und fast das ganze Schrifttum ist stillgelegt worden! Jeden Tag können neue Richtlinien für den Arbeitseinsatz bekanntgegeben werden, ganz strenge Maßnahmen! Meinst du, ich hab Lust, Granaten zu drehen? Da ruiniere ich mir fürs ganze Leben die Hände! Sechzig Stunden Arbeitszeit wöchentlich, dazu hab ich keine Lust!« Sie setzte sich aufs Bett und brannte sich eine Zigarette an. »Ich schließe hier zu«, sagte sie, »die Sachen werden ausgelagert … Wie steht es denn mit deinem Urlaub?«

»Bewilligt«, sagte Holt. »Es kann jeden Tag losgehen.«

»Wollen wir in den Bayrischen Wald fahren?« fragte sie.

Er antwortete nicht. Er rauchte und schaute sie aufmerksam an. Sie lächelte, sehr verführerisch, sehr verlockend. Wie seltsam: es wirkte nicht! Holt dachte: Sie hat nicht mal gefragt, wie das mit Ziesche passiert ist … Es wäre wirklich schade, wenn ihre Hände Schwielen bekämen! Auf einmal, es war wie eine Zwangsvorstellung, sah er Schmiedlings große, behaarte Hände, in den Schlackeboden des Geschützstandes gekrallt, sah auch Zemtzkis Hände, Rutschers Hände … »Ich weiß nicht«, sagte er trübsinnig, »in den Bayrischen Wald? Es wäre schön. Aber ob sich das bei mir noch ändern läßt …« Sie sagte leise: »Es wird bestimmt sehr schön!« Aber auch das verfing seltsamerweise nicht. Er dachte: Sie ist wirklich bildhübsch. Warum regte sich bei diesem Gedanken nichts in ihm, wie sonst? Sie sagte: »Laß deine Papiere umändern, Urlaubsort, Fahrschein. Ruf mich morgen an.« Er nickte. Sie erhob sich: »Jetzt laß ich alles stehn und liegen. Ich will unbedingt ins Kino, kommst du mit? In Wattenscheid wird zufällig noch einmal ›Nora‹ gespielt, nach Ibsen, ich hab den Film voriges Jahr verpaßt.«

Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie in Wattenscheid anlangten. Die Verkehrsmittel hatten durch die ständigen Angriffe stark gelitten. In dem engen, muffigen Kinosaal wurde Holt ein beklemmendes Gefühl nicht mehr los. Unfug, zur Abendvorstellung zu gehen! Es gibt bestimmt Alarm, bei diesem idealen Wetter: ein bißchen diesig, da sind die Jäger behindert, die Flak auch … Und wir sitzen hier in einer wildfremden Gegend, weit weg von Gerties Wohnung, weit weg von der Batterie … Apathisch saß er in dem harten Klappstuhl, den Stahlhelm auf den Knien. Der Film interessierte ihn nicht. Er atmete erleichtert auf, als der Streifen endlich abgelaufen war. »Komm!« Aber sie wollte noch die Wochenschau sehen. »Es soll Bilder vom Attentat geben!« Er setzte sich wieder. Die Fanfare des Vorspanns war noch nicht verhallt, da brach die Wochenschau auch schon ab; auf der Leinwand erschienen die Worte: »Voralarm! Verlassen Sie sofort das Theater!« – »Da hast du’s, verdammt!« rief er wütend. Sie sagte beschwichtigend: »Vielleicht sind es nur Aufklärer!« Alles drängte zum Ausgang.

Es war zweiundzwanzig Uhr. Draußen umfing sie die Nacht. Der verschleierte Himmel leuchtete schwach. Holt orientierte sich rasch: die Straße, von Trümmergrundstücken und ausgebrannten Fassaden gesäumt, lief nach Norden, vermutlich nach Gelsenkirchen; mochte sich der Teufel in diesem Städtegewirr zurechtfinden! Die Straßenbahn fuhr nicht mehr. Der Menschenhaufen verlief sich rasch. Bald war die Straße menschenleer. Sie gingen sehr schnell und erreichten ein unzerstörtes Stadtviertel mit engen Straßen. Nun schlug das Auf und Ab der Sirenen wie eine Woge zum Himmel hoch. Sie liefen im Laufschritt weiter. Flakfeuer donnerte, fern erst, dann ganz nahe. Am Himmel summten Motoren. Holt tröstete sich: Sie überfliegen uns nur! Sein Blut erstarrte: Oder sind es Pfadfinder? Die Nacht wurde taghell. Irgendwo fielen Leuchtkaskaden, es mußte sehr nahe sein, die hohen Häuser versperrten die Aussicht, aber der Himmel gleißte.

Ein Mann verstellte ihnen den Weg, abenteuerlich uniformiert, die Volksgasmaske um den Hals: »Halt … halt! Von der Straße weg! In den Schutzraum!« Frau Ziesche redete schnell, angstvoll, aber Holt sagte: »Sei vernünftig, Herrgott!« Er zog sie in den Hausflur. »Sie bleiben hier oben«, sagte der Luftschutzwart zu Holt. Frau Ziesche rief: »Nein! Ich … ich bin leidend … ganz hilflos, ich brauche Schutz!« Sie zog ihn die steile und tiefe Treppe hinab.

Der Kellergang war mit Menschen vollgestopft. Holt überschaute den matt erleuchteten Raum, überschaute die hundert Gesichter, die wie kreidige Flecke in der Dämmerung schwebten, überschaute Koffer und Rucksäcke und die Wannen mit Wasser. An sein Ohr drang Kindergeschrei.

»Nicht den Ausgang verstellen!« Irgendwer schob Holt in den Keller. Holt strebte dem Ende des sehr langen Ganges zu, vielleicht nur, weil dort hinten Platz war. Sie stiegen über Packtaschen und ausgestreckte Beine hinweg. Der Platz war eigentlich gar nicht so schlecht, vielleicht nur etwas weit vom Ausgang entfernt. Sie saßen, als letzte in der langen Reihe, unmittelbar am Mauerdurchbruch. Das flache Tonnengewölbe des Kellerganges war hier noch einmal mit zwei starken Pfählen abgestützt, die wie Säulen den vermauerten Durchbruch zu Holts linker Hand flankierten. Er legte schützend den Arm um Frau Ziesche. Sie zitterte unter dem leichten Sommermantel. »Setz meinen Helm auf!« Der Helm war zu groß, aber so schützte er auch Nacken und Schultern. Holt sah sich einem kleinen Mädchen von vielleicht vier Jahren gegenüber. Das Kind war zusammengesunken, in tiefem Schlaf. Daneben lag viel Gepäck. Dann saß eine große, derbe Frau auf der Bank, sie trug eine Tarnjacke aus Zeltleinen und blaue Schihosen. Holt suchte in seinen Taschen die kleine Stabtaschenlampe, fand sie und steckte sie wieder weg. Eine dumpfe Stimme sagte: »Trocken Brot will ich essen mein Lebtag, wenn bloß die Bomben aufhören!«

Der Keller war sehr tief. Aber das Motorengedröhn der Bomber drang nun doch herab. Ein zitternder, gebrechlicher Greis setzte sich dicht neben Frau Ziesche. So saßen sie, zu dritt in die Mauerecke gepreßt. In der gegenüberliegenden Ecke schlief das Kind.

Ein furchtbarer Schlag, der Keller erbebte, ein zweiter Schlag, dann ein dritter, so gewaltig, daß Holt die Erschütterung der Kellerwand in seinem Rücken fühlte. Ein Windstoß fegte durch den Gang. Holt hörte Frau Ziesches Stimme dicht an seinem Ohr, stammelnd: »O heilige Maria … Mutter Gottes … unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir …« Vom Kellereingang her kreischte eine Stimme: »Es brennt!« Barsches Geschrei, das schon unterging: »Alle Männer …« und: »… zum Löschen!« Holt wollte sich erheben, aber Frau Ziesche klammerte sich an ihm fest, sie schrie: »Es brennt … ich will raus … Ich will raus hier!« Wahnsinn, dachte Holt, Wahnsinn; er hörte Wolzows Stimme: »Die Schweine … Sprengbomben in die Flammen …« Da traf ihn ein Stoß mit solcher Wucht, daß sein Kopf gegen die Mauer schlug, das Licht verlöschte, das Leben setzte aus, Holt rang nach Luft, und er hustete, hustete …

Es dauerte lange, ehe er die Taschenlampe fand. Der Lichtstrahl prallte auf eine undurchdringliche weiße Wand von Kalkstaub. Holt stieß Frau Ziesche von sich, erhob sich, trat auf einen Körper, trat darüber hinweg, tastete nach rechts, trat auf Schutt. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, das war die heruntergebrochene Kellerdecke. Er hustete noch immer, aber der Kalkstaub setzte sich. Verschüttet! Holt wollte schreien, der qualvolle Hustenreiz hinderte ihn. Endlich bekam er Luft, nun zwang er die Panik nieder, aber die Gedanken flatterten. Der Staub wurde durchsichtig. Holt überblickte im hin und her huschenden Lichtkegel der kleinen Taschenlampe die Ecke des Kellerganges, in der sie eingeschlossen waren. Die kaum bezwungene Panik jagte zusammenhanglose Worte durch seinen Sinn: … in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten … Der Greis richtete sich stöhnend vom Boden auf. Das kleine Mädchen würgte und zog mit pfeifendem Ton die Luft in die Lungen, als habe es Keuchhusten. Aus dem Schutt ragten zwei Beine in blauen Schihosen. Frau Ziesche hustete und rang nach Luft … und geht’s ans Sterben, ich bin dabei … Er dachte: Ich muß … ich muß … Und immer wieder: Ich muß! Er dachte: Gleich kommt das Wecksignal … Er dachte: Der Mauerdurchbruch!

Er wischte sich über die Augen, in denen der Kalkstaub wie Säure brannte. Er packte Frau Ziesche am Arm und zog sie hoch, sie wollte sich an ihm festhalten, er stieß sie nach hinten, daß sie auf den Schutt fiel. Er schob den Greis hinter sich, er schob das kleine Mädchen hinter sich. Dann nahm er die Holzbank, auf der sie gesessen hatten und rammte sie gegen den Mauerdurchbruch. Vergeblich. Er konnte nicht weit genug ausholen, immer wieder stieß er zu, das Sitzbrett spaltete der Länge nach auf. Er ließ die Bank fallen und schlug mit den Fäusten auf die Ziegelsteine. Er keuchte, er trat mit dem Fuß gegen das Mauerwerk. Er brüllte überschnappend: »Hilfe!« Er warf das volle Gewicht seines Körpers gegen den Durchbruch, er fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf kantige Steine, es rasselte, es knisterte in den Ohren, er stöhnte vor Schmerz. Dann lag er bewegungslos und atmete tief.

Als er aufstand, fielen Steine von ihm ab. Er hielt die Taschenlampe noch in der Hand, aber sie brannte nicht mehr. Er schüttelte sie. Nun flammte sie auf. Vor ihm lag ein langer, leerer Kellergang. Weit vor ihm glühte rotes, zuckendes Licht. Sie sind hier längst raus, dachte er, und dachte: Fliehen! Er hörte hinter sich das hemmungslose Geschrei Frau Ziesches. Er kletterte durch das Mauerloch zurück in den verschütteten Keller, hob sie auf und herrschte sie an: »Still! Still doch!« Ihr Gesicht war verzerrt und entstellt. Er nahm das Kind wie ein Bündel unter den Arm. Frau Ziesche schrie: »Hilf mir … Hilf mir doch! Laß das Kind!« Er mußte sie wieder abschütteln, ehe er mit dem Kind in den Nachbarkeller hinüberklettern konnte. Dann half er Frau Ziesche, dann auch dem Greis. Frau Ziesche hielt sich krampfhaft an ihm fest, er zog sie gewaltsam den Gang entlang. Am Fuß der Treppe lag viel weggeworfenes Gepäck. Oben flammte gelbrote Glut durch das Viereck der Haustür. Ein starker Luftzug strich über ihn hin. Draußen heulte der Feuersturm. Frau Ziesche schrie: »Ich will nicht ins Feuer … ich will nicht!« Holt sah sich verzweifelt nach einem anderen Ausgang um, es mußte ihn geben, denn es gab diesen fauchenden Luftstrom, aber er hörte über seinem Kopf ununterbrochen Mauerteile niederkrachen. Raus! dachte er. Die Bitterkeit des Unterganges. Neben der Treppe, in einer Nische, stand eine große Zinkwanne voll Wasser. Reichsminister Doktor Goebbels: ein Wort zum Luftkrieg, dachte er. Nasse Decken! dachte er, es gab keine Decken. Er tauchte das Kind in die Badewanne, und noch einmal, es kam zu sich und schrie, er legte es auf den Kellerboden. Frau Ziesche lag auf den Knien: »Heiliger Joseph, Nährvater … bitte für uns in der Stunde des Todes … Jungfrau Maria … bitte für alle, die heute im Todeskampf liegen …« Als Holt sie anfaßte, begann sie wieder zu schreien: »Nicht ins Feuer!« Er stieß sie gewaltsam in die Wanne. Der Stahlhelm klirrte auf das Zinkblech. Ein Lachen schüttelte Holt, oder war es ein Weinen? Er tauchte ihr den Kopf unter, sie verstummte, er half ihr heraus, sie hatte irre Augen. Holt wälzte sich in der Wanne, dann hing die Uniform wie eine Zentnerlast an ihm. Wo war der Alte? Der Alte war nirgends. Alle, die heute im Todeskampf liegen … »Los jetzt!« Er hob das Kind auf, da umklammerte ihn Frau Ziesche abermals: »Mich mußt du retten, Jesus Maria, laß doch das Kind!« Er befreite sich, faßte sie am Unterarm und zog sie die Stufen hoch. Das kleine Mädchen hing unbeweglich unter seinem Arm. Als sie auf halber Höhe waren, krachte vor der offenen Haustür brennendes Gebälk auf die Straße, die Funken stoben bis in den Hausflur. Unerträgliche Glut prallte ihnen entgegen. Holt zerrte Frau Ziesche ins Freie. Der heulende Feuersturm schlug über ihnen zusammen und peitschte ihnen Funken ins Gesicht. Wohin? Wo ist Rettung? Alle Häuser ringsum brannten, in großen Flächen brannte der Asphalt, Blasen werfend unter Phosphorpfützen, die Lungen versengten, auf der Straße lagen dunkle Gestalten, schwarze Strünke, mitten im Feuer, glimmende Matratzen, überall Tote, hinter ihnen krachte ein Haus in sich zusammen, vor ihnen kippte eine riesige, flammende Fassade auf die Straße … Zurück! Holts Mütze brannte, er warf sie von sich, er packte Frau Ziesche um die Hüfte und schleppte sie weiter, die nassen Kleider kochten, sein Bewußtsein setzte aus, er stolperte über einen Toten.

 

Sie fanden sich auf dem Gelände einer Kohlengrube wieder. Hinter ihnen raste das Feuer. Überall lagerten Menschen auf dem Boden, stumm, wie tot, nur Kinderweinen war zu hören. Frau Ziesche hockte auf der Erde, regungslos, er nahm ihr den Stahlhelm ab. Das kleine Mädchen zu seinen Füßen bewegte sich nicht. Er setzte den Stahlhelm auf, um beide Hände frei zu haben, dann trug er das Kind zu dem großen Sanitätszelt. »Eltern?« Holt sagte: »Ich weiß nicht …« Ein Arzt beugte sich über das Kind, richtete sich auf, ließ das Stethoskop sinken und sagte über die Schulter: »Ex.« Zu Holt: »Sie hätten sich die Mühe sparen können.« Holt rührte sich nicht. Er sah auf das Kind. Es trug rote Schuhe.

Ein Mädchen schenkte Kaffee aus, in angeschlagenen Steinguttassen. Holt wurde zur Seite gedrängt. Er ließ sich einen Becher geben und trug ihn zu Frau Ziesche: »Hier … trink!« Sie trank willenlos. »Willst du noch mehr?« Sie schüttelte den Kopf. Er brachte den Becher zurück und ließ ihn wieder füllen. Das Mädchen sagte: »Wie siehst du denn aus! Bist du verletzt?« Er schüttelte den Kopf. Er ging zurück zu Frau Ziesche. »Komm!« Sie reihten sich ein in die Kolonne, die nach Westen zog. Sie gelangten an einen schmalen Kanal, über den eine Holzbrücke führte. Weiter! Ein Güterbahnhof, am Rande eines riesigen Fabrikgeländes. Dort lagerten sich die Menschengestalten auf Bündeln und Koffern. Holt ging mit Frau Ziesche die Chaussee weiter nach Westen. Es war drei Uhr.

Die letzten Kilometer mußte er sie fast tragen. Dann schleppte er sie die Treppe hoch. Auch seine Kraft ging zu Ende. Er legte sie auf ihr Bett, zog ihr den verbrannten Mantel aus und deckte sie zu. Sie hielt die Augen geschlossen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Er ging ins Bad. Sie rief schwach: »Bleib hier!« Er sah in den Spiegel. Das Gesicht war blutverschmiert, Stirn und Kinn waren zerschunden. Die Hände brannten wie Feuer, als er sie ins Wasser tauchte, auch Hals und Gesicht. Das Haar war versengt, die Uniform von Funkenlöchern zerfressen, die Überfallhosen an den Knöcheln verkohlt.

Er ging wieder ins Schlafzimmer und setzte sich, von Schwäche übermannt, zu ihr aufs Bett. »Du wirst sofort abreisen?« Sie sagte tonlos und ohne die Augen zu öffnen: »Ja.« – »Weißt du, wohin?« – »Ja. Ich hab Verwandte in München.« Er schwieg. »Geh nicht fort«, rief sie, »ich habe solche Angst!« Er erhob sich. »Ich muß in die Batterie.« Sie begann wieder zu weinen: »Bleib doch!« Er sagte: »Laß dir’s gutgehn.« Sie rief hinter ihm her: »Werner!« Er warf die Vorsaaltür zu und lief aus dem Haus.

 

Gottesknecht stand auf den Stufen der Schreibstube. Holt meldete sich zurück. Gottesknecht sah ihn lange an, vom versengten, unbedeckten Kopf bis hinab zu den Füßen. »Doch nicht etwa mittenhineingeraten?«

»Jawohl.«

»In Wattenscheid?«

»Jawohl.«

Gottesknecht schwieg. Dann fragte er: »Und … schlapp gemacht?« Holt schüttelte den Kopf.

Gottesknecht stopfte sich eine Pfeife und entzündete sie. »Lassen Sie sich vom Sanitäter Brandsalbe geben, und Heftpflaster. Oder wollen Sie ins Revier? Gut. Tauschen Sie die Montur. Die Mütze ist weg? Schreiben Sie einen Wisch, ich mach meinen Wilhelm drauf, das soll der Wachsmuth zu den Listen legen. Die Kleiderbude brennt sowieso eines Tages mal ab.«

»Jawohl, Herr Wachtmeister.«

Gottesknechts Blick ruhte auf Holt. Dann fragte er: »Wohl gerade noch rausgekommen?«

»Jawohl.«

»Allein?«

»Ein kleines Mädchen hab ich mitgeschleppt. Und eine Frau. Sie hat mir’s so schwer gemacht. Als ich das Kind endlich draußen hatte, da war’s … da hat es nicht mehr gelebt.«

»Holt!« sagte Gottesknecht, und er kam die wenigen Stufen herab, und tatsächlich: er nahm Holt am Arm und zog ihn fort, zur Feuerstellung hin. »Werner … Junge … Kopf hoch!« Er sprach sehr leise. »Zähne zusammenbeißen. Durchhalten. Nicht schlapp machen. Das ist doch die einzige Chance! Ein paar von euch müssen übrigbleiben. Der Krieg geht zu Ende, vielleicht bald. Ihr müßt weiterleben.«

Sie blieben stehen. »Verstehn Sie mich recht«, fuhr Gottesknecht eindringlich fort. »Ich bin Lehrer, Jungen wie euch hab ich zum Abitur geführt, ich will das wieder tun. Soll ich vor leeren Klassenzimmern unterrichten? Ihr müßt es durchstehen! Wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann … beginnt der schwerere Kampf. Es ist nicht nur das kleine Mädchen, Holt. Keiner kann mehr die Toten zählen. Es ist schon zuviel gestorben worden! Nach dem Krieg ist soviel Arbeit. Die Suppe ist in fünf Jahren eingebrockt, ein Jahrhundert wird daran löffeln.« Er zwang Holt seinen Blick auf. »Wer sich heute freiwillig zu den Ein-Mann-Torpedos meldet, zu den Sturmstaffeln oder Panzerjagdkommandos, der drückt sich vor dem schwereren Kampf, der nachher kommt! Wer sich mit allen Mitteln zu bewahren sucht, nicht aus Feigheit, Holt, sondern aus Einsicht, der bewahrt sich für … Deutschland.«

Deutschland … dachte Holt. Zum erstenmal im Leben hörte er das Wort nicht von Jubel getragen oder von Heilrufen umrahmt, sondern gleichsam entblößt von allem Flitter und Standartengold, durchzittert von tiefer Sorge. »Deutschland«, sagte Gottesknecht, »das ist ja schon heute kein Gigant mehr, der Europa beherrscht, sondern ein blutendes, elendes Etwas. Es wird noch elender werden und bettelarm und wird unsagbar leiden, aber es darf nicht verbluten! Für das riesige, schimmernde Deutschland von gestern zu sterben, das nenn ich Feigheit, Holt. Aber für das arme, todwunde Deutschland von morgen zu leben … das ist Heroismus, dazu gehört Mut. Ich weiß: Sie suchen, Holt … einen Sinn, ein Ziel, einen Weg … Ich kenn den Weg nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir sind alle mit Blindheit geschlagen und müssen durch die sieben Höllen hindurch bis zum Ende.« Er schwieg. Dann sagte er noch: »Das muß wohl so sein. Damit wir endlich wir selbst werden.«

Holt ging allein zur Baracke weiter. Die verbrannten Hände schmerzten nicht mehr. Er schaute geradeaus, über die Baracke hinweg, am Horizont lag Dunst. Er blickte durch den Dunst hindurch ins Ferne und Uferlose. Er begriff nichts und verstand nichts. Er horchte, ob nicht das Wecksignal ertöne … aber noch war es wohl nicht soweit.

 

Er fiel in einen Schlaf, der an Ohnmacht grenzte. Die anderen ließen ihn liegen und rüttelten ihn erst am Nachmittag wach.

Holt fand sich in der kleinen Stube wieder, und ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn. Er hörte Wolzows rauhe Stimme: »Raus, du Penner! Ich hab dir was zu fressen mitgebracht!« Er fühlte Gomulkas Blick mitleidig auf sich gerichtet.

Keller, Kalkstaub, Feuersturm, ist das überhaupt Wirklichkeit gewesen? Unmeßbares Grauen war nun wie von Nebel bedeckt, unwirklich, unglaubhaft, fern … Holt dachte: War es ein Angsttraum?

Er richtete sich auf, wie zerschlagen, es gab keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte. Doch mit einem Satz sprang er vom Bett und reckte sich.

Am Tisch saß rauchend der Sanitäter, die Ledertasche auf den Knien. Er grinste. »Bei Ihnen mach ich sogar Hausbesuche, kostet fünf Mark! Los, lassen Sie sich verarzten!« Auf beiden Handrücken hatten sich Brandblasen gebildet. »Die lassen wir schön in Ruhe, sonst entzündet sich das.« Er legte Holt einen Mullverband an. »Hier … Prontosil-Rotschiff, das beruhigt die Nerven!«

Holt zog sich endlich die verbrannte Montur aus. Gomulka sagte: »Du bist am ganzen Körper blutunterlaufen!« Holt sagte nur: »Ich versteh nicht, wie die Leute das aushalten!« Da gab es gleich wieder Streit.

Holt dachte: Jetzt geht das Theater von neuem los! Branzner furchte die Stirn und sah Holt mißbilligend an. »So! Das verstehst du nicht? Na, da werd ich dir das erklären.« Gomulka sagte: »Da bin ich aber gespannt!« Branzner warf einen mißtrauischen Blick auf ihn und begann: »Die deutsche Nation ist von unwandelbarem Glauben an den Führer und an den Endsieg erfüllt. Darum nimmt sie alle Lasten freudig auf sich. Wer Wind sät, wird Sturm ernten! Der Führer hat das ganz klar gesagt, voriges Jahr, am Vorabend des 9. November. Die Ausgebombten sind die Avantgarde der Rache!«

Holt sah das Elendslager der Überlebenden auf dem Gelände der Kohlengrube. Avantgarde? Vetter nähte sich mit einer riesigen Stopfnadel einen Knopf an die Drillichjacke. Gomulka fragte Branzner: »Hast du schon mal einen Terrorangriff mitgemacht?«

»Nein.«

»Dann halt den Mund!«

»Aber der Führer«, protestierte Branzner. »Du sollst den Mund halten!« rief Gomulka. »Der Führer hat auch noch keinen Terrorangriff mitgemacht! Er hat noch nicht einmal eine ausgebombte Stadt besucht!«

Branzner schluckte, daß sein großer Adamsapfel auf und nieder hüpfte. »Das … das … jetzt ist es genug!« sagte er. »Heut legt ihr mich nicht wieder rein! Jetzt mach ich endgültig Meldung! Ich geh zum Chef!« Holt rief: »Gilbert, nun sorg du doch endlich mal für Ruhe!« Wolzow, der seine strategischen Lehrbücher aus dem Spind holte, fragte uninteressiert: »Was willst du denn melden?« und vertiefte sich in ein Buch. Branzner schnallte das Koppel um. »So fing es 1918 auch an! Ihr treibt Zersetzung! Feindpropaganda …«

Gomulka schüttelte den Kopf. Branzner schrie wütend: »Ihr steckt alle unter einer Decke! Kirsch, du hast es gehört!« Kirsch, der Tischlersohn, saß am Tisch und stopfte paketweise Butterkeks in sich hinein. »Ich …?« Er gähnte. »Das können hier alle bezeugen, daß ich fest geschlafen hab!« Gomulka sagte befriedigt: »Da wird sich nichts machen lassen, Branzner!«

Branzner setzte die Mütze auf. »Also gut! Gut! Ein Verschwörernest! Aber ich laß euch alle hochgehn, alle!« Er schrie: »Volksschädlinge seid ihr, Saboteure …«

Gomulka tippte sich stumm an die Stirn; er schnitt Holt mit Sorgfalt und Geschick das versengte Haar. »Volksschädlinge?« rief Vetter in seiner Ecke. »Also, Gilbert, so was darfst du dir als Offiziersbewerber nicht gefallen lassen. Stell dir vor, diese Knalltüte läuft zum Chef!« – »Jawohl«, sagte Holt, »du mußt ihm ein für allemal beibringen, wie er sich zu benehmen hat.«

Wolzow blickte von seinem Buch auf. »Wie hat er mich genannt?« – »Volksschädling«, hetzte Vetter, »Saboteur … und überhaupt …« Wolzow sprang auf, langte sich Branzner und faßte ihn mit der Rechten vorn an der Bluse. Branzner wollte sich wehren, aber da traf ihn schon eine schallende Ohrfeige. Vetter meckerte vergnügt, und Kirsch stopfte Keks in sich hinein. Wolzow hob den erschlafften Branzner mit der Rechten langsam in die Höhe, er war so kräftig, daß er ihn in der Luft schütteln konnte. Dann stellte er ihn auf den Boden, stieß ihn gegen einen Spind und zog ihn wieder dicht zu sich heran. »Hör zu! Hör genau zu! Die paar Wochen, die ich noch bei diesem Haufen bin, will ich Ruhe haben! Ich laß mir doch von dir nicht meine Laufbahn vermasseln. Du wirst also endgültig aufhören zu stänkern! Sonst … Weißt du, was sonst ist? Du bist nachts mit uns am Geschütz. So wahr ich Gilbert Wolzow heiße: Ich schlag dir beim nächsten Schießen mit’m Schraubenschlüssel das Genick ein! Solche Unfälle passieren relativ häufig, das kannst du schon in Prinz Kraft zu Hohenlohes ›Militärischen Briefen über Artillerie‹ nachlesen! Verstehen wir uns?« Er ließ Branzner los.

Holt hatte das Empfinden, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Er nahm Wolzows Drohung ernst. Er hatte nie die Szene vergessen, als Wolzow am Rabenfelsen dem wehrlosen Meißner die Mündung der Pistole auf die Stirn gedrückt hatte … Es ist alles dasselbe, dachte Holt in einem Gefühl des Grauens. Ob er einen Wachhund totschlägt, ob er sich prügelt oder Nahfeuer schießt … es ist alles dasselbe!

 

Bei der Leitungsprobe sagte Gomulka unvermittelt zu Holt: »Stell dir vor, Wolzow wär unser Feind!« Er hing die Kopfhörer in den Bunker. »Wenn du nicht sein Freund wärst …« – »Ein Glück, daß er vorhin nicht richtig zugehört hat«, sagte Holt. »Wer weiß, was das für ein Theater gegeben hätte!«

Gomulka setzte sich auf einen Holm. »Sag mir mal ganz ehrlich: Wie war das heut nacht?« – »Ich sag es nur dir«, erwiderte Holt. »Es war über jede Beschreibung furchtbar. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas auf der Welt schlimmer ist. Lieber Tiefangriffe und Bombenteppiche hier draußen.«

Gomulka schwieg. Dann sagte er zusammenhanglos: »Wolzow hat von seinem Onkel Post bekommen. Der ist schon wieder befördert worden, zum Kommandierenden General. Er übernimmt eine Einheit an der Westfront. Früher hatte er eine Luftwaffen-Felddivision in Rußland, die wurde eingeschlossen. Bei Woronesch. Aber er ist mit einem Fieseler-Storch aus dem Kessel entkommen.«

Bei Woronesch eingeschlossen, dachte Holt. Da hat man ja auch nie davon gehört. Er dachte verwundert: Vor einem Jahr hätte mich so eine Bemerkung niedergedrückt. Gomulka sagte beiläufig: »Ich hab auch Post von daheim.« Holt fragte beklommen: »Und … hast du was gehört? Hängt es mit dem Attentat zusammen? Ist sie festgenommen worden?« Gomulka schüttelte den Kopf. »Sie soll spurlos verschwunden sein …« Fragen Sie nach niemandem, dachte Holt, reden Sie mit keinem … – »Sippenhaft!« flüsterte Gomulka. »Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben, und als er selbst zu den Russen wollte, da haben sie ihn …«

Holt sprang auf. »Hoffentlich lassen sie uns heut nacht schlafen«, sagte er hastig.

 

In der Nacht, an der Kanone, riß Wolzow Witze über den Mosquito-Verband, der kreuz und quer durch das Land flog, ehe er sich nach Berlin wandte und dort Bomben warf. »Da verarschen sie die Nachtjäger«, sagte er, »die suchen jetzt bei München!«

Am anderen Morgen war der Ersatz da. Vetter kam früh um sieben von der Leitungsprobe, als die anderen noch in den Betten lagen, und rief: »Die Schusterjungen sind da! Mensch, das sind keine Oberschüler, das sind solche Heinis, Bäckerlehrlinge, Schlosser, lauter solches Kroppzeug von der Berufsschule … Fragt mich einer: ›Kamerad, ich finde mir hier nicht zurecht …‹ Ich hab gesagt: ›Da mußt du dir mal beim UvD erkundigen, sonst kann ich dich nicht helfen …‹ Sagt der auch noch: ›Danke!‹ Männer, das wird was! Wenn die sich nicht benehmen, dann führ ich hier offiziell die Prügelstrafe ein!« Wolzow rief von seinem Bett: »Mit denen geben wir uns gar nicht ab!«

Beim Morgenappell nahte Kutschera seltsamerweise ordentlich angezogen, von drei hohen HJ-Führern begleitet. Gottesknecht holte einen Karton aus der Schreibstube. Wolzow stieß Holt überrascht mit dem Ellenbogen an. Kutschera rief: »Die Luftwaffenoberhelfer Dusenböker, Hörschelmann und Wolzow … vortreten!« Er überreichte den drei Jungen das Eiserne Kreuz. Gottesknecht stopfte ihnen die Bänder ins Knopfloch, die HJ-Führer schüttelten ihnen die Hände. Dann ließ Kutschera das Batteriekommando vortreten und las Namen von einer Liste: »Dusenböker, Ebert, Gomulka, Grubert, Holt …« und so weiter, alle, die noch vom Jahrgang 27 da waren, mit den beiden Hamburgern noch siebzehn Mann. Holt lief nach vorn. Er dachte: Wir waren achtundzwanzig, als wir herkamen … dreizehn Tote aus einer Klasse! Gottesknecht steckte ihm das Flakschießabzeichen an die Bluse, das begehrte silberne Abzeichen, an der linken Brust zu tragen …

Die Batterie wurde eingeteilt. Gottesknecht rief. »Holt, Wolzow, Gomulka, ihr könnt morgen fahren!« Wolzow sagte strahlend: »Herr Wachtmeister, also, auf das EK müssen wir zusammen ungeheuer einen saufen!« – »Sie sind wohl verrückt!« empörte sich Gottesknecht. »Mit siebzehn Jahren alkoholische Exzesse, dem leiste ich keinen Vorschub!« Am Abend brachte Wolzow aber doch eine Flasche Kognak. Holt wurde nach ein paar Schlucken angenehm müde. Er dachte glücklich: Urlaub, Ruhe, endlich!

Beim Stubendurchgang befahl Gottesknecht: »Morgen wird alles eingepackt! Spinde leermachen! In unserem Batteriegelände wird ein Flakschwerpunkt gebildet … Großkampfbatterie mit achtzig oder hundert Geschützen.«

Nachts saßen sie faul im Geschützstand und sahen den Neuen beim Schießen zu. Am anderen Morgen packten sie. Vetter mußte bleiben. Der Urlaub begann zwölf Uhr und dauerte vierzehn Tage, zuzüglich zweier Reisetage. Sie liefen im Trab nach Essen. Als sie endlich auf dem Bahnhof angelangt waren, heulten die Sirenen Vollalarm. Ein Wehrmacht-LKW nahm sie mit nach Süden. In Wuppertal kletterten sie in einen Personenzug. Nach ein paar Stationen blieb der Zug auf freier Strecke stehen. Wolzow sah aus dem Fenster. »Los, raus!« Und sie liefen, während die Bomber sie überflogen, zu einer großen Schutthalde. Die Flak schoß, ringsum grollte es dumpf. Sie liefen auf einem Feldweg nach Westen. Hinter ihnen schütteten die Viermotorigen ihre Bomben aus.

 

15

 

Über der Wolzowschen Villa hing ein trüber Morgenhimmel. Es regnete.

Holt und Wolzow trugen die Rucksäcke ins Haus. Holt streckte die Füße von sich. Der Klubsessel war weich. Wolzow berichtete: »Das Haus ist voll fremder Leute, Bombenfrischler, weißt schon, Evakuierte und Ausgebombte. Da baun wir für dich ein Feldbett in mein Zimmer und sind ganz unter uns.«

Holt schlief erschöpft und traumlos. Als er am Nachmittag wach wurde, öffnete Wolzow eine Konservenbüchse. Über dem Spirituskocher, in der Pfanne, brutzelte Fett. Holt erschrak vor der heillosen Unordnung, die ringsum herrschte, alles lag durcheinander, die Stahlhelme, die Uniformen, die geöffneten Rucksäcke. Überall Gerümpel, das ausgestopfte Rebhuhn obenauf, die Duellpistolen, der zertrümmerte Totenkopf. »Wir müssen hier erst mal aufräumen, Gilbert!« – »Wieso? Ich find’s ganz gemütlich.« Wolzow kippte den Inhalt der Konservenbüchse in die Pfanne. Der Duft gebratenen Fleischs füllte das Zimmer.

Holt wickelte den Verband von den Händen. »Mein Onkel«, sagte Wolzow, »ist in Frankreich, vorher war er noch mal hier und hat einen Haufen Kram dagelassen, Vorräte: Konserven, Rotwein, russischen Tabak, sogar Kaviar, ich hab vorhin so’n Döschen aufgemacht, schmeckt wie Hering, aber satt wirst du nicht davon, da mußt du schon zehn Büchsen auf einmal fressen …« – »Ob ich nicht erst mal deine Mutter begrüße?« fragte Holt. »Lieber nicht. Du störst sie bloß beim Heulen. Ich hab ihr gesagt, daß wir da sind, das genügt.«

Das Haus war verwahrlost. Im letzten Jahr mochte nichts mehr aufgeräumt oder gar gesäubert worden sein. Nur im Erdgeschoß, wo nun Fremde wohnten, herrschte Ordnung. Holt ging ins Bad. Der Abfluß der Wanne war mit Haarbüscheln verstopft. Aus dem Hahn über dem Becken lief kein Wasser. Richtig, dachte Holt, da hat Gilbert damals das Bleirohr rausgerissen … Er duschte sich. Er sah im Spiegel, daß sich die blutunterlaufenen Stellen auf dem Rücken blau und grün färbten.

Zum Frühstück aßen sie das Büchsenfleisch aus der Pfanne. »Brot?« dozierte Wolzow. »Fleisch ist viel gesünder. Attila soll nur Fleisch gegessen haben.« Er hatte als erstes den zerlesenen Clausewitz aus seinem Rucksack geholt. Holt blätterte darin. »Wenn du dich endlich mal ’n bißchen mit Kriegskunst beschäftigen willst«, sagte Wolzow, »dann fängst du am besten mit Schlieffens ›Cannae‹ an.«

Holt klappte das Buch zu. »Danke«, sagte er und nahm die angebotene Zigarette.

Wolzow fuhr fort: »Wenn man keine militärischen Kenntnisse besitzt, kann man nämlich die Vorgänge an den Fronten gar nicht richtig verstehen. Soll ich dir sagen, warum Leute wie Branzner die Wahrheit über die militärische Lage nicht hören wollen?« entgegnete Wolzow. »Weil sie innerlich … unsicher sind, weil sie trotz aller schönen Worte den Krieg eigentlich gar nicht richtig mögen! Schau mal, der Führer sagt zwar immer, der Krieg sei uns aufgezwungen worden, aber das sagt er bloß wegen der Leute. In Wirklichkeit war nach 1918 natürlich ein neuer Krieg fällig, ich weiß doch von meinem Vater, daß ein richtiger Soldat so eine Niederlage nicht hinnimmt, ohne an die kommende Revanche zu denken. Das steht auch alles in ›Mein Kampf‹, und auch, daß wir uns neuen Boden im Osten mit dem Schwert erobern müssen …«

Holt hatte kaum aufgeatmet, von der zermürbenden Anspannung des Luftkrieges befreit, er hatte sich kaum in die Atmosphäre der kleinen Stadt und des Urlaubs eingewöhnt, da stießen ihn Wolzows Worte in die alte Niedergeschlagenheit zurück und riefen die Erinnerung wach: »… Eroberungskrieg vorbereitet und entfesselt …«, so hatte Vater gesagt, und auch Gomulkas lakonische Worte angesichts der verhungernden Gefangenen waren gegenwärtig: »Sie haben nicht angefangen …«

»Einer wie ich«, redete Wolzow unterdessen weiter, »na, wie soll ich sagen? … der bejaht den Krieg, und wenn keiner wäre, müßte man schnell einen anfangen. Es muß ein ordentlicher Krieg sein, nicht so’n Ramschkrieg wie 1806, sondern nach allen Regeln der Kriegskunst, wie bei Alexander oder Napoleon. Also frag nur, jetzt haben wir Zeit. Willst du die Lage erläutert haben? Wir kämpfen nun langsam auf der inneren Linie, und das schöne Vorfeld ist hin.«

Holt rauchte, er ließ Wolzow reden. Er sah auf die Uhr und erschrak. »Schluß! Das Wehrbezirkskommando macht zu!«

 

Sie trafen Gomulka in der Stadt. Der Regen war versiegt, die Wolkendecke riß auseinander, und ab und zu huschte Sonnenlicht über die Erde. Sie gingen stadtwärts. Nachdem sie sich auf der Urlauberstelle gemeldet hatten, bummelten sie durch die engen Kleinstadtstraßen zum Marktplatz.

Sie gingen an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Aus der Ladentür trat ein schmächtiges, sehr junges Mädchen und trat noch einmal zurück, um die drei vorbeigehen zu lassen. Das Mädchen, in einem ärmlichen bunten Kleid, trug am Arm einen Einkaufskorb.

Ihr Haar war braun. Auch ihre Augen waren braun. Ihr Blick streifte über Holt hinweg. Er dachte: … da stand das Kind am Wege …, es war eine Zeile aus einem Gedicht, das er einmal gelesen hatte: Da stand das Kind am Wege. Das kleine Mädchen mit den roten Schuhen fiel ihm ein. Er blieb stehen. Warum sieht sie so traurig aus?

Das fremde Mädchen ging den Weg zurück, den er eben gekommen war. Über ihr lastete der Himmel mit seinem Regengewölk. Durch ein Wolkenloch ergoß sich Sonnenlicht und blendete Holt. Er ging weiter. Was war das? dachte er. Wer war das? Wolzow schalt: »Der Kerl pennt am hellichten Tage!«

 

Auf dem Marktplatz begegneten sie einer Rotte junger Leute, Peter Wiese war dabei und Herbert Wurm, bei dessen Anblick Wolzow die Brust mit dem Ordensband herauswölbte, und dann die Mädchen: Rutschers Schwester, die Friedel Küchler in Uniform, ihre Freundin, Putzi genannt, noch drei, vier andere. Sie trugen Badesachen bei sich. »Donnerwetter, der Wolzow mit ’m EK!« hieß es. »Und das, was ist das?« – »Flakschießabzeichen, gibt’s bei soundsoviel Abschüssen.« Man schlug den Weg zur Badeanstalt ein. Holt blieb stehen. »Wir wollten doch Zemtzkis Eltern besuchen.« Rutschers Schwester war noch blasser als früher und zog Holt beiseite. »Sie waren doch mit ihm am Geschütz …« Nichts erzählen! Holt dachte an den zertrümmerten Geschützstand, an die umgestürzte Kanone. Läuft mir der Krieg bis hierher nach? Die Mädchen erzählten von Einsätzen im Kinderlandverschickungslager … Man verabredete sich für den kommenden Tag.

Sie besuchten Zemtzkis, saßen verlegen auf den Stühlen und redeten Frau Zemtzki ein, die Sache mit dem Müo sei wirklich nur ein Gerücht. »Ein ganz gemeines Gerücht«, meinte Wolzow. Draußen schwur er: »Das war der erste und letzte Besuch dieser Art! Zu meiner Mutter braucht auch keiner hinzugehn, wenn’s mich erwischt.« Gomulka ging zum Zahnarzt, um endlich die Lücke in der Schneidezahnreihe schließen zu lassen.

Nachts schreckte Holt ein Angsttraum aus dem Schlaf: Flammen, überall Flammen … Es wird noch oft wiederkehren. Es ist erst drei Tage her! Drei Tage. Die Zeit ist durcheinander. Wie alt bin ich jetzt? Siebzehneinhalb. Wenn es bis zum Flakeinsatz sechzehneinhalb gewesen sind, dann müssen seither dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sein. Noch mehr. Die Feuernacht in Wattenscheid allein hat hundert Jahre gedauert. Er sank wieder in Schlaf, glücklich in dem Gedanken: keine Alarmglocke, keine Mosquitos, keine Leitungsprobe. Im Einschlafen dachte er wieder: Da stand das Kind am Wege … mit einem Einkaufskorb.

 

Wolzow triumphierte am nächsten Morgen: »Herrliches Wetter! Der Himmel verläßt die alten Krieger nicht!« Beim Frühstück erzählte er, was er sich vorgenommen hatte: »Da liegen noch die Tagebücher von meinem Vater rum, die muß ich endlich lesen. Dann will ich in die Berge, unsere Pistolen ausbuddeln.« Holt wollte Peter Wiese besuchen. Wolzow fragte: »Ausgerechnet den Miesepeter? Was du bloß an dem findest!« Vorerst beschlossen sie, baden zu gehen. Holt hatte Bedenken, mit seinem zerschundenen Rücken. »›Da lagen die Helden, die Wunden vorn‹«, zitierte er. »Die alten Germanen hätten mich mit Schimpf und Schande davongejagt.« – »Da gab’s auch noch keinen Luftkrieg.« Wolzow fuhr mit den Beinen in die Überfallhose. »Das waren Zeiten! Stell dir das vor. Kampf Mann gegen Mann, o was hätt ich dazwischengehaun, bestimmt!« Die Vorstellung einer längst vergangenen Kampfesweise überwältigte ihn. »Ich wär der größte Feldherr des Altertums geworden«, prahlte er. »Dem Hannibal hätte ich mit einer Gegenumfassung geantwortet. So ein Blödsinn! Varro stellt die Truppen sechsunddreißig Mann tief auf, was nützt ihm da seine Überlegenheit? Ich hätte die Hastati und Principes nur in zwölf Glieder gestellt und die Triarii seitlich gestaffelt in Reserve behalten, da hätt ich Hasdrubals Reiterei in den Aufidus geschmissen …«

»Oder Napoleon«, spottete Holt, »da hättest du ganz Rußland erobert …« Aber Wolzow entgegnete: »Nein.« Er zog sich die Hose über den Bauch. »Wenn ich Napoleon gewesen war, hätte ich Rußland nicht angegriffen. Die Russen hätten ja kommen können, wenn sie was wollten. Da hätte ich aus der Nachhand geschlagen, ganz nahe meiner Basis.« Er knöpfte sich die Hose zu. »Bei Napoleon ist es anders. Napoleon hat als Feldherr keinen Fehler gemacht. Wenn da behauptet wird, er hätte vor dem Marsch auf Moskau erst die baltischen Festungen erobern müssen, dann ist das Geschwätz. Napoleon hat in Rußland richtig gehandelt, das hat Clausewitz ein für allemal nachgewiesen. Napoleons Rußlandfeldzug ist deshalb nicht gelungen, sagt Clausewitz, weil die feindliche Regierung fest, das Volk treu und standhaft blieb, weil er also nicht gelingen konnte. Was schaust du denn so? Was ist denn?«

»Nichts«, antwortete Holt. »Beeil dich. Schade um den schönen Nachmittag!«

 

Die Badeanstalt war fast menschenleer. Holt schwamm zum anderen Ufer, Wolzow blieb zurück. Als Holt die Flußmitte erreicht hatte, legte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Blödes Beispiel, dachte er, mußte ich ausgerechnet auf Napoleon kommen? Am jenseitigen Ufer lag er eine Weile im Gras. Stimmt also gar nicht, daß der Führer Napoleons Fehler vermieden hat, wie’s immer heißt. Napoleon hat demnach gar keine gemacht.

Als er wieder die Badeanstalt erreichte, hielt er sich ermattet an der Treppe fest und hing eine Weile im Wasser. Dann kletterte er an Deck. Das Herz arbeitete in harten Schlägen. Auf dem alten Stammplatz neben dem Sprungturm sah er sie alle beisammen, Jungen und Mädchen, Wolzow und Gomulka mittendrin. Langsam ging er über das Floß. Nein, dachte er, das ist doch nicht möglich! Ganz allein, weit abseits, saß das fremde Mädchen, an einen Pfeiler des Geländers gelehnt, die Knie bis unter das Kinn gezogen, hockte dort mit geschlossenen Augen.

Holt schlich zum Sprungturm und warf sich auf die Planken. Sogleich fragte die Friedel Küchler, wer ihn denn so grün und blau geschlagen habe. Holt antwortete nicht. Aber Gomulka, der sonst Kraftausdrücke gar nicht liebte, fuhr sie an: »Wo der Werner sich das geholt hat, du dumme Gans, dort hättest du dich vor lauter Angst von oben bis unten be… schmutzt!« Die Mädchen verzogen die Gesichter. Wolzow begann derartig zu lachen, daß oben am Ufer der alte Bademeister verwundert aus seiner Bretterbude schaute.

Dann saßen sie stumm und träge in der Sonne. Jemand fragte: »Wie ist denn der Luftkrieg nun eigentlich?« Wolzow grinste. »Wie der Luftkrieg nun eigentlich ist? Der Luftkrieg ist nun eigentlich ganz einfach! Das ist der einfachste Krieg, den’s überhaupt gibt. Wir sind unten und schießen nach oben, und die sind oben und schmeißen nach unten.«

Holt dachte: Ich muß noch warten, eh ich frag, sonst fällt’s auf! Er fragte schon, so ganz nebenbei: »Wer ist das Mädchen dort drüben?« Alle wendeten die Köpfe. Ein paar Mädchen lachten. Holt sagte gereizt: »Ihr seid albern!« Wolzow brummte: »Alle Mädchen, sobald mehrere beisammen sind! Eine allein möcht am liebsten in die Erde versinken.« – »Gut beobachtet«, sagte Gomulka.

»Die ist nicht von hier«, erzählte Friedel Küchler, die weißblonde BdM-Führerin, nach einer Weile. »Die ist evakuiert, aus Westdeutschland, ich glaube aus Schweinfurt. Die soll hier oben« – sie tippte mit dem Finger an die Stirn – »nicht ganz in Ordnung sein. Von ihrer Scharführerin weiß ich, daß sie keine Eltern mehr hat und in Schweinfurt Dienstmädchen war, das heißt, sie war im Pflichtjahr. Sie ist ja erst fünfzehn. Sie soll bei einem Angriff verschüttet worden sein, und als man nach einer Woche den Keller geöffnet hat, war alles tot, bloß sie hat noch gelebt. Dann hat sie im Krankenhaus gelegen. Jetzt ist sie hier bei einer kinderreichen Familie im Pflichtjahr, der Mann ist in der SS, dort ist sie gut aufgehoben. Im Mai mußte sie wieder ins Krankenhaus. Jetzt hat sie Schonung und braucht bloß vormittags zu arbeiten.«

Wolzow legte sich lang auf die Planken. »Krieg ist eben Krieg.« Holt kämpfte gegen die Vision eines Kellers, in dem sich zwischen erstarrten Leichen ein Lebender um den Verstand schrie. Er hörte ringsum das Geplauder der Mädchen. Er fragte mit heiserer Stimme: »Warum kümmert ihr euch nicht um sie?« Man verstummte. »Die will ja nicht. Die weicht ja allen aus.«

Holt sprang auf. »Volksgemeinschaft«, höhnte er, »alle für einen …« Er sah viele Augenpaare verständnislos auf sich gerichtet. Ihm war, als höre er die blonde BdM-Führerin von verschworener Gemeinschaft reden, und das war noch kein Jahr her! Er hörte auch Frau Ziesches Stimme: Laß doch das Kind! Mich mußt du retten! Dann wandte er sich rasch ab. Hinter seinem Rücken sagte Gomulka: »Er hat so was vor paar Tagen selbst erlebt.«

Das ist es ja gar nicht, dachte Holt, als er das Floß entlangging. Ich hab es durchgestanden, ich würde es wieder durchstehen.

Am Ende des Floßes, wo die Paddelboote und Angelkähne befestigt waren, setzte er sich nieder und ließ die Füße ins Wasser hängen. Der Fluß glänzte im Licht.

Acht Tage verschüttet! dachte er. Er sah sich das kleine Mädchen mit den roten Schuhen zum Verbandplatz tragen, und jemand sagte: Ex. Die Mühe hätten Sie sich sparen können. Brennendes Dachgebälk krachte auf die Straße, und Funken stoben bis in den Hausflur … Kennen Sie einen Oberst Barnim? Und dann: … erschossen worden. Was ist mit Uta? Vielleicht lebt sie nicht mehr … Vielleicht hat sie nie gelebt. Vielleicht hab ich Uta nur geträumt, wie die Mustangs, den Schmiedling, die Bombenteppiche.

 

Er erhob sich und ging langsam zu dem Mädchen, das noch immer in der Sonne saß, den Rücken an die Planken des Geländers gelehnt. Er setzte sich an ihrer Seite auf den Boden. »Ich heiß Werner Holt. Ich bin Luftwaffenhelfer und hab Urlaub.« Sie wandte flüchtig den Kopf zu ihm hin. Langsam stieg ihr die Röte in die Wangen.

Wenigstens ist sie nicht gleich fortgelaufen, dachte er. Ihr Gesicht war ihm eigentlich gar nicht fremd, die bewimperten Lider, die dunklen Brauen und die roten Lippen. Ich darf sie nicht so anstarren, sonst läuft sie doch noch weg! Was sag ich bloß? »Ich bin auch fremd, ich bin erst voriges Jahr hierher aufs Gymnasium gekommen, nur ein paar Monate, dann ging’s zur Flak.«

Flak ist falsch, dachte er. Luftwaffenhelfer war auch falsch, das erinnert sie an den Bombenkrieg. »Ich hab’s zu Hause nicht länger ausgehalten, ich weiß nicht, warum.« Zu Hause, das ist auch falsch, weil sie keine Eltern mehr hat … Eigentlich hab ich auch keine Eltern mehr. »Sie müssen … Du mußt entschuldigen«, sagte er verwirrt. »Ich rede lauter Unsinn … Es ist aber auch schwer«, sagte er gradheraus, »ein fremdes Mädchen anzusprechen. Außerdem hab ich Angst, daß du fortläufst.«

Sie rührte sich nicht.

»Ich hab dich schon gestern gesehen, mit dem Einkaufskorb«, fuhr er fort. »Am liebsten wär ich dir gleich nachgegangen. Als ich hörte …« Jetzt schlug sie die Augen auf, aber sie blickte geradeaus … »… daß du aus Schweinfurt bist …« Er dachte: Was red ich da? »… als ich das hörte, dachte ich, daß dich hier überhaupt keiner verstehen kann.«

Sie schloß die Augen und saß unbeweglich.

Verstehen, dachte Holt, kann man denn überhaupt einen anderen Menschen verstehen? »Wir sind im Ruhrgebiet eingesetzt. Ich weiß nicht, wie oft ich in den Luftlagemeldungen gehört hab: ›Raum Würzburg–Schweinfurt‹ …« Er erinnerte sich sehr deutlich. Es war im Oktober gewesen, die Amerikaner hatten an die tausend Begleitjäger mitgeschickt, und die Luftkämpfe zogen sich von der holländischen Grenze bis in den süddeutschen Raum. Mehr als hundert Viermotorige waren abgestürzt, aber Schweinfurt war dennoch bombardiert worden … Holt sah ein Häusermeer in einer grauen Rauchwand versinken, darin unaufhörlich die Blitze der Einschläge zuckten, bis sich das Rot der Brände durch den Rauch fraß … Er schüttelte die Erinnerung ab. Wie sagte Gottesknecht immer? Zähne zusammenbeißen!

»Es ist gut, daß ich damals nichts von dir wußte. Ich hätte ja keine Ruhe gehabt. Helfen hätte ich dir auch nicht können.« Er saß lange stumm neben ihr. Unsicher durch ihr standhaftes Schweigen fragte er: »Soll ich gehen?« Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

Die Gesellschaft am Sprungturm brach auf. Wolzow sah im Vorbeigehen auf das Mädchen, dann verlor sich der Stimmenlärm auf der Liegewiese. Sie blieben allein auf dem Floß zurück. Die Abendsonne stand tief über den Bergen jenseits des Flusses und wärmte nicht mehr. Er fragte: »Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt.«

»Gundel. Eigentlich Gundula.« Er horchte auf ihre Stimme, eine dunkle, etwas brüchige Stimme. Er wiederholte: »Gundel …« Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Und mit Familiennamen?« – »Thieß.« Ihre Stimme gefiel ihm. »Wird dir nicht kalt?« Sie sagte statt einer Antwort: »Die andern werden böse sein, wenn du nicht mitgehst. Es sind doch deine Freunde.« – »Gilbert und Sepp«, sagte er, »die andern gehn mich nichts an.«

Sie lächelte. Er sah zwischen den Lippen die blanken Zähne schimmern. »Woran denkst du?« Das Lächeln vertiefte sich. Sie sagte: »Ich möcht wissen, was du gestern gedacht hast.« – »Ich?« Die Frage verblüffte ihn. »Ich hab dir nachgeschaut. Zuerst fiel mir eine Zeile aus einem Gedicht ein … Da stand das Kind am Wege …« Sie neigte den Kopf zu ihm hin: »Und wie geht’s weiter?« Er überlegte angestrengt. »Da stand das Kind am Wege … und winkte ihn nach Haus … Es ist von Storm, glaub ich.« Er sah, daß sich ihre Lippen bewegten; sie wiederholte für sich die beiden Verszeilen. »Und du?« forschte er. »Was hast du gedacht?« Da stieg ihr wieder die Röte ins Gesicht, und sie stand auf. Er war einen halben Kopf größer als sie. Er sah ihr nach, dann rannte er über die Liegewiese zu seiner Kabine und fuhr in die Uniform. Er wartete am Ausgang.

Sie trug wieder das verschossene bunte Kleid. Er lief wortlos neben ihr durch die Parkanlagen zur Stadt. Als hinter der Brücke die Straße nach links zum Fischerviertel abzweigte, blieb sie stehen und sagte: »Nicht … Es ist besser, wenn sie dich nicht sehen.«

»Gehst du morgen wieder baden?« Sie nickte. Dann, als sei dies schon zuviel gewesen, ging sie davon, die enge, schattige Gasse entlang.

 

Holt besuchte am anderen Morgen Gomulka. Wolzow schlief noch. Auf dem Tisch lag ein Stoß schwarzer, in Wachstuch gebundener Hefte, in denen Wolzow die halbe Nacht gelesen hatte, die Tagebücher seines Vaters. Holt schrieb einen Zettel: »Bin bei Sepp. Sehen uns vielleicht beim Baden.« Als sein Blick auf Wolzow fiel, der im Schlafe leise schnarchte, hatte er Lust, ihm ins Gesicht zu brüllen: Gefechtsschaltung! Sollst mal sehen, wie er hochkommt!

Gomulkas bewohnten ein Haus am Stadtrand. Im Vorgarten blühten Gladiolen und Astern. Gomulka öffnete im Bademantel und führte Holt durch die Diele in ein helles Speisezimmer. Aus dem angrenzenden Raum drang das Gespräch mehrerer Frauenstimmen. Gomulka erläuterte: »Wir haben Verwandtenbesuch.«

Sein Zimmer war einfach möbliert. Hier herrschte eine peinliche, fast pedantische Ordnung und Sauberkeit. Als Gomulka den Schrank öffnete, sah Holt die Wäschestücke auf die gleiche Breite gefaltet, exakt aufeinandergestapelt, die Schuhe in Reih und Glied und die Kleidungsstücke sauber gebürstet auf den Bügeln. Er dachte an die Unordnung bei Wolzow.

Sie suchten sich im Garten einen schattigen Platz. Die Aprikosenbäume hingen voll reifer Früchte. Gomulka meinte: »Heuer ist ein gutes Aprikosenjahr. Wir lassen sie ganz reif werden, überreif, da kann man sie ohne Zucker zu Marmelade kochen.« Holt hob ein paar der herumliegenden Früchte auf, aß und warf die Kerne ins Gebüsch. Träge und zufrieden legte er sich unter einen Baum. Gomulka fragte: »Was machst du am Nachmittag?« – »Ich bin verabredet.« Gomulka fragte vorsichtig: »Stimmt es, daß sie … nicht ganz richtig ist?«

»Das ist ein verdammter Quatsch, Sepp! Das ist typisch für die Küchler, diese Ziege!« Holt fuhr ruhiger fort: »Ich weiß auch nicht, warum ich so eine Wut auf die hab. Wenn ich sie seh, dann wird mir schon ganz kribblig …« Er dachte: Sie ist das weibliche Gegenstück zu Ziesche und Branzner und all denen. »Sag mal, Sepp«, fragte er nachdenklich, »warum haben wir eigentlich immer gegen die etwas, die begeistert sind, von der … nationalsozialistischen Idee durchdrungen? Wenn einer kommt, irgendein Fremder, da denkt man: Sympathischer Kerl! Kaum macht er den Mund auf, da geht’s los: Herrenrasse, unbedingte Gläubigkeit, fanatischer Wille, eben das übliche. Sofort denk ich: Lieber Gott, das ist ja auch so einer. Eigentlich sollten die doch unser Vorbild sein, Leute wie Ziesche, in ihrem … gläubigen Fanatismus.«

»Mir persönlich«, sagte Gomulka bedächtig, »ist Fanatismus … na, unheimlich will ich’s nennen. Warum? Mit einem Fanatiker kann man nicht reden. Der Inbegriff des Fanatismus ist für mich eine wütende Bulldogge. Lach nicht, Werner, es ist wirklich so!«

»Aber gerade Fanatismus wird doch von uns gefordert!« rief Holt. »Und gerade, weil ich dazu neige, alles zu zergrübeln, zu zergliedern, beneide ich diejenigen, die fanatisch glauben können. Ich geb mir wer weiß was für Mühe, fanatisch zu sein! Man hätte es viel einfacher. Das Nachdenken und Grübeln, das macht einen fertig, Sepp! Ich wünschte, ich wär ein Fanatiker.«

Gomulka richtete sich auf. »Da könnte ich nicht dein Freund sein. Stell dir vor, ich sag etwas, da springst du auf, mit funkelnden Augen, und machst Meldung … Es ist ja sowieso unmöglich, ganz aufrichtig zu sein!« Er ließ sich wieder ins Gras sinken. »Das Nachdenken«, sagte er mit ungewöhnlichem Ernst, »das macht dich nicht fertig, nur das sinnlose Nachdenken! Suchen ist richtig, nur nicht sinnlos suchen, gewissermaßen mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer …«

Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte Holt, ja, ein gutes Gleichnis, oft ist es tatsächlich so, als tappe man im Finstern umher, dann denk ich: Das versteh ich nicht, und das werde ich nie verstehen … Was hab ich nicht alles heruntergeschluckt in diesem einen Jahr. Barnims hier sind alle verhaftet, der alte Ziesche macht im Generalgouvernement eine unbeschreiblich dreckige Arbeit, die Juden, die stillschweigend verschwunden sind, werden mit … wie hieß es doch, Chlorkohlensäuremethylester oder so, das hat Vater gesagt, und gelogen hat er noch nie! Aber da darf ich überhaupt nicht daran denken! Denn wie soll ich durchkommen, ohne Sicherheit, ohne Halt? Was ist denn überhaupt noch sicher auf dieser Welt?

»Vielleicht verstehen wir diese Zeit nicht«, sagte er. »Aber jetzt, wo die Russen vor Ostpreußen stehen, bleibt da nicht wenigstens eins: daß wir für Deutschland kämpfen? Haben wir bisher nicht für Frauen und Kinder in Essen und Gelsenkirchen gekämpft? Vielleicht hat es nicht viel genützt, aber daran hab ich mich immer festgehalten: wir schützen Frauen und Kinder!«

»Die anderen aber doch auch«, sagte Gomulka. »Wenn du damit anfängst, dann gibt es überhaupt keine Klarheit mehr. Was meinst du denn, wofür die Russen kämpfen? Laß dir mal erzählen, wie die SS von Anfang an in Rußland gehaust hat, die Feldgendarmerie und die Wehrmacht! Der Ziesche hätte dir genau erklärt, daß wir ein Recht haben, die Russen auszurotten, weil’s Bolschewiken sind. Nun versetz dich mal in so einen Bolschewisten hinein, dem vielleicht die ganze Familie erschossen oder nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht worden ist. Kämpft der nicht für Frau und Kinder?«

»Sepp … Du sagst das so einfach!« rief Holt. »Du nimmst diesen Widerspruch einfach hin! Und was gibt dir Halt?« – »Mir?« sagte Gomulka gedehnt und ausweichend. »Das ist schwer zu sagen, sehr schwer …«

Holt dachte unvermittelt an des fremde Mädchen. Ein Mensch wird mir Halt sein, dachte er. Vielleicht hätte es Uta sein können, aber ich Idiot bin zu Gertie Ziesche gelaufen, und statt Halt zu finden und Sicherheit hab ich erleben müssen, wie mir ein Mensch immer gleichgültiger wurde, so schauerlich gleichgültig, daß mich heut noch friert, wenn ich daran denke.

»Komm essen«, sagte Gomulka.

 

Auf der Veranda war der Mittagstisch mit unübersehbarem Aufwand an Porzellan und Silber für acht Personen gedeckt. Gomulka stellte vor: »Mein Freund Werner Holt.« Seine Mutter war eine stattliche Frau, blond und blauäugig. Holt hörte Namen von Tanten und Nichten. Rechtsanwalt Doktor Gomulka war ein Mann von fünfzig Jahren, mit schütterem grauem Haar und einer dunklen Brille, dennoch wie ein Doppelgänger seines Sohnes anzusehen. Er sagte höflich: »Ich freue mich wirklich sehr, Herr Holt!« Er pflegte verschiedene Wörter seiner Rede über Gebühr zu betonen.

Man aß eine Aprikosenkaltschale, dann Aprikosenauflauf, Aprikosenkompott, und statt des Kaffees gab es einen sehr dünnen, aber echten Tee, dazu Aprikosenkuchen. »Sie sehen«, sagte Frau Gomulka, »der Garten ernährt seinen Mann.« Das Tischgespräch bestritten fast ausschließlich Gomulka und sein Vater. Es dauerte nicht lange, bis Holt die leise Gereiztheit heraushörte, die im Gespräch zwischen Vater und Sohn mitschwang. Aus Höflichkeit beantwortete er dann und wann eine Frage; der ungeduldige Wunsch, mit sich allein zu sein, verstummte erst, als sie im engeren Kreise am Tisch sitzen blieben.

Die Verwandtschaft zog sich zurück.

»Wir hätten Sie gern schon früher einmal bei uns gesehen«, begann der Rechtsanwalt in einem Ton, als sage er: Herr Präsident, meine Herren Geschworenen! »Lassen Sie uns ein paar offene Worte sprechen. Ihre Klasse hat Verluste gehabt, dreizehn Tote, wenn ich recht informiert bin … Wie schätzen Sie Ihre weiteren Aussichten ein?«

»Wir haben Glück gehabt«, antwortete Holt. »Gilbert Wolzow meint immer, der Himmel verläßt die alten Krieger nicht.« – »Ein zweckoptimistisches Wort«, entgegnete der Rechtsanwalt, »finden Sie nicht? Rauchen Sie? Bitte. Danke, ich bediene mich selbst.« Er setzte eine Shagpfeife in Brand.

Frau Gomulka sagte, die Teetasse in der Hand: »Jede Mutter möchte ihren Sohn wiederhaben.« Gomulka rief heftig: »Mama! Du wolltest nicht wieder davon anfangen!« Sie wies ihn zurecht: »Ich glaubte dich besser erzogen zu haben, als daß du dir einen solchen Ton erlauben dürftest.« Der Wortwechsel erfüllte Holt mit Mißbehagen.

»Ihr Vater«, begann der Anwalt wieder, während er seine Brille abnahm, »wenn ich recht unterrichtet bin, so ist er gemaßregelt worden … Sie gestatten, daß ich davon spreche? Hat er sich nie mit Ihnen über die weitere Perspektive unterhalten? Haben Sie nicht gewisse Grundsätze für eine zweckentsprechende Verhaltensweise vereinbart?« Ehe er Holt ansah, setzte er seine Brille wieder auf.

Gewisse Grundsätze? Zweckentsprechende Verhaltensweise? Holt sagte abwehrend: »Mein Vater ist ein Sonderling, er hat keinen Sinn fürs Praktische … Sepp und ich, wir haben uns natürlich mal überlegt, wie wir uns verhalten wollen. Aber es kommt doch immer ganz anders. Zum Beispiel die endlose Fehde mit den Hamburgern, da sind wir hineingeraten, ohne es gewollt zu haben.«

Der Rechtsanwalt sog unzufrieden an seiner Pfeife. »Damit Sie mich recht verstehen: ich bin ein Gegner der Handlungsnormen. Ich bin überhaupt gegen jede Norm. Sie sollen durchaus kein Schema suchen. Es gibt da zum Beispiel Soldaten, deren Gedanken in das Schema gepreßt sind: Nie freiwillig melden! Dieses wie jedes Schema ist unbedingt falsch. Der Mensch bedarf der Elastizität. Ich wünschte, ihr Jungen besäßet diese Elastizität. Die heutige Zeit, oder besser: die Gegenwart … unsere Epoche jedenfalls neigt zur Überbewertung des starren Prinzips und setzt es über die Entscheidung des einzelnen.«

Holt hatte das Gefühl, der Anwalt schleiche mit seinen Worten um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Holt suchte keine Antwort, er suchte den Widerspruch, er wußte nicht, warum; es ging ihm ähnlich wie Weihnachten bei seinem Vater. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was Sie sagen. Während der diesjährigen russischen Angriffe im Mittelabschnitt, da wurde die Rolle des Einzelkämpfers besonders hervorgehoben, eines Kämpfers also, der auf die persönliche Initiative und die Freiheit seiner Entscheidung angewiesen ist.«

»Zweifellos!« sagte der Anwalt sarkastisch. »Wobei diese Handlungsfreiheit ebenso unbeabsichtigt erteilt als auch von vornherein eingeengt worden ist.« – »Eingeengt? Wodurch?« fragte Holt nervös. »Nun … Durch die totale Ausrichtung des einzelnen. Eben durch das, was ich die heute gültigen Normen nenne. Kampf bis zur Selbstaufopferung zum Beispiel, Ehrlosigkeit jeder Kapitulation. Und so weiter.«

»Ohne zwingenden Grund«, sagte Holt herausfordernd, »halte ich Kapitulation allerdings für unehrenhaft.« Er war davon durchaus nicht überzeugt. Hatte nicht Sepp erzählt: Der Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben …?

Der Rechtsanwalt sah Holt mit einem forschenden Blick an, ehe er die Brille abnahm. »Persaepe accidit, ut utilitas cum honestate certet«, sagte er bedächtig. »Sehen wir davon ab, den Ehrbegriff zu erläutern, den Sie da ins Feld führen. Gut, gut … Sie haben recht, ich habe ihn ins Feld geführt. Es genüge vielmehr die Frage, ob Sie sich in der Lage fühlen zu beurteilen, wann denn der ›zwingende Grund‹ gegeben sei. Aber lassen wir das.«

Gilbert müßte hier sein, dachte Holt verärgert, er würde ihm schon erklären, unter welchen Umständen eine Kapitulation gerechtfertigt ist! Das Gespräch war ihm zuwider. Gomulka mischte sich ein. »Entschuldige, Papa. Das Gerede führt zu nichts. Damit ist uns nicht gedient. Solche Spitzfindigkeiten«, sagte er mit erhobener Stimme, »würzen vielleicht ein Tischgespräch, aber sie geben uns keinen Halt.«

»Nein, nein«, entgegnete der Anwalt, »ganz recht, gewiß nicht … Aber es gibt erst recht keinen Halt, wenn man sich über tiefgehende innere Zerwürfnisse hinwegsetzt.«

»Wobei es wahrscheinlich ist«, rief Gomulka geradezu verbittert, »daß sich gewisse Zerwürfnisse, die ich lange mit ansehen mußte, erst recht demoralisierend ausgewirkt haben!«

Der Rechtsanwalt sog an seiner Pfeife. Er furchte die Stirn. Frau Gomulka hob den Blick und sagte kühl: »Ich glaube, im letzten Jahr haben sich ganz andere Dinge demoralisierend auf dich ausgewirkt.« Gomulka war erregt: »Wofür ihr nicht das geringste Verständnis habt!«

Der Rechtsanwalt nahm die Pfeife aus dem Mund. »In entscheidenden Fragen«, sagte er ruhig, wenn auch tadelnd, »hast du deine Eltern niemals anders als einmütig gesehen. Deine Anspielung auf gewisse Zerwürfnisse verdient also äußerst taktlos genannt zu werden, noch dazu in Gegenwart eines Gastes. Est adulescentis maiores natu vereri.« Diese Phrase schien Gomulka noch mehr zu verbittern, denn er rief: »Stultus es … qui facta infecta facere verbis cupias! Laß doch die weisen Sprüche, Papa, dein Latein imponiert mir ja nun weiß Gott nicht!« – »Und was unser angebliches Unverständnis für deine Erlebnisse im Ruhrgebiet anbelangt«, fuhr der Anwalt mit unerschütterlicher Ruhe fort, »so wollen wir mit ihrer Hilfe lediglich deinen Gesichtskreis erweitern. Lassen wir das. Ich habe diese Differenzen vorausgesehen und nehme dir nichts übel. Denn wo anders als zu Hause vermöchtest du auch, deinem jugendlichen Oppositionsdrang ungestraft nachzugehen?«

Holt war diese Szene peinlich. Er sagte, so unbefangen wie möglich: »Bitte erlauben Sie, daß ich mich verabschiede.« Vielleicht hatte er den unglückseligen Streit durch seinen Widerspruch provoziert. »Mein Widerspruch war ungehörig«, sagte er aufrichtig, »und er war falsch. Man verteidigt oft nach außen hin Dinge, die … hier innen drin ganz und gar nicht so klar sind. Vielleicht verteidigt man sie gerade deshalb! Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Danke, es wird schon schiefgehen. Heil Hitler, Herr Doktor.«

Sepp brachte ihn durch den Vorgarten. Er war noch immer aufgeregt. Holt sagte beschwichtigend: »Nimm’s doch nicht so tragisch, Sepp! Ich kenn das! Mit meinem Vater geht mir’s genauso.« – »Aber der Wahnsinn ist ja, daß er recht hat!« rief Gomulka. »Er hat recht, ja! Aber ich kann’s nicht zugeben, nicht so ohne weiteres, ich kann nicht!« – »Schwimm dich frei, Sepp«, sagte Holt, »wir müssen selber durch den Dreck!« … Durch die sieben Höllen, dachte er.

Er ging die Allee entlang. Schluß jetzt mit der Selbstzerfleischung! Ich denk nicht dran, mich selber fertigzumachen! Auf einen imaginären Punkt schauen, dachte er, und vorwärts, marsch!

 

Er schaute bei den Tennisplätzen auf der Parkinsel eine Weile dem Spiel zweier Mädchen zu. Dann wartete er auf der Brücke. Es war schon drei Uhr vorbei. Er lehnte mit dem Rücken am Holzgeländer, in der sengenden Sonne, und warf den Zigarettenrest in das faulige, abgestandene Wasser. »Nun komm schon«, sagte er laut. Er sah immer wieder auf die Uhr und wunderte sich, daß von Mal zu Mal kaum Minuten verstrichen waren. Die Zeit ist aus den Fugen! Er sagte: »Komm!« Aber als sie dann aus der engen Gasse in den Inselweg einbog, erschrak er und stand wie festgenagelt am Geländer. Sie ging langsam über die Brücke, als sehe sie ihn nicht. Erst als er ihren Namen rief, blieb sie stehen.

»Ich wußte ja gar nicht, ob dir’s ernst war«, sagte sie unbefangen und sah aus großen Augen zu ihm auf. »Ich war komisch gestern, nicht? Ich hab erst über alles nachdenken müssen.« – »Ich war komisch«, widersprach er. »Ich hab unmögliches Zeug geredet, da mußte ich dir ja ganz unheimlich werden!« Sie lachten beide; das nahm die letzte Befangenheit. »Gehn wir baden? Wir können auch ein Stück wandern.« – »Wie du willst«, antwortete sie.

Gleich hinter dem Gerichtsgebäude führte ein Feldweg den Berg hinan und mündete in einen breiten und stillen Waldweg. Holt litt unter der Hitze und zog die Mütze durchs Koppel. Auf der Höhe wehte der Wind dann kühlend über sie hin. Holt erzählte, was ihm gerade einfiel, von Wolzows »schlagartiger Aktion« gegen die Hamburger, damals, vor dem Weihnachtsurlaub.

»Der große?« fragte sie. »Ist das dein Freund? Ich glaube, er … hat kein Herz.« Er fragte verblüfft: »Wie meinst du das?« – »Gestern, als sie alle vorbeigingen«, sagte sie, »da hat er mich angeschaut. Er sieht so … gleichgültig aus.« – »Aber er ist ein treuer Freund«, rief Holt, und er rief es gleichsam auch sich selbst zu. Er erzählte weiter und gab sich Mühe, die Situation anschaulich zu schildern, wie Wolzow das Aquarium nach Günsches Bett geworfen hatte … »Das ist schrecklich!« rief Gundel. »Und die Fische?« – »Es waren keine drin«, log Holt, »bloß leere Schneckenhäuser, Steine und so was.« – »Ich glaube, er hätte es auch mit den Fischen hingeworfen«, sagte sie. Holt schwieg. Er sah Wolzow im Biologiezimmer Zickels Zierfische an die schnurrende Katze verfüttern …

Der Wald nahm sie auf. Der Weg war kühl und schattig. In den Wipfeln rauschte das Laub. »Du sagst ja gar nichts mehr.« Er meinte: »Ich überleg. Hab ich auch kein Herz?« – »Du mußt nicht gekränkt sein«, sagte sie. »Ich wollte deinen Freund nicht beleidigen.« Er fand sie eigenartig, ganz anders als die Mädchen, die er kannte. »Die anderen«, begann er vorsichtig, »haben gesagt, du sonderst dich ab … du weichst allen aus … Aber warum hast du mich dann gestern nicht weggeschickt?«

»Ich weich allen aus«, wiederholte sie, »ja, das stimmt. Die einen wissen nichts und reden immerfort von Zusammennehmen. Das ertrag ich nicht. Die anderen wissen nur die Hälfte und haben Mitleid, oder sie heucheln. Mitleid mag ich nicht. Überhaupt … ich paß nicht zu denen.« – »Und ich?« fragte er. »Bei dir«, sagte sie nachdenklich, »hatte ich das Gefühl, du … könntest wirklich mich meinen.« – »Das versteh ich nicht«, entgegnete er. – »Ich weiß schon, was ich sagen will. Ich kann es bloß nicht richtig ausdrücken … Außerdem könnte es ja sein, daß du mich brauchst.« In einer impulsiven Regung streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zur Seite, bis an den Rand des Weges, doch dann folgte sie ihm durch das kniehohe Farnkraut zum Waldrand, wo die Sonne auf Brombeerhecken lastete. Der gelbe Roggen neigte sich schwer im Wind. Jenseits des Talgrundes auf dem Hügelrücken ragte der Rabenfelsen in den Himmel. »Setz dich«, sagte er, »der Boden ist trocken, es gibt auch keine Ameisen hier.«

Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras und zupfte einen Faden aus dem Rocksaum. Holt legte sich lang auf den Boden und verschränkte die Hände unter dem Kopf. »Erzähl mir was.« Er sah, daß sie überlegte. »Du hast keine Eltern mehr? Erzähl mir von deinen Eltern.« Sie zögerte und sah zu dem schwarzen Basaltfelsen hin. »Von meinem Vater weiß ich nichts«, sagte sie schließlich. »Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Ich war erst vier Jahre alt, als er verhaftet wurde.«

Verhaftet? Sie kann kein … Verbrecherkind sein … Hätte ich bloß nicht gefragt! dachte er müde … Sie beobachtete ihn.

»Es war im Februar 1933«, erzählte sie. »Er ist nie wiedergekommen, aber er hat noch lange gelebt, in einem Lager. Ich war schon elf Jahre alt, als die Todesnachricht kam, am 3. August 1940. Meine Mutter hat nie von meinem Vater gesprochen. Aber als der Brief kam, da war sie weiß wie die Wand. Ich hör noch jedes Wort. Sie hat gesagt: ›Ich hab geschwiegen, weil ich gedacht hab, ich kann ihm helfen, daß er zurückkommt … Aber jetzt‹, hat sie gesagt, ›jetzt kann ich nicht mehr schweigen.‹ Ich hab das nicht verstanden. Ein paar Tage später ist sie abends zu mir ans Bett gekommen. Sie hat gesagt: ›Sie haben deinen Vater bespuckt, sie werden auch deine Mutter bespucken, aber du darfst niemals glauben, was sie von uns behaupten.‹«

Gundel flüsterte nur noch. »Von diesem Tag an war alles durcheinander. Ich hab oft gehört, wie meine Mutter nachts fortgegangen ist, wir hatten ja nur Stube und Küche. Im Dezember, am 9. Dezember, als ich aus der Schule kam, da war die Polizei da. Sie haben mich gefragt und gefragt, und nachher hat mich eine Frau mitgenommen und hat mich geschlagen, ich soll sagen, was ich weiß. Ich wußte nichts. Dann bin ich in ein Heim für verwahrloste Jugendliche gebracht worden. Im Frühjahr haben sie meine Mutter sechsmal zum Tode verurteilt und gleich hingerichtet.« Sie schwieg. »Nun weißt du’s. Ich bin auch schon angespuckt worden. Im Heim, da waren Mädchen, die gestohlen hatten und noch viel schlimmeres, aber die waren alle besser als ich. Und alle haben auf mich geschrien: ›Dreckstück‹ …« Ihr Gesicht war verschlossen. »Geh! Lauf ruhig weg! Ich brauch keinen.« Er lag unbeweglich und starrte in den Sommerhimmel, bis die Augen schmerzten. »Sprich zu niemandem darüber!« sagte er endlich. »Daß nur dir nichts geschieht.«

Ihr Gesicht wurde weich. Er sagte leise: »Ich weiß nicht, wielang der Krieg noch dauert. Ich weiß nicht, was los ist in der Welt und was aus mir wird. Manchmal denk ich, das ist alles nur ein böser Traum. Wenn ich heimkomm aus dem Krieg, dann mußt du noch da sein. Ich weiß sonst nicht, wo ich hingehen soll.« Sie sagte: »Wirst du mich auch nicht gleich wieder vergessen?« Er riß einen Getreidehalm ab und warf ihn ins Feld zurück. »Nein.« Auf einmal lachte sie. »Ich glaube, jetzt kann ich dir auch sagen, was ich gedacht hab, vorgestern, auf der Straße.« Sie blinzelte in die Sonne, die schon dicht über dem Rabenfelsen stand. »Ich hab gedacht: Der müßte mein Bruder sein.« – »Dein Bruder?« Holt war verwirrt, und sie fragte auch noch: »Möchtest du nicht mein Bruder sein?«

Er richtete sich auf. Aber nun sah er nicht nur das Gesicht mit den großen Augen und dem kindlichen Mund, sondern auch die nackten braunen Arme, die junge Brust, die das knappe Kleid schlecht verbarg, die winzigen Füße mit den Holzsandalen, die unter dem ausgebreiteten Kleidersaum hervorsahen. »Nein. Nicht dein Bruder«, sagte er und sprang auf. »Komm. Es wird bald Abend.« Er hielt ihr die Hände hin und half ihr aufzustehen, einen Augenblick standen sie unbeweglich voreinander, dann riß sie sich los. Er folgte ihr, sie gingen durch den Wald stadtwärts.

Es dämmerte. Zwischen den Bäumen herrschte ein durchsichtiges Halbdunkel. Der Pfad teilte sich. Holt wählte den längeren Weg. Eine Bank stand zwischen den Sträuchern, er zog Gundel neben sich auf den Sitz und faßte ihre Hände. Dann hob er sie auf seinen Schoß. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Er legte den linken Arm um sie und strich ihr mit der Rechten das Haar aus der Stirn. Etwas wie Mitleid überkam ihn, er sagte: »Du bist noch so jung!« Sie antwortete mit geschlossenen Augen: »Du doch auch!« Er küßte sie, nur flüchtig. »Nicht doch«, sagte er, »du mußt den Mund nicht so fest zumachen! Die Lippen nur ganz leis aufeinanderlegen …« Sie begann plötzlich zu lachen: »Probier’s noch mal!« Er küßte sie wieder, sie hatte begriffen. »War’s jetzt richtig?« fragte sie. Er antwortete: »Das darfst du mich doch nicht fragen, du dummes Kind, wenn dir’s gefällt, dann war’s richtig.« Sie hob ihm schon wieder die Lippen entgegen, sie fand Gefallen daran. Er zog sie fester an sich. Sehr behutsam, um sie nicht zu erschrecken, legte er die Hand auf ihre Brust. Sie wollte etwas sagen, aber er drückte ihr Gesicht fest an sich, dann öffnete er ihr das Kleid bis hinab zum Gürtel, sie trug darunter nur den Badeanzug. Er fühlte ihre warme Haut, er streifte den Träger des Badeanzugs über die Schulter und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über die Wölbung ihrer Brust. Sie seufzte: »Ich hab Angst.« Aber sie legte den nackten und kühlen Arm um seinen Hals.

Er kam zu sich und erschrak so sehr, daß er sie fast von sich stieß. »Was ist?« fragte sie. Er zog sie ganz sacht wieder zu sich heran, er sprach, den Mund in ihrem Haar: »Nichts. Du gefällst mir. Du bist wie … eine Elfe.« Sie sagte unvermittelt: »Du hast recht.«

»Womit hab ich recht?«

»Daß du nicht mein Bruder sein willst.«

Das überwältigte ihn. »Wenn der Krieg vorbei ist«, sagte er, »dann komm ich und hol dich. Wenn du mich nur bis dahin nicht vergessen hast!« – »Ich dich vergessen!« rief sie. Er erhob sich und trug sie ein paar Schritte weit, und während er sie auf den Weg stellte, lag sie eine Sekunde lang an seiner Brust wie das kleine Mädchen mit den roten Schuhen. Er preßte sie hilflos an sich und barg das Gesicht in ihrem Haar.

 

Er ging langsam durch die winkligen Gassen. Wolzow war noch nicht zu Hause. Holt saß lange am offenen Fenster. Er konnte durch die Sommernacht bis hinab zum Fluß sehen.

Nach Mitternacht polterte Wolzow ins Zimmer, staubig und verschwitzt. »Das war ein Gewaltmarsch!« Er warf ein schweres Bündel auf den Tisch: »Unsere Schießeisen!« Das Leder der Taschen war feucht und verschimmelt. Holt hielt den belgischen Browning in der Hand, ein paar Rostflecke auf dem dunklen Stahl ließen sich abreiben. Sie rauchten Zigarren und putzten die Waffen. Wolzow war merkwürdig wortkarg. »Was hast du?« fragte Holt. »Ich? Nichts«, antwortete Wolzow. Er zog den Schlitten der Walther-Pistole zurück und ließ eine Patrone in den Lauf schnappen, zielte auf das ausgestopfte Rebhuhn und drückte ab. Der Schuß krachte in dem engen Zimmer wie eine Kanone, der Pulverdampf wehte zum offenen Fenster hinaus. Wolzow warf die Pistole auf den Tisch. Im Haus wurde es lebendig. Von unten rief jemand: »Was ist … Um Gottes willen!« Wolzow sprang zur Tür und brüllte: »Ruhe! Sonst kracht’s noch mal!« Dann saß er wieder auf dem Bett. »Und du?« fragte er übellaunig. »Warst du bei der Kleinen? Spinnt sie denn nun wirklich? Sogenannte traumatische Neurosen sind das, gibt es im Krieg häufig, ›Kriegsneurosen‹, das sind bloß abnorme Reaktionen, gab’s auch schon früher, ich glaube, ich habe schon bei Altgeld in ›Sanitätsdienst im Felde‹ drüber gelesen. Meistens ist es nur Simulation … Was denkst du, wie die das während des Weltkrieges in den Lazaretten des 16. Armeekorps gemacht haben? Da haben sie den Kriegsneurosen Gewaltexerzieren verordnet, dreimal täglich vier Stunden, du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholfen hat! In acht Tagen waren schwere Fälle von Schüttlern und Verkrümmten wieder fronteinsatzfähig …«

Als Holt auf seinem Feldbett lag und einschlief, sah er Wolzow wieder über den schwarzen, in Wachstuch gebundenen Heften sitzen und lesen, mit finsterem und verschlossenem Gesicht.

Am anderen Morgen gegen elf erwachte Holt durch ein Klopfen an der Tür. »Runterkommen, die Post ist da!«

Die Briefträgerin ließ sie beide unterschreiben. Holt sah den Umschlag. Er las nur den Stempel: »Frei durch Ablösung Reich«. In einem Schwindelgefühl lehnte er sich gegen den Türpfosten.

Wolzow riß den Umschlag auf und las laut vor: »Sie haben sich … Mensch, das war vorgestern! … bei der RAD-Abteilung 2/461 …« Sie gingen wieder die Treppe hoch. Wolzow bürstete seine Uniform. Die Briefe waren von Gelsenkirchen an die Batterie und von dort an Wolzows Adresse nachgeschickt worden. Wolzow befahl: »Du holst den Sepp!« Aber Holt lief die Gasse hinab.

 

Er fand das Haus wieder, riß die Tür auf und stieg die Treppe hoch. Es war dunkel hier, die Luft roch muffig. Hinter dem ersten Treppenabsatz kniete Gundel und scheuerte die hölzernen Stufen. Als sie ihn hörte, wandte sie den Kopf. Ihr Gesicht leuchtete auf. Sie war barfuß und trug eine graue Kleiderschürze. Verwirrt strich sie sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich muß fort!« sagte er. »Ich muß dich noch mal sprechen.« – »Du mußt fort?« fragte sie fassungslos. »Schon heute?« Oben schlug eine Tür. Eine Frauenstimme rief: »Gundel! Mit wem schwatzt du?« Holt sah, wie Gundel erschrak, warnend den Finger auf die Lippen legte und hastig weiterarbeitete. Eine große, derbe Frau mit wirrem Haar stand auf der Treppe und lehnte sich schimpfend über das Geländer. Als sie Holt sah, rief sie erschrocken: »Guten Tag … was wollen Sie?«

»Heil Hitler!« schrie Holt. Warte, dir werd ich! dachte er, während er die Hacken zusammenknallte. »Heil Hitler heißt das, nicht guten Tag, wo gibt’s denn so was!« Das Gesicht der Frau lief rot an. »Das brauchen Sie mir …« – »Offenbar doch!« schrie Holt, von einer grimmigen Freude erfaßt, und er versuchte, Hauptmann Kutschera nachzuahmen: »Mal herhörn! Ein Benehmen wie die Banditen!« Die Frau schielte argwöhnisch nach oben, wo geräuschvoll eine Tür aufgerissen wurde, und sagte: »Aber machen Sie doch kein …« Benagelte Sohlen polterten die Treppe herab, ein Mann beugte sich über das Treppengeländer, ein vierschrötiger Kerl mit grauem Sturzbärtchen und Glatze; er trug schwarze Reithosen und Stiefel, und das Netzhemd ließ die behaarte Brust sehen. »Was is’n hier los?« fragte er.

Durchhalten! Jetzt ist schon alles egal! Holt bellte: »Was hier los ist? Die Frau da empfängt einen, daß man denkt, man ist in der Pollackei! An den Baum binden und auspeitschen!« Das saß. Der Kerl sagte drohend: »Haste wieder dein ungewaschnes Maul … Los, du, verschwinde!« Und zu Holt: »Nu sei mal friedlich, Kamrad … Was willste denn?« Jetzt fort! dachte Holt, planmäßig absetzen! »Ich will die Eltern eines gefallenen Kameraden besuchen«, sagte er. »Nadler, das muß hier wo sein.« – »Nadler?« wiederholte der Kerl auf der Treppe und überlegte. »Da biste aber schief gewickelt, da biste falsch, aber komm erst mal hoch.« Holt zögerte. Die Neugier ließ ihn die Treppe hinaufsteigen.

In einer großen Wohnküche lungerten fünf Kinder herum, ein sechstes lag in einem Korb am Fenster. Der Kerl zog sich einen schwarzen SS-Rock über und sagte zu den Kindern: »Hagen, Wulf, haut ab … Raus, Annegret, nimm die Kleinen mit, dalli!« Dann ließ er sich auf das Sofa fallen: »Nimm Platz!« Holt studierte die Rangabzeichen. Es wurde Zeit zu verschwinden. »Ich bitte um Entschuldigung, Unterscharführer, ich konnte natürlich nicht wissen …«

»Nu setz dich erst mal«, sagte der Kerl. »Is schon gut, hast ja recht, dieses Weibszeug spurt nicht, was hab ich nicht schon versucht! Erzähl mal, wo kommst’n her?« – »Gelsenkirchen«, sagte Holt einsilbig. »Ja richtig! Die Jungs von hier sin ja alle dort unten … Und wie sieht’s dort nu aus?« – »Wie soll’s denn aussehen«, sagte Holt. »Es wird gearbeitet, trotz der Bomben, die Leute sind zähe.« – »Na also«, meinte der Kerl befriedigt. »Hier gibt’s Gerüchte, du ahnst es nicht … von Demoralisation un so … Unser Mädel spielt sich wer weiß wie auf, bloß weil sie in Schweinfurt was aufs Dach gekriegt hat … Hab ich längst durchschaut … von der Arbeit drücken will sich das Aas! Du mußt’s ja nu wirklich wissen.« Holt erhob sich. »Ich hab heut die Einberufung zum RAD bekommen, irgendwo im Protektorat muß das sein, nach der Slowakei hin.«

»Slowakei? Feine Ecke haste da erwischt!« Der Kerl nickte freundlich mit dem kahlen Schädel. »Die dort unten sin ganz schön frech … Zugüberfälle, Brückensprengungen un so, immer freiweg, wern immer frecher, un die Russen setzen nachts welche mit’m Fallschirm ab … Na, unsre gehn da jetzt aber ran, die wern hingemacht, das geht eins fix drei.« – »Vorher muß ich noch aufs Meldeamt, wegen der Adresse«, sagte Holt, »ich hab nur noch ganz wenig Zeit …« – »Hals- und Beinbruch«, sagte der Kerl und führte Holt zur Küchentür, »halt die Ohren steif! – Hagen«, schrie er, »Wulfi, Annegret, Heidrun, könnt wieder reinkomm!«

Holt lief die Treppe hinab. Im Vorbeigehen drückte er Gundels Hand. »Nach drei … wieder an der Brücke, ja?« Sie nickte. Holt stand vor dem Haus, erschüttert, verstört. Auf dem Wege zu Gomulkas dachte er: Sie muß dort raus!

 

Bei Gomulkas öffnete niemand. Aus der Wohnung dröhnte Radiomusik bis auf die Straße. Holt klingelte und klopfte, nichts rührte sich. Er lief durch den Garten. Die Verandatür stand offen. Holt trat ins Haus. »Sepp!« Er trat in die Diele. Das Radio dröhnte so laut, daß eine Vase auf dem Fensterbrett klirrte. Auf einmal verstummte die Musik. In der Stille hörte Holt durch die angelehnte Speisezimmertür Gomulkas Stimme, in einer fremden Sprache, langsam und betont. Nun die Stimme des Rechtsanwaltes: »Das Kroatische macht dir die meisten Schwierigkeiten, du mußt es jeden Abend in Gedanken wiederholen! Jetzt noch einmal auf russisch!« Komisch, dachte Holt, wirklich komisch! Wieder hörte er Gomulkas Stimme fremdartige, konsonantenreiche Worte formen …

»Sepp!« rief Holt. In diesem Augenblick setzte wieder das Radio ein. Frau Gomulka erschien in der Tür. »Entschuldigen Sie vielmals, ich habe geklingelt, geklopft, gerufen …« Sie führte ihn unbefangen ins Speisezimmer. »Wir haben Sie erwartet. Was meinen Sie, wann Sie reisen müssen?« – »Heute noch«, sagte Holt. »Komm mit, Sepp, zu Wolzow!« Gomulka ging, sich anzukleiden. Holt hockte trübselig auf einem Stuhl. Sie muß raus dort, dachte er. »Herr Doktor«, sagte er in plötzlichem Entschluß, »dürfte ich Sie wohl um … eine Unterredung bitten?«

Der Anwalt wechselte einen Blick mit seiner Frau. »Aber gern!« Er führte Holt in sein Arbeitszimmer. An den Wänden standen Regale mit Hunderten von Büchern. Holt, in einem Klubsessel, wurde ein unbehagliches Gefühl nicht los. Worauf laß ich mich da bloß wieder ein?

»Es ist … wegen gestern«, begann er stockend. »Ich bin mir darüber im klaren … Ich will sagen, man kann sich so furchtbar täuschen, aber bei Ihnen glaube ich …« – »Aber ich bitte Sie!« unterbrach ihn der Anwalt. »Der kleine Streit ist doch nicht der Rede wert … Uns muß es peinlich sein, nicht Ihnen! Zwischen den Vätern und den Söhnen gibt es gelegentlich Differenzen, das hat doch nichts zu bedeuten.« Er erhob sich. »Sie verstehen mich falsch«, sagte Holt schnell. »Ich wollte nur erklären, warum ich gerade zu Ihnen … warum ich mich gerade an Sie … es ist eine … Vertrauensfrage.«

Doktor Gomulka setzte sich wieder. »Immer frisch von der Leber weg! Reden Sie ohne Hemmungen! Sie wissen, ich bin in der Partei, Sie brauchen also keinerlei diesbezügliche Scheu zu haben. Andererseits … ich versichere Sie, daß ich Ihnen zuhören werde, als wären Sie mein leiblicher Sohn.«

»Ich habe eine Freundin hier«, sagte Holt, und er schaute auf den Anwalt, denn er fürchtete insgeheim, ausgelacht zu werden. »Es ist ein sehr junges Mädchen. Sie heißt Gundel Thieß.«

»Thieß, Thieß?« wiederholte der Anwalt. »Warten Sie. Ich entsinne mich. Das braucht Sie gar nicht zu wundern, ich kenne so gut wie jeden hier. Thieß … Ja, da war ein Vorgang, eine Vormundschaftssache …« – »Das könnte stimmen«, sagte Holt eifrig, »denn sie hat keine Eltern mehr …« – »Ich erinnere mich jetzt genau. Sie hat beide Eltern durch … recht unglückliche Umstände verloren. Vor einiger Zeit wurde die Vormundschaft neu verfügt. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich war heut dort, wo sie im Pflichtjahr ist«, sagte Holt langsam. Der Anwalt unterbrach ihn abermals. »Sind Sie über die … Ereignisse informiert, die den Tod ihrer Eltern zur Folge hatten? Ja? Dann erlauben Sie mir zunächst die Frage, ob Sie sich nicht veranlaßt sehen, die Verbindung zu dem Mädchen zu lösen.«

»Wenn Sie das von mir erwarten«, sagte Holt heiser, und er war enttäuscht, »dann …« – »Nichts, gar nichts erwarte ich«, entgegnete der Anwalt ruhig. »Ich frage nur. Sie sehen sich also nicht veranlaßt. Gut. Es paßt zu dem Bilde, das Sepp von Ihnen zeichnete. Nun weiter. Bitte.«

»Ich war heut dort. Sie können sich das Milieu kaum vorstellen, und die Menschen …« – »Ich kann es mir vorstellen«, sagte der Anwalt. »Ich kenne den Herrn. Er ist in einer bestimmten Abteilung der Gefangenen-Anstalt beschäftigt. Er genießt auch sonst den Ruf, ein … beispielhafter Nationalsozialist zu sein. Überdies ist er der Vormund des Mädchens. Gewisse Bestrebungen, dies zu verhindern, waren nach Lage der Dinge zum Scheitern verurteilt.«

»Kann man sie dort nicht wegholen?« fragte Holt. »Kann man ihr nicht helfen?«

Der Anwalt antwortete unumwunden: »Nein. Jura noscit curia. Glauben Sie mir, da ist keine Möglichkeit, überhaupt keine, vorerst nicht. Es gibt viele solcher oder ähnlicher Fälle«, sagte er und blickte zur holzgetäfelten Decke. »Es gibt weitaus schlimmere. Sie können sich nur in das Heer der Wartenden einreihen.«

»Warten«, sagte Holt, »worauf?«

Der Anwalt strich sich durch das schüttere Haar. »Credo rem integram restitutum iri«, flüsterte er. Dann lächelte er schwach und sagte: »Daß der Märchenprinz unser verwunschenes Kind bald befreie!«

Sepp riß die Tür auf. Holt erhob sich. »Ich danke vielmals, Herr Doktor.« Der Anwalt sagte: »Sie sollen sich nicht sorgen, lieber Werner Holt. Das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben.« Er begleitete die beiden Jungen bis an die Gartentür.

Holt grübelte. Manches Wort des Anwalts blieb unklar. Er sagte zu Gomulka: »Ich finde deinen Vater großartig, Sepp!« Gomulka erwiderte nachdenklich: »Ja … Ich versteh mich ja auch mit ihm. Nur manchmal … da ist es mir zu einfach, was er sagt. Es ist in Wirklichkeit viel komplizierter.«

 

Wolzow saß inmitten der Unordnung seines Zimmers und las in den schwarzen Heften. Sein Rucksack stand gepackt an der Tür. Er sagte: »Wir fahren achtzehn Uhr, über Prag. Das Nest liegt an der slowakischen Grenze. Vielleicht werden wir gegen Partisanen eingesetzt. Ich hab mit Essen telefoniert, Gottesknecht läßt euch grüßen. Schau nicht so dumm, Sepp, hau ab! Punkt vier treffen wir uns im Café am Markt.«

Als Gomulka gegangen war, sagte Holt: »Da hat unser Urlaub ein verdammt schnelles Ende gefunden.« Wolzow rauchte und las schweigend weiter. »Diese Tagebücher«, sagte Holt, »hätten mich ja auch mal interessiert. Da müssen doch tolle Sachen drinstehen, nicht?« Wolzow legte den Kopf auf die Seite. »Wie meinst du das?« fragte er. »Was soll das heißen?«

Holt blickte verwundert auf. »Na … nichts! Ich mein bloß so! Dein Vater war Oberst, das muß doch interessant sein, was er da schreibt!« Er schob den Rucksack zur Tür. »Gib mir eine Zigarre. Danke.« Er rauchte. »Ich wollte mich über viele Dinge mit dir unterhalten. Zum Beispiel … dieses Attentat. Ich versteh das noch immer nicht.«

Wolzow sprang auf und starrte Holt ins Gesicht, aber dann bückte er sich und holte unter dem Holztisch eine Rotweinflasche hervor. »Jetzt hör mal zu«, sagte er, während er zwei Gläser füllte. »Jetzt werd ich dir mal was sagen.« Er rief: »Ein Wolzow verabscheut diese Verräter! Ein Wolzow hält seinem Kriegsherrn die Treue! … Mein Onkel ist seit 1930 in der Partei, und wir sind seit 1742 Offiziere, und da hat noch keiner seinen Treueid gebrochen!« Er hielt den Packen der Tagebücher in der Hand. Nun warf er ihn auf den Tisch, daß die Weingläser überschwappten. »Ein Wolzow steht zum Führer«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf die schwarzen Hefte, »und zeigt, was soldatische Haltung ist! Jetzt beginnt für uns ein neuer Abschnitt, jetzt wird es ernst! Geb’s Gott, daß der Krieg noch zwei Jahre dauert, dann sollst du erleben, was ein deutscher Offizier ist.«

Er weiß, was er will, dachte Holt, wenn er auch Wolzows Erregung nicht recht verstand. Alles oder nichts, die Halben soll der Teufel holen! Sie tranken. »Auf gute Kameradschaft!« rief Wolzow. Er hielt Holt die Parabellum hin. »Zeig sie nicht rum, bis wir mal im Einsatz sind.«

Holt sah auf die Uhr. Er nahm einen Zettel und schrieb die Adresse seines Vaters auf. Er bat Wolzow: »Nimm meinen Rucksack mit, ich komm später.« Er lief durch die Straßen zur Parkinsel.

 

Holt wartete länger als eine halbe Stunde.

»Ich muß auf die Kinder aufpassen«, sagte Gundel, atemlos vom schnellen Lauf. »Ich hab nur zehn Minuten Zeit …« Er zog sie über die Brücke in die Anlagen und redete auf sie ein. »Denk an alles, was ich dir gesagt hab: ich komm wieder! Ich schreib dir postlagernd, geh ab und zu fragen. Schreib mir, sooft du kannst, ja? Und hier … die Adresse meines Vaters.« Sie las den Zettel. »Doktor Richard Holt?« – »Er ist Professor. Aber jetzt hat er eine ganz armselige Stellung, weil er … Ich hab so gut wie keine Verbindung zu ihm. Aber wenn du je im Leben hinkommen solltest, sag, daß wir uns kennen. Du kannst ihm alles erzählen, da wird er dir bestimmt helfen.« Er nahm ihre Hand, eine rissige, verarbeitete Kinderhand. »Leb wohl, Gundel!« Sie sagte: »Komm wieder, Werner … Und werd nicht so … so, wie du heute morgen warst!« – »Ich hab doch Theater gespielt!« rief er. »Ich hab meinen Hauptmann nachgeahmt!« – »Ich weiß«, sagte sie. »Aber etwas davon ist auch in dir.« Er fühlte den Druck ihrer Hand. Sie wandte sich ab. Er rief sie noch einmal zurück, zog das Kästchen aus der Brusttasche und legte Utas Kreuz mit dem Kettchen in ihre Hände. »Ich hab’s vor einem Jahr geschenkt bekommen, von einem Mädchen, das vielleicht gar nicht mehr lebt …«

Sie schaute lange auf das rote Gold und flüsterte die Jahreszahl: »Sechzehnhundertzweiundneunzig …«

»Lies, was da steht«, bat er. Sie buchstabierte die verschnörkelte winzige Gravierung. Dann lief sie davon.

Er ging durch die Anlage und schaute über den Fluß.

 

Im Café saßen Wolzow und Gomulka zwischen den Mädchen. Auch Wurm war dabei. Wolzow führte große Reden, er war angetrunken. Gomulkas Gesicht war gerötet. Wolzow rief: »Die Olle rückt nur Bier raus! … Da hat Stammführer Wurm eine Pulle von daheim geholt! Bist eben doch ein guter Kerl, was?« Er schlug ihm kräftig auf die Schulter. Man drückte Holt ein Glas in die Hand. Jemand rief: »Trinkspruch!« Wolzow sprang auf und brüllte, daß die Adern auf seiner Stirn schwollen: »Schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s ans Sterben, ich bin dabei!« – »Wir müssen zur Bahn«, mahnte Gomulka. Ein Bierglas fiel vom Tisch und zerbrach. Holt warf den Rucksack über die Schulter. Der Stahlhelm klirrte gegen einen Stuhl. Auf einen imaginären Punkt schauen, dort, über der Tür, und: vorwärts, marsch!

Im Zug holte Wolzow eine Karte aus dem Rucksack. »Mal die Örtlichkeit studieren. Miese Gegend! Berge, Wälder, tief eingeschnittene Schluchten. Günstig für Kleinkrieg! Gut, daß ich das klassische Infanteriewerk von Boguslawski mitgenommen hab!«