5
Heftiges Stoßen und Schaukeln löste unerträgliche Schmerzen aus. Holt stöhnte. Er drehte den Kopf zur Seite. »Lieg still!« sagte Wolzow barsch. »Dir haben sie wahrscheinlich etliche Rippen eingeschlagen.« Holt lag auf einem Lastwagen. Neben ihm röchelte jemand. Er schloß wieder die Augen. Sein Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Er wußte nicht, was geschehen war. »Wo ist Sepp?« fragte er schwach. – »Auch hier. Hat einen Schuß im Arm. Mir ist einer durch die Wade gegangen. Durch die Hand ein Bajonettstich. Lieg still, wer weiß, was bei dir alles kaputt ist!« Holt wälzte sich auf die schmerzende Seite. So lag er besser. Das Röcheln neben ihm war grauenhaft.
Der Wagen erreichte bald einen Verbandplatz. Dort nahm man die Verwundeten nicht an. Auch der Hauptverbandplatz wollte nichts von ihnen wissen und schickte sie fort. Der Wagen fuhr weiter, immer weiter. Das Röcheln neben Holt verstummte. Erst tief in der Nacht erreichten sie eine Stadt. Dort wurden sie ausgeladen.
Holt wurde am Morgen geröntgt. »Schreiben Sie: Röntgenaufnahme linkes Schultergelenk. Das Acromion zeigt eine Infraktionslinie ohne irgendeine Dislokation …« Und weiter: »Röntgenbefund Thorax. Zwerchfelle glatt konturiert, Herz normal konfiguriert, Fraktur dritte, vierte und fünfte Rippe im Bereich der hinteren Axillarlinie ohne nennenswerte Dislokation …« Er wurde hinausgefahren und fand sich in einem Bett wieder, in einem richtigen, weißbezogenen Bett. Das Zimmer war klein. Eins der drei Betten war leer, in dem anderen lag ein hohlwangiger, älterer Mann. Man sah durch das geöffnete Fenster in den Garten.
»Das ist hier schon Protektorat, Kumpel«, sagte der Mann, »hier kannst du ganz ruhig schlafen!« Holt war stark benommen. Am Abend stand eine junge Schwester in heller Tracht an seinem Bett und fragte: »Wie alt sind Sie?« – »Bald achtzehn.« – »Also siebzehn!« rief sie teilnahmsvoll. »Haben Sie Schmerzen?« Er drehte den Kopf zur Seite und sah hinaus in den dunklen Abendhimmel.
Später kam sie abermals und gab ihm eine Injektion in den Unterarm. »Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus!« – »Wie heißen Sie?« flüsterte Holt. – »Schwester Regine. Aber jetzt wird geschlafen!«
Am anderen Morgen, nach der flüchtigen Arztvisite, humpelte Wolzow durch die Tür, guter Laune wie lange nicht mehr. Er hatte die Hose über das Nachthemd gezogen, das linke Hosenbein war abgeschnitten. »Wie geht’s, alter Krieger?« Er setzte sich zu Holt aufs Bett. »Bei mir ist alles wie geölt durch die Glieder gerutscht, saubere Fleischwunden, der Himmel verläßt die alten Krieger nicht! Der Chefarzt wollte mich gar nicht hierbehalten, ich sollte ins Garnisonsrevier, da hab ich eben ein bißchen simulieren müssen!«
»Simulieren?« rief der Mann in der Ecke und richtete sich auf. Er war schrecklich abgemagert. »Und er hat’s nicht gemerkt? Ich denke, die Ärzte merken es immer, wenn einer simuliert?«
»Ach wo«, sagte Wolzow. »Ich weiß Bescheid, die Frage ist ausführlich untersucht worden, schon im Weltkrieg und noch früher, steht alles in Peltzers ›Kriegslazarett-Studien‹, glaub ich, oder in Frölichs ›Militärmedizin‹, ist ja egal. Ich hab gesagt, ich könnte mich nicht erinnern, wie das alles passiert wär, ich hätte plötzlich dagelegen und immerfort gebrochen, auch auf der Fahrt hätt ich noch alles vollgekotzt, und so benommen wär mir, und dann hätt ich fürchterliche Kopfschmerzen, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll: ein bißchen hätten sie schon nachgelassen, die Kopfschmerzen! Da hat er natürlich die Diagnose auf schwere Gehirnerschütterung stellen müssen, mindestens einundzwanzig Tage Bettruhe, was blieb ihm denn anderes übrig?«
Holt mußte lachen, aber das Lachen schmerzte in der Brust. »Wenn er dich hier erwischt!« Wolzow schüttelte den Kopf. »Sind ja bloß zwei Ärzte hier, die operieren jetzt. Der Chef operiert für sein Leben gern; wenn es was zu operieren gibt, dann nimmt er jeden auf! Das ist doch kein Lazarett hier, das ist ein ganz gemütliches Kreisspital.«
Schwester Regine trat ins Zimmer. »Wolzow«, schalt sie. »Durch das Haus laufen, das gibt es nicht! Sofort ins Bett!« – »Schwester«, sagte Wolzow, »wir sind ganz alte Schulfreunde, ich kriech dort in das freie Bett!« Sie zögerte einen Augenblick, dann lächelte sie. »Schön. Da machen wir eben eine Kinderstation auf.« Wolzow empörte sich: »Kinderstation! Von wegen …« Sie befahl: »Sofort hinlegen!« Sie gab Holt eine Tablette. »Gegen die Schmerzen.«
»Wie hab ich das gemacht?« fragte Wolzow. Der Hohlwangige in der Ecke aber sagte aufgeregt: »Hör mal, Kumpel, also weißte denn noch mehr solche Sachen, die was die Ärzte nicht rauskriegen?« Wolzow war zurückhaltend. »Da müßte ich erst mal wissen, wie alt du bist und bei was für einem Haufen.« – »Landsturm«, sagte der Mann, »bis dreiundvierzig war ich g. v. H., dann haben sie mich bedingt k. v. geschrieben. Ich war in Prag bei der Korpskommandantur, da sollte ich auf einem Gut in der Slowakei ein Schwein abholen, ein gemästetes, für den Korpsintendanten, die Sau, die hab ich mit’m Opel-Blitz geholt, da haben sie mich zusammengeschossen, auf der Straße, grad als das dort losging. Das Schwein war auch hin. Hier ist es wie im Himmel, Kumpel! Es war ein glatter Lungenschuß, aber in drei Tagen werd ich entlassen, das ist furchtbar, denn der Korpsintendant soll so getobt haben, weil das Schwein hin gewesen ist, daß er mich wird an die Front schicken lassen. Ich heiße August Meier, bin dreiundfünfzig Jahre alt, evangelisch, verheiratet und hab vier Kinder. In der Partei bin ich aber nicht, weil ich früher Sozi war.«
»August Meier!« sagte Wolzow und lachte laut. »Ausgerechnet August Meier, da ist deinen Eltern wohl nichts Gescheiteres eingefallen, was? Also, alter Sozi oder was du da warst, Stahlhelm, Volkspartei, war ja alles dasselbe, wenn du vierzig wärst, dann wüßte ich ja nichts, da würde ich dich an die Front jagen, aber mit dreiundfünfzig und vier Kindern, da will ich mal nicht so sein, da werd ich dir eine Blinddarmentzündung verpassen! Den Blinddarm hast du doch noch? Gut. Du mußt nach der Operation die Sache schön in die Länge ziehn, da kann man die Wunde eitern lassen und so, ich erklär dir das alles. Du hebst dir sofort alle Butter auf, du brauchst mindestens ein Viertelpfund …« – »Hab ich«, sagte Meier, »sogar mehr, ich schick sie immer nach Hause.« – »Da kannst du ja schon heute nacht operiert werden! Paß auf! Du bekommst plötzlich Leibschmerzen, aber gräßliche! Du stöhnst und verziehst das Gesicht, so sehr du kannst, du hast ganz furchtbare Bauchschmerzen, und sie haben wie der Blitz aus heitrem Himmel angefangen …«
»Aber wenn das so sehr weh tut«, sagte Meier mit verzerrtem Gesicht, »dann ist es vielleicht nicht das richtige …« – »Du bist dämlich!« rief Wolzow, »Mensch, es tut ja gar nicht weh, du tust doch bloß so, als ob es weh tut!« – »Ja, richtig!« sagte Meier. Wolzow fuhr fort: »Grad wolltest du sehn, wie spät es ist, ob es schon Zeit zum Schlafen ist, da war es dreiviertel neun oder so, das wirkt immer sehr überzeugend, wenn man die Uhrzeit noch weiß. Und der ganze Bauch tut dir weh, nicht bloß rechts, vor allem in der Mitte, so unterm Nabel …«
Holt lag unbeweglich. Die Erinnerung kehrte zurück. Die letzte Wache im Dorf. Der Kampf um die Schule. Die Slowakin. Das RAD-Lager. Gundel. Die Feuernacht in Wattenscheid. Er schloß die Augen.
»Ja, weiter!« sagte Meier.
»Du legst dich nie auf die linke Seite, merk dir das, weil es da noch schlimmer weh tut! Du ziehst das rechte Bein an, weil das den Schmerz erleichtert, und wenn sie dir’s gewaltsam ausstrecken, dann stöhnst du und ziehst es gleich wieder an. Verstehst du?«
Ich hab es gesucht, das … Abenteuer, dachte Holt. Nun darf ich nicht jammern und klagen, auch wenn ich darin umkomm. Aber ich hab es mir anders gedacht: reinigend, befreiend, und heroisch … nicht so sinnlos. Langemarck, wie es in den Lesebüchern stand, war immer das Ideal, singend für Deutschland in den Tod zu stürmen … Alle die Bücher fielen ihm ein, er sah eine Seite mit gotischen Lettern aufgeschlagen vor sich: »… halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem Jauchzen in das Maschinengewehrnest schleudernd … im Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit dem letzten Gedanken: … Deutschland … Nahm den bitteren Kelch mit stolzem Heldenlachen …«
Lüge! Die Bücher haben alle gelogen.
»Links tut’s nicht weh, beim Drücken, aber rechts … Dann drückt er dir den Bauch ganz langsam tief rein, auch auf der rechten Seite, und läßt plötzlich los … da schreist du Au! Und wenn er wieder reindrückt, da merkst du nichts, aber wenn er wieder losläßt, dann stöhnst du, was du kannst …«
Die Erinnerung an die Kindheit war heute klarer als sonst. Da bin ich noch nicht zehn gewesen, da haben wir Krieg gespielt. Ich hab gesagt: Wenn ich groß bin, dann will ich auch in den Krieg! Nun hab ich, was ich mir wünschte.
»… damit das Blutbild stimmt, mußt du zwanzig Minuten vor der Blutentnahme die ganze Butter auffressen, so schnell du kannst. Schaffst du das?« – »Ich denke doch«, sagte Meier. »Mal so richtig Butter essen, warum nicht?«
Aber die Erwachsenen haben es zugelassen! Die haben mich hineingetrieben. Sieh dir den Werner an, der wird bestimmt einmal ein tapferer Soldat! Ich bin nicht schuld, ich wußte es nicht besser. Die Erwachsenen hätten es besser wissen müssen. Sie haben mich mit schönen Sprüchen auf den Weg geschickt, auf diesen Weg.
»Und wenn du alles richtig machst, dann müssen sie dich operieren, und kein Mensch kann dir was beweisen!«
Holt drehte das Gesicht zum Fenster. Das Laub in den Baumwipfeln färbte sich braun. Wolzows Geschwätz drang immer wieder in sein Bewußtsein. Am Morgen, als er erwacht war, hatte er geglaubt, ihm sei die Flucht geglückt. Aber das Leben folgte ihm nach. Es folgte ihm in Wolzows Gestalt, das Leben, der Krieg. Wenn ich nicht wieder aufgewacht wär, dachte er, dann wär jetzt alles vorbei. Es war gar nicht schlimm. Es war schön. Nur die Angst ist schlimm, vorher, aber das Sterben ist sanft.
Wolzow wiederholte seine Anweisungen und paukte sie Meier ein. »Am besten, wir machen’s gleich heute abend«, sagte Meier, »weil du mir da noch helfen kannst!«
Holt hörte nicht hin. Er hatte keine Schmerzen mehr. Die Benommenheit war gewichen. Ein Gefühl der Gelöstheit und der Ruhe überkam ihn. Die Ereignisse des letzten Jahres zogen wie Bilder an ihm vorbei, Ereignisse, die jedes für sich nicht viel mehr als einen Schock, vielleicht sogar nur ein Erschrecken bedeutet hatten, doch nun, da er sie überschaute, waren sie ineinandergeschmiedet wie die Glieder einer Kette, und diese Kette band ihn an das Leben und gab ihn nicht frei.
Es begann mit der Marie Krüger, dachte er. Bis dahin war alles leicht und klar. Als sie mir das von Meißner gesagt hat, da fing es an. Dann, in den Bergen, hat einer erzählt, wie man in der Ukraine Vieh requiriert und einen Bauern samt Familie erschossen hat. Dann Uta: Es ist ja doch alles umsonst! Dann Frau Ziesche und die unbeschreiblich dreckige Arbeit ihres Mannes. Dann Vater: … tötet die SS in den polnischen Konzentrationslagern Hunderttausende … Dann die Russengeschichte in der Batterie. Dann die Nacht in Kutscheras Baracke. Dann Gundels Schicksal. Dann die Slowakin. Dann die Sägemühle.
Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Partisanen zu Tode gefoltert. Ich weiß es. Ich hab versucht, das alles zu vergessen. Immer wenn ich es vergessen hatte, ist etwas Neues geschehen. Es läuft mir nach, es drängt sich mir auf, ich bin mittendrin, ich komm nicht mehr frei. Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muß durch die sieben Höllen. Eher ist nicht Schluß, eher gibt es keine Ruhe, kein Vergessen.
Ich weiß es nicht nur, dachte er, sondern: Etwas davon ist auch in mir. Etwas? Ich mach alles mit. Wenn Böhm befohlen hätte: Erschieß sie!, ich hätte sie erschossen. Wenn der gleiche Befehl morgen wieder kommt … ich würde sie erschießen.
O mein Gott!
Aber der sie erschossen hätte, grübelte Holt, der wär nicht ich gewesen. Ich hatte ja Lessers Befehl, in der Nacht, ich hab ihn nicht ausgeführt, ich hab sie laufen lassen, ich hab auch die Russen in Schutz genommen, damals. Der da im Geist schon visiert hat: zwischen den Schultern, etwas links, der bin nicht ich gewesen. Doch wir beide, er und ich, wir werden weitermachen, wie das Gesetz es befiehlt. Geradeaus schauen, irgendwohin, und vorwärts, marsch!
Vielleicht muß das so sein … damit wir endlich wir selbst werden. Vielleicht muß es so sein, daß alles dies erst über uns selbst kommt: Elend, Zerstörung, Qual und Tod, in den Bombennächten, und nun wohl bald überall, im ganzen deutschen Land. Er lag im Dämmerschlaf.
»Wo ist Sepp?« fragte Holt. »Wo ist Christian? Was war überhaupt los? Gilbert, wo hast du den Bajonettstich her?«
Wolzow kaute, er sagte mit vollem Munde: »Sepp ist auch hier. Christian? Der wird halt irgendwo rumkrebsen, froh und munter, der überlebt uns alle, den hat der Schmiedling unsterblich gemacht, von wegen ›Leiche‹. Ich war mit ihm bis zuletzt zusammen. Ich hätt ihm nie zugetraut, daß der mal so ein eiskalter Hund wird.« – »Wie sind wir in den Lastwagen gekommen?« – »Das war so: Die Doppelposten fielen ohne einen Schuß. Schon waren sie im Dorf. Als die Knallerei losging, war ich beim dritten Zug. Wir sind gerannt, was wir konnten. Als wir am Bach waren, da hatten sie im Dorf schon alles überwältigt, nur aus einem Gehöft hat es noch ein bißchen geschossen. Sie haben uns nicht über den Bach gelassen. Wir haben es zweimal versucht, aber sie haben uns zusammengeschossen. Auf der Brücke hab ich auch mein Ding verpaßt bekommen, durch den Stiefel. Sind wir also in die Sägemühle, noch einundzwanzig Mann.« – »Und der erste Zug?« – »Der hat draußen auf der Wiese gelegen und hat zugeschaut. Wir haben die Mühle verteidigt. Ich hab einen Melder losgeschickt, zum ersten Zug, über die Wiesen, später noch einen, aber keiner ist durchgekommen. Wir haben die ganze Nacht gekämpft. Zweimal waren sie bis im Hof und einmal schon im Korridor, da mußten wir sie mit dem Seitengewehr zurückwerfen, Vetter ganz vorneweg, wie ein Wilder. Wir haben uns geschlagen wie die Berserker, für keinen Kampfauftrag, für keinen Zweck, nur, damit sie uns nicht dort schnappen, wo unten noch die ganze Sauerei herumlag. Das hab ich den Leuten vorher gezeigt. Hier, hab ich gesagt, jetzt wißt ihr, daß ihr bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen müßt! Haben sie auch getan. Aus Angst! Als es hell wurde, haben wir zwar besser gesehen, aber da haben sie uns an den Fenstern abgeschossen, daß man hätte seine helle Freude dran haben können, so gute Schützen waren dort dabei. Bei uns wurde die Munition knapp. Zuletzt waren noch neun Mann kampffähig. Ich hab nur immer überlegt, was ich mach, daß sie mich nicht in der Mühle erwischen. Schließlich kam eine Lastwagenkolonne von Osten den Talweg entlang, da fuhren als Bedeckung drei Schützenpanzer mit, Panzergrenadiere drauf, MGs und eine Zweizentimeter, die haben sämtliche Gehöfte in Klump geschossen und uns aus der Mühle rausgeholt, sozusagen in letzter Minute. Der erste Zug hat unterdessen in den Löchern gelegen und hat es knallen lassen, weil sie keinen Befehl hatten, stell dir so was vor! Als es hell wurde, wollten sie ins Dorf, aber auf dem offnen Gelände ist der Angriff natürlich liegengeblieben. Als die Panzergrenadiere kamen, sind die Partisanen in die Wälder. Es waren höchstens dreißig Mann, aber alles Scharfschützen. Nun hör dir an, was dem Sepp passiert ist. Er ist mit einem Schuß im Arm in das ausgebrannte Gehöft gekrochen und hat sich im Keller versteckt. Über ihm in der Ruine haben die Partisanen ein MG aufgebaut und zu uns in die Mühle gefunkt. Und die ganze Nacht hindurch haben sie die Hingerichteten, die beim Wirtshaus lagen, in den Keller getragen. Sepp hat sich hinter Gerümpel verkrochen, er ist fast gestorben vor Angst. Dich haben wir am Talweg aufgelesen. Ein Wagen hat die Verwundeten weggebracht, vier sind unterwegs gestorben. Den Rest der Abteilung haben die Panzergrenadiere auf ihren Wagen mitgenommen.« Er verschränkte die Hände unter dem Kopf.
Holt lag wieder mit geschlossenen Augen. Sepp hat es also auch überstanden. Ich hab es überstanden. Wozu eigentlich?
Am frühen Abend begann Meier tatsächlich zu simulieren. Wolzow leitete ihn an. Schwester Regine versah den Dienst, wer weiß, wann sie einmal frei hatte. Sie stand an Meiers Bett. »Aber nun strecken Sie doch mal das Bein aus!« – »Nein!« stöhnte Meier. »Da soll es ja noch mehr weh tun!« – »Soso«, sagte sie, »da will ich mal den Arzt holen!«
»War’s gut?« fragte Meier. Wolzow rief: »Himmelhohes Rindvieh, du darfst doch nicht sagen, es soll weh tun, du mußt sagen, es tut weh! Und wenn er dich abfühlt, dann mußt du Au brüllen!«
Der Assistenzarzt, ein noch recht junger Mann mit starken Gläsern in der dunklen Hornbrille, beugte sich über Meiers Bett, wobei er Wolzow den Rücken zuwandte. Er schlug die Decke zurück. Schwester Regine stand neben ihm. »Tut das weh?« – »Überall!« ächzte Meier. Er drehte das Gesicht zu Wolzow hin. Wolzow kniete im Bett und gab Meier Zeichen. Meier verstand nicht. Er hatte offenbar so große Angst, als Simulant entlarvt zu werden, daß er ganz leidend aussah. – »Tut es hier weh?« – »Stöhnen!!« rief Wolzow ungeduldig. Meier stöhnte. Der Arzt drehte sich herum. »Was ist denn mit Ihnen los?« – »… tut der Kerl«, sagte Wolzow rasch, »stöhnen tut der, daß einem ganz bange wird!« Der Arzt sagte unwillig: »Sie haben wohl schwache Nerven!« Dann untersuchte er weiter. »Tut das weh?« – »Nein … Au!!« schrie Meier. – »Drehn Sie sich zur Wand!« Meier wälzte sich auf die linke Seite und stöhnte. – »Was ist denn?« – »Es tut … weil es immer mehr, auf dieser Seite«, stammelte Meier. – »Einwandfrei«, sagte der Arzt zu Schwester Regine, »alles hübsch beisammen, komischerweise keine Abwehrspannung, die fehlt aber öfter mal. Rektal sparen wir uns, es ist einwandfrei.« – »Und brechen!« sagte Meier zaghaft. »Vorhin, da war mir so übel, und der ganze Bauch tut weh, nicht bloß rechts!«
»Geben Sie ausnahmsweise Dilaudid«, sagte der Arzt. »Und früh gleich fertigmachen und in den Opeh, der Chef operiert grundsätzlich nicht im Intermediärstadium, ich seh ihn heut noch und sage Bescheid. Aber vorher brauch ich den Leukozytenwert, läßt sich das machen?«
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, rief Wolzow: »Die Butter! Rasch, friß die Butter auf!« Meier holte mit zitternder Hand eine gelbe Bakelitdose aus dem Nachttisch, fuhr mit zwei Fingern hinein und strich sich die gelbe Butter in den Mund, wieder und wieder. Dann warf er die Dose ins Schubfach und schluckte. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er schluckte, er würgte. »Nicht brechen!« rief Wolzow. »Zwing’s runter!« Meier preßte die Hand vor den Mund. Er würgte immer qualvoller. Schwester Regine trat ins Zimmer und machte sofort kehrt, aber als sie mit einer Brechschale zurückkam, da hatte Meier es geschafft und lag schweißnaß und erschöpft in seinem Bett. »Geht es jetzt besser?« fragte sie mitleidig. »Warten Sie, ich mach Ihnen erst die Spritze zurecht!«
»Siehst du!« sagte Wolzow triumphierend. »Der August Meier wird operiert! Und dann schön die Wunde eitern lassen, du mußt dir den Dreck von deinem Furunkel reinschmieren, das haut hin! Aber jetzt müssen wir unbedingt erst noch zwanzig Minuten vergehen lassen, am besten, ich bring dich solange aufs Klo. Los, Tempo!« Er sprang aus dem Bett. »Kumpel«, sagte Meier, »das vergeß ich dir nie! Wenn der Krieg aus ist, mußt du mich besuchen, du auch, Holt, ich hab ein Stück Acker, da schlacht ich die beste Gans! Es ist zwischen Erfurt und Weimar …« Sie verschwanden durch die Tür, beide im Nachthemd.
Schwester Regine sah erstaunt auf die leeren Betten: »Nanu?« Sie legte die Spritze auf den kleinen Instrumententisch am Fenster, dann stellte sie sich zu Holt ans Fußende des Bettes. Es dunkelte. »Und wie geht’s uns?« fragte sie. – »Danke. Ich hab bis jetzt keine Schmerzen gehabt. Die Tablette war so schön beruhigend.« – »Sooo?« sagte sie gedehnt. »Aber das will ich nicht gehört haben, von wegen schön beruhigend, sonst gibt’s nichts mehr, das war Eukodal!« Wie sie an seinem Bett stand, im letzten Tageslicht, erschien sie ihm ganz traumhaft und unirdisch, in der hellen Tracht, mit dem Häubchen auf dem blonden Haar. Er schaute sie an, schweigend, er dachte: Wenn es Gerechtigkeit gibt auf der Welt, dann wird auch hinter ihrem Rücken einmal einer stehen und wird visieren: zwischen den Schultern, etwas links.
»Schwester Regine …«, sagte er, »Sie sind doch ein … guter Mensch, bestimmt …« Sie lächelte. »Was soll das?« Er sagte: »Aber es wird über uns alle kommen, auch über Sie.« Sie neigte den Kopf, dann setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. »Was reden Sie!«
Er sah an ihr vorbei. Vor seinem Blick verschwammen die Konturen des Fensters in der Dämmerung. »Ein Mädchen … wie Sie«, sagte er, »genauso jung, eine Slowakin, auch blond … in der Notwehr hat sie einen von uns totgeschlagen … er wollte sie vergewaltigen. Dafür sollte sie erschossen werden. Wenn ich den Befehl bekommen hätte … dann hätte ich es getan.«
»Aber … Sie haben es doch nicht getan«, sagte sie leise. »Da können Sie doch ruhig schlafen.«
»Ich hab sie sogar laufen lassen«, sagte Holt kaum hörbar. »Aber das zählt nicht. Denn ich hab gewußt, daß es nicht rauskommt, sonst hätte ich nicht den Mut gehabt … Was ist das?«
Sie saß lange stumm. Dann sagte sie: »Versuchen Sie doch … zu beten!«
Er antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf. Schicksal, Vorsehung, Gott … Es regte sich in ihm wie Auflehnung: Ich will keinen Gott! Die Menschen müssen daran schuld sein, vielleicht weil sie unvollkommen sind oder wer weiß warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär’s zum Verzweifeln!
Sie stand in einem plötzlichen Entschluß auf und holte die Spritze, nahm seinen Arm und stieß ihm die Nadel unter die Haut.
Er wurde rasch müde. »Ich hab eine Bitte, Schwester Regine. Kann morgen nicht Sepp Gomulka in Meiers Bett?« – »Der Oberarmdurchschuß?« Sie nickte. »Aber nun müssen Sie schlafen.« Sie redete beruhigend auf ihn ein. »Es soll ein Lazarettzug durchkommen. Er geht bis ins Reich. Ich will versuchen, daß Sie mitgeschickt werden.« Er lag mit geschlossenen Augen. Sie strich ihm mit der Hand über die Stirn. Er hörte im Einschlafen noch die rauhe Stimme Wolzows, der Meier wieder ins Bett steckte.
Am anderen Morgen lag Gomulka tatsächlich am Fenster, das Gesicht mit Pflastern beklebt, den Arm verbunden. Auf Holts Fragen gab er einsilbig Antwort. Wolzow, der hier seit dem Urlaub das erstemal wieder etwas wie gute Laune zeigte, sagte: »Meier ist operiert! Der Chef hat sich das nicht entgehen lassen.« Holt döste vor sich hin. Erst am Abend, als die Dämmerung ins Zimmer kroch, erwachte er aus seiner Lethargie. Schwester Regine trat ihren Dienst an und fragte: »Wie steht’s auf der Kinderstation?« Sie kümmerte sich nicht um Wolzows Protest, sie lachte und lehnte sich mit dem Rücken gegen das offene Fenster. Holt fragte: »Was Sie gestern gesagt haben, von einem Lazarettzug, ist es wirklich wahr?« – »Wir erwarten ihn schon morgen«, sagte sie. »Sie dürfen mit. Ich hab schon die Unterschrift.« – »Aber wenn Sepp und Gilbert …« – »Ich hab mir’s gedacht. Bei Ihnen, Wolzow, hat der Doktor ein bißchen die Stirn in Falten gezogen, dann hat er aber doch unterschrieben. Ich soll Sie alle in eine Kinderklinik überweisen.« Sie lachte abermals. Wolzow knurrte: »Die paar Jahre, die Sie älter sind als wir!«
Gomulka sagte auf einmal von seinem Bett her: »Daß wir hier wegkommen, daß es uns überhaupt wieder so gut geht, das haben wir gar nicht verdient!« – »Verdient?« Wolzow lachte. »Du hast wohl Fieber! Seit wann geht denn so was nach Verdienst? Beziehung braucht man! Diesmal hat der Werner die Beziehungen. Wenn es um Weiber geht …« – »Gilbert!« rief Holt böse. Wolzow fuhr ungerührt fort: »Sieht doch ein Blinder, Schwester, wie der Holt Sie mit Schmus eingewickelt hat!« Sie stützte sich mit beiden Händen rücklings auf das Fensterbrett und lachte, daß ihre Zähne blitzten. »Paßt es Ihnen nicht, wenn ich Holt ein bißchen vorzieh? Ich zieh immer einen vor. Er brüllt ja auch nicht so rum wie Sie und ist nett, nicht so ein Landsknecht wie Sie!«
»Mit richtigen Schlafwagen reist ihr«, sagte sie am anderen Tag und packte die Sachen zusammen. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen, aber ich darf noch nicht weg, erst, wenn meine Zeit herum ist, dann such ich mir daheim in Schwerin was.« Als die Krankenträger erschienen, hatte Schwester Regine das Zimmer verlassen. Holt dachte, da er die Treppe hinuntergetragen wurde: Ich hätte ihr gern auf Wiedersehen gesagt …
Er bezog mit Gomulka ein zweibettiges Abteil. Wolzow lag nebenan. Holt hörte ihn durch die dünne Abteilwand schimpfen: »Nimm doch deine Knochen zur Seite, Döskopp!« Das Pflegepersonal war unfreundlich und mürrisch.
Am anderen Morgen erreichten sie Prag. Holt hatte nicht geschlafen, die Schienenstöße bereiteten ihm Schmerzen. Auch Gomulka fühlte sich elend. Zwischen Prag und Dresden hielt der Zug oft und lange auf freier Strecke. Sie brauchten vierundzwanzig Stunden bis Schandau, dort standen die Wagen einen Tag lang auf einem Abstellgleis. Am anderen Morgen erreichte der Zug endlich Dresden. Sanitätskraftwagen brachten sie in ein großes Reservelazarett. Holt, Wolzow und Gomulka lagen wieder Bett an Bett.
Man sah von den Fenstern hinab zur Elbe. Der Lazarettbetrieb erinnerte eher an eine Kaserne als an ein Krankenhaus. Nach wenigen Tagen sagte Wolzow: »Ich hab das satt. Ich meld mich gesund!« Am Nachmittag erhielt er einen Brief von Vetter. Der Rest der Abteilung sei wieder in einem Lager, erzählte er. »Vetter schreibt, er wird voraussichtlich Mitte Oktober entlassen.«
Tags darauf stand Wolzow marschfertig an Holts Bett. Es war das erstemal, daß sie sich trennten.
Gomulka sprach kaum noch ein Wort. Er lag in seinem Bett und sah vor sich hin. Dann und wann besuchte ihn sein Onkel, der hier in Dresden als Zahnarzt praktizierte. Holt las in den Hölderlin-Gedichten.
Er gewöhnte sich schwer an das antike Versmaß. Nur wenige der Gedichte erschlossen sich seinem Verständnis. Meist war es nur eine Stimmung, die er nachempfand, eine tiefe Melancholie. Doch Glanz und Wohllaut der Sprache berührten ihn auch dort, wo er die Worte nicht verstand. Es gab Verse, die sich ihm für immer einprägten, die zürnenden Worte des »Jünglings an die klugen Ratgeber« und stärker noch die Elegie »An die Natur«. Er las, bis er die Strophen auswendig wußte. Daß der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt: Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden fortgerissen wie ein Vorhang, hinter dem sich das Leben verbirgt. Was bleibt zurück? Das einsame, frierende Ich, dem es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen.
»Und Siegesboten kommen herab:«, las er, »Die Schlacht ist unser!« Das erschütterte ihn. »Lebe droben, o Vaterland, und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen …« Könnte man doch so sprechen! dachte er. Könnte man den Krieg erleben als furchtbare, doch reine und heilige Aufgabe, wie man sich’s einmal erträumte … Wüßte man doch: Es ist gerecht und darum sinnvoll und gut! Denn nicht der Kampf ist unerträglich und furchtbar, nur die Sinnlosigkeit, das Umsonst der Entschlüsse, das Unrecht der Taten … Wolzows Kampf in der Mühle, dies erkannte er nun, war ein Symbol. Sich schlagen ohne Auftrag und Zweck, nur um eine grauenvolle Bluttat zu verbergen. Wer ist schuld, daß wir unsere Kraft, unser Leben, alles, was wir besitzen, hinopfern müssen ohne Sinn, daß wir umsonst und vergeblich kämpfen, nur, um die Nacht über tausend Sägemühlen festzuhalten?
So grübelte er, tagelang.
Er ließ sich in der Lazarettbibliothek Bücher geben und las, was ihm in die Hände geriet, Bücher, die hier herumstanden und nie gelesen wurden: Griechische Kosmogonie von Hesiod bis zur Orphik, eine Abhandlung über Kants Antinomien der reinen Vernunft, Goethes »Faust« und viele Romane, Bände, die wer weiß wie ins Lazarett gelangt waren.
Als er aufstehen durfte und auch Gomulka das Bett verließ, kamen sie wieder miteinander ins Gespräch. An manchem schönen Oktobertag wanderten sie durch die Anlagen des Krankenhausgartens. Die Sonne wärmte nicht mehr. »Ich überleg mir, wie’s nun weitergeht«, sagte Holt. Gomulka hob die Schultern. »Woher soll ich das wissen?«
Rechtsanwalt Gomulka besuchte seinen Sohn. Er übergab Holt einen Brief von Gundel. Dabei sagte er, in einem Ton, als gratuliere er einem Mandanten zum Freispruch: »Was das junge Mädchen betrifft, mein lieber Werner Holt, so sendet sie Ihnen … Eigentlich«, unterbrach er sich, »müßte ich es sagen, aber man darf hier wohl das Genus naturalis dem grammatischen Geschlecht vorziehen … sendet sie Ihnen also dies hier mit den allerbesten Wünschen für baldige Genesung. Meine Frau hat recht viel Freude an Gundels gelegentlichen Besuchen.« Als er wieder abreiste und sich verabschiedete, beugte er sich zu Holts Bett herab. »Übrigens … Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben. Es ist alles bedacht, in casum casus. Was eventuell den Vormund erwartet, wird keinesfalls das Mündel treffen, dessen versichere ich Sie!«
Holt las Gundels Brief, dankbar, aber auch beschämt. Die Gedanken an Gundel hatten etwas Bedrückendes. Werde ich ihr jemals wieder unter die Augen treten können? Ich darf ihr niemals eingestehen, daß ich geschossen hätte, damals, auf dem Schulhof … Der Gedanke war wie eine Wunde, die nicht heilen will. Und wenn nun so ein Befehl tatsächlich … und wenn ich ihn ausführe … Dann … Es sprach in ihm: Wie willst du weiterleben, das Kainsmal an der Stirn?
Die Gedanken quälten ihn. Er sagte im Garten zu Gomulka: »Ich muß dich was fragen. Als du auf dem Schulhof hinter dem Hausmeister standst … wenn Böhm dir da befohlen hätte …« Gomulka bewegte ablehnend die Hand. Holt verstummte.
»Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, darüber nachzugrübeln«, sagte Gomulka schließlich. »Drück dich nicht!« sagte Holt. »Hättest du ihn erschossen? Ja oder nein!«
»Damals: ja.«
»Und heute?«
»Heute …?« Gomulka atmete rasch. »Ich würde auf Böhm schießen! Ich würde um mich schießen! Ich wär ja sowieso hin, wenn ich den Befehl verweiger. Dann soll aber noch jemand mitgehn von dem Gesindel, das uns so etwas befiehlt.«
Holt hörte die Stimme der Slowakin im Keller: Schlagt eure Anführer tot! Er fragte atemlos: »Würdest du das wirklich tun, Sepp?«
Gomulka schwieg. »Ich möchte«, sagte er dann. »Aber … ob ich den Mut habe … Ich weiß nicht …«
»Ob es welche gibt, die so einen Befehl verweigern?«
»Ich glaub schon.«
Holt rief: »Aber wir müssen doch jeden Befehl ausführen! Das ist doch das oberste Gesetz des Soldaten! Wo käm denn die Wehrmacht hin, wenn wir Befehle verweigern! Befehl ist Befehl!«
Gomulka lächelte. »Wo die Wehrmacht hinkäm? Wo kommt sie denn so hin, Werner! Und was du ›oberstes Gesetz‹ nennst … Da haben längst alle Gesetze ihre Gültigkeit verloren, nur dieses eine nicht!« Er holte aus der Brusttasche sein kleines Notizbuch und blätterte darin. »›Es ist in keinem Kriegsgesetz vorgesehen‹« las er, »›daß ein Soldat bei einem schimpflichen Verbrechen dadurch straffrei wird, daß er sich auf seinen Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen Anordnungen in eklatantem Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder internationalen Übung der Kriegsführung stehen.‹ Wie findest du das?«
»Das?« sagte Holt verwirrt. »Das ist … die Genfer Konvention, nicht?«
Da lachte Gomulka, bitter, verzweifelt. Er rief: »Denk an die Sägemühle! Das hier … das hat Goebbels zu Pfingsten im ›Völkischen Beobachter‹ geschrieben! Gemeint sind die amerikanischen Flieger, die unsere Städte bombardieren.«
»Aber … das ist doch richtig!«
»Und wer bestimmt, was ein ›schimpfliches Verbrechen‹ ist? Und was ist ›menschliche Moral‹? Überhaupt …«, höhnte Gomulka, »›menschliche Moral‹, das hätte uns der Ziesche um die Ohren gehauen, Herrenmoral des nordischen Menschen gibt es, sonst nichts!«
Heilloser Wirrwarr! Es fehlt irgendwas, dachte Holt, es fehlt ein Maßstab …! »Ein Maßstab fehlt, Sepp«, sagte er, »an dem sich messen läßt, was gerecht und ungerecht ist!«
»Jeder behauptet, recht zu haben«, antwortete Gomulka. »Es kommt auf die Maßstäbe an. Es gibt einen sehr einfachen Maßstab, Ziesches Maßstab: wir Deutsche haben recht, immer, auch in der Mühle, wir dürfen alles.«
»Aber so … kann es nicht sein.«
»Wenn du auf das hörst, was die … die bei uns sagen«, fuhr Gomulka fort, »dann wirst du immer verwirrter, dann weißt du gar nichts mehr. Die drehn alles so, als ob sie recht hätten.«
»Der Archimedische Punkt fehlt«, sagte Holt.
»Ja … Hast recht. Es muß etwas geben, wo keiner lügen kann. Wo die Tatsachen sprechen. Wo man sagen kann: Sei ruhig, hier ist der Beweis, du hast unrecht, du hast schuld. Der erste Schuß ist es nicht, solche … äußerlichen Tatsachen kann man organisieren, frisieren, verschleiern. Es muß etwas Innewohnendes geben, etwas im Wesen der Welt.«
»Nicht vielleicht außer ihr?« fragte Holt.
»Du meinst Gott? So sagen viele. Dauernd wird von Gott geredet, von Vorsehung, Schicksal. Mir paßt das nicht. Die Alten, Werner, wo sie etwas nicht wissen, da muß es auf einmal Gott sein.«
»Früher war jedes Gewitter Gott«, erwiderte Holt, »und die Cholera auch. Mein Vater hat gesagt, da war ich noch ganz klein: Gott ist ein Virus … Das Unerkannte ist Gott, Sepp, solange es unbekannt ist. Die Wissenschaft hat Gott schon den Mantel ausgezogen und wird ihm auch noch das Hemd ausziehen.«
»Aber am Krieg soll er schuld sein!« sagte Gomulka. »Nein, das ist ja genauso primitiv wie der ›Weltjude‹, da kann sich auch jeder darunter vorstellen, was er will.« Er versank wieder in Nachdenken. »Bis man’s weiß, muß man sich an das Wenige halten, was eindeutig ist.«
»An die Mühle?« sagte Holt leise.
»Ja. Das genügt ja auch.« Gomulka hockte trübselig neben Holt auf einer Gartenbank. »Mein Vater«, sagte er noch, »der gibt sich alle Mühe. Aber ich komm so schwer darüber hinweg, daß die Alten uns das alles eingebrockt haben, und wir dürfen es auslöffeln!«
»Und dürfen dran krepieren!« sagte Holt.
Holt erhielt einen Brief von Wolzow. Wolzow saß, vom Arbeitsdienst entlassen, in der öden Villa und spielte mit Vetter Offiziersskat. Seine Mutter, schrieb er, sei nun endgültig in einer Irrenanstalt untergebracht, nachdem sie noch »für eine Offiziersfrau schandbare Dinge« getrieben habe … Der Rest der Klasse sei in die Winde verstreut. Für den 20. Oktober habe er nun die Einberufung zur Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26 erhalten, Vetter desgleichen. Auf dem Wehrbezirkskommando habe er erfahren, daß der gleiche Truppenteil auch auf Holt und Gomulka warte.
Holt erkundigte sich bei der Lazarettverwaltung. Dort lagen schon für ihn und Gomulka die Gestellungsbefehle. In der letzten Oktoberwoche wurden sie entlassen. Die Abteilung hatte ihnen die alten Luftwaffenhelfer-Monturen nachgeschickt. Sie waren laut Entlassungsbefund »k. v. Ersatzreserve I« geblieben. Genesungsurlaub, wie sie erhofft hatten, gab es nicht. Mit einem Personenzug fuhren sie von Dresden ostwärts.
Ein riesiges Kasernengelände nahm sie auf. Sie fragten sich durch ein halbes Dutzend Schreibstuben zur Stabskompanie durch. »Jetzt ist Mittag. Melden Sie sich nach zwei bei Leutnant Wehnert. Raus!« Auf einem Korridor kam ihnen Wolzow entgegen, groß, finster, im Drillich, ein gefülltes Kochgeschirr in der Hand.
Er freute sich. »Ich hab bestens vorgesorgt. Dem Revetcki hab ich gesagt, wenn er die beste Korporalschaft haben will, dann muß er unbedingt für euch Platz halten. Hat er gemacht. Revetcki ist unser Unteroffizier. Ein Urvieh, halb Wildschwein, halb Kasperle. Der Peter Wiese ist auch hier, den haben sie k. v. geschrieben! Er hängt an allen Ecken und ist für die Ausbilder der Fußabstreicher. Vetter ist natürlich auch dabei. Sind die alten Krieger wieder schön beisammen!«
Draußen heulte es: »Woooolzow!« – »Das ist er! Mal sehn, was er will. Bin wieder so eine Art Adjutant. Unser Zugführer heißt Wehnert, Leutnant, ganz junger Kerl, von der Napola, leidenschaftlicher Soldat. Mal sehn, was Revetcki will.«
Holt sah sich in der Stube um und belegte eins der beiden leeren Betten. Von dem darunterliegenden Strohsack erhob sich ein baumlanger Mensch. »Stabsgefreiter Kindchen«, sagte er. »Könnt ›du‹ zu mir sagen. Bloß wenn ich mal dienstlich werden muß, dann lieber ›Sie‹. Bin hier Stubenältester. Außerdem Schießunteroffizier.« Er gab ihnen die Hand. »Ich hab ausgesorgt«, erzählte er in leicht sächsischer Mundart, »wunderbar steifes Knie, hält ewig, g. v. H. bis ans Ende dieser Welt! Bin seit achtunddreißig Soldat.« Er setzte sich wieder auf sein Bett, dabei mußte er den Rücken krumm machen, so groß war er. »Bin Fabrikbesitzer, ich mach feine Andenken, herrliche Sachen, kleine Schweine mit ›viel Glück‹ und Steirerbuam mit ›Gruß von der Bastei‹, auch Gartenzwerge. Unser Kommandeur, Major Reichert, diese Sau, der ist Vertreter! Paßt mal auf! Nach dem Krieg wird’s bei mir klingeln. Ich sitz grad beim Frühstück. Wird meine Frau sagen: »Fritzel, da ist ein Herr Reichert!« Nehm ich die Tasse. Trink. Gähn. ›Soll warten!‹ sag ich dann. Das wird herrlich!«
Holt warf den Rucksack aufs Bett. Es geht weiter, dachte er.
6
Holt war Rekrut. Er nannte sich Panzerschütze. »Panzerschütze Holt!« Er sang, ein MG über der Schulter, mit rasselnden Stimmbändern: »Fern-bei-Se-dang! Auf-den-Höööö-hen! Stand-ein-Pan-zer-schüüüü-tze-auf-der-Wacht!« Alles Bisherige war Spiel gewesen, Vorspiel, bloßer Auftakt der militärischen Ausbildung. Nur selten noch dachte er nach. Die Ausbildung war anstrengend, das Leben unmenschlich hart. Aber der Panzerschütze Holt wünschte sich nicht mehr fort aus diese riesigen Kaserne, obwohl er sie wie ein Zuchthaus verfluchte, aus der Nähe der Vorgesetzten, obwohl er sie verabscheute. Er schickte sich in alles, in Drill und Dienst und Schikane. Denn er hatte gelernt: Es wird immer noch schlimmer, als es war. Diesmal stand die Front bevor, das Inferno der Durchbruchsschlachten im Osten. Die 11. Panzerdivision, für die man hier Ersatz ausbildete, gehörte zum Ostheer. Und im Osten erbebte in diesen Wochen das Reich. Also: wünsch dir nicht, daß es ans Rucksackpacken gehe!
Holt wurde als Panzerfunker ausgebildet. Sie durchjagten ein umfassendes Ausbildungsprogramm. Funkgeräte, Ultrakurzwellen- und Mittelwellensender, -empfänger. Funktion, Bedienung des Gerätes, Abstimmen, Frequenzwechsel, Sprech- und Tastfunk, Pflege und Wartung, Störungen. Täglich zwei Stunden Morsen. Man zog des Nachmittags mit einem zweirädrigen Karren los, worauf die Funkgeräte montiert waren, zog auf die umliegenden Dörfer und suchte sich dort einen windgeschützten Fleck, hinter einer Feldscheune oder auf dem Hof eines Bauern. Dann ging es los. Funksprechverkehr. Kaum hatte man ein warmes Plätzchen gefunden, schon trieb der Befehl die Bedienung des Karrens wieder hinaus, die Chaussee entlang, über die der Novembersturm pfiff.
An den Abenden paukte man Q-Gruppen, wie einst in der Schule Vokabeln. QZL hieß »Spruch hat keinen Sinn«, Merkhilfe: »Quatsch zum Lachen«. Man sagte nicht mehr: »Wie spät?« Man fragte: »QTR«, »erbitte Uhrzeit!« Man lernte den Gebrauch der Funk- und Schlüsseltafel und des Rasterschlüssels.
Ausbildung am Panzer, an veralteten, nicht mehr einsatzfähigen Wagen, die aus Benzinmangel nie die Fahrzeughalle verließen, an dem dreiundzwanzig Tonnen schweren Panzer III. Aus- und Einsteigen, Ausbooten nach Treffern, Ein- und Ausbau der Funkgeräte, Funker-MG und Turmwaffen, Richt- und Ladeübungen an der Kanone. Einen fahrenden Panzer, von den klapprigen, turmlosen Gestellen der Fahrschule abgesehen, auf denen hinten klobige Holzgasgeneratoren montiert waren, sah Holt in all den Wochen nur ein einziges Mal. Das war, als sie »Panzerüberrollen« übten, in einem kleinen Erdloch, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Karabiner zwischen den Knien. Die breite Kette des Panzers rollte über das Loch, deckte es zu, drückte Sand und Erde hinein, gab es wieder frei. Holt tauchte aus dem Erdreich, Sand in den Augen, und er mußte nun nach Befehl hinten auf den abfahrenden Panzer springen … Dann Waffendienst. Karabiner, Gewehrgranatgerät, die Maschinengewehre 34 und 42, die Pistolen 08 und 38, Maschinenpistole, Sturmgewehr 44, Stiel- und Eierhandgranate, geballte und gestreckte Ladungen, Kriegsmittel zur Panzerbekämpfung, Nebelkerze, Tellermine, Hafthohlladung, Panzerschreck und Panzerfaust. Am strapaziösesten war die Infanterieausbildung. Nachtorientierungsmärsche, tagelange Quälereien im Zielgarten, gefechtsmäßiges Scharfschießen, Dreieckszielen, Panzernahbekämpfung, Kriegspiel Gruppe gegen Gruppe, wobei man die Platzpatronenvorräte des Stabsgefreiten Kindchen verknallen durfte, auf freiem Feld oder zu nachtschlafener Zeit in der Stadt, wo die Einwohner ängstlich durch die verdunkelten Fenster lugten. Nahkampfausbildung, Bajonettfechten, Infanteriespaten als Waffe, Haltung des Gewehrkolbens beim Schlag, die Handgranate als Schlagwaffe, MG-Schießen aus dem Lauf, die eine Hand am Zweibein, die andere am Abzug. Man schrie dabei aus Leibeskräften »Hurra!«. Gasausbildung, Gasplane, Entgiften, Filterwechsel, Erste Hilfe. Und außerdem Unterricht über zwei Dutzend Themen, Spionageabwehr, Geschlechtskrankheiten, Panzererkennungsdienst, Taktik des Panzerkampfes am Sandkasten.
Vierzehn Stunden täglichen Dienstes! Eins, in diesem Winter des Jahres 1944, gab es nicht mehr: Exerzieren, Kasernenhofdrill. Die Ausbildungszeiten waren immer wieder verkürzt worden, und der Drill war in potenzierter Form in der Infanterieausbildung enthalten. Zwei Stunden im Zielgarten waren sechs Stunden Ordnungsdienst auf dem Kasernenhof wert. Aber es gab keine Gewehrgriffe mehr, keine Ordnungsübungen, nur ein paar Wendungen, ein wenig Marschieren und Grüßen.
Sobald das Kasernengebäude verlassen wurde, war »kriegsmäßiges Verhalten« vorgeschrieben. Der riesige, mehrere Hektar große Kasernenhof war gesprengt und in ein künstliches Trichterfeld verwandelt worden, in dessen Mitte wie ein drohendes Gespenst ein hundertmal ausgebrannter T 34 stand, ein grauenvolles Wrack, an dem man mit Nebelkerzen und Übungspanzerfäusten ausgebildet wurde. Wer aufrecht aus der Kasernentür trat, verfiel der Rache der Unteroffiziere. Selbst beim Essenholen setzte man mit dem leeren oder gefüllten Kochgeschirr gebückt und sprungweise durch die Trichter.
Die Ausbilder brauchten kein Exerzieren, um die Rekruten »sauer zu machen«, wie der Fachausdruck hieß; man konnte ihnen beim Infanteriedienst »zeigen, was Preußengeist ist«, »die Gedärme rausleiern«, »das Gehirn ausschaben«, »die Seele verdorren«. Der UvD sorgte dafür, daß es in den Stuben nicht zu gemütlich zuging und warf das Bettzeug nicht nur in der Stube umher, sondern auch aus dem Fenster, zwei Stockwerke tief hinab. Er kippte mit Vorliebe Spinde nach vorn ins Zimmer. Man erlebte nachts den »Maskenball«, es gab das Scheuern des Korridors mit Hand- oder Zahnbürsten, schamlose Inspektionen bestimmter Körperteile, und es gab Gewehrappelle, die Samstag am Abend begannen und Sonntag am Abend endeten.
Holt ertrug es stumm, auch Gomulka schwieg zu allem. Vetter stumpfte immer mehr ab. Wolzow nahm das alles als »Training für die Front«, wo es »weit ungemütlicher« zugehe. Der kleine, schwächliche Peter Wiese aber verfiel körperlich und zerbrach. Wolzow sagte ungerührt zu Holt: »Er geht drauf, so oder so. Nur die Starken bestehen die Probe.«
Holt sah oft auf den schmächtigen Jungen. Er dachte: Drei Monate Ausbildung, noch acht Wochen, noch vier Wochen … Also hat er noch zwei Monate, noch einen Monat zu leben. Wiese träumte vom Konservatorium. »Ich bin nun doch fest entschlossen, Pianist zu werden! Vor allem Chopin und Rubinstein möchte ich spielen … Ja, Rubinstein hab ich erst im letzten Jahr entdeckt. Ich weiß nicht, was mir an ihm so gefällt. Vielleicht, weil er in seinen Jugendwerken so ein … Temperament hat, das mir selbst fehlt … Oder der Bal costumé, das müßte ich dir vorspielen, es ist unbeschreiblich! Du hast recht, eigentlich liegt mir Schumann viel mehr, ich hab ihn leidenschaftlich gern gespielt, aber er liegt mir eben zu sehr, bei ihm verlier ich mich.«
»Da komm ich später in deine Konzerte«, sagte Holt. Wiese sah auf die Uhr. »Ich muß Revetcki und Boek die Schuhe putzen.«
Die beiden Gruppenführer des Ausbildungszuges waren der Schrecken der Rekruten. Unteroffizier Revetcki nannte sich einen »preußischen Korporal«. Wolzows Formel: »Urvieh, halb Wildschwein, halb Kasperle«, war zu einfach. Revetcki war unberechenbar, herzlos, gemein, manchmal affektiert und albern, dann wieder roh und stumpf, gleichzeitig brutal und triefend von Sentimentalität, heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders. Er war wortgewandt und flüsterte in wohlgesetzter Rede, dann wieder brüllte er, wüst und in schamlosen Ausdrücken. Er war von Beruf Schauspieler. Er spielte immer Theater, und wie er wirklich war, wußte keiner. Peter Wiese zitterte vor ihm, Holt nannte ihn einen Wahnsinnigen, Gomulka sagte: »Er ist pervers!«
Er war Ende der Dreißig, klein, nur etwa einen Meter und sechzig groß, von zierlichem Wuchs. Er pflegte sorgfältig seine schlanken Hände und parfümierte sich. Sein Gesicht war zerknittert, verfältelt; in der Mitte, über einem hölzernen, roten Mund, hing eine gurkenförmige Nase herab. Er konnte dieses Gesicht zusammenfalten wie eine auf Leinwand aufgezogene Landkarte, er konnte es strahlend ausbreiten wie ein frischgewaschenes Laken. Aber sein Blick blieb kalt und böse. Das Register seiner mimischen Verwandlungsmöglichkeiten war endlos. Er sprach abwechselnd in Jamben, gereimt und im übelsten Kasernenhofton. Sein Haarschnitt, eine lange, dauergewellte Mähne, widersprach allen militärischen Sitten, und auf diesem Bubikopf thronte das Schiffchen; unter der Feldmütze quoll die Lockenpracht rings hervor. Es blieb ein Rätsel, wie er diese Haartracht zu bewahren verstand. Vieles war rätselhaft an ihm.
Holt hatte ihn am ersten Tage kennengelernt. Er war noch keine halbe Stunde da und räumte seinen Spind ein, als sich die Tür öffnete und ein Männchen in die Stube trat, das Holt am liebsten für ein altes Weib gehalten hätte. Aber die Schulterklappen eines Unteroffiziers ließen ihn Haltung annehmen und brüllen: »Panzerschütze Holt meldet sich zum Dienst!« Der Unteroffizier hielt ein dünnes Rohrstöckchen in den gepflegten Händen. »Unteroffizier Revetcki«, sagte er und lächelte honigsüß. »Angenehm. Für mich! Ich bin Ihr Korporal.« Er deutete ringsum. »Beim Eintritt hier laßt alle Hoffnung fahren!« Er drehte das Stöckchen in den Händen. »Dies ist mein Korporalstock, bei mir wird noch geprügelt.« Dann nickte er wohlgefällig mit dem Kopf. Er ging zweimal im Kreis um Holt herum und klopfte dabei mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Knobelbecher. »Ein schmucker Rekrut«, sagte er sanft, »ein hübscher Rekrut, ei, welche Augenweide!« Dann stand er wieder vor Holt, seine zerknitterten Gesichtszüge ordneten sich, er flüsterte mit einem drohenden Unterton: »Jetzt halten Sie mich doch nicht etwa für einen Urning?« Er schüttelte sich vor Ekel. »Für homosexuell?« – »Nein, Herr Unteroffizier!« brüllte Holt. Revetcki nickte. »O welches Glück, daß mich ein Menschenherz begreift!« deklamierte er mit hochgezogenen Brauen. Sein Gesicht war wieder wüst zerknittert. Mit dem Stöckchen deutete er auf Wolzow. »Der Wolzow weiß, daß ich heterosexuell bin. Er kennt meine Alte, diese Toppsau, die mir das Mark aussaugt!« Sein Gesicht verklärte sich.
Holt glaubte zu träumen. Revetcki hüstelte. »Weitermachen!« Dann ging er zur Tür. »Wenn Sie mit Ihren Mistsachen die Stube verdrecken!« schrie er plötzlich, und flötete: »Darin bin ich komisch!«, und schrie: »Wenn ich nachher die Stube inspiziere und finde Staub, dann sehen Sie keine Betten mehr, dann sehen Sie keine Spinde mehr, dann sehen Sie keine Tische mehr, dann sehen Sie keine Stühle mehr, dann sehen Sie nur noch herumwirbelnde Hölzer!«
Das war Revetcki. Er war nicht immer so harmlos. Er war tückisch: »Gomulka, Sie hinterlistiges Dreckstück, Ihre Gedanken möcht ich lesen, Ihre Maske möcht ich herunterreißen, das müßte mir Wollust sein, Sie zu entlarven, Sie verkappter Meuterer! Aber warten Sie, ich schreib Ihnen eine Beurteilung, daß Sie in der Strafkompanie enden!« Er war gemein: »Wiese, Muttersöhnchen, lasches Knäblein, puh, wann schreiben Sie an Ihre Mammi … aber ehrlich! So, heute Abend? Das werd ich Ihnen vermanschen!« Und am Abend nach Dienstschluß: »Wiese, den Brief an Ihr Mütterlein bekommen Sie nie fertig! Los, mein Drillich waschen!« Und, so unglaublich das war, er prügelte! Jemand gab beim Unterricht eine falsche Antwort, Revetcki tobte, plötzlich wurde er sanft. »Heute abend, mein Guter, da hol ich Sie zu einem kleinen Privatschliff, der Himmel erbarme sich Ihrer! Und wenn Ihnen das Bauchfell platzt!« Er stellte sich vor das eingeschüchterte Opfer und flötete: »Früher … lang ist’s her, in längst verschollnen Zeiten … da war es einfacher, da wurde körperlich gezüchtigt! Mir ist das verboten, da werde ich eingesperrt. Es sei denn, Sie bitten mich, daß ich Sie aus Barmherzigkeit und Spaß verdresche!« Meist hieß es sogleich: »Ich bitte darum, Herr Unteroffizier!« Revetcki schrie: »Sie haben es alle gehört! Er wünscht es, und es ist Spaß!« Dann hieb er mit der Gerte los, auf die Hände, ein böses Funkeln in den Augen, und sagte mit verzerrtem Mund: »Du willst es? Gut, dann hau dich dich mit meinem Stecken fürchterlich!«
»Das glaubt uns später kein Mensch!« sagte Holt zu Gomulka. Gomulka nahm Holt beiseite. »Revetcki war erst Hilfsausbilder bei der Genesenenkompanie. Du weißt ja, die Leute aus den Lazaretten werden ganz schön geschliffen. Dort hat er einen alten Fronthasen zu Tode gehetzt. Der wollte sich krank melden, weil er vor Leibschmerzen kaum noch geradestehen konnte. Revetcki hat ihn deshalb durch den Zielgarten gejagt, bis er zusammenbrach. Aber da war die akute Blinddarmentzündung schon in die Bauchhöhle durchgebrochen, und die Operation kam bei diesen Ärzten hier viel zu spät. In der Genesenenkompanie hagelte es Beschwerden. Revetcki wurde zwangsversetzt. Nicht an die Front, nein, zu uns.« – »Woher weißt du so was?« fragte Holt. Gomulka wich aus. »Erkundige dich. Ich sage dir, er ist pervers, er ist ein Sadist. So was brauchen die hier.«
Neben Revetcki sank das Zerrbild des Unterfeldmeisters Böhm samt allen Geschreis in der Erinnerung zu völliger Bedeutungslosigkeit herab. Neben Revetcki konnte sich Unteroffizier Boek, der zweite Gruppenführer, ein Theologiestudent, nur gelegentlich seiner schrecklichen Jähzornausbrüche rühmen, annähernd so gehaßt und gefürchtet zu sein. Zwei Gefreite, die als Hilfsausbilder tätig waren, gaben nur die Kulisse für die Auftritte Revetckis ab. Revetcki war zudem der Scharfrichter des Zugführers. Der geschniegelte Leutnant war kein Rekrutenschleifer. Er sagte, wenn er auch vor Wut kochte, leise und beherrscht: »Ich mach mir doch an euch nicht die Finger schmutzig! Revetcki, nehmen Sie diese fünf Mann! Machen Sie die Leute fertig! Bis zum Zusammenbrechen!« Revetcki führte die Delinquenten in ein schweres Gelände beim Zielgarten, wo es Gräben, Hecken, Hohlwege und Hügel gab, oder auf das Trichterfeld des Kasernenhofes, spitzte die Lippen und flötete: »Dies sind die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, Prediger zwölf, Vers eins.« Dann wanderte er langsam über den Acker, die Hände mit dem Stöckchen auf dem Rücken, und ließ seine Opfer im Laufschritt um sich herumlaufen und ließ sie unter der Gasmaske brüllen: »Zicke-zacke-zicke-zacke-hei-hei-hei!«, bis ihnen der Atem verging. Revetcki hatte es dabei nicht eilig, er wußte, daß unter der Maske bei genügender Bewegung jedem die Luft knapp wurde. Es gab körperliche Zusammenbrüche. Holt sagte nach einer solchen »Sonderbehandlung«: »Es ist das gemeinste, das es gibt!« Der Leutnant aber pflegte zu sagen: »Den Kerlen zittern ja bloß ein bißchen die Knie! Revetcki, machen Sie die Brüder doch gleich noch mal fertig, sonst denken die, hier ist ein Sanatorium!«
Das ärgste an Revetcki war, daß er die Rekruten zu erniedrigenden Schaustellungen mißbrauchte. Das bekam Holt zu spüren. Ein zeitiger Winter mit viel Schnee und harten Frösten brach herein. In der Schneewüste des Zielgartens, draußen, zwischen den Hügeln, wurden die fünf Stunden Infanteriedienst zu einer Strapaze. Eines Tages zogen sie wieder zu dem berüchtigten Übungsgelände hinaus. Holt marschierte an der Spitze des Zuges, ein MG über der Schulter, Vetter war Schütze 2 und schleppte ein paar mit Platzpatronen gefüllte Munitionskästen. Dann lagen sie hinter dem MG im Schnee. Holt sah in der Nähe die bullige Gestalt des Oberfeldwebels Burgkert, in einem verdreckten Fahrermantel; er trieb sich mal hier, mal da herum, man sah ihn gelegentlich mit einem Waffenrock voller Orden, man wußte nichts von ihm, als daß er der Liebling des Abteilungskommandeurs sei und etwas wie Narrenfreiheit genieße. Er sah verkommen aus und bewegte sich stets in einer Wolke von Schnapsdunst. Jetzt stand er bewegungslos auf der Anhöhe, wo sie am zugigsten war, und schneite ein; schon reichte ihm die Schneewehe bis an die Knie. Holt blickte auf ihn. Er überhörte einen Befehl Revetckis. Revetcki sprang zu ihm hin. »Laufwechsel!« Er stoppte die Zeit. »Fünf Sekunden!« Holts Hände waren klamm vor Kälte. »Zehn Sekunden … Fünfzehn …« – »Fertig!« rief Holt. »Schlecht, sauschlecht, hundsmiserabel!« schrie Revetcki. »Unfähig, faul, träge, minderwertig! Schwein, Dreckschwein, Wildschwein, es hat eine Sekunde zu lange gedauert!« Holt rührte sich nicht. »Jetzt schleif ich dich zum Krüppel! Los, aufstehen!« Holt erhob sich. Revetcki umkreiste Holt zweimal. Dabei schlug er mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Stiefel. »Ich weiß was Besseres! Sie werden den Himmel darum bitten, daß mir im Kriege kein Leides geschehe! Sie werden täglich für mich beten! Sie melden sich mit Vetter heute abend bei mir.«
Eine Stunde vor Zapfenstreich stieg Holt mit Vetter die Treppe zum dritten Stock hinauf, wo die Zimmer der Unteroffiziere lagen. Revetcki wohnte mit Boek und einem ruhigen, älteren Unteroffizier namens Winkler zusammen. Revetcki lag im Trainingsanzug auf seinem Bett. Er hatte sich viele bunte Kissen in den Rücken geschoben und hielt die Hände auf der Brust gefaltet. Unteroffizier Boek saß am Tisch, rasierte sich und grinste erwartungsvoll. Unteroffizier Winkler lag schon im Bett. Revetckis Gesicht zuckte. »Ich wünsche ab sofort allabendlich ein Nachtgebet zu hören«, sagte er. »Ich habe mich entschlossen, fromm zu werden, weil ich unter euch Teufeln Gefahr laufe, ein Leben zu führen, welches Gott nicht wohlgefällig ist. Holt, sagen Sie das Gebet auf!«
Boek feixte.
»Und Vetter, Sie beten anschließend mohammedanisch«, befahl Revetcki, »falls Allah größer als Jehova ist!«
Holt besann sich nicht länger und sagte, was ihm gerade in den Sinn kam: »Ich bin klein, mein Herz ist rein …«
Revetcki schrie schon los: »Wahnsinniger! Irrsinniger! Schwachsinniger! Nennt Er das ein Nachtgebet für einen preußischen Korporal?« Er äffte nach: »Ich bin klein … Will Er seinen Korporal wegen seines geringen Wuchses verhöhnen?«
»Nein, Herr Unteroffizier!«
»Ab!« schrie Revetcki. »In einer halben Stunde wieder hier! Mit einem ordentlichen Gebet! Es muß zwei Teile haben! Der erste Teil muß traurig sein, daß ich an meine vielliebe Mutter denken und weinen kann! Der zweite Teil muß kernig sein, wie dies für einen Soldaten sich geziemt! Los, ab!«
Holt sagte draußen zu Vetter: »Er ist geisteskrank! Er ist ein geisteskranker Narr!« – »Ach wo«, sagte Vetter, »der hat bloß seinen Jux mit uns, weil wir doch alles tun müssen!«
In der Stube berieten sie. Die Anteilnahme war groß, denn schon morgen konnte es jeden anderen treffen. Das Problem wurde mit Kindchens Hilfe gelöst. »Drei Zigaretten, und ich mach’s! Ich kann dichten, ich hab schon als Junge Festzeitungen geliefert, Hochzeitsgedichte und so!« Er nahm Papier und Bleistift. »Zwei Teile? Erst ernst, dann kernig?« Er schrieb. Er fragte: »Was reimt sich denn gleich auf Furz?« – »Sturz!« rief Wolzow. »Kurz!« schrie es aus einer Ecke. Kindchen war rasch fertig, las vor und erntete Beifall. Holt prägte sich die zusammengereimten Zeilen ein. Kindchen witterte ein Geschäft. »Wenn er jeden Abend so ein Gedicht haben will, und ihr bestellt sie bei mir wochenweise, dann geb ich bei sieben Stück dreißig Prozent Rabatt, sagen wir: fünfzehn Zigaretten die Woche.«
Holt und Vetter meldeten sich wieder bei Revetcki. »Der Abend sinkt«, begann Holt, »die Sterne scheinen, der Mond am Himmel leuchtet mild.« Revetckis Gesicht verklärte sich. Holt fuhr fort: »Die Mütter in der Heimat weinen an ihrer Söhne trautem Bild.« – »Schön!« flüsterte Revetcki. »O so schön!« Holt überlegte verzweifelt, wie es weitergehe. »Fern tönt des Glöckchens süß Gebimmel. Der Herr verhüte deinen Sturz.« Revetckis Augenbrauen zuckten. Holt vollendete: »Ruh sanft. Es schenke dir der Himmel gesunden Schlaf und guten Furz!«
Unteroffizier Boek schlug ein brüllendes Gelächter an. Revetcki schrie: »Vetter! Auf die Knie! Das Gesicht gen Mekka! Los, heulen Sie wie ein Derwisch: Allah il Allah!« Vetter zeterte mit erhobenen Armen: »Aaalah il Aaalah!«
Holt sah abwechselnd auf Revetcki, dessen Gesicht eine unbekannte Begeisterung ausstrahlte, auf Vetter, der einen kläglichen Anblick bot, und auf Boek, der vor Lachen zu bersten drohte, beide Hände zwischen die Schenkel preßte und schrie: »Hilfe, ich … schiff mir … in die Hose!«
Holt sagte nachher zu Wolzow: »Ich soll jeden Abend kommen. Muß ich das?« – »Mußt du nicht«, sagte Wolzow. »Beschwer dich, du wirst todsicher recht bekommen. Aber überleg dir das hundertmal. Die Ausbilder sehen dann einen Spielverderber in dir.« Holt beschwerte sich nicht, obwohl er sich deshalb verachtete. Revetcki führte diese abendlichen Szenen dem Unteroffizierkorps der Stabskompanie vor. Kindchen lieferte Gebete, die am Anfang immer mehr von Sentimentalität trieften und deren Pointen immer lasziver wurden. Dann hatte Revetcki die Sache satt und erklärte, weiter ein »gottlos lüderliches Leben« führen zu wollen.
Der Stabsgefreite Kindchen sagte: »Du hast doch Abitur, Holt. Da mußt du nach dem Krieg Kritiker werden! Da gehst du in die Stadt, wo der Revetcki am Theater ist, und schreibst in der Zeitung: ›Der Statist Alois Revetcki, dieser mittelmäßige Komparse, verfügt nicht annähernd über die notwendigen Gestaltungsmittel, eine Rolle mit Leben zu erfüllen.‹ Dann gibst du ihm den Rest: ›Revetcki erwies sich wieder einmal als äußerst zweifelhafte Errungenschaft, auf die der Herr Intendant hätte verzichten müssen!‹ Sieh mal, ich hab eine kleine Fabrik, und unser Alter, der Reichert, also der hat mich mal ganz hundsgemein schleifen lassen. Von Beruf ist er Vertreter. Und nach dem Krieg …« Und wieder einmal erzählte er, wie er sich nach dem Krieg am Kommandeur rächen wolle.
Der Führer des Ausbildungszuges, Leutnant Wehnert, war einundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, blond und blauäugig. Seine schwarze Uniform mit den silbernen Totenköpfen auf den Spiegeln war immer peinlich sauber und gebügelt. Wehnert sprach oft über sich selbst: »Ich bin Soldat durch und durch!« Oder: »Ich bin ein politischer Soldat … Wir glühenden Nationalsozialisten«, sagte er, »kennen nur ein Gesetz: die Treue zum Führer!« Er sprach gern und oft. »Das deutsche Volk hat den wertvollsten Zug seines Wesens, die nordische Treue, für das Linsengericht des welschen Humanismus hingegeben. Der Führer macht diesen verderblichen Tausch rückgängig. Es muß wieder gelten: Unsere Ehre heißt Treue! Das nenne ich deutsche Wiedergeburt.« Er sprach nicht nur gern, er sprach auch fließend. Er zitierte oft »Mein Kampf« und noch öfter Rosenbergs »Mythus«. Er war NSF-Offizier. Mit Leidenschaft hielt er »wehrpolitischen Führungsunterricht«. Wehnert, fand Holt, ließ sich mit Ziesche vergleichen. »Vergeßt nie die strahlende Mission, die wir Deutschen erfüllen!« sagte er. »Seit zwei Jahrtausenden sehnt sich die Menschheit nach Erlösung. Die Welt wartet auf den Heiland. Wir, Volk der Deutschen, sind der Heiland. Aber wir lassen uns nicht, wie jener falsche Erlöser, ans Kreuz schlagen. Wir schlagen die anderen ans Kreuz. Unser Evangelium heißt Macht.«
Zu den Rekruten pflegte er zu sagen: »Panzerschütze Reimann! Sie sind nur ein Stück Dreck! Sie werden die Gnade nie begreifen, in dieser Zeit leben zu dürfen. Niemals wird die Erleuchtung über Sie kommen, welche Ehre es ist, für Adolf Hitler zu sterben. Sie leben stur dahin, fressen, saufen. Sie sind Dünger für den Acker, den wir Nationalsozialisten mit dem Schwert pflügen, damit das Reich wachse und gedeihe.«
Er hatte zwei Steckenpferde: Vorträge über Themen wie »Der Held und die Geschichte«, »Das Deutschtum und der heldische Gedanke« und Kriegsspiele am Sandkasten. Er führte eine Reihe von Liedern ein, die von der SS gesungen wurden: »Kamerad, wo bist du«, lautete das eine, es kam etwas von einer »kleinen Freundin« darin vor. Peter Wiese sagte zu Holt: »Die Sentimentalität dieser Lieder ist verlogen!« Holt war das gleichgültig. Er schrie, was die Lungen hergaben, denn wenn der Gesang klappte, ließ man sie in Ruhe marschieren. Das war das wichtigste.
An der Front war Leutnant Wehnert nur kurze Zeit gewesen, ein paar Wochen in Frankreich. Wolzow sagte: »Reden kann er sehr schön. Mal sehn, was an der Front aus seinem ›heldischen Gedanken‹ wird. Was er sagt, unterschreib ich. Er könnte mein Ideal sein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, er trägt eine Maske, und in Wirklichkeit … Also abwarten!« Einmal gerieten sie aneinander. Wolzow prahlte mit seinen militärischen Kenntnissen. Wehnert rief: »Sie sind ein Angeber, Wolzow! Ich habe schon manchen großmäuligen Feigling gekannt.«
Wolzow sagte am Abend: »Großmäuliger Feigling … Das laß ich mir nicht bieten!«
Wenige Tage später war im Zielgarten das erste Werfen mit scharfen Handgranaten. In der Deckung eines Gebüsches händigte Revetcki Holt eine Stiel- und eine Eierhandgranate aus. Holt mußte sie schärfen, dann steckte er die Stielhandgranate durchs Koppel und kroch über das Feld zu dem Schützenloch hin, wo Leutnant Wehnert wartete.
Der Leutnant, in dem engen Loch dicht an Holts Seite, erklärte noch einmal: »Es wird nicht gezählt! Es wird abgerissen und geworfen.« Etwa zwanzig Meter vor dem Loch war ein Pfahl als Ziel in die Erde gerammt. »Los!« Holt schraubte den Stiel auf, die Schnur mit dem Porzellanknopf fiel in seine Hand. Er riß ab und warf. Leutnant und Rekrut duckten sich tief ins Loch, die Druckwelle der Detonation fegte über sie hin. Holt warf auch die Eierhandgranate.
Wolzow saß inmitten der Gruppe im Gebüsch und wartete. Er schwang wie üblich große Reden. »Die Wirkung einer Handgranate ist gering«, sagte er. »Es handelt sich vor allem um eine moralische Wirkung.« – »Sie sollen heute noch verspüren«, deklamierte Revetcki, »wie tief moralisch mein Privatschliff wirkt!« Wolzow schwieg. »Los, ab!« befahl Revetcki.
Wolzow kroch ins Loch, wo Wehnert wieder seinen Spruch aufsagte: »Es wird nicht gezählt, es wird abgerissen und geworfen.« – »Jawohl«, sagte Wolzow. Dann warf er die Stielhandgranate. Als er sich die Eierhandgranate zurechtmachte, fragte er: »Ich bin doch recht unterrichtet: der Zünder brennt fünf Sekunden?« – »Quatschen Sie nicht. Werfen Sie!«
Wolzow schob umständlich den Ärmel des Mantels und der Feldbluse hoch, legte das Zifferblatt seiner Armbanduhr frei, sah den Leutnant an und riß den Zünder ab. Dann hielt er die Eierhandgranate in der Faust und blickte auf die Uhr. »Noch vier Sekunden …« – »Wolzow!« schrie der Leutnant in Todesangst. – »Noch zwei Sekunden … noch eine …« Der Leutnant sank zusammen, grau im Gesicht. »Weg!« schrie Wolzow und schleuderte die Eierhandgranate von sich, sie detonierte in der Luft, Sand peitschte ins Loch.
Wehnert zitterte. Auch Wolzow zitterte nun. »Herr Leutnant, eh Sie mich das nächste Mal ›großmäuligen Feigling‹ schimpfen, da sehn Sie sich meine Ahnentafel an.«
Nur Holt und Gomulka erfuhren von dieser Begebenheit. Wolzow sagte: »Nun muß ich abwarten, ob er Tatbericht einreicht.« – »Warum forderst du ihn so heraus?« fragte Holt. – »Das verstehst du nicht. Von Wehnerts Beurteilung hängt meine Offizierslaufbahn ab. Ich muß schnell Unteroffizier werden. Entweder er macht mich jetzt fertig, oder … Ich glaub, ich hab ihm imponiert.« Er nahm Holt beiseite: »Wie ihm in dem Loch das Zittern gekommen ist … Jetzt bin ich sicher. Alles Fassade! Der macht sich was vor, der redet sich was ein, weil er Angst hat! Der Wehnert fällt um!«
Holt antwortete nicht. Er sprach mit Wolzow eigentlich nur noch über den Dienst. Wolzow wurde immer härter, rücksichtsloser, von vielem, was Holt bewegte, durfte er nichts wissen. Holt hatte sich nie mit ihm über die Erlebnisse in den Karpaten ausgesprochen. Er ließ sich von Wolzow mitschleppen, aber die Entfremdung wuchs.
Leutnant Wehnert reichte keinen Tatbericht ein, sondern zog Wolzow mehr und mehr vor. Wolzow wurde sein Lieblingsrekrut. Die Spiele am Sandkasten taten ein übriges. Die Ausbildung sah dann und wann Unterricht über »Taktik des Panzerkampfes« vor; das Thema beschränkte sich auf Formationsfahren, Marsch- und Gefechtsformation, Geländekunde. Wolzow aber schlug mit Wehnert im Sandkasten wahre Mammutschlachten, Schachkämpfe der Strategie, wobei er den Leutnant mittels klangvoller Phrasen einkesselte und vernichtete. Er lieferte ein klassisches Cannae nach dem andern, vereinigte seine getrennten Truppen mehr als einmal mustergültig auf dem Schlachtfeld – »Das höchste, was ein Feldherr zu leisten vermag!« – und meldete dann, mit schräggelegtem Kopf: »Herr Leutnant, ich muß Schachmatt sagen! Ihre beiden Kampfgruppen dort, die dürften inzwischen längst verschossen haben!«
Holt ließ sich gern als Helfer heranziehen, er hörte geduldig Wolzows ausgefallene historische Parallelen an. Der Sandkasten war zehn mal fünf Meter groß, ringsum führten ein paar Holzstufen empor. Wenn ein solches Spiel bevorstand, befahl Wehnert Holt und Vetter zu sich und ließ sie eine vielgestaltige Landschaft aufbauen, mit Flüssen, Bergen, Wäldern und Städten. Am Nachmittag wies er dann Revetcki für die vorgeschriebenen Formationsübungen eine schäbige Ecke an und rief Wolzow zu sich. »Ich hab uns da ein schönes Problem aufgebaut. Sie haben Rot. Ich hab Blau und greife an.«
Er verteilte die Figuren, kleine Panzer, Schützenpanzer, Kanonen aus Kunststoff, Symbole für größere Einheiten. Holt stand mit einem zwei Meter langen Zeigestab dabei, um die Figuren zurechtzurücken. Wehnert hockte geschniegelt auf der obersten Treppenstufe. »Ich bin mit starken Panzerkräften überraschend durch Ihre Linien gebrochen, mit zwei Panzerkorps, Infanterie, Artillerie und so weiter. Meine Reserven sind Ihnen unbekannt. Sie haben keine bedeutenden Reserven.« Wolzow maulte: »Immer muß ich mit unterlegenen Kräften operieren, und dann kritisieren Sie, daß ich Ermattungsstrategie treibe! Wie sieht es denn in der Luft aus? Darf ich rauchen?« Wehnert nickte. »In der Luft reichen die Kräfte gerade aus, jeweils die eigenen Erdtruppen zuverlässig abzuschirmen, das vereinfacht das Problem etwas.« – »Hier, die Stadt, soll das meine Hauptstadt sein?« – »Ja. Legen Sie los.« – »Nein«, sagte Wolzow unlustig. »Ich muß doch erst mal sehn, wohin der Stoß zielt!« Leutnant Wehnert zog die Spitze eines Panzerkeils näher an die Stadt heran. »So. Abend des vierten Angriffstages.« Wolzow überlegte lange, ging um den Sandkasten herum und rauchte. »Ich beginne meinen Aufmarsch. Ich brauch acht Tage. Rücken Sie inzwischen weiter vor … Nein, Herr Leutnant, nicht gar so schnell, ich hab dort immerhin ein paar feste Orte und Artilleriekräfte, mit denen müssen Sie erst mal fertigwerden. Bis an den Fluß, weiter kommen Sie in den acht Tagen nicht.« Wolzow stellte seine Figuren auf und erklärte: »Ihr Angriff zielt auf meine Hauptstadt, die Situation ähnelt der Lage in Frankreich Juni 1940.« Wehnert sah mit wachsendem Erstaunen zu. »Was ist denn los! Das ist doch Unsinn! Wollen Sie Ihre Kräfte nicht zur Verteidigung der Hauptstadt ansetzen?« – »Wo steht denn geschrieben, daß ich meine Hauptstadt unbedingt decken muß, Herr Leutnant? Da werden Sie aber auch nicht eine Literaturstelle finden. Das kann ich doch machen, wie ich will! Ich hab eine starke Garnison dort, die wird natürlich alarmiert.« – »Und wollen Sie mir nicht den Flußübergang verwehren? Das ist doch die letzte Barriere vor Ihrer Hauptstadt!« – ›Ich werd doch nicht wegen so einem bissel Flußsand meine besten Divisionen opfern!« sagte Wolzow. »Hier, hinter meiner Hauptstadt, stell ich ein schwaches Korps auf, das kann jederzeit zur Verstärkung der Besatzung eingesetzt werden. Ich erklär meine Metropole zur Festung, die müssen Sie belagern, Herr Leutnant!« Wehnert zog seine Panzerspitzen bis an den Fluß. »Ich kämpfe mir den Flußübergang frei und setze über.« – »Bitte!« sagte Wolzow. »Ziehen Sie gegen die Hauptstadt, das kann mich gar nicht irre machen. Ich marschier in Ihrer Nordflanke auf, mit der Hauptmacht meiner Panzer- und Infanteriedivisionen, da wolln wir doch mal sehn, ob Sie wagen, weiter vorzugehn!«
Nun überlegte der Leutnant, verblüfft über die Wendung, die das Spiel nahm. Wolzow fuhr fort: »Wenn ich Ihnen meine Panzerdivisionen überstürzt in den Weg werfe, werde ich geschlagen und bin erledigt. So haben Sie sich das nämlich gedacht.«
Der Leutnant schwieg noch immer betroffen. »Aber daß Sie mir einfach den Weg freigeben, ist das nicht gegen alle Regeln?« – »Regeln, was man darf und was man nicht darf«, erklärte Wolzow großsprecherisch, »gibt es in der Strategie überhaupt nicht. Grundprinzipien, ja, aber sonst gilt nur eins: das jeweils Bestmögliche zu tun. Moltke hat die Strategie ein System von Aushilfen genannt. Bis Moltke hat es geheißen: Ein Feldherr muß als wichtigstes seine Basis sichern, muß Flanken und Rücken decken, muß seine Kräfte zusammenhalten, soll vor der Schlacht Masse bilden, soll vordringlich auf die feindliche Hauptarmee marschieren … Ein Feldherr soll und ein Feldherr muß und so weiter, das waren im neunzehnten Jahrhundert unumstößliche Gesetze. Moltke hat gegen alle diese Gesetze verstoßen und hat trotz dieser Riesenfehler gesiegt. Da hat schon Schlieffen die Frage gestellt: War das bloß Glück? Es war mehr. Es war eben Moltkes System von Aushilfen.«
»Gut, gut«, sagte Wehnert. »Jetzt muß ich also eine Aushilfe finden. Sie sollen sich verrechnet haben, daß ich Sie dort in Ihrer Bombenstellung angreife. Ich lasse Ihren Aufmarsch in meiner Flanke stehen, natürlich drehe ich Teilkräfte nach Norden ein, im übrigen stoße ich weiter auf Ihre Hauptstadt und beginne sofort mit der Belagerung. Holt, rücken Sie mal die ersten acht Abteilungen heran!« Wolzow überlegte. Dann zog er seine Panzer im Bogen nach Osten. Wehnert sagte: »Ja … aber …« – »Ging heut schnell, was? Sehn Sie, was jetzt passiert?« Wehnert starrte auf den Sandkasten. Sein Gesicht rötete sich. »Ich bin aber doch stark genug, um einen Stoß in den Rücken aufzufangen! Ich beziehe hier in der Hügelgegend mit starken Teilkräften eine feste Rückenstellung.«
Wolzow grinste ungeniert. »Überall starke Teilkräfte! Teilkräfte drehen nach Norden ein, Teilkräfte beziehen eine Hügelstellung, Teilkräfte belagern meine Hauptstadt; und mein Panzerkorps, Herr Leutnant, das schick ich jetzt auf Urlaub, für Ihre Teilkräfte reicht meine Garnison! So will Moltke ja nun auch nicht verstanden sein! Ihre Teilkräfte überrenn ich, wo ich will!« Wehnert sah verblüfft auf Wolzow, der nun fragte: »Darf ich was Grundsätzliches sagen? Ihnen schwebte so etwas wie Cäsar bei Alesia vor. Die Deckung einer Belagerung gegen Entsatzheere ist eine der schwersten Aufgaben für den Feldherrn, dabei ist schon vielen großen Männern eine Pleite passiert, und gelungen ist es nur wenigen.« Er zog sein Taschenbuch. »Erstmalig wurde das Problem von Cäsar gelöst. Als die Gallier mit Übermacht den Vercingetorix entsetzen wollten, gab er die Belagerung Alesias nicht auf, sondern schloß sein Belagerungsheer selbst mit Wall und Graben ein. Moltke hätte das eine geniale Aushilfe genannt. Ob so was heute überhaupt noch möglich ist, das ist sehr fraglich. Immerhin ist es den Russen bei Stalingrad gelungen, Mansteins Entsatzversuch abzuweisen, ohne die Belagerung aufzugeben. Aber der Wunsch, bereits errungene Vorteile nicht preiszugeben, hat zum Beispiel 1683 dem Kara Mustapha den greifbaren Sieg gekostet! Er konnte sich nicht entschließen, seine Janitscharen gegen Karl von Lothringens Entsatzheer zu werfen, aus war’s! Ähnlich ging’s dem preußischen Friedrich, als er mit Teilkräften nach Kolin zog. Richtig hat es Napoleon gemacht. Er hat 1797 die Belagerung von Mantua aufgegeben und bei Rivoli, Corona und La Favorita die Österreicher vernichtet, woraufhin ihm Mantua von selbst zufiel. Ich habe hier den Fehler vermieden, den Napoleon 1813 gemacht hat. Napoleon«, sagte er mit unüberbietbarem Selbstbewußtsein, »hätte wie ich sein Heer seitlich von Paris aufstellen müssen, da hätten es die Preußen nie gewagt, ein Korps auf Paris gehen zu lassen! Sie haben es gewagt. Wären Sie gegen meinen Aufmarsch nach Norden eingedreht, da hätte ich es sehr schwer gehabt.«
»Sie haben ein phänomenales Gedächtnis, Wolzow«, sagte Wehnert, »das hilft natürlich viel, wenn man solche Präzedenzfälle im Gedächtnis hat. Ich mach Sie zum Unteroffizier, ich schick Sie auf Offizierslehrgang. Erst müssen Sie natürlich durch den Schmelztiegel der Front. Denn Sie dürfen nicht denken«, meinte er, während er das helle Koppel zurechtrückte, »daß militärisches Wissen allein die Führernatur ausmacht, dazu gehört selbstverständlich mehr, und nicht jeder wird Leutnant!« Er nickte. »Sehen Sie mich an. Härte bis zur Grausamkeit, unerschütterlicher Glaube an die großdeutsche Sendung, und vor allem bedingungslose Treue zum Führer über den Tod hinaus … Das sind die wichtigsten Eigenschaften eines nationalsozialistischen Offiziers.« Er deutete auf den Sandkasten. »Morgen sind Sie vom Infanteriedienst befreit, da spielen wir noch einmal durch, wie es gekommen wär, wenn ich Ihre Hauptmacht angegriffen hätte.« Wolzow schrie: »Jawohl, Herr Leutnant!«
Leutnant Wehnert hielt Unterricht. Thema: »Ist Rasse Schicksal?« Holt saß im Unterrichtsraum stets weit hinten, neben Peter Wiese. In seinem Rücken lümmelten sich Wolzow und Vetter auf den harten Schemeln. Wehnert trat hochaufgerichtet vor die Rekruten hin, in seinem Rücken thronte Revetcki auf dem Katheder, ein Auge halb geschlossen, das andere weit aufgerissen und den Blick starr in den Raum gerichtet. Wehnert trug das runde Parteiabzeichen an der Panzeruniform. Der Blick seiner kalten Augen ging über die Rekruten hinweg. Er hielt die Hände auf dem Rücken.
Jetzt konzentriert er sich, dachte Holt. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte, aber Revetcki zog drohend eine Augenbraue hoch.
»Ist Rasse Schicksal?« fragte Wehnert mit klingender Stimme. Holt dachte gespannt: Ob er jetzt endlich mal erklärt, was er unter Schicksal eigentlich versteht? Immerfort Schicksal, Herrgott, Vorsehung …
»Das Schicksal einer Rasse bedeutet Selbstbestimmung«, begann der Leutnant. »Denn das nordische Blut …« Holt war unaufmerksam. »… jeder einzelne daran Anteil hat …«, hörte er, »… die Möglichkeit, von sich aus zur Wiedervernordung unserer Nation beizutragen … nordische Rasse und …«
Nordische Rasse, dachte Holt, noch keiner hat jemals erklärt, was das eigentlich ist, die »nordische Rasse«, weder Kutschera noch Ziesche, noch Lesser. Er erinnerte sich an seinen Vater. Es lag weit zurück. Holt hatte gehört, wie sein Vater mit irgendwem über die Rassentheorie gesprochen hatte. Menschenblut in vier Gruppen, A, B, AB und 0, dachte er jetzt, noch etliche Untergruppen. Aber Eskimoblut, Japanerblut, Schwedenblut, Indianerblut, da ist kein Unterschied, nur diese Gruppen. Was meinen die also mit nordischem Blut, was soll man sich darunter vorstellen?
»Soll das deutsche Volk sich seiner rassischen Aufgabe klar bewußt werden, muß ihm eine auserwählte Führerschicht, ein neuer Adel des nordisch reinen Bluts vorangehen, sagt einer unserer Rasseforscher.«
Holt dachte: Vater hat gesagt, das ist alles Religion, Aberglaube, Spuk, fauler Zauber. Aber er hat es nicht zu mir gesagt! Zu mir, dachte er bitter, hat er gar nichts gesagt, mich hat er laufen lassen, ins Elend, ins Unglück! … Die ständige Wiederkehr des »nordischen Blutes« in Wehnerts Rede reizte ihn. Alles Quatsch, dachte er. Aber warum? Wozu dieser ganze Rassen-, Blut- und Nordmenschzauber? Das müßte man wissen!
»… die Rasse letzten Endes ein Mysterium ist«, sagte Leutnant Wehnert. Holt nickte unwillkürlich. »Man kann sie nicht erkennen, nur fühlen. Der Verstand faßt sie nicht, nur das Gefühl … durch die Rasse kann die heutige Welt den heldischen Gedanken zurückgewinnen.« Wieder überkam den Leutnant jene eifernde Beredsamkeit. Holt beobachtete den Offizier mit Skepsis und Mißtrauen. Wozu das?
»… zwar nur im nordischen Blut: die Germanen oder die Nacht, das ist heute wie einst die Losung.«
Die Rekruten dösten. Nur wenige hörten zu. Der Leutnant sagte: »Das Leben des Helden ist das Leben, das wir uns erstreben, das Leben der nach Beute und Sieg lüstern schweifenden blonden Bestie. Wir können nur dadurch Helden sein, daß wir unser Jahrhundert zum Beginn einer neuen Welt gestalten. Denn der Held steht immer in den Anfängen der Welt. Sein Gegenbild ist der Nachfahr. Darum hassen alle Späten das Heldische.«
Es ist klar, daß es keinen interessiert, dachte Holt. Wenn er sagen würde, wie der Krieg weitergeht, dann würden alle zuhören. Außerdem hat er das Wesen des Helden schon ein paarmal erklärt.
»In der Kindheit ist der Held faul und lebt für sich. Es gibt eine heldische Faulheit.«
Wolzow stieß Holt in den Rücken und flüsterte: »Ich! Ich! Aber genau!«
»Heldische Faulheit ist Ruhen in sich selbst: gutmütig, wortfaul, gleichgiltig …« Er sagte gleichgiltig. »… bis dann der Berserkergang kommt, dieser urmenschliche Ausbruch von Kraft und Kampflust …«
»Jawohl«, flüsterte Wolzow in Holts Rücken. »Vier Wochen faul wie die Pest, aber dann mal richtig dreschen!«
»… erlebt der Held als Jüngling seine Einsamkeit, bis ihm als Mann die Einsamkeit des Helden Stolz und Kraft …«
Vetter nickte ein, aber Wolzow stieß ihn in die Seite.
»Darum liebt der Held das Meer und die Fahrt im Wikingsdrachen, darum steigt er hinauf ins Gebirg. Droben fühlt er sich ewig, den Aaren des Anfangs gefreundet, und spürt, was einzig ihn ausfüllt: zeitlose Macht! Held und All, das ist der tiefste Blick in den Tag des Geschehens.«
Den Aaren des Anfangs gefreundet? Jetzt ist er ganz groß in Fahrt! Komisch, ich hör ihm zu und hör jedes Wort und hab doch keine Ahnung, was er eigentlich redet!
»Der Held hat’s gewagt, ein Schicksal zu leben, den Tod nicht zu fürchten und vielen verhaßt zu sein. Er kennt seinen Reichtum, er reckt seine Arme und schreitet hinein. Daß noch alles zu tun ist, daß rings ein Anfang und überall Bestätigung glänzt, das ist die heldische Zuversicht, die nur der Reine kennt, der Edelgeborene.«
Und vielen verhaßt zu sein! Holts Gedanken irrten ab. Das soll also etwas Großes, Heldisches sein, wenn man sich vielen verhaßt macht …?
»Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden … Revetcki!« rief Wehnert plötzlich, und ein Ruck ging durch die Zuhörer. Das Gesicht des Leutnants war zornrot. »Menke, Hintz, Otzdorf und Pleß! Daß Sie mir nachher die Schweine fertigmachen, Revetcki, bis sie röcheln! Im Unterricht schlafen! Ihr undeutsches Gesindel, ich treib euch den inneren Schweinehund aus!«
Jetzt hat er todsicher den Faden verloren, dachte Holt, während er dem Leutnant aufmerksam ins Gesicht sah, aber er kann fortfahren, wo er will, es paßt immer alles überall.
»Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden«, wiederholte der Leutnant. »Begreifen wir ihn und seine Schicksalsschau, so begreifen wir ihn und seine ganze Welt.«
Schicksal, immer wieder Schicksal, dachte Holt: Was ist Schicksal?
»Der heldische Haß, o dieser Griff Thors um seinen Hammer, daß die Knöchel der Hand weiß werden, diese Herrlichkeit heldischen Hassens, prasselnd in die Welt, daß den Starken in ihren Wäldern der Atem stockt! Erst seit der Haß, der heldische Haß wieder gelehrt werden darf, ist ein Anfang über Deutschland.«
Nach dem heldischen Haß kommt immer die heldische Sittlichkeit, dachte Holt.
»Aus der edlen Entfesselung der Sinne, die eine alte Zeit gekannt hat, sind die vielerlei Unzuchtsverfahren des Genießers geworden. Die Unzucht früherer Zeit …« – die Aufmerksamkeit hob sich – »… war ein Erlebnis, hatte ihren eigenen Spaß, ihr schenkelklatschendes Pathos und ihre bunten Galgenvögel, die etwas opfern konnten, damit es herrlich am Morgen in einer Gosse endete …«
Vetter räusperte sich laut.
»So mag sein wildes Blut den Helden in den Urstreit schleudern des Geschlechtlichen und mag ihn ringen lassen um den Sinn von Mann und Weib, der zu erleben ist, nie zu erklügeln! Und fessellos ausbrechen will das Geschlechtliche, darin liegt die Fragwürdigkeit der Ehe für manche Männer heldischen Blutes …«
Jetzt hörten die Rekruten tatsächlich zu. Man schaute gespannt auf den Leutnant. Aber Wehnert kehrte zur heldischen Rasse zurück, und das Interesse erlosch. Auch Holts Aufmerksamkeit ließ nach.
»Die heldische Rasse … Blutserfahrung eines jeden einzelnen sollte sie sein … Spricht der Führer: Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt … Alle Werte der Welt geschaffen von nordischen Menschen … Das klassische Griechenland eine Großtat nordischer Rasse, das Römerreich eine Rassentat nordischer Größe … Die italienischen Künstler sind nordischen Blutes … Nordischen Blutes waren Voltaire und …«
Jetzt kommt die heldische Schönheit, dann ist er fertig, dachte Holt.
»… nicht nur der begabteste, auch der schönste Mensch ist der Mensch nordischer Rasse. Da steht die schlanke Gestalt des Mannes aufgerichtet zu siegreichem Ausdruck des Knochen- und Muskelbaus … da blüht der Wuchs des Weibes auf mit schmalen gerundeten Schultern und breiter geschwungener Hüfte … So sind die nordischen Menschen als der Schmuck der Erde erschienen, als die strahlenden Kömmlinge aus der Freude der Schöpfung.«
»Amen«, sagte jemand ganz leise. Das war Gomulka.
»Uns aber«, rief der Leutnant, »denen das Ahnen erschlossen ist um Würde und Wunder der Rasse, uns bleibt eine elementare Pflicht zu erfüllen. Wer aus tiefster Seele an die Sendung des nordischen Helden glaubt, der kann nie wanken und nie weich werden, wenn der Befehl auch dem Verstand unfaßbar ist, dem Verstand, der nur die Äußerlichkeit begreift, während der Glaube allein das Wesen erschließt.«
Wie war das? Wenn der Befehl auch dem Verstande unfaßbar erscheint … ja, jetzt begreif ich!
»Das Schicksal des Helden ist seine Rasse, der Mythos vom Reich sucht gläubige Herzen. Es ist nicht die Kraft des Verstandes, die das Reich erbauen wird, sondern die heldische Zuversicht, die Selbstbeherrschung, auch wenn der klügelnde Verstand sich meldet. Der Führer schrieb: Wenn unserer Jugend etwas weniger Wissen eingetrichtert worden wäre, so hätte sich das für Deutschland vielfach gelohnt. Der Weg zum Endsieg heißt nicht Denken– Wissen–Kritik, sondern Schicksal–Mythos–Glaube! Die heldische Größe zeigt sich im Gehorchen und im Handeln. Des Führers Partei schuf die Grundlage, die Partei, von der der Dichter singt: ›Aus dem Sumpf und seinen Niederungen stieg die Partei mit ihren Gliederungen …‹«
Holt hörte nicht mehr hin. Jetzt begreif ich, wozu das erfunden worden ist, dachte er, und der Gedanke nahm ihm den Atem: Rasse, nordisches Blut, Arier, Übermensch, heldische Zuversicht … damit ich die Slowakin erschossen hätte, ohne mit der Wimper zu zucken!
»Im Kampf um das Reich gilt keine Moral! Unser Dichter Hanns Johst spricht: ›Es läßt sich aus einer Moral aber kein Glauben gewinnen, nur aus dem Glauben eine Moral.‹ Aus dem Glauben an die Urkraft der Rasse wuchs unsere Moral. Wo Glaube ist, so spricht Hanns Johst, dort ›ist Allmacht! Und wo Allmacht ist … ist das Reich und die Herrlichkeit!‹« – »… in Ewigkeit, amen …«, flüsterte Gomulka.
»Achtung!« brüllte Revetcki. Die Rekruten sprangen auf. Leutnant Wehnert verließ kerzengerade den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
»So!« sagte Revetcki. »Dienstschluß? Nein, Essig! Ich habe gesehen, daß ihr allesamt gepennt habt.« Er lief vor den Tischen auf und ab und klopfte mit dem Stöckchen an seine Stiefel. »Warum spiegeln eure Visagen keine heilige Ergriffenheit? Warum glotzt ihr mich an wie tote Karpfen?« Er brüllte: »Jetzt werdet ihr einen Berserkergang erleben, ihr dreckigen Kömmlinge, bis ihr bei lebendigem Leibe verwest! Jetzt treib ich euch die heldische Faulheit aus, ich werd euch fessellos schleifen, bis es herrlich am grauen Morgen in einer Gosse endet! Ihr sollt den tiefsten Blick in den Tag des Geschehens tun! Los, in drei Minuten feldmarschmäßig und … Gaaaas!«
Sie rissen die Masken heraus, Revetcki führte sie auf das Trichterfeld des Kasernenhofes. »Jetzt treibe ich WF-Unterricht«, sagte er, »daß die Knöchel weiß werden!« Boek grinste begeistert. »Karabiner im Vorhalt! Hüpft heldisch Häschen-hüpf, Hunde, hübsch durch die Trichter! Reckt die Arme und schreitet hinein!«
Er ließ sie erst nach einer Stunde auf die Stuben.
7
Die trübe, gedrückte Stimmung der Rekruten besserte sich überraschend, als am 19. Dezember die Nachricht von der Ardennenoffensive eintraf. Wehnert und Wolzow standen bis tief in die Nacht am Sandkasten, wo sie die Landschaft zwischen Schneifel und Hohem Venn aufgebaut hatten. Holt mußte seinen Schlaf opfern und mit dem Zeigestock die kleinen Panzer zurechtsetzen. Wehnert wußte mehr Einzelheiten, als der Wehrmachtbericht meldete. Wolzow studierte die Karte, stocherte mit dem Finger im Sandkasten herum und sagte: »Die Offensive ist nach allen Regeln der Kriegskunst angelegt!« Einen Tag vor Heiligabend standen sie das letztemal am Sandkasten. Bis zum Jahresende klangen die Berichte vom Fortgang der Offensive optimistisch. Dann brachen jegliche Illusionen zusammen.
Wenige Tage vor Weihnachten wurden sie vereidigt. Es war eine flüchtige Zeremonie, die an den Rekruten ohne Eindruck vorüberging. Nur Wolzow nahm sie ernst. »Jetzt sind wir vereidigt«, sagte er, »jetzt haben wir bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, was auch kommen mag!«
Revetcki kündigte die Abteilungs-Weihnachtsfeier an: »Ich habe euch ab sofort seelisch zu läutern, damit ihr in der hohen Nacht der klaren Sterne mit schuldlosem Antlitz vor das heilige Jesulein tretet!«
»Seelisch läutern?« sagte Holt. »Schleifen meint das scheinheilige Aas!«
Revetcki trat in die Stube. »Wiese! Öffnen Sie sofort Ihre Halsbinde!« Wiese gehorchte. Revetcki besichtigte einen Spind. Dann fuhr er Wiese an: »Das ist un-möööglich! Der Kerl läuft mit offener Halsbinde herum! Dafür werden Sie sechs Stunden sonderbehandelt! Machen Sie sich fertig, ehe ich Sie fertigmache, schreiben Sie noch ein paar Zeilen an Ihre Hinterbliebenen!«
Peter Wiese wurde bleich.
Revetcki sagte: »Oder wollen Sie ein Ablaßbriefchen kaufen? Was machen Sie in der stillen, heiligen Nacht mit Ihren Schnapsmarken?«
»Herr Unteroffizier«, stammelte Wiese, Tränen der Erleichterung in den Augen, »die geb ich Ihnen!« – »Welch liebliches Geschenk!« rief Revetcki, und sein Gesicht warf abenteuerliche Falten. »Die geöffnete Halsbinde ist großzügig verziehen!«
Dann war Heiligabend. Wolzow, Holt, Vetter, Gomulka und noch ein paar andere waren zu Unteroffiziers-Ordonnanzen befohlen und holten sich in der Kammer neue, schneeweiße Drillichjacken. Die größte der Fahrzeughallen war ausgeräumt und mit Tischen und Bänken vollgestellt worden. An der Wand zog sich eine Theke entlang. Vorn war ein Podium aufgebaut. Dort sang am Abend ein Soldatenchor: »O du fröhliche …« Zwei große Weihnachtsbäume warfen schwaches Kerzenlicht in die Halle. Major Reichert, der Abteilungskommandeur, hielt eine Ansprache. Holt, in der weißen Drillichjacke, stand an der Theke und hielt ein Tablett bereit.
Es war öde und leer in ihm. Weihnachten, dachte er … Niemand hatte ihm geschrieben, auch Gundel nicht. Wortfetzen aus der Rede des Kommandeurs drangen an sein Ohr: »Sechste Kriegsweihnacht … Führer unerschütterlich … Unerschütterliches Vertrauen … Fest der Hoffnung, Fest der Zuversicht … Endsieg.« Der Chor setzte wieder ein, dann sangen in der Halle mehr als tausend kratzige, rauhe Stimmen: »Stille Nacht, heilige Nacht …« Holt lehnte an der Theke. Gomulka, neben ihm, verzog keine Miene. Wolzow trat an Holts Seite und stieß ihn in die Rippen: »Alter Krieger, trink einen Schnaps!« Es war ein Bierglas, halb voll Korn, Holt rang sekundenlang nach Atem, dann wischte er sich über die Stirn. Ein dünner, durchsichtiger Schleier zog sich über seine Sinne: die Kerzen an den Bäumen strahlten heller, das einsetzende Summen der tausend Stimmen rauschte fern wie Meeresbrandung. Das war das letztemal, daß ich weich geworden bin! dachte er. Schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s ans Sterben, in bin dabei … »Noch leben wir«, sagte er, und Wolzow knuffte ihn wieder in die Seite und meinte: »Und ob! Zwei alte Krieger wie wir!«
Der Abend entartete rasch zu einem Saufgelage. Holt trug Tabletts mit Schnaps- und Biergläsern von der Theke zu den Unteroffizieren, wischte Bierpfützen auf, sammelte Schnapsmarken ein und trug sie zur Theke. Anfangs wurden die Marken nachgezählt, bald mußte Holt sie ungezählt in einen Kasten werfen, wobei er fleißig betrog. Mit der Zeit ging die Kontrolle verloren.
Die Unteroffiziere betranken sich rasch. Revetcki rollte mit den Augen, trank und rief: »Keinen Tropfen trinkt das Huhn, ohne einen Blick zum Himmel aufzutun!« In einer Ecke, umringt von Unteroffizieren und Feldwebeln, stand die Tochter des Kantinenwirtes, ein übles Frauenzimmer von dreißig Jahren mit weißgebleichtem Haar, leicht verwachsen, heute noch greller als sonst geschminkt. Sie hatte anfangs bei den Offizieren serviert, aber nun ließen sie die Unteroffiziere nicht mehr an die Arbeit. Am Offizierstisch standen Batterien von Wein- und Kognakflaschen auf der weißgedeckten Tafel, Konfektschalen und geöffnete Zigarrenkisten. Holt sah den Abteilungskommandeur, Major Reichert, zum erstenmal. Zu seiner Rechten saß der sagenhafte Hauptmann Weber, Chef der IV. Kompanie, sagenhaft ob seiner lückenlosen Sammlung von Kriegsauszeichnungen, mehrfach im Wehrmachtbericht genannt und nun seit einem halben Jahr endgültig beim Ersatzheer gelandet: einarmig, den linken Ärmel der zweireihigen schwarzen Uniformjacke in die Achsel eingeschlagen, einäugig, das rechte Auge von einer schwarzen Binde bedeckt, das Gesicht von Narben zerhackt, so saß er kerzengerade neben dem Major und hob mit einer eckigen Bewegung das Weinglas zum Mund. Er trug heute an der Jacke keinen Orden, keine Medaille, nur um den Hals das Ritterkreuz.
»Sieh ihn dir an!« sagte Wolzow zu Holt. »Der Mann hat den Dnepr-Übergang bei Rogatschow mitgemacht, dann war er bei Mogilew eingekesselt und hat sich mit seinen Henschel-Tigern nach Westen durchgeschlagen, da ist die ganze Kompanie draufgegangen, einzig er ist mit dem Umsteigewagen durchgekommen!«
»Ordonnanz!« krakeelte Revetcki am Unteroffizierstisch. Er hatte trübe Augen. »Holt! Uns ist so kannibalisch wohl … Ganymed, du findiger Engel …!« Der Schluckauf plagte ihn. »Hier fehlt nur eins: Schnaps und … Holt! Wo ist die Toppsau hin, die Bucklige? Das Aas verlangt zehn Mark!« Er schrie: »Anstatt froh zu sein, wenn sie ein preußischer Korporal …« Der Schluckauf zerrüttete ihn. »Da sagte ich: Nein danke! Dafür kann ich ja zweimal in den Puff gehn!« Unteroffizier Boek brüllte: »Du wirst den Spund doch nicht etwa bitten! Seit wann werden die Dreckspunde denn gebeten! Gib dem Spund doch einen Befehl! Sag dem Spund doch, er wird morgen den ganzen Feiertag geschliffen, ge-schliiiifen, bis ihm das Hirn verdampft!« – »Los, schaff uns Schnaps«, schrie Revetcki, »aber schnell, sonst schleif ich dich zum Eunuchen!«
Wolzow zog Holt zur Seite: »Wir müssen Revetcki und Boek jetzt derartig besoffen machen, daß sie morgen nicht schnaufen können!« – »Also los«, sagte Holt. An der Theke füllte der Kantinenwirt Schnapsgläser.
Jemand faßte Holt von hinten am Arm und drehte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt herum. Das war Oberfeldwebel Burgkert. »Junge«, sagte er, »Ordonnanz, wie heißt du?« – »Panzerschütze Holt, vom Ausbildungszug der Stabskompanie.« Jeder kannte den Oberfeldwebel. Er ließ sich von niemandem etwas sagen, grüßte die Offiziere lasch, herablassend und erwiderte den Gruß Untergebener mit einem Kopfnicken. Heute hatte er sämtliche Orden angelegt. Er war so groß wie Wolzow, aber viel breiter, bulliger. Holts Blick glitt über die schwarze Uniformjacke. EK I und EK II, zählte er, goldenes Verwundetenabzeichen, silberne Nahkampfspange, Deutsches Kreuz in Gold, am Ärmel sieben Panzervernichtungsabzeichen … – »Schau dir den Ramsch ruhig an, mein Junge!« sagte der Oberfeldwebel mit heiserem Baß, und er hielt Holt noch immer am Arm fest. »Wenn du genug geglotzt hast, dann holst du für mich zwei Flaschen Kognak, aber nicht solchen Fuseldreck, sondern den gleichen, den die Offiziere bekommen! Zwei Flaschen, zwei Gläser, es müssen Schwenkschalen sein! Das bringst du mir in die Ecke!« Er deutete in das trüb erleuchtete Ende der Fahrzeughalle. »Los!«
Holt lief zur Theke. »Zwei Flaschen für den Kommandeur! Kognak! Und zwei Schwenkschalen!« Die Schwenkschalen tilgten das Mißtrauen. Der Oberfeldwebel saß auf einem leeren Bierfaß, er nahm Holt die Flaschen aus der Hand und studierte die Etiketten. »Gut!« Er stellte eine Flasche auf den Boden und füllte die beiden Schwenkschalen. »Trink, Rekrut!« Der Lärm in der Halle ebbte ab. Irgendwo grölte ein Dutzend betrunkener Stimmen: »Wie einst, Lilli-Marleeeeen!« Dann verstummte auch das. Bei der improvisierten Bühne war der Major, offensichtlich stark betrunken, auf die Offizierstafel geklettert, hielt ein gefülltes Sektglas in der Hand und brüllte: »Hoch … Panzer … elf! … Es lebe … die ruhmreiche … ungeschlagene … 11. Panzerdivision!!« – »Ungeschlagen!« sagte der Oberfeldwebel. Seine Stimme hatte alles Kratzige verloren, und der Baß rollte grabestief. »Ungeschlagen! Tula, November einundvierzig … Smolensk, September dreiundvierzig … Mogilew, März vierundvierzig … Minsk, Juli vierundvierzig … ungeschlagen, aber vernichtet! Es gibt keine 11. Panzerdivision mehr! Es gibt noch fünfhundert Gewehre und ein Dutzend Tiger, aber die sind schrottreif!« – »Es lebe …«, schrie der Major, »unser großer General … und unser Führer Adolf Hitler …« Die Halle zitterte im Gebrüll der tausend Soldaten. »Junge, trink!« sagte der Oberfeldwebel. »Nicht auf den General. Auf niemand. Auf den größten Beschiß der Welt!« Holt trank gehorsam. »Abteilungsbefehl!« hörte er den Major brüllen. »… Anbetracht der Lage … noch vorhandenen Alkoholvorräte … rücksichtslos zu versaufen!« – »Wir sind ja so beschissen worden«, sagte der Oberfeldwebel. »Junge du hast keine Ahnung!« Er goß sich wieder das Glas voll. »Sauf, Rekrut! Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß.« Holt starrte gebannt auf den riesigen Mann, der sich einschenkte, trank, wieder einschenkte und trank. Er hörte ihn zwischen zwei Schlucken sagen: »Sauf, Junge! Willst du nicht?« Er nahm schon die zweite Flasche zur Hand. »Junge, wie man uns beschissen hat!« Holt lief davon.
Beim Tisch der Unteroffiziere ging das Gelage seinem Ende zu. Revetcki trank aus der Flasche. Boek lag mit dem Oberkörper über dem Tisch. Der Stabsgefreite Kindchen torkelte zwischen den Tischen entlang, in jedem Arm eine Flasche, und sang: »Ein Pro-oo-sit der Ge-müüt-lich-keit!« Die Offiziere waren verschwunden. Unteroffizier Winkler, der auf Revetckis Stube lag, wankte dem Ausgang zu, stolperte und schlug hin. Revetcki beugte sich über ihn, richtete sich auf und sagte grinsend: »Weitermachen!« Holt eilte zu Winkler. Dort stand Burgkert und sagte: »Bring ihn weg, Rekrut! Er wird noch gebraucht. Wir werden alle noch gebraucht!«
Holt und Gomulka hoben Winkler auf. An der Hallentür stand ein Gefreiter, klein von Statur, vielleicht dreißig Jahre alt. Er rauchte und blickte ungerührt in das Chaos, mit einem aufmerksamen und wachen Blick. Er öffnete die Tür für Holt und Gomulka, die Winkler aus der Halle trugen, während Boek an ihnen vorbei ins Freie torkelte.
»Eure Ausbilder?« fragte er.
Gomulka sagte: »Es ist widerlich.«
Der Gefreite lächelte. Er sagte, indem er mit einer Handbewegung in die Halle hineindeutete: »Warte nur, bis diese Fehlcharge abgestochen wird! Fliegt auf den Schrotthaufen, das dauert kein Jahr mehr!«
Holt und Gomulka schleppten Winkler über den zerklüfteten Kasernenhof in sein Bett. Gomulka lief zurück zur Halle, wo der Gefreite noch immer an der Tür stand.
Holt ging in die Stube. Die trübe Lampe erhellte den großen Raum nur schwach. In einer Ecke saß Peter Wiese. Er schrieb einen Brief.
Holt lehnte sich an einen Spind. Wiese lächelte. Der Lärm drang über den weiten Kasernenhof bis in die Stube. »Tja, Peter …«, sagte Holt hilflos. Er warf sich auf sein Bett. Weihnachten! dachte er …
Am ersten Feiertag, als die Kaserne endlich aus der Betäubung erwachte, brachte Kindchen Post. Holt erhielt ein Päckchen von Gundel. »Ich durfte bei Frau Gomulka für dich backen«, schrieb sie. »Es ist das erstemal, daß ich gebacken habe. Darum ist es noch nicht restlos gelungen. Frau Gomulka meint aber, ich soll es trotzdem schicken. Die getrockneten Aprikosen hat sie mir für Dich geschenkt. Das Bild habe ich beim Photographen machen lassen, aber ich finde, so sehe ich gar nicht aus.«
Er faltete das Papier auseinander. Obenan lag ein einfacher Tannenzweig. Er sah lange auf die Photographie. Gundel … Sie lächelte nicht, sie war ganz ernst. Wie kann man so große Augen haben, dachte er.
Seinen Geburtstag verbrachte Holt im Gelände beim Übungsschießen mit der Panzerfaust. Auf dem Rückmarsch schob Revetcki eine »Sonderbehandlung« ein, und erschöpft fiel Holt auf sein Bett. Vetter sagte: »Jetzt bist du achtzehn! Jetzt darfst du auch als Zivilist in alle Filme!«
Eine Woche später traf die Nachricht in der Kaserne ein: »Die Russen sind an der Weichsel durchgebrochen!« Wolzow breitete die Karte aus: »Hier! Aus dem Brückenkopf Sandomierz! Der Stoß zielt wahrscheinlich südwestlich nach Krakau oder westlich nach Kielce … Hier! Aus dem Brückenkopf Pulawy, auf Litzmannstadt angesetzt …« Neue Nachrichten langten an: »Sie sind auch in Ostpreußen durchgebrochen!« In der Kaserne verbreiteten sich ununterbrochen Gerüchte. »Die zweite Kompanie geht an die Front, noch diese Nacht!« Vetter schrie: »Wir solln weiter ausgebildet werden! Und eh’s rausgeht, solln wir alle in einen Puff!« Noch eine Woche verstrich.
Der Ausbildungszug fuhr mit einem Lastwagen zum gefechtsmäßigen Nachtscharfschießen auf den benachbarten Truppenübungsplatz. Die Rekruten auf dem LKW sangen. Dann standen sie lange in der Nacht und warteten. Wenig entfernt krachte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, Leuchtkugeln erhellten immer wieder die Dunkelheit. Holt stand mit gespreizten Beinen über seinem MG. Vetter hatte sich ein paar Gurte um den Hals gehängt und schleppte Munitionskästen, den Karabiner auf dem Rücken. Sie nahmen die Helme ab und rauchten eine Zigarette. Wolzow gab die letzten Direktiven: »Leute, wenn ihr vorgeht, lauft den MGs nicht ins Schußfeld! Werner, wir geben uns gegenseitig Feuerschutz beim Stellungswechsel.« Er sog an der Zigarette. »Bin gespannt, ob sie uns für frontreif erklären.«
»Abwarten«, sagte Holt.
Gomulka fragte: »Ob wir bald eingesetzt werden?« – »Der kann’s gar nicht mehr erwarten!« spottete jemand. Holt dachte: Ängstlich hat Sepps Frage wirklich nicht geklungen, eher erwartungsvoll! »Hast recht, Sepp. Das Warten, diese Ungewißheit, das ist vielleicht das übelste.« – »Vielleicht«, sagte Gomulka. Revetcki rief: »Fertigmachen!« Sie traten die Zigaretten aus und setzten die Helme auf. »Antreten!« Revetcki gab sich freundlich und sagte zu den Rekruten »Musketiere« oder »Füsiliere«. Er verkündete: »Ruhig Blut! Euer Korporal steht euch bei in der Stunde der Not!« Dann befahl er: »Gewehre laden und sichern!« Holt nahm das MG auf. »Schützenreihe«, rief Revetcki, »mitkommen!« Sie marschierten in Richtung der fingierten Hauptkampflinie. »Schützenkette links! Im Laufschritt … marsch, marsch!« Die Gruppe schwärmte aus. »Vorwärts, Arkebusiere!« rief Revetcki. Holt lief am rechten Flügel durch den tiefen Schnee. »Stellung!« Vetter warf sich neben Holt zu Boden. Schloß zurück, Deckel hoch, Gurt einlegen, Deckel schließen, entsichern, Kolben fest in die Schulter einsetzen … – »Visier vierhundert! Feuer frei!« Eine Leuchtkugel stieg hoch, blendend weißes Licht lag über dem beschneiten Acker. Wolzows MG am linken Flügel schoß schon. Holt sah vor sich die Mannscheiben durchs Gelände ziehn und schoß in kurzen Feuerstößen. Vielleicht übe ich es zum letztenmal, dachte er.
Revetcki war zufrieden. Die Kritik des Leutnants fiel dürftig aus. Dann brachte sie der Lastwagen zurück in die Kaserne. Sie sangen während der Fahrt: »Schlägt uns die Todesstunde, ruft uns das Schicksal ab, dann wird uns der Panzer zum ehernen Grab …«
Nach zwei Uhr langten sie auf den Stuben an. Wolzow brachte aus dem Waschraum Neuigkeiten: »Auf dem Boden haben sie ein Mittelwellengerät aufgestellt, mit einem Achtzig-Watt-Sender, damit haben sie Verbindung zu den Kampftruppen, die schreien draußen um Hilfe! Die Russen sind über Krakau und Litzmannstadt hinausgestoßen. Bei der vierten Kompanie machen sie die Jagdpanther einsatzbereit, die noch in der Halle stehn, die gehn heut nacht ab, die Funker haben sie aus unserer Kompanie abgestellt …« Revetcki riß die Tür auf: »Wolzow zum Leutnant!« – »Der will doch nicht etwa noch am Sandkasten spielen!« Wolzow zog die Jacke über und ging. Schon nach zehn Minuten riß er die Tür auf und ließ Leutnant Wehnert eintreten. Revetcki folgte. Wer schon in den Betten lag, richtete sich auf.
Holt sah auf Wolzows Gesicht und wußte alles.
Der Himmel steh mir bei!
Der Leutnant sah sich in der Stube um. Dann begann er: »Deutschland, heldischer Gedanke, nationalsozialistische Idee, hab ich euch das alles umsonst erzählt?« Er ging in der Stube auf und ab. »In den Wind geredet? Nein! Das darf nicht sein!« Nun sehr schnell: »Der Russe hat die Grenzen Schlesiens überschritten, jenes Landes, das unsere Vorväter mit heldischem Schwert ans Reich brachten. Er stößt ins Industriegebiet, er stößt gegen Breslau. Gefahr! Die schwerste Stunde bricht an! Die letzte Etappe des Krieges hat begonnen: der Nervenkrieg! Die besseren Nerven werden siegen. Wir werden die besseren Nerven haben.«
Er soll endlich sagen, was er von uns will!
»Der Führer hat in dieser Stunde die Aufstellung einer Panzerjagddivision befohlen. Aus Freiwilligen.«
Aus Freiwilligen? Gott sei Dank!
Gomulka sprang von seinem Bett und fuhr in die Hose.
»Es liegt an euch, daß diese Division eine Elitetruppe wird, an der sich das letzte Aufgebot des Bolschewismus die morschen Zähne ausbeißt. Unser Kamerad Wolzow hat sich als erster gemeldet, wie ich das von ihm nicht anders erwartet habe. Wer folgt ihm nach?«
»Herr Leutnant«, rief Gomulka, »ich melde mich freiwillig zur Panzerjagddivision.«
Sepp! schrie es in Holt. Sepp!
»Wer noch?« fragte der Leutnant.
Panzerjagd im Osten! Und der Sepp meldet sich!
Vetter beugte sich aus seinem Bett und kratzte sich hörbar unter dem Hemd auf der linken Brust.
»Der Führer hat befohlen: wer sechs Panzer mit Nahbekämpfungsmitteln vernichtet, erhält das Ritterkreuz.«
»Waaas?« rief Vetter. »Sechs Panzer … Ritterkreuz? Aber dann, Herr Leutnant, also ich mach mit, und überhaupt!«
Gilbert, Sepp, Christian … und ich?
Wolzow blickte zu Holts Bett hoch und sagte: »Werner! Mensch!«
»Herr Leutnant«, sagte Holt, mit einer fremden Stimme, »ich auch.«
Aber nun blieb alles still. Der Leutnant sagte: »Ihr vier … Ich hab’s mir gedacht, Kameraden, ich danke euch. Ihr schlaft morgen aus, solange ihr wollt. Zwölf Uhr Schreibstube, Laufzettel holen. Gute Nacht.«
Holt sprang aus dem Bett. Revetcki stand in der Stube und schrie: »Und die anderen? Die anderen!? Kerls, wollt ihr denn ewig leben?« Holt suchte Briefpapier im Spind. Revetcki schrie: »Ihr sollt es be-reu-en! Die Panzerjagd ist kurz, aber eure Reu ist lang! Ab morgen gewöhne ich euch den Selbsterhaltungstrieb ab, ihr Schweine, ihr trichinösen!« Er warf krachend die Tür zu.
Holt schrieb. Jemand rief: »Licht aus, wir müssen in drei Stunden raus!« Wolzow, der eine Liste für die Kleiderkammer entwarf, sagte: »Knäblein, halt deine Schnauze!« – »Jawohl!« sagte der Stabsgefreite Kindchen befriedigt. Er rief, von seinem Bett her: »Gib’s ihnen feste! Wenn ich nicht leider ein steifes Knie hätte, also wie ich hier lieg, so käm ich sofort mit!«
Holt schrieb: »Liebe Gundel! Ich geh morgen an die Ostfront zur Panzerjagd. Ich hab mich freiwillig gemeldet. Ich weiß nicht warum.«
Er überlegte. Ich tu’s für Dich, wollte er schreiben.
Für Gundel?
Er hörte seine eigene Stimme sprechen, und dann die Stimme des Rechtsanwalts Gomulka. Warten, worauf? … Daß der Märchenprinz unser verwunschenes Kind bald befreie …
Er starrte auf das weiße Papier. Alles falsch, dachte er. Alles falsch.
8
Der Laufzettel schrieb vor: Abteilungsrevier, Kleiderkammer, Waffenkammer, Schießunteroffizier, Fourier, Hauptfeldwebel und so weiter. Der Stabsarzt im Revier untersuchte sie flüchtig. »Kerngesund«, sagte er. »Panzerjagd ist das beste Mittel gegen Alterskrebs.« Die Kleiderkammer war das Klatschzentrum der Abteilung. Ein paar Kommandos seien schon in der Nacht abgegangen, das erfuhren sie hier. Der Kammerunteroffizier brachte, was Wolzow haben wollte. »Der behandelt uns nachsichtig wie Todkranke«, sagte Holt, während er warme Wäsche auf die Arme lud, Pullover, Feldgrau mit kurzen, zweireihigen Blusen aus Wolltuch, Schnürschuhe, Gamaschen, Fäustlinge. Wolzows Liste war lang, Kopfschützer, wattierte Überkleidung, Schneehemden mit Kapuzen. Endlich protestierte der Kammerchef gegen weitere Wünsche, das sei alles gegen die Vorschrift. Wolzow sagte: »Vorschrift? Die Russenpanzer halten sich auch nicht an Vorschriften!«
Der Waffenmeister berief sich auf Anweisungen. »Jeder eine Maschinenpistole!« Wolzow wies das neue Sturmgewehr zurück, er nannte den Unteroffizier »Mann«. »An der Front gibt’s nirgendwo die dreiviertellange Karabinermunition, Mann! Geben Sie uns die zweiundvierzig!« Vetter bettelte um eine Parabellum. Wolzow packte die Leuchtpistole ein und ging zur Tür, aber der Waffenmeister brüllte: »Wollen die Herren nicht vielleicht das MG mitnehmen? Darf ich den Herren das MG auf die Stube tragen lassen?« – »Und ich kann’s schleppen«, maulte Holt.
Kindchen, in seinem Munitionskeller, rief: »Kraftfutter! Schönes Kraftfutter!«, und baute einen Stapel Munitionsschachteln vor ihnen auf. »Zwanzig Gurte, beste Ware, meine Herren, jede dritte Patrone Leuchtspur!« – »Beste Ware, so was!« rief Vetter. Kindchen errötete bis in die großen Ohren. »Wer soll denn das schleppen!« sagte Holt. »Und für die MP noch sechs Magazine! Und Handgranaten!« rief Kindchen. Er brüllte hinter ihnen her: »Und Panzerfäuste! Für jeden eine Kiste! Die lade ich gleich aufs Auto, Dienst am Kunden, ganz groß!«
Beim Fourier führte Vetter das große Wort. »Rücken Sie mal die guten Sachen raus, Herr Feldwebel, Schoka-Kola, und solche Päckchen ›Für Panzerkämpfer im Großeinsatz‹!« – »Für meine Freiwilligen ist das Beste gut genug«, log Wolzow, »das hat der Major gesagt!« Der Feldwebel stieg schimpfend in den Keller.
In der Stube wühlte Vetter in Schokoladen- und Zigarettenpäckchen. »Leute, genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar sein!« Wolzow schärfte Handgranaten. Holt saß dabei und las in der Zeitung, in der ein Butterklumpen eingewickelt gewesen war. »Völkischer Beobachter«. »Vom Einsatz unserer Ostkämpfer« las er. In seiner heimlichen, nagenden Angst versuchte er zu glauben, was da stand. Es sind also ganz minderwertige Kämpfer, die Russen! Ich bin gut ausgebildet, bin jung und kräftig. Wer soll es schaffen, wenn nicht wir jungen Kerle?
Ein Fußtritt warf die angelehnte Stubentür auf. Zwischen den Spinden stand Oberfeldwebel Burgkert, die schwarze Uniform voll Orden. Er sah grau aus, verfallen, auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen. Er sagte mit kratziger Stimme: »Ihr geht mit mir raus?« Dann setzte er sich an den Tisch und spielte mit Wolzows Pistole. Er bekam einen Schweißausbruch, seine Hände zitterten. »Ich war auf ’m Dach bei den Funkern«, sagte er heiser. »Die haben die ganze Nacht Hilferufe aufgefangen. Keine Front mehr. Alles eingekesselt. Unsere 11. P. D. steckt beim Korps Nehring, das ist bei Kalisch eingeschlossen.« – »Ich weiß«, sagte Wolzow gleichgültig. »Sie haben einen Spruch aufgefangen, von irgendeiner Kampfgruppe. ›Gott sei unserer Seele gnädig!‹ Die haben alle die Nerven verloren!«
Ein Gefreiter trat ein, ein kleiner, untersetzter Mann, der von einem zum anderen blickte. »Gefreiter Horbeck.« Er setzte sich. Holt erkannte ihn wieder. Der Gefreite hatte nach der Weihnachtsfeier am Tor der großen Fahrzeughalle gestanden, der einzig Nüchterne im Chaos der Betrunkenen. Holt sah, wie er Gomulka überrascht zunickte und dann Wolzow und Vetter musterte, er glaubte dabei in dem Blick der grauen Augen einen Ausdruck verborgener Wachsamkeit zu beobachten, der unversehens in Gleichgültigkeit hinüberwechselte. »Ich bin der Fahrer.« Der Gefreite fragte, nun mit allen Zeichen prächtiger Laune: »Na, ist die Charge reif?«
»Was?« fragte Vetter.
»Ich meine: seid ihr fertig?« Wolzow zog sich ein neues, leuchtendes Ordensband durchs Knopfloch. Holt und Vetter hatten die Flakschießabzeichen angesteckt. »Meins ist weg«, sagte gleichmütig Gomulka, der blaß und stumm dabeisaß. »Ihr bekommt eigene Marschpapiere!« sagte Burgkert. Sie gingen zur Schreibstube.
Leutnant Wehnert redete von Taten. Seine Augen waren blauer denn je. »Taten werden gebraucht!« Er endete: »Mit Gott, Kameraden!«
Auf dem Hof wartete das Auto, ein offenes, achtsitziges Fahrzeug mit leichtem Verdeck, wie es die Polizei für Einsatzkommandos benutzte. Kindchen lud die Panzerfäuste auf. Der Gefreite Horbeck stand dabei, rauchte und machte keine Anstalten zu helfen. Er trug keine Tarnbekleidung und war nur mit einem Karabiner bewaffnet. Aber er schleppte einen prall gefüllten Rucksack, mehrere Decken, Zeltbahnen, Zeltstäbe und einen großen Kochkessel mit.
»Was willst du mit dem ganzen Mist?« fragte Wolzow.
Der Gefreite wandte bei dieser Frage flüchtig den Kopf. Ein Zug von Mißtrauen stand in seinem Gesicht, aber das mochte Täuschung sein, denn nun schlug er Wolzow auf die Schulter und rief: »Wirst schon sehen.«
Holt beobachtete es. Er dachte: Was ist das für einer?
Es dunkelte. Niemand kümmerte sich um sie. Der Ausbildungszug war zum Infanteriedienst ausgerückt. Burgkert setzte sich ganz hinten zu Wolzow. Sein Baß dröhnte. Wenn er aus der Feldflasche trank, verbreitete sich Schnapsgeruch. Gomulka hatte vorn neben dem Gefreiten Platz genommen, hinter ihnen saß Holt. Am Kasernentor prüfte der Posten umständlich die Papiere. Der Fahrer schaltete. Holts Blick streifte einen Wegweiser: »Görlitz 58 km«.
Fahrt durch die Nacht. Holt zog die Decke über die Knie. Die Winterkälte pfiff eisig durch das dünne Verdeck. Schnee fiel. Es stürmte. Als Holt sich umwandte, sah er Burgkert zur Seite gegen Wolzow gesunken. Beide schliefen. Der Kopf des Gefreiten stand als schwarze Silhouette vor der Windschutzscheibe, durch die der Schnee leuchtete. Der Gefreite sprach mit Gomulka, und nun hob er den rechten Arm vom Lenkrad und verstellte den Spiegel über der Windschutzscheibe, als wünsche er, das Innere des Wagens zu überschauen. Manchmal, wenn draußen der heulende Schneesturm abflaute, fing Holt Gesprächsfetzen auf, die das gleichmäßige Summen des Motors immer wieder übertönte.
Gomulkas Gesicht war nach links gewendet. Er sagte, und das mußte die Antwort auf irgendeine Frage sein: »… den müssen Sie ja besser kennen als wir.« Eine Bö warf Schnee über den Wagen. »… Wolzow hört manchmal ein bißchen auf Holt, sonst auf keinen«, sagte Gomulka.
Worüber reden die? fragte Holt sich schläfrig. Das Auto bockte durch ein Schlagloch, er fiel zur Seite. Er hörte, als er sich zurechtsetzte, den Gefreiten fragen: »Und der Blonde?« – »Gehorcht Wolzow wie ein Hund«, antwortete Gomulka, »aber wenn er allein ist …« Das Brummen des Motors verschluckte die Worte. Dann hörte Holt, wie Gomulka sagte: »… nein, eigentlich mein Vater …«, und er beugte sich vor, um besser zu verstehen.
»Hab Ihnen ja damals erzählt, wie das gekommen ist«, sagte Gomulka. »Leicht war es nicht für mich. Es mag ja Leute geben, die von Anfang an wußten, was gespielt wird. Der Holt hat im Urlaub ein Mädchen kennengelernt, deren Vater ist in einem Lager umgekommen, und die Mutter wurde hingerichtet. Solche …« Wieder übertönte das Motorengeräusch die Worte.
Holt dachte verwundert: Sepp erzählt von Gundel? Der Gefreite hob wieder die Hand zum Spiegel, verstellte ihn ein wenig und warf einen Blick nach hinten, wo Burgkert und Wolzow im Schlaf zusammengesunken waren. »… und ob du alles verstehst, das ist die Frage«, sagte er, »ganz abgesehen davon, daß man heutzutage über so was am besten den Mund hält.« – »Man wüßte halt manchmal ganz gern etwas genauer, mit wem man’s zu tun hat«, erwiderte Gomulka. Der Gefreite wandte ihm das Gesicht zu. »Genau das ist es«, sagte er betont. Dann schwieg er, und der Wagen raste mit verdunkelten Scheinwerfern durch die Schneewehen.
Sie hielten in Görlitz lange an einer Kreuzung. Burgkert erwachte und stieg aus. »Seht euch das an!« Holt stand frierend neben dem Wagen. Ein lautloser, spukhafter Zug wälzte sich langsam vorbei, Fußgänger, Handwagen, Schlitten, Pferdefuhrwerke, mit Koffern, Bettenbündeln, Hausrat bepackt, endlos, lautlos, nur das Wimmern von Kindern drang durch die Dunkelheit, das Kratzen einer Schlittenkufe am Bordstein.
Burgkert trank aus der Feldflasche. Hupend schob sich dann der Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern zwischen die Menschen. Auf der Chaussee nach Lauban zog ihnen der gleiche endlose Flüchtlingsstrom entgegen. An allen Kreuzungen gab es Aufenthalt. Kontrollposten, SS, Gendarmerie. »Papiere vorzeigen!« Morgens gegen sechs erreichten sie Breslau. »Frontleitstelle, oder wie nennt sich das?« Niemand wußte Bescheid. Endlich ließ Burgkert halten, ungeduldig und nervös. Vor einem Gebäude patrouillierte ein Doppelposten. Burgkert kam zurück. »Ich muß mich hier erst mal umsehen. Wolzow, kümmern Sie sich, wo wir hinsolln. In einer halben Stunde wieder hier, wenn ich nicht komm, dann ziehn Sie allein los.« Er verschwand in der Dunkelheit. Wolzow sah ihm verblüfft nach. »Weißt du, was der sucht? Schnaps! Der ist ja schon ganz konfus, weil er nichts mehr zu saufen hat!«
Überall herrschte das Chaos. »Hier, Einsatzstab … Halt mal!« Ein Feldwebel brüllte Wolzow an: »Panzerjagddivision? Quatschen Sie nicht! Papierdreck!« Schließlich hieß es: »Versuchen Sie, nach Klein Nieritz durchzukommen, dort liegt der Stab der 17. P. D.«
Sie warteten lange vergebens auf Burgkert. Der Gefreite sagte: »Wir fahren. Wer weiß, wann der wiederkommt!« Wolzow überlegte. Auch Gomulka drängte: »Jawohl, wir brauchen den nicht! Wir haben eigene Papiere!« Wolzow zögerte, aber der Gefreite rief: »Los! Fort! Wozu warten?«
»Die Panzerjagddivision gibt’s offenbar gar nicht«, sagte Wolzow endlich. »Das ist aber ein böses Zeichen! Also los! Dies ist die Stunde der Einzelkämpfer.« Holt zog Gomulka zur Seite. »Der Gefreite … was ist das für einer?« – »Ein Stahlwerker aus Wuppertal«, antwortete Gomulka. »Er war bis vor kurzem als Ofenmeister u. k. gestellt.« – »Wieso kennst du ihn?« – »Ich hab ihn nach Weihnachten dann und wann in der Kantine getroffen.«
Sie stiegen ein. Der Gefreite gab Gas. Klein Nieritz war ein winziges Dorf. »17. Panzerdivision?« Kopfschütteln. Ein undefinierbarer Stab einer undefinierbaren Einheit, bestehend aus drei Feldwebeln, ein paar Kraftfahrern und einem Dutzend konfuser Offiziere, befand sich in Auflösung. Vor dem Haus standen Lastwagen mit laufenden Motoren. Wolzow fragte. Einer schob sie zum anderen ab. Schließlich schickte man sie in ein Zimmer zu einem Major.
Der Major telefonierte, mit hochrotem Gesicht. »Aber ich sage Ihnen doch, zwischen hier und dem Russen ist nichts! Nein! Kein Panzerkorps, nur Volkssturm! Nein! Wer das sagt, ist ein Narr! Nein! Keine Nachrichten! Die letzten Nachrichten sind überholt! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Korps Nehring kämpft sich von Kalisch auf die Oder zurück! Nein! Die Russen sind mitten dazwischen! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Saucken steht noch weiter östlich als Nehring! Nein! Sie sind auf Breslau angesetzt. Nein! Wenn sie die Oder überhaupt erreichen, dann viel weiter nördlich! Nein! Von hier bis Oppeln ist ein Loch! Nein, Oppeln kann jede Stunde fallen! Nein! An der Oder soll die neue Linie aufgebaut werden, Ohlau–Brieg–Oppeln … Nein! Ich muß hier weg, sofort!«
Er horchte und musterte Holt und Wolzow. Dann rief er ins Mikrophon: »Was? Nein? Gut! Nein! Schluß!« Er warf den Hörer auf den Tisch und schrie: »Was wolln Sie!« – »Wir suchen die Panzerjagddivision, Herr Major«, sagte Wolzow. Der Major brüllte unbeherrscht: »Aber doch weiß Gott nicht hier! Suchen Sie, wo Sie wollen, aber doch nicht hier!« Handbewegung im Kreis. »Hier gibt es Wald, Eis, Schnee, Sumpf und Russen! Gleich gibt es so viel Russen, wie Sie wollen!« Er brüllte immer lauter: »Ja, bin ich denn unter Narren gefallen? Ich hab keine Zeit! Raus! Es gibt überhaupt keine Panzerjagddivision, das ist Narretei!«
Wolzow grinste, und das Grinsen schien den Major merkwürdigerweise zu beruhigen. Er fragte leiser, in zitternder Nervosität: »Was wollen Sie? Ich hab keine Zeit.« – »Panzerjagdkommando, motorisiert«, sagte Wolzow, »gut bewaffnet, Herr Major, wir brauchen einen Kampfauftrag, Karten und etwas Benzin. Wenigstens einen Tip, wo wir hinsolln.«
»Sie sind ein Narr!« schrie der Major wieder. »Karten?« Er sah sich um. »Hier, Karten, da haben Sie! Haun Sie ab mit Ihren Karten!« Er schmiß Wolzow einen dicken Packen vor die Füße. »Benzin? Auf dem Hof ist Benzin! Das Benzin tanken morgen die Russen!« – »Und wo sollen wir hin?«
»Ins Narrenhaus!« schrie der Major und tastete mit fliegenden Händen über sich hin, vom Hals zum Koppel, vom Koppel zum Kragen. Dann legte er beide Hände an die Schläfen. »Fahrn Sie nach Ohlau, oder nach Brieg, oder nach Oppeln, melden Sie sich bei Major Lindner! Raus!«
Draußen sagte Wolzow kopfschüttelnd: »Als Stabsoffizier müßte er sich etwas mehr in der Gewalt haben!« – »Das kann heiter werden«, sagte Holt. Der Gefreite holte Benzinkanister vom Hof. »Zurück nach Breslau, ob wir den Burgkert wiederfinden!« befahl Wolzow und studierte die Karte.
In Breslau gab es eine »Auffangstelle«, dort hieß es: »Sie kommen in eine Alarmkompanie!« Wolzow protestierte so lange, bis sie vor einen Oberstleutnant gerieten. »In Klein Nieritz liegt ein Divisionsstab, die 17. P. D. Zeigen Sie erst mal Ihre Papiere!« – »In Klein Nieritz gibt es keine 17. P. D! Ein Major hat uns zu einem Major Lindner geschickt!« – »Major Lindner? Der ist doch in Klein Nieritz!« So ging es weiter. Ein Hauptmann mit dem Gesicht eines Gallenleidenden, trüben Augen, gelber Gesichtsfarbe sprach in gequältem Ton: »Keine Ahnung, Major Lindner liegt mit seinem Stab in Oels, falls da nicht schon der Russe ist! Zur Kampfgruppe Buchert müssen Sie! Zeigen Sie mal die Papiere!« Sie sind alle verrückt geworden, dachte Holt. »Von der Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26? Da gehören Sie doch zur 11. P. D.! Die liegt auch hier irgendwo!« – »Nein, Herr Hauptmann.« – »Keine Ahnung«, schrie der Hauptmann. »Funker? Panzerfunker? Hier wird eine Kampfgruppe aufgestellt. Sie bleiben hier. Die Panzer sind noch nicht da!« Aber im nächsten Zimmer drückte ein Offizier mit müder Bewegung die nötigen Stempel auf die Papiere, ohne viel zu fragen. Sie erhielten freie Fahrt Richtung Oberschlesien. »Beeilen Sie sich! Überall werden die Brücken gesprengt!«
Der Gefreite schlug frierend die Arme um den Körper. Es schneite und stürmte. Gomulka unterhielt sich mit ein paar alten Soldaten. Dann fuhren sie los, am westlichen Ufer stromaufwärts. Bald erreichten sie eine kleine Stadt. Sie hielten bei dem großen Kasernenkomplex. Dort zerrte man ein paar 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze aus den Hallen. Der Kasernenhof war mit alten Männern vollgestopft, die hier eingekleidet, bewaffnet und zu Volkssturmeinheiten zusammengestellt wurden.
Wolzow fragte sich zum Hauptkommandanten durch. Holt stand an der Straße und sah den Strom der Flüchtlinge vorbeiziehen, Frauen, vom Schneesturm weiß überstiebt, in Decken gewickelte Kinder, Schlitten und Handwagen, Bettzeug, Hausrat, armselige Habe, Greise an Stöcken wankend, zerlumpt, alte Frauen in Umschlagtüchern, ein furchtbarer Zug des Elends, der Verzweiflung. Holt dachte an die verhungernden Gestalten der Gefangenen in der Batterie. Nun ist es über uns gekommen. Schnee fiel, immer mehr, und deckte alles zu.
Wolzow kam zurück. »Ich hab einen Kampfauftrag! Los, ab!« Auf der Fahrt erzählte er. Am östlichen Oderufer stand ein Verband Volkssturm. Ob es kampffähige Truppenreste der zerschlagenen Front gab, wußte auch hier niemand. »Wir verstärken die Besatzung einer Panzersperre. Kampfauftrag: Panzer aufhalten, solange’s geht, bis hier eine Linie aufgebaut worden ist. Truppen sind im Anmarsch.«
Die Straße führte zur Brücke. Das Ufer fiel steil zum Wasser ab. Soldaten würgten hinter dem Damm die 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze in Stellung. »Von der Artillerieabteilung 64, die hier in Garnison liegt«, erzählte Wolzow, »ist kaum noch was da. Der Kommandeur, ein steinalter Major, ist Kampfkommandant … Blödsinn, hier Langrohrgeschütze aufzustellen!« schimpfte er. »Die gehören fünf Kilometer hinter die Front!« Der Wagen rollte langsam über die Brücke. »Der Kommandant hat hier Rekruten ausgebildet. Seit Verdun, sagt er ganz hilflos zu mir, hat er keine Front mehr gesehen. Ein letzter Rest vom Ersatzhaufen, ein paar Alarmkompanien aus Klein Oels, ein Haufen Volkssturm, das ist seine Truppe.«
Die Oder, dieser mächtige Strom, war an beiden Ufern vereist. In der Mitte trieb die Strömung Schollen mit sich, preßte sie an den Buhnenköpfen zu Packeis auf, das sich über die glatte beschneite Eisfläche bis zu den Ufern hinschob. Zwischen den treibenden Schollen glänzte das Wasser grauschwarz und ölig.
Auf der Brücke begegneten ihnen Flüchtlingstrupps, auch auf der Chaussee. Wolzow ließ immer wieder halten. »Wo ist der Russe?« Man deutete nach Osten: »Sie sollen schon in Namslau sein!« – »Ist dort Militär?« – »Nur Volkssturm.« – »Weiter, Horbeck!«
Leer und einsam lag die Chaussee vor ihnen. Der Sturm wehte den Schnee zu weißen Dünen auf. Langsam kämpfte sich der Wagen voran. Ein Dorf, menschenleer, verlassen. In den Ställen brüllte Vieh. Vetter rief: »Also, hier könnte man eine Sau rausholen!« Wolzow studierte die Karte. »Die Panzer werden unbedingt auf diese Brücke stoßen!« Er sprach, als spiele er mit Leutnant Wehnert am Sandkasten. »Von Kreuzburg her über Namslau … Es gibt keine Nachrichten, keine Luftaufklärung, nichts! Bei Oppeln sollen sie angeblich schon über die Oder sein. Ich hab jedenfalls keine Lust, unter irgendein Volkssturmkommando gestellt zu werden.« – »Das ist richtig!« rief der Gefreite. »Wir bleiben am besten allein!« – »Mein ich auch«, sagte Gomulka. Holt fragte: »Wie kommen wir über die Oder zurück, wenn sie die Brücken sprengen?«
»Das soll uns jetzt aber verflucht egal sein!« sagte Wolzow ungehalten. »Fahr los, Horbeck! Fahr vorsichtig!« Er sah zum Himmel. »Es schneit nicht mehr. Da stinkt’s nach Tieffliegern.« – »Ich denk, die haben keine Luftwaffe?« fragte Vetter. »Was haben die nicht?« rief der Gefreite und wendete den Kopf. »Mann, die haben Schlachtflieger, daß dir noch Hören und Sehen vergehen wird!«
Die Chaussee führte durch einen Laubmischwald. Geäst und Holz waren von funkelnden Schneekristallen überzogen. Dann und wann leuchteten weiße Eisflächen zugefrorener Sümpfe durch die mächtigen Stämme. Fern dröhnte der Donner einer schweren Kanonade. Horbeck stoppte. Wolzow horchte. »Das ist weit weg! Fünfzig Kilometer vielleicht. Geht uns nichts an! Weiter!« Der Wald wich zu beiden Seiten der Straße zurück. Verschneite, sumpfige Wiesen, am Horizont der dunkle Waldstreifen, der bald wieder nahe heranrückte. Dann stieß die Straße in tiefen Wald und bog scharf nach rechts. Etwa sechzig Meter vor der Biegung lag die Panzersperre. Sie stiegen aus.
»Das ist gut gemacht«, sagte Wolzow. »Der Panzer kommt aus dem Wald und sieht die Sperre erst, wenn er unmittelbar davor ist.« Zwischen Sperre und Wald blieb beiderseits der Straße ein schmaler Streifen Wiese, links sumpfig, von Eis bedeckt. Ein paar Volkssturmmänner standen unbeweglich auf der Fahrbahn.
Der Gefreite lenkte den Wagen nach rechts auf die Wiese hinab, fuhr um die Sperre herum und am Waldrand ins Unterholz. Holt, die Maschinenpistole um den Hals, folgte Wolzow. »Wer kommandiert hier?« Am Waldrand sah Holt einen Schuppen, wie ihn Waldarbeiter zu benutzen pflegen. Aus der Tür trat eine Gestalt, bei deren Anblick Wolzow zu grinsen begann. Vetter brach in Gelächter aus.
Es war ein kleiner und dicker Mann von fünfzig Jahren, der da herankam. Er trug eine quittegelbe Uniform mit der Hakenkreuzbinde, bunte Norwegerhandschuhe und eine Schirmmütze. Da er ohne Mantel war, fror er. Seine Ohren standen ein wenig ab und sahen weiß aus. Sein Gesicht war rot und blau gefroren. Aus den Augen liefen Frosttränen. Am Arm baumelte ein Stahlhelm.
»Na, Sie?« sagte Wolzow.
Der Mann wußte nicht, was er von Wolzow halten sollte. Auf den weißen Tarnmänteln waren keine Rangabzeichen zu sehen. Er entschloß sich zu grüßen. »Heil Hitler! Melde Blockwart Kühl mit zwölf Mann Volkssturm auf Feldwache!«
Vetter meckerte los. »Kühl!« rief er. »Mensch, Blockwart Kalt müßten Sie heißen, Eiskalt!« Wolzow schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie hier? Sind Sie etwa der ›Verband‹ Volkssturm?«
Der Blockwart sah von einem zum anderen, empört über Vetters Spott, und doch hilflos. »Wir sind die Nachhut einer Volkssturmeinheit, die heute morgen abgezogen ist. Wir haben Befehl, hier die Panzer aufzuhalten.« Wolzow musterte den Blockwart, von den Füßen bis zum Kopf, dann flog sein Blick über die Volkssturmmänner, Gestalten in blaugrauen Mänteln, mit dem langen Gewehr 98 und Panzerfäusten bewaffnet. Er schüttelte den Kopf. »Mensch, Kühl! Sie werden hier zermanscht!« Der Blockwart sagte frierend: »In dieser entscheidenden Stunde gibt es keine Rücksicht auf den einzelnen! Deshalb werden wir …« – »Abhauen«, sagte Wolzow. »Schnell abhauen werden Sie! Lassen Sie sich in die Oderlinie stecken, dort macht’s die Masse. Hier kommt es auf den einzelnen an! Los, ich gebe Ihnen den Befehl, Sie ziehn sich auf die Oderlinie zurück.«
»Befehl?« Der Blockwart, das erkannte Holt, schwankte zwischen Mißtrauen und Hoffnung. »Wer sind Sie denn?« – »Leutnant Wolzow«, sagte Wolzow, ohne mit der Wimper zu zucken, »von der Panzerjagd-Divi…« Er schwieg mitten im Wort, hob das Gesicht und fuhr mit der Hand unter den Kopfschützer, um besser hören zu können. »Weg!« schrie er und sprang mit Riesensätzen zum Wald. Holt warf sich neben Vetter ins Unterholz, aber die zwölf Volkssturmmänner und der Blockwart standen noch erschrocken auf der Chaussee, als schon eine Maschine über die Wipfel raste, hochzog, wendete und steil auf die Straße hinabstieß, aus allen Rohren feuernd. Eine zweite Maschine fegte die Straße entlang, Panzersperre und Volkssturmmänner verschwanden in Rauch und Feuer, Geschosse klatschten in den Asphalt. Die beiden Schlachtflieger rasten in Richtung Oder davon.
Holt lief zur Straße. Die Volkssturmmänner standen verstört um einen Gefallenen. Der Blockwart war schweißnaß und zitterte. In der Ferne dröhnte Artilleriefeuer. Wolzow fuhr den Blockwart an. »Vielleicht glaubst du mir jetzt! Haut ab!« Und als der Blockwart noch immer ratlos von einem zum anderen sah, schob sich der Gefreite in den Vordergrund. »Willst du sie wirklich wegschicken?« – »Hast du was dagegen?« – »Ich? Dagegen? Bewahre!« Er zwinkerte. »Bloß, weil es heißt, du möchtest hier gewaltig kämpfen …« – »Deswegen will ich das Kroppzeug doch los sein! Das vermanscht mir doch bloß die Disposition!«
»In Ordnung!« Der Gefreite steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. Dann brüllte er: »Achtung! Lassen Sie antreten, Mann!« – »Kann er prima«, sagte Vetter. Der Blockwart ließ antreten. »Die Panzerfäuste bleiben hier!« rief Wolzow. »Melde mich ab«, sagte der Blockwart stramm, und seine Glieder bebten. »Heil Hitler! Rechts um … Marsch!« Sie sahen den Gestalten nach, die mit gesenkten Köpfen durch den Dunst zogen.
Wolzow untersuchte die Panzersperre. »Hat das Ding überhaupt einen Sinn?« fragte Holt zweifelnd. Der Asphalt war aufgerissen. In den Unterbau der Straße hatte man zwei Reihen starker Baumstämme gerammt. Der Zwischenraum war mit Steinen und Erde ausgefüllt. Die Erde stammte aus einer kleinen Feldstellung, die am Waldrand ausgehoben worden war, aus Löchern und Gräben.
»Jedenfalls müssen die Panzer stoppen«, erklärte Wolzow nachdenklich. »Der T 34/85 fährt auf der Chaussee fünfzig Kilometer pro Stunde, in diesem Tempo triffst du ins Blaue. Vor der Sperre müssen sie die Straße verlassen und nach links auf die Wiese. Rechts geht es nicht, da ist Sumpf.«
»Das Ding taugt nicht viel«, meinte Holt, »die Bombe hat die Stämme ganz schön schiefgedrückt!«
»Ich hab eine Idee!« Wolzow schritt die Strecke zwischen Sperre und Waldrand ab. »Fünfzig, sechzig Meter, gut! Sie werden einen Marschabstand von fünfzig Metern halten. Nehmen wir an, der erste Wagen rollt vor die Sperre und hält. Den schießen wir ab. Jetzt kommt der zweite aus dem Wald. Den schießen wir auch ab. Jetzt hat höchstens noch ein dritter Platz, merkst du was? Die stecken im Wald, durchfahren können sie ihn nicht, da sind die Stämme viel zu dick. Wir schießen also die ersten drei ab, dann ist die Ausfahrt aus dem Wald verstopft, und wir können sie nachher aus dem Unterholz der Reihe nach abknallen. Laß ruhig eine ganze Kompanie kommen; mit denen wird ein Taktiker wie ich fertig!«
»Hm«, machte Holt. Die Rechnung ging gar zu glatt auf. »Der erste Panzer ist am schwersten abzuschießen«, erklärte Wolzow weiter, »aus moralischen Gründen! Vor dem ersten hat man Angst, wenn es gekracht hat und einer hochgegangen ist, dann sieht es schon besser aus. Ich brauch also was Idiotensicheres, damit der erste erledigt wird. Wir werden ihn verlocken, einfach über die Sperre wegzufahren, und ich leg mich dahinter und spreng Sperre samt Panzer in die Luft …« Er untersuchte noch einmal die Baumstämme. »Los! Von jeder Seite eine Panzerfaust dagegen, daß die Erde runtersackt …« Er kniete schon mit einer Panzerfaust im Straßengraben; die anderen verkrochen sich im Unterholz. Mund auf! Es krachte gewaltig; Holzstämme und Erdreich wirbelten durch die Luft. Der Rauch verzog sich. Durch eine breite Lücke rutschte das Erdreich auf die Straße. »Noch eine von der anderen Seite!« befahl Wolzow. Holt schoß, probeweise aus der verschneiten Feldstellung am Waldrand. Wolzow besah sich zufrieden die Verwüstung. »Jetzt rollt der erste Panzer kurz entschlossen über den Haufen weg!«
Holt fuhr zusammen. Eine ferne, mächtige Detonation erschütterte die Luft, dröhnte sekundenlang und grollte noch lange nach. Wolzow fluchte. »Jetzt haben’s die Idioten krachen gehört und haben die Brücke gesprengt!« Holt schrie: »Und wie kommen wir zurück?« – »Irgendwie«, sagte Wolzow. »Das werden wir dann schon sehen.«
Sie schraubten die Köpfe der Panzerfäuste ab, die von den Volkssturmmännern zurückgelassen worden waren und häuften sie samt Sprengkapseln auf den Trümmerhaufen der Sperre. »Handgranaten!« befahl Wolzow. Holt lief zum Auto.
Dort stand der Gefreite und rauchte. Vetter schanzte abseits am Waldrand, er verlängerte den Graben bis ins Unterholz. Holt sagte: »Du könntest ihm helfen!« – »Blinder Eifer schadet nur«, spottete der Gefreite. Dann wurde er unvermittelt ernst. »Hör mal, Holt. Willst du hier wirklich …« Er machte eine Kopfbewegung zur Panzersperre hin; er zwinkerte.
Holt blickte befremdet auf. »Was soll das …«
Der Gefreite sah ihn merkwürdig an. »Na schön«, sagte er. Dann schlug er Holt auf die Schulter. »Nichts für ungut.«
Holt trug die Handgranaten zu Wolzow. Er dachte: Was ist mit dem los? Das ist doch … alles Maske! Er erinnerte sich an die Gesprächsfetzen, die er nachts mit angehört hatte und die nun einen Doppelsinn erhielten … Der ist in Wirklichkeit ganz anders!
Wolzow häufte die Handgranaten auf die Panzerfäuste und betrachtete mit schräggelegtem Kopf sein Werk. »Das haut die ganze Sperre kurz und klein! In dem ersten Panzer möcht ich nicht sitzen!« Er sah zum Himmel. »Schneit wieder, das ist die beste Tarnung.« Er nahm Holt am Arm. »Den Russen werd ich zeigen, was überlegene Taktik vermag! Ich bring die bessere Stellung ins Spiel! Ich nütze das Überraschungsmoment zu meinen Gunsten aus! So kühn, wie ich geplant habe, halten wir hier eine ganze Kompanie auf! Die Sache mit der Panzersperre hätte Moltke eine geniale Aushilfe genannt!« Holt nahm den Helm ab, zog den Kopfschützer ab und fuhr sich durchs nasse Haar. Aber Wolzows Zuversicht riß ihn doch mit. Er erinnerte sich an das Zeitungsblatt. Die Russen sollen ganz minderwertige Kämpfer sein, dachte er, vor allem die Panzerbesatzungen sollen gar nichts taugen … Er schnallte den Spaten vom Koppel und half Wolzow, ein Schützenloch jenseits der Sperre auszuheben. Der Tag ging zur Neige. »Von hier schieß ich eine Panzerfaust drauf, wenn der erste Panzer mit der Wanne schön über dem Haufen ist!« sagte Wolzow. Es dunkelte. »Vetter! Du gehst mit dem MG drüben am Waldrand in Stellung!« – »Das Auto lassen wir erst mal stehn«, sagte der Gefreite. »Das bring ich in der Nachtschicht weg.« Vetter blieb als Wache draußen.
In der Hütte spuckte ein kleiner Kanonenofen wohlige Wärme. An den Bretterwänden standen rohe Holzbänke. Durch die Ritzen pfiff der Schneesturm.
Wolzow saß am Ofen. Holt lehnte mit dem Rücken an der Wand und versuchte, im Sitzen zu schlafen. Der Gefreite hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen. Ein Hindenburglicht warf flackernde Schatten durch den Raum. Wolzow schmolz Schneewasser, ließ es kochen und brühte Pfefferminztee. Gomulka sagte: »Wolzow … Jetzt erklär mir noch mal genau, warum du den Volkssturm weggeschickt hast.«
»Weil die Leute ohne jede Kampfkraft sind«, antwortete Wolzow. »Ich kämpf doch in so einer komplizierten Lage nicht mit Leuten, die eigentlich gar nicht wollen und nur gezwungen mitmachen. Das bringt doch nichts ein, auf solche Leute ist kein Verlaß!«
Gomulka stand auf und ging ein paarmal in der kleinen Baracke auf und ab, die Maschinenpistole unter dem Arm. Dann blieb er am Eingang stehen, an den Türpfosten gelehnt. »Du kämpfst nicht mit Leuten . . die nur gezwungen mitmachen und … eigentlich gar nicht wollen«, wiederholte er stockend.
Holt blickte auf. Gomulka hatte die Maschinenpistole an der Hüfte angeschlagen, sie war entsichert. Der Finger lag am Abzug. Die Mündung wies auf Wolzow. Gomulkas Gesicht war kreideweiß.
Was ist … was ist los? dachte Holt.
»Gilt das bloß für den Volkssturm«, hörte er Gomulka fragen, »oder auch für andere?«
Wolzow hob den Blick, sah lange auf Gomulka und fragte dann: »Versteh ich dich recht, Sepp?«
»Ja«, sagte Gomulka. »Ich denke, jetzt hast du mich verstanden … Bleib sitzen, Wolzow!« rief er, als Wolzow sich bewegte, und fügte hinzu: »Ich hab dir was zu sagen!«
Der Gefreite, in seiner Ecke, in die nur blasses Kerzenlicht fiel, beugte sich nach vorn. Er blickte abwechselnd auf Gomulka und auf Wolzow und warf dann einen prüfenden Blick auf Holt. Holt saß unbeweglich auf der hölzernen Bank, fasziniert durch das Schauspiel, das vor seinen Blicken in Szene ging, das er nicht begriff oder nicht begreifen wollte.
»Ich hab mich … aus einem Grund hab ich mich hierhergemeldet«, sagte Gomulka, atemlos vor Aufregung. »Ich mach nicht mehr mit. Also, ich geh zu den Russen!«
Es blieb lange still.
Wolzow sagte: »Du hast einen Eid geschworen, Sepp!«
»Ich hab ihn schwören müssen«, rief Gomulka, »man hat ihn mir abgepreßt!«
»Du bist Kriegsfreiwilliger«, sagte Wolzow. »Ein Kriegsfreiwilliger kann nicht sagen, daß ihm der Eid abgepreßt worden ist.«
Gomulka atmete so erregt, daß sich seine Schultern hoben und senkten. »Egal! Dann werd ich eidbrüchig!«
»Ein Lump, wer seinen Kriegsherrn im Stich läßt!« sagte Wolzow in einem kalten und feindlichen Ton.
Aber da brüllte Gomulka los, und die Narbe schwoll in seinem Gesicht:
»Kriegsherr … Das ist nicht mein Kriegsherr! Das ist nicht mein Krieg! Du nennst den Hitler deinen Kriegsherrn und hältst ihm den Eid … Ich nenn ihn einen Verbrecher … einen wahnsinnigen Mörder! Ich gehorch nicht mehr! Ich … hab gekämpft bei der Flak, ich hab geglaubt, es ist für Deutschland … Ich hab nicht hören wollen und nicht sehn, wie er alles in den Dreck gezogen hat und Deutschland zur Sau gemacht … und wie wir für ihn zu Verbrechern werden müssen! Aber dann ist mir’s klargeworden! Und jetzt mach ich Schluß!«
In der Stille, die diesen Worten folgte, erhob sich der Gefreite in seiner Ecke, aber niemand achtete darauf.
»Ich hab auf dem Hof gestanden«, rief Gomulka leidenschaftlich, »und wenn es der Böhm befohlen hätte, da wär ich zum Mörder geworden an dem Hausmeister, obwohl der recht hatte, als er schoß, denn der Schulze gehörte hin, dieses Untier … Aber ich sollte drüber zum Mörder werden! Ich laß mich nicht zum Mörder machen von dem! Eh so was wiederkommt, geh ich! Jawohl … ich geh!«
Schweigen.
»Und du«, fuhr Gomulka ruhiger fort, »du kannst nicht sagen, daß ich was Falsches will, außer daß ich meinen Eid brech! Aber ein Eid, den ich diesem Gesindel geschworen hab, der bindet nicht!« Und nun schrie er seine Anklage Wolzow ins Gesicht. »Du kannst gar nichts dagegen sagen, Wolzow, überhaupt nichts!, denn du weißt alles! Denk an die Sägemühle! Du weißt viel mehr, als du zugibst! Du hast uns nie die Wahrheit gesagt, wenn sie dir nicht in den Kram gepaßt hat! Du willst uns zugrunde richten, Wolzow, damit du deine Freude am Kriegsspiel hast! Und daß er für eine Lumperei ist, der ganze Kampf, das weißt du am besten! Du weißt alles! Du kennst den Kommissarbefehl, durch den schon dein Vater zum … zum Verbrecher geworden ist, jawohl, zum Verbrecher! Du kennst den Nacht-und-Nebel-Erlaß, du kennst die ›Endlösung der Judenfrage‹, du weißt genau, was Auschwitz ist, du hast die Zähneeinschläger bei der Gestapo in Essen selber gesehn! Du weißt überhaupt alles! Denn es steht alles in den Tagebüchern deines Vaters. Deine Mutter hat es daheim vielen Leuten erzählt, und du weißt auch, daß dein Vater seine Offiziersehre tausendfach besudelt und geschändet hat!«
Der Schein des Hindenburglichts flackerte noch trüber über Wolzows Gesicht, das nun weiß wie die gekalkte Barackenwand war. Aber Gomulka schwieg noch immer nicht. Es brach aus ihm hervor und wollte gesagt sein: »So einem Führer bin ich keine Treue schuldig! Ich mach nicht mehr mit! Und jetzt gib mir dein Wort, Wolzow, daß du mich gehn läßt!«
Wolzow stand auf und legte die Rechte auf die Pistolentasche. Er wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung zu Gomulka herum. Die Mündung der Maschinenpistole war auf seine Brust gerichtet. »So nicht«, sagte er drohend. Er sah mit einem dunklen Blick auf Gomulka. »Nimm die MP weg! Ich zähl bis drei.«
»Und dann? Was ist dann?« schrie Gomulka.
»Dann knall ich dich ab … Eins …«
»Ich schieß!« schrie Gomulka außer sich. »Eh ich einen Schuß auf die Russen abgeb, schieß ich dich zusammen, es ist mein heiliger Ernst! Du weißt, daß ganz Deutschland wie die Sägemühle ist, Wolzow, und du willst weiterkämpfen, damit die Sauerei nicht ans Licht kommt …«
»Zwei …«, zählte Wolzow, ging einen Schritt auf Gomulka zu und duckte sich zum Sprung.
»Wolzow!« schrie Gomulka, und die Hand am Abzug krampfte sich schon zusammen. Holt warf sich dazwischen. Er begriff nur eins: Sepp wird schießen! »Wahnsinnig seid ihr! Die Maschinenpistole weg! Gilbert … zurück! Eh ihr aufeinander schießt …« Er wußte nicht, was er tat, er riß eine Handgranate aus dem Koppel und hielt schon die Schnur in der Faust. »Ich zieh ab!«
Gomulka senkte widerwillig den Lauf der Maschinenpistole und sagte dabei: »Ich geh! Mich hält keiner! Und ich laß mich nicht von Wolzow abknallen!«
»Gilbert!« rief Holt. »Zum … zweitenmal im Leben erinner ich dich … du hast mir geschworen …«
»Ich knall ihn ab, den Lump, den Verräter«, sagte Wolzow haßvoll. Die Waffe, die noch immer auf ihn gerichtet war, erregte ihn mehr und mehr. Holt schrie: »Sepp! Die MP weg!« Gomulka gehorchte zögernd. »Gilbert … setz dich dort hin!« Wolzow setzte sich endlich, Wut in den Augen. Holt atmete auf. Als er sich umwandte, sah er den Gefreiten in der Ecke den Karabiner absetzen.
»Läßt du ihn gehn?« fragte Holt. Wolzow schwieg und warf wortlos ein paar Holzscheite in den Ofen. Gomulka hängte die Maschinenpistole um den Hals.
Jetzt erst erfaßte Holt die volle Tragweite dessen, was Gomulka vorhatte. »Die Russen!« rief er. »Die schlagen dich tot! Sie bringen doch alle um!«
Da rief der Gefreite in der Ecke. »Hör auf! Hör mit dem Schwindel auf. Ich hab das lange genug herunterschlucken müssen! … Ja … im Nahkampf, wenn dir’s da plötzlich einfällt, dann ist es längst zu spät, längst! Aber nicht, wenn wir ruhig ankommen, mit einem Auto, und ich kann ein paar Worte Russisch …! Was meinst du, wie die sich da freuen!«
Sie sahen alle auf den Gefreiten. Gomulka fragte verwundert: »Wir?«
»Ja … was denkst du denn von mir! Was meinst du denn, warum ich mich freiwillig gemeldet hab! Panzerjagd? Nie! Bei mir ist Generalstreik, mein Lieber, aber nicht Krieg. Krieg ist einwandfrei Fehlcharge bei mir!«
Holt sah auf den Gefreiten und sah auf Gomulka. Eine Ahnung dämmerte in ihm, ganz fern zeichnete es sich ab wie ein Weg … Und nun sagte Gomulka: »Werner …« Und sagte: »Komm mit!« Nur diese drei Worte.
Da hob Wolzow den Kopf und sah Holt an.
Holt schwieg.
»Komm mit!« sagte Gomulka noch einmal.
Holt schwieg.
Der Gefreite rief: »Besinn dich nicht lange, los!«
»Ich kann nicht!« rief Holt. Im Bruchteil einer Sekunde liefen all die eingedrillten Begriffe durch seine Gedanken: Vaterland, Treue, Ehre, Pflicht. »Ich kann doch nicht zu den Russen! Ich bin doch Deutscher!«
»Junge!« rief der Gefreite. »Mach Schluß mit den Phrasen! Damit haben sie die Arbeiter lange genug aufeinandergehetzt! Sieh endlich ein, wer unser Todfeind ist! … Es heißt nicht: Russen und Deutsche, sondern es heißt immer noch: Bourgeois und Proletarier! Bist du Fabrikbesitzer? Heißt du Krupp? Also! Worauf wartest du?«
»Bourgeois und Proletarier …«, sagte Holt, »was soll mir das! Damit kann ich nichts anfangen! Wir sind alle Deutsche!«
»Auch deine Gundel«, sagte Gomulka.
Holt senkte den Kopf.
Die Dunkelheit des kleinen Raumes war auf einmal wie ein Vorhang vor seinen Blicken aufgezogen. Gleißende Helle war da, und sie blendete ihn, sonnendurchglühte Landschaft, blauer Himmel über wogendem Korn. Und Gundels Stimme: Auch ich bin schon angespuckt worden, nun weißt du’s, alle waren besser als ich und haben auf mich geschrien: Dreckstück.
Dann war wieder Dunkel, vom Licht der Kerze durchflackert.
Gundel, Deutsche, solche und solche, Deutsche bespucken Deutsche, die einen zittern vor dem Ende, die andern warten auf das Ende. Zu welchen gehör ich?
»Gilbert!« rief Holt. »So sag du doch was!«
Wolzow erhob sich. Er setzte den Helm auf und zog den Riemen fest, daß er ins Fleisch schnitt. »Ich geh den Vetter ablösen. Und du, Werner? Wer noch Mark in den Knochen hat, der kämpft!«
»Und wofür?« schrie der Gefreite, nach vorn geneigt, und in seinen Augen glühte ein Haß, wie ihn Holt im Leben nur ein einziges Mal gesehen hatte, damals, im Schuppen, als sie das Beil hob, und diese Erinnerung stieß ihn noch tiefer in die Verzweiflung.
»Für wen? Für Krupp und die IG und alle die Blutsauger, damit das faschistische Gesindel noch ein bißchen länger leben und die Völker schinden kann! Dafür kämpfst du!«
Wolzow tippte mit dem Finger unter dem Helmrand an die Stirn. »Ich will dir sagen, wofür! Kapieren wirst du Stückchen Plebs es doch nicht!« Er ging zur Tür. »Für meine Soldatenehre!« Er warf die Tür hinter sich ins Schloß.
Der Gefreite sprang auf, er wies mit der ausgestreckten Hand zur Tür. »Das sind sie! So sehn sie aus, die Halsabschneider, die Verrückten, das Generalsgesindel und Junkerpack! Sie sind genauso schlimm wie die Faschisten! Sie sind noch schlimmer! Die Faschisten verschwinden, die fliegen auf den Schrotthaufen, und zwar bald, die warn nicht lebensfähig, jawohl, Fehlcharge … fort! Aber das Militaristengesindel, das ist zäher, das will nicht aussterben, das lebt weiter, das hetzt weiter, das mordet weiter!«
»Sei doch still!« sagte Holt. Er sah auf Gomulka und hörte ihn noch einmal sagen: »Komm mit, Werner!«
Holt stand auf. Wär doch alles vorbei! Er band den Helm fest und nahm die Maschinenpistole. »Ich kann nicht.«
»Werner! Mach die Augen auf! Eh es zu spät ist!«
Holt sprach gegen die Wand. »Ich kann nicht. Ich hab einmal alles geglaubt, weil ich nichts gewußt hab. Jetzt, wo ich alles weiß, und alles war falsch und umsonst und ganz anders, da kann ich nichts mehr glauben. Ich werd draufgehn, oder ich werd einmal dastehn als … Verbrecher, mag sein, es ist alles gleich. Nur eins darf nie sein: daß ich vielleicht doch einmal aufwach und sehen muß … ich hab Deutschland verraten in seiner schwersten Stunde.«
»Deutschland?« rief der Gefreite. Er trat vor Holt hin und packte ihn am Arm. »Du nimmst mir das Wort nicht in den Mund! Hitlers schwerste Stunde, meinst du, jawohl … aber das wird Deutschlands schönste sein!« Er schob ihn zur Tür. »Hau ab, Bourgeoissöhnchen!«
Holt trat verstört ins Freie.
Es schneite nicht mehr. Der frischgefallene Schnee lag kniehoch und war an der Straße zu weißen Dünen verweht, über die noch immer ein eisiger Wind pfiff. Der Himmel war sternklar.
Vetter und Wolzow standen am Rande des Waldes, wo sich der Wind in den Bäumen verfing. Wolzow sagte: »Na also, Werner! Ich hab’s ja gewußt!« – »Sei still«, sagte Holt. Dann zog er die weiße Kapuze über den Helm. Vetter rief: »Also, der Sepp, der muß ja übergeschnappt sein! Wo das doch noch gar nicht feststeht, ob wir den Krieg verlieren! Nachher kommen die neuen Waffen und wir gewinnen! Na, dann haben sie den Sepp aber am Arsch!« – »Halt den Mund!« rief Holt. Wolzow erklärte: »Christian, du sicherst mit dem MG am Waldrand, du läßt aus dem Panzer keinen aussteigen, das ist deine Hauptaufgabe! Ich lieg hinter der Sperre. Werner, du gehst vorn am Waldrand in ein Loch und schießt auf den zweiten, sobald er aus dem Wald kommt.« Holt nickte wortlos.
Die Mondsichel stieg über die Wälder. Der Schnee glänzte in weißem, gespenstischem Licht. Die Landschaft war wie verschleiert.
Gomulka und der Gefreite verließen die Baracke. Holt ging zu den beiden hin. Wolzow stand auf der Straße. Der Wind schlief ein. Gomulka zog ein kleines Kärtchen aus der Tasche, ein Bild seiner Mutter. »Schick das meinem Vater, Werner. Kannst schreiben, du hättest es mir selbst abgenommen, er weiß auch so Bescheid, wenn ich hier die obere Ecke abreiß.« – »Nichts als weg!« sagte der Gefreite. »Los, abstechen, ehe die Charge rückphosphort … eh der Kerl wieder verrückt spielt, mein ich.« Er befestigte einen Fetzen Bettuch an einem Ast und ließ den Motor des Wagens warmlaufen.
»Leb wohl, Werner!« sagte Gomulka.
Holt lief zu Wolzow. Wolzow hielt die entsicherte Maschinenpistole in den Händen, und sein Gesicht war verzerrt. Aber Holt stellte sich dicht vor ihn hin, bis hinter seinem Rücken der Wagen mit aufheulendem Motor auf der verschneiten Chaussee davonrollte.
Wolzow sagte finster: »Es war das letztemal, daß ich mich hab beim Wort nehmen lassen, damit du’s weißt! Mein Soldateneid geht über den kindischen Schwur von damals. Von jetzt ab wird jeder Verräter umgelegt, und wenn’s mein eigener Bruder wär!« Wolzow und Vetter gingen in die Baracke. Holt blieb am Waldrand stehen. Die Leere in ihm füllte kein Gedanke, keine Hoffnung mehr aus.
Es war gegen sechs Uhr morgens, als Holt zusammenschrak. Er horchte. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, daß er lange Zeit nichts vernahm. Dann war es wieder da, das ferne, leise Klirren. Ein dunkler Brummton summte dazwischen. Panzer!
Er lief schreiend zur Baracke. Wolzow und Vetter fuhren aus dem Schlaf, warfen das Sturmgepäck auf den Rücken, Gasmaske, Koppel, fertig! »Christian … ans MG!« Vetter hetzte über die Wiese.
»Still!« Das Klirren näherte sich. Es war nicht festzustellen, in welcher Richtung die Panzer fuhren, es klirrte im Osten, es klirrte im Süden, lauter und lauter. Dann blieb es als gleichmäßiger Ton im Norden und Südosten, wohl eine Stunde lang, ohne näherzukommen.
»Was müssen das für Panzermassen sein!« sagte Holt. Wolzow antwortete: »Aber die kommen nicht hier lang, sonst wären sie schon da, sie stoßen wohl südlich auf Brieg und im Norden durch Namslau nach Oels … Vielleicht kommen hier bloß ein paar Einzelgänger vorbei!«
Sie kamen, als fahles Morgenlicht über die Wälder stieg: dreizehn Panzer T 34, dicht gefolgt von einem Dutzend Schützenpanzerwagen mit Infanterie. Der Stoß traf die drei Jungen mit der elementaren Gewalt einer Naturkatastrophe. Es dauerte nur eine Minute.
Plötzlich schwoll das Klirren der Panzerketten, das Summen der Motoren an und kam rasch näher. Holt kroch in sein Loch, Wolzow verschwand hinter der Sperre. Der erste Panzer, in ohrenbetäubendes Gerassel gehüllt, raste aus dem Wald, sah die zertrümmerte Barrikade und bremste scharf. Dann nahm er mit aufbrüllendem Motor das Hindernis an. Holt, wie hypnotisiert, sah das stählerne Ungetüm auf die Sperre klettern … da traf ihn zugleich mit einem grellweißen Lichtblitz die Druckwelle wie ein Keulenschlag und warf ihn in sein Loch. Die Detonation war gewaltig, fuhr wie ein Orkan in die Bäume des Waldes und brach mit hohlem Ächzen ein paar Stämme … Ein pfeifender Luftsog trieb Rauch und Schnee zum Himmel hoch und fetzte die Dunstwolke auseinander. Die Sperre war weggefegt. In einem flachen Trichter, zur Seite gesackt, lag qualmend der Panzer. Wolzow taumelte über die Wiese. In diesem Augenblick rollte der zweite Panzer aus dem Wald und Wolzow flüchtete. Der Panzer drehte sich mit einem einzigen Ruck um neunzig Grad und stieß schon von der Chaussee auf die Wiese hinab. Holt sank in sein Loch. Eine MG-Garbe warf Schnee und Erde auf ihn, dann rollte der Panzer über ihn hinweg und gegen den Graben. Holt tauchte auf, feuerte eine Panzerfaust ab und traf viel zu niedrig. Die Druckwelle warf ihn zu Boden. Aus dem Heck des Panzers troff brennendes Öl. Aber der Turm schwenkte mit unheimlicher Geschwindigkeit nach hinten. Holt kroch ins Gebüsch am Waldrand. Krachend barst eine Sprenggranate zwischen den Bäumen. Nun schmetterten zwei Panzerkanonen zugleich, denn der dritte Panzer war weit nach vorn auf die Straße gerollt, mit seitwärts gedrehtem Turm, aus dem Rohr fuhr ein meterlanger Flammenstrahl. Dann war schon mit entnervendem »Urrä« ein Zug abgesessener Infanterie über ihnen.
Holt hatte das Grabenstück erreicht, dort feuerte Vetter mit dem MG blindlings über die Lichtung. Eine Handgranate überschüttete sie mit glühenden Splittern. Zwei, drei Gestalten in Schneemänteln waren am Graben, sie schossen im Laufen, Feuer spritzte, Erde stiebte. Vetter floh nach hinten in den Wald. Holt prallte mit Wolzow zusammen. Wolzow floh. Dichtes Unterholz nahm sie auf. Holt rannte tiefer in den Wald.
Sie wurden nicht verfolgt. Der Feuerlärm war verstummt. Sie hielten atemlos und horchten: Motoren dröhnten, Panzerketten klirrten, rasch schwächer werdend, nun schon wieder weit entfernt.
»O verdammt!« keuchte Wolzow. »O gottverdammt …«
Holt lehnte mit jagendem Herzen an einem Baum. Was nun? Er zitterte noch immer. »Nichts als zurück!« befahl Wolzow. »Vielleicht schaffen wir’s noch irgendwie über die Oder!« Er rückte sich das Koppel zurecht. »Unseren Kampfauftrag haben wir jedenfalls erfüllt: Panzer aufhalten, solange es geht. Länger ging’s nicht.«
Flucht. Nach Westen durch die Wälder, über brechendes Eis der Sümpfe, uferlose Felder und durch struppiges Dickicht. An der Oder rollte der Donner einer Kanonade aus Panzerkanonen. Nach Stunden erreichten sie den Strom, dicht unterhalb der kleinen Stadt. Nur zwei Kilometer aufwärts sahen sie die Panzerspitze am Ufer, bei der gesprengten Brücke. Der Donner der Kanonen, die flach über den Strom feuerten, war so laut, daß sie sich nicht mehr verständigen konnten. Am anderen Ufer brüllten dann und wann die 15-Zentimeter-Langrohre auf. Als ein Sturmboot die drei über den Strom holte, durch Packeis und treibende Eisschollen, setzte stromaufwärts schon die Infanterie über und stürmte den Damm. Die Langrohre schwiegen.
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Holt kletterte die steile Uferböschung hoch. Er war in einem solchen Maß demoralisiert, daß er sich am liebsten in einer Schneewehe verkrochen hätte. Er wankte den ersten ländlichen Häusern der Stadt entgegen und schob im Laufen ein paar Täfelchen der koffeinversetzten Schokolade in den Mund. Die lähmende Erschöpfung ließ ihn das Kommende wie im Halbschlaf erleben: ein Auffangkommando, ein Haufen heruntergekommener Gestalten, Volkssturm, halbinvalide Reservisten, schlecht bewaffnet … in einem Gehöft Sammeln zum Gegenstoß! Ein Leutnant voran, durch Gärten, durch winklige Gassen, dann die breite Straße hoch zur Brücke … Schlachtflieger, Splitterbomben, Motorengedröhn und Bordwaffenfeuer … Tote, überall Tote … der Leutnant bewegungslos im Schnee … Wolzows Stimme: »Zurück!« Ein Haus am Straßenrand … Wieder Wolzows Gebrüll: »Sie greifen an!« Von der Brücke her, locker geordnet, in Schneemänteln, stürmende Infanterie …
Holt kniete keuchend hinter dem Fensterloch eines niedrigen, erdgeschossigen Hauses. Wie durch einen Schleier sah er Wolzow ein neues Magazin in die Maschinenpistole einsetzen. »Zurück!« Flucht durch Gärten … Wieder in einem Haus festgekrampft … Ein Dutzend zermürbter Gestalten, führerlos, waffenlos, ist das die Truppe? Und nun das Heulen der Granaten, berstende Einschläge, fern vom rechten Oderufer her Abschüsse von Feldgeschützen … Schlachtflieger, dröhnende Motoren, das Hämmern der Bordkanonen, Flucht von Haus zu Haus, hinwerfen, auf und hinwerfen, Christian, gib mir ein Magazin, nur noch Einzelfeuer, schieß doch! Da! … Und wieder Wolzow: »Zurück!«
Im Keller eines Hauses an dem kleinen Marktplatz kam Holt zu sich. Die angreifende Infanterie ließ sie zur Besinnung kommen, stieß nicht weiter vor. »Jetzt setzen die erst einmal Truppen über, Panzer, Artillerie«, sagte Wolzow. »Prima Brückenkopf«, meinte Vetter. Ein Donnerschlag ließ den Keller erbeben, das Dach rasselte auf die Straße. Schlachtflieger strichen über die Ruinen. Wolzow schickte Vetter ins Ungewisse.
Nach einer Stunde keuchte Vetter mit einer Kiste Pistolenmunition in den Keller. Im Halbdunkel saßen Volkssturmmänner bewegungslos an den Wänden, stumpf, wie tot, unfähig zur Flucht. Wolzow fuhr sie hart an, ließ sie Magazine füllen. Ab und zu schlugen aus den gegenüberliegenden Häusern Schüsse gegen die Ziegelwände.
»Was ist draußen los, Christian?«
Vetter setzte die Feldflasche ab. »Das solln sibirische Schützen sein, die uns angreifen, Russen aus Sibirien, mit einer besonderen Nahkampfausbildung, solche Sturmspezialisten! Hier ist fast alles getürmt. Aber in Strehlen … Gibt’s das? Da soll heut nacht eine Division losgeschickt worden sein, mit Panzern. Wir sollen aushalten, bis sie kommen.«
»Die müßten längst hier sein«, sagte Wolzow.
Aus den gegenüberliegenden Häusern schlug heftiges Feuer. Holt hockte apathisch in einer Ecke. Er dachte an Gomulka. Wolzow brüllte: »Raus!« Auf den Markt rollten die ersten Panzer. Sprenggranaten krachten in die Keller. Flammen, einstürzende Häuser. Klirrende Panzerketten überall. Panik. Regellose Flucht.
Eine kleine, beschädigte Holzbrücke, davor ein schreiender Menschenhaufen, in den die Panzer hineinstießen. »Nach links!« kreischte Wolzow. Breit und offen eine Straße, brennende Häuser, Holt wußte nicht, was er tat, er handelte willenlos, aber sein Blick nahm alles auf: Wieder, in weißen Schneemänteln, dicht hinter ihnen, die stürmende Infanterie. Panzer folgten nach, überholten sie feuernd. Rechts das Gelände einer brennenden Gasanstalt, Wolzow floh voran, Vetter wie ein Schatten an seiner Seite … Hinter verschneiten Kokshaufen eine leichte Pak, zwei ältere Artillerieoffiziere knieten dabei, die Pak feuerte, der erste Panzer walzte Kanone und Bedienung in den Koks … Hinwerfen! Hinter einer umgestürzten Kipplore rang Holt nach Luft, ließ den Panzer vorüberrollen, schoß auf die nachfolgende Infanterie. Flucht. Ein Bretterzaun! Verzweifelter Sprung. Er fiel samt den Planken auf die Straße. Brennende Villen. Panzer vor ihm, links, überall … Eine Tankstelle, aus der fauchend ein Riesenfeuer schlug. »Schneller!« Wolzow war neben ihm, Vetter folgte. Eine Parkanlage, in der Sprenggranaten krepierten. Große zugefrorene Teiche, splitterndes Eis unter den Stiefeln. Endlich … der Bahndamm!
Hier hielt die Garnisonstruppe eine Feldstellung. Wolzow, Holt und Vetter krallten sich am Bahndamm fest. Hundert Meter rechts lag der Bahnhof, dahinter, am Bahnübergang, rollten die Panzer ungehindert über die Gleise, gewannen die Chaussee und jagten weiter. Fern, in Holts Rücken, wurden sie von ein paar Feldgeschützen empfangen. Das Duell der Geschütze schwoll bei sinkendem Abend zu einer mächtigen Kanonade an.
Holt lag keuchend und tödlich erschöpft im Schnee. Es dämmerte. Die Infanterie in den Schneemänteln stürmte den Bahndamm. Nahkampf. Und wieder Flucht: das Eis eines kleinen Flusses barst. Flucht durch eine tief verschneite Ebene, baumlose Weite, nur kahles Weidengebüsch, bis weit nach Westen. Hinter ihnen verstummte das Schießen.
Sie wankten zurück. Ein Haufen müder Soldaten scharte sich um Wolzow, geschlagene, zerlumpte Gestalten. Der Frost wurde noch grimmiger. Schneesturm setzte ein.
Sie erreichten ein Dorf.
Hier gab es einen Gefechtsstand, gab es Offiziere, Truppen, Pak und Feldgeschütze, Depots mit Munition. Vetter brachte eine warme Feldküchenverpflegung. Holt saß im Schnee. Vetter reichte ihm ein Kochgeschirr mit Erbsen.
»Der Russe!« Geschrei, Schüsse, im Dorf beginnende Panik. Nichts geschah, Wolzow fluchte: »Die sehn Gespenster!«
Weit vor dem Dorf im Weidengebüsch bezogen sie Stellung. Noch einmal flammte das Gefecht auf. Die Schützen in den Schneemänteln rückten in der Dunkelheit vor und nahmen das Niederungsgelände in Besitz. Einen Kilometer vor dem Dorf wurde eine improvisierte Hauptkampflinie gehalten. Fern klirrten Panzer durch die Nacht. Die Hauptkampflinie war nichts als ein paar eilig ausgehobene Schützenlöcher hinter kahlen Weiden, von den Resten ausgebluteter Alarmeinheiten besetzt. Holt grub sich ein. Neben ihm schanzten Wolzow und Vetter. Sie verbanden ihre Schützenlöcher zu einem Grabenstück und hockten nun eng beieinander. Seit Stunden sprach Holt das erste Wort. »Gib mir Feuer, Christian!« Der Funke des Feuerzeugs sprang auf. Die kleine Flamme brannte ruhig hinter der hohlen Hand.
»Da sind wir aber mitten in den dicksten Matsch geraten«, sagte Vetter.
Holt starrte ins Dunkel. Nicht klagen! Ich könnte auch irgendwo mit Bauchschuß liegen. Mit abgewalzten Beinen. Als Treibeis in der Oder. Nicht klagen! Ich hab’s nicht anders gewollt.
Wolzow erhob sich und schlug die Arme um den Körper. »Komm, Werner … ins Dorf! Vielleicht klappt’s mit Papieren.« Auf dem Weg redete er vor sich hin: »Die bringen jetzt Panzer rüber, immer mehr Panzer, Ari, Granatwerfer. Morgen setzen sie Schlachtflieger ein.« Sie stapften durch den Schnee.
Im Dorf vor dem Gefechtsstand hielten Lastwagen. Dort stand ein bulliger Kerl im Dunklen, sein weißer Tarnmantel leuchtete. »Der Burgkert! Herr Oberfeld!«
»Ach! Lebt ihr auch noch?« Der Oberfeldwebel war nüchtern. »Mich haben sie nach Brieg geschickt. Dort sollte unsere Elfte liegen.« Er spuckte aus. »Scheiße lag dort!« Ein paar Offiziere verschwanden im Haus. »Das Bataillon will türmen«, sagte Burgkert. »Sie laden schon ihre Privatvorräte auf.«
»Was gibt’s Neues an der Oderfront?« fragte Wolzow. »Niemand weiß Bescheid.«
Der Oberfeldwebel war mürrisch und böse. »Frag nicht so dämlich! Hilf mir lieber, ich such Leute. Wir greifen an!«
»Angreifen?« rief Holt entsetzt. »Aber das ist …« – »Der Führer soll’s persönlich angeordnet haben, daß der Brückenkopf heute nacht zu zerschlagen ist.«
Eine Schar Offiziere trat ins Freie. Ein Hauptmann, mit dem spitzen Kinn eines Greises unter eingefallenen Kiefern sagte zu Burgkert: »Sie kämmen das Dorf durch! Da steckt alles voll Drückeberger!« Er verschwand. Burgkert sagte wütend: »Affenarsch! Ein verramschter Kapitän von einem Fliegerhorst. Keine Ahnung! So was will rumkommandieren!«
Er rührte sich nicht vom Fleck. Ordonnanzen trugen Gepäck auf den LKW. Kaum waren die beiden Soldaten wieder im Haus, da sprang Burgkert zum Wagen, zerrte eine kleine Kiste herab und lief damit weg. Wolzow schüttelte den Kopf. »Das nenn ich marodieren!« Burgkert stand abseits und stopfte sich eine Flasche Kognak in die wattierte Jacke. »Holt, Sie tragen die Kiste in Ihr Loch! Gut aufpassen, daß keine Flasche verlorengeht. Wird alles noch gebraucht. Wolzow, Sie kommen mit, Leute suchen!«
Die verwilderten Soldatenhaufen wurden zu einem »Sturmbataillon« zusammengefaßt und in den Löchern und Gräben vor dem Dorf bereitgestellt. Gegen drei Uhr morgens begann in ihrem Rücken die Feldartillerie zu feuern. Als Antwort fiel ein Hagel von Granaten ins Dorf. Häuser und Ställe und Scheunen barsten. Die Munitionsdepots gingen in die Luft, die Feldartillerie verstummte. Das Dorf brannte.
Holt saß in seinem Loch, die Zeltbahn über den Kopf gezogen. Wolzow schob ein MG zu ihm hin. Burgkert sah auf die Uhr. Er war aufgeräumt, sein Baß grollte wieder tief und mächtig. »Wir sind erste Welle«, sagte er. »Holt, mit dem MG schön sauber nachziehn.« Er reichte Holt die Kognakflasche, packte sechs Schnapsflaschen in Decke und Zeltbahn, schnallte das Paket mit Riemen fest und befestigte es auf dem Rücken. »Fertig!« Er sah wieder auf die Uhr und hob die Leuchtpistole. Eine grüne Leuchtkugel stieg in die Nacht. Fahles, geisterhaftes Licht.
Trunkenheit breitete sich wie Nebel über Holts Sinne aus. Er kletterte aus dem Graben und lief schwerfällig durch den tiefen Schnee. Vereinzelte Schüsse. Warum … feuern die nicht? »Weiter!« Das war Burgkert. Hurra, wer schreit da Hurra? Dort … der Graben! »Stellung!« Hinwerfen! Vor ihm Gebrüll, Schüsse, Detonationen von Handgranaten. Rote Leuchtkugeln, was soll das? Holt lief. Vetter keuchte neben ihm, sie warfen sich zu Wolzow in den Graben. »Die Stellung war so gut wie leer!« rief Wolzow. »Weiter!« schrie Burgkert. Holt lag hinter dem MG. Leuchtkugeln! Eine jählings hochschlagende Welle von Feuer und Geschrei fegte über ihn hinweg.
Aus der Tiefe der Nacht, aus der weiten Flußniederung, prallte der Gegenstoß stürmender Infanterie auf den vorspülenden Angriff. Sturmtrupps, das Bajonett gefällt, im Laufen aus Maschinenpistolen feuernd, tauchten aus dem Dunkel und zertrümmerten, zerrieben die Angreifenden, fegten über ihren Graben hinweg und weiter nach Westen, warfen sich auf die zweite Angriffswelle, brachen ins Dorf zwischen die brennenden Häuser, stießen auf die letzten zusammengewürfelten Haufen, und es gab kein »Sturmbataillon« mehr, gab keine Reserven mehr, und die Reste der Alarmkompanien flohen regellos nach hinten. Weit im Rücken der ehemaligen Front blieben ein paar Überlebende zurück, in Löchern, zwischen Büschen, nach allen Seiten Front.
Holt lag im Graben, neben ihm ein erdfarbener Leichnam. Der Stoß war über Holt hinweggegangen wie ein grauenvoller Spuk. Schatten und Schemen waren im Licht der Leuchtkugel vor ihm aufgetaucht, die Maschinengewehrgarbe peitschte ins Leere, die Schattengestalten sprangen über ihn hinweg, ein Bajonett fuhr zu ihm herab, die Kugel der erhobenen Parabellum warf einen schweren Körper auf Holt. Der nach hinten flüchtende Wolzow fiel in das Loch, riß das MG hoch und zerrte schließlich den Leichnam zur Seite. Auch Vetter und Burgkert kehrten zurück. Wolzow keuchte: »Wie die Teufel … Wie die leibhaftigen Teufel!« Burgkert schrie: »Nicht liegenbleiben! Zurück!«
Versprengte schlossen sich an, Männer mit flackernden Augen, und an dem brennenden Dorf vorbei flüchteten sie nach Westen, bis ihnen Feuer entgegenschlug. »Durch!« brüllte Burgkert. »Durch! Hurra!« Die Schützen in den Schneemänteln waren dabei, sich einzugraben, warfen die Spaten weg und griffen zur MP. Handgemenge. Urrä und Hurra in einem. Schmetternde Detonationen von Handgranaten, splitternde Kolben, Mündungsfeuer. Holt stolperte, fiel aufs Knie. Die Maschinenpistole verschaffte ihm Luft. Vor ihm war Dunkel. Flucht!
Dann endloses Wandern über die Ebene, über der milchigweiß ein eiskalter Morgen empordämmerte. Holt taumelte durch den Schnee. Es gab keine Gedanken mehr, nur noch furchtbare Bilder, Entsetzen, das sich in die Seele hineinfraß für immer.
Sie rasteten an einem Wäldchen bizarr geformter, kahler Weidenstrünke. Alle Feldflaschen waren voll Schnaps. Trink, sauf, das hilft! Das gibt die Moral zurück.
Jetzt fielen wieder Worte. »Junge!« stöhnte Burgkert. »Drei Trupps auf einen halben Kilometer, aber die hält keiner auf!« Wolzow trank.
Holt malte mit dem Löffelstiel Striche in den Schnee. Burgkerts Worte spülten Gedanken aus der Erschöpfung hoch.
Und wir? dachte er.
Wir werden geschlagen. Wir sind gut ausgebildet und bewaffnet, der Burgkert hat Kampferfahrung wie keiner, wir kämpfen verzweifelt. Aber wir werden geschlagen, gejagt, überrannt. Warum? Ich bin wie gelähmt. Ist es das Bewußtsein des … Unrechts? Ist es, weil wir wissen: Alles war falsch?
Und sie?
Versetz dich einmal in so einen hinein … Das hatte Gomulka gesagt, irgendwann … Versetz dich in so einen, dem die SS die ganze Familie erschlagen hat … Und: Sie haben nicht angefangen! … Er dachte, die erstarrenden Beine in den Schnee gestreckt: Wir sind mit sieggewohnten Truppen über sie hergefallen und haben an der Wolga gestanden und im Kaukasus, und keiner von uns hätte mehr einen Groschen für diese Armee gegeben. Aber sie sind aufgestanden und haben uns geschlagen, immer wieder geschlagen, und haben uns vor sich her getrieben, dreitausend Kilometer weit, und sind immer stärker geworden, immer stärker, und jetzt sind sie über die Oder.
Und da wird keiner dabeisein, der denkt wie ich: Alles umsonst. Der heimlich weiß: Das darf nicht sein, daß so was siegt. Der sich sagen muß: Alles war falsch.
Ob es das ist, was sie unüberwindlich macht?
Stumm saßen sie beieinander.
Sie marschierten weiter. Endlich ein größeres Dorf, wieder Auffangkommandos, SS-Leute, ein Rottenführer: »Warum verlaßt ihr die Linie?« – »Jungchen, es gibt keine Linie mehr! Nur noch Russen, bildschöne Kerle! Warte nur, bis sie kommen!« Burgkert schob den Rottenführer zur Seite. Vetter rief: »Aus Frankreich kommen die, so was!« Ein Hauptmann, zitternd vor Nervosität: »11. Panzerdivision? Hier gibt’s keine Panzer, in Breslau gibt’s Panzer, aber keine Besatzungen! Was treiben Sie sich hier herum? Sie bekommen Papiere nach Strehlen!«
Ein klappriger Lastwagen rumpelte in Richtung Westen durch den Schnee. Auf der Straße zogen ihnen Truppen entgegen, Alarmkompanien, eine Batterie Nebelwerfer, Pak, auch ein paar Selbstfahrlafetten, Troßkolonnen. Hinter ihnen grollte schweres Artilleriefeuer.
In Strehlen machte man Anstalten, sie mit einer Alarmkompanie wieder nach vorn zu schicken. »Drücken wollen Sie sich! Zurück an die Front!« Burgkert erfand faustdicke Lügen: Funker mit Sonderausbildung, Festung Breslau, Armeekommando! Sie erhielten Marschpapiere nach Breslau.
In Strehlen staute sich ein Menschenstrom, mit Stäben, Truppen, Troß, Arbeitsdienstabteilungen und Kriegsgefangenenkommandos. Als der Kanonendonner im Osten anschwoll, griff Panik um sich. Alle halben Stunden kämmten Feldgendarmen die Lokale durch.
Holt sank in einem Café auf einen Stuhl. Der Transport nach Breslau ging erst am Abend. Es war warm und stickig. Wolzow schimpfte auf das Heißgetränk. Burgkert goß die Limonade unter den Tisch und füllte das Glas mit dem Schnaps, den er unbeschädigt durch den Angriff geschleppt hatte. Er trank rasch eine ganze Flasche leer. Dann schlief er ein.
»Mit Burgkert im Panzer«, sagte Wolzow, »das wär nicht übel. Aber nur, wenn er genug Schnaps hat. Der ist überhaupt nur noch unter Alkohol lebensfähig.« Er haschte nach einem vorbeigehenden Zivilisten und entriß ihm eine Zeitung. Er faltete das Blatt auseinander. »Von heute! Aus dem Führerhauptquartier … ›Zwischen Kosel und Breslau wurden zahlreiche Übersetzversuche des Feindes vereitelt …‹« Vereitelt ist gut, dachte Holt. Wolzow rauchte. »Werner, hör zu! ›Wie fällt die Entscheidung im Osten‹?« – »Wahrscheinlich kommen nun bald die neuen Waffen«, rief Vetter. Wolzow las. Vetter hörte mit offenem Munde zu. »… ›Pflicht darin sieht, ohne Rücksicht auf die eigene Person in mühsamer Kleinarbeit einen bolschewistischen Panzer und Infanteristen nach dem anderen auszuschalten …‹« Auszuschalten? Es war erst gestern gewesen: Sepp und der Gefreite … die Panzersperre … Wolzow und seine »überlegene Taktik« … nicht dran denken! »Hier heißt es, der Russe hätte alles eingesetzt, was er noch besitzt, und wenn es uns gelingt …« Wolzow las: »… ›was er jetzt eingesetzt hat zu zerschlagen, dann ist er fast wehrlos und muß alles, was er raubte, wieder herausgeben.‹« – »Fast wehrlos ist gut!« sagte Vetter. »Wer das schreibt, der will uns doch glatt veralbern!«
»Was war eigentlich gestern an der Panzersperre los?« fragte Holt.
»Ich hab doch gedacht«, antwortete Wolzow unwirsch, »die Überraschung wird so groß sein, daß die sich nicht zu helfen wissen!«
»Junge«, sagte der Oberfeldwebel plötzlich, mit dröhnendem Baß, und er blinzelte schlaftrunken mit den geschwollenen Lidern. »Den Trick mit der Panzersperre kennen die doch! Die kennen doch alle Tricks, die’s gibt. Ich bin ein ausgewichster Panzermann, aber die sind doch keine halbe Nase weniger schlau!« Er goß sich den Aluminiumbecher voll Schnaps. »Panzerfaust ist Krampf, Junge, ›dem besten Soldaten die besten Waffen‹ …« Er trank den Becher leer und sank in den Stuhl zurück. »Was sind wir beschissen worden!« Er schloß die Augen.
Wolzow kniff ein Auge zusammen. Der Oberfeldwebel sagte stoßweise, halb bewußtlos vor Trunkenheit: »Wir warn drei … auf sechs Morgen … in Pommern … Alles in Kartoffeln aufgefressen, und dann … auf dem Gut, für Deputat … Der Baron war Major. Einmal war Sauhatz … Ist ihm der Jagdwagen abgehauen, vier Wallache … Ich hab sie am Halfter geschnappt …« Er sprach mit schwerer Zunge: »Sagt der Baron: ›Name? Von hier?‹ Ich sag: ›Ihr Nachbar … Drei Brüder, sechs Morgen.‹ Volk ohne Raum … Der Major: ›Hol dir Land. Im Osten gibt’s Land!‹« Der Kopf des Oberfeldwebels sank auf die Brust. »Hab’s nie mehr vergessen. Hab gedacht: Wirst Berufssoldat. Schaffst dir’n Hof.« Er knallte plötzlich den Becher auf den Tisch: »Eingießen, Rekrut!« Wolzow grinste und füllte den Becher abermals. Burgkert trank, mit geschlossenen Augen, der Schnaps troff über Kinn, Hals und Uniform. Wie gelähmt wischte der Arm über den Mund, fiel schwer herab. Ein Röcheln: »Sonst nichts … Immer nur für … einen Hof … gekämpft …«
»Randvoll!« sagte Wolzow. »Stockblau, der Mann!«
Vetter sagte: »Da hat er sich aber auf die Schippe nehmen lassen, von wegen ›Land im Osten‹! Jetzt wird er sich richtig verarscht vorkommen!«
Der bullige Mann war haltlos zusammengesunken und schnarchte mit offenem Mund. Der wird nie mehr hinter dem Pflug gehn, dachte Holt. Der sät und melkt und erntet nicht mehr. Der kann bloß noch saufen und dreinschlagen. Der lebt gar nicht mehr richtig. Der ist fertig. Eines Tages werden wir alle so fertig sein, besoffen, verkommen, betrogen.
Und sterbensmüde dachte er: Wär doch alles vorbei!
Holt schlief auf seinem Stuhl und erwachte erst am späten Nachmittag. Dämmerung lag in dem Raum. Alle Tische waren leer. Hinter der Theke spülte niemand mehr Gläser. Alles getürmt! Auch die anderen erwachten. Burgkert schickte Vetter in die Stadt. »Nachsehen, wo der LKW bleibt!« Sie aßen. »Hier lag früher mal eine Husaren-Garnison«, erzählte Wolzow. »In der Nähe, in Woiselwitz, hat der Baron Warkotsch den alten Fritzen …« – »Bist du blöd?« fragte Burgkert. »Bist du auch schon übergeschnappt?« Holt aß Ölsardinen. »Tja«, sagte Wolzow und brannte sich eine Zigarette an, »wird Zeit, daß was geschieht! Ich will noch Offizier werden!« Vetter krähte an der Tür: »Meine Herren! Der Wagen!« Holt kletterte unter die Plane, dann saß er zusammengesunken an der Rückwand. Er fand keinen Schlaf.