24

Zurück in seinem Büro, war Brunetti sich mit seinem Gewissen einig geworden. Signorina Elettra hatte eine junge Frau, die ihr am Herzen lag, zu schützen versucht. Es war nicht so, als hätte sie jemanden vor einem heranrasenden Auto weggerissen, das Auto war vielmehr durch ihre Aktion erst gegen den Baum gefahren. Brunetti musste sich diesen Unterschied eingestehen, sagte sich aber, was vorbei ist, ist vorbei. Er respektierte Signorina Elettras Entscheidung, würde für sich behalten, was sie getan hatte, und mit der Zeit würde das Ganze aus dem Gedächtnis der Questura verschwinden.

Fast überzeugt, konzentrierte er sich wieder auf den aktuellen Fall: Erstens musste er mit Grif‌foni über die Coupons reden, zweitens brauchte er genauere Informationen über die Apotheke und deren Inhaber.

Auf dem Weg zu Grif‌fonis Büro ging ihm durch den Kopf, dass nur wenige seiner Kollegen so gewieft waren wie Claudia, und kaum einer so erfinderisch. Sie besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, Zeugen oder Verdächtigen zu suggerieren, sie allein bringe Verständnis für sie auf; dabei half ihr, dass sie ihre Redeweise – Aussprache, Tonfall, Vokabular – dem jeweiligen Gegenüber mühelos und ganz unauf‌fällig anzupassen wusste und Gedanken und Vorurteile der Befragten immer wieder mit beiläufigem Nicken und Lächeln bestätigte. Wann genau sich diese Verwandlung bei ihr vollzog, hatte Brunetti noch nie mitbekommen, immer nur den Augenblick, wo sie die zweite Haut wieder abstreif‌te und zu ihrem schonungslos sarkastischen Ich zurückkehrte.

Als er ihr Büro betrat, telefonierte sie gerade. Da sie seitlich an die Wand zurückgelehnt dasaß, sah sie ihn reinkommen. Sie hob lächelnd zwei Finger, und fast im selben Augenblick schlich sich ein ungeduldiger Unterton in ihre Stimme. Ihr Gesprächspartner kapitulierte bald. Kaum war das Gespräch beendet, stand sie auf und reckte sich. »Existiert die Außenwelt noch?«, fragte sie.

Brunetti nickte, trat einen Schritt zurück und hob beide Arme wie ein Fluglotse. Schritt für Schritt ging er langsam rückwärts und winkte Grif‌foni aus dem Büro heraus. Sie folgte ihm bereitwillig.

»Wir sollten der Apotheke einen Besuch abstatten«, schlug er vor und gab ihr die Coupons aus Tullio Gasparinis Schublade.

»Das trifft sich gut«, flachste sie. »Ich brauche schon seit Wochen ein paar neue Lippenstifte. Vielleicht bekomme ich welche für Tante Matildes Coupons.«

Das Wetter war freundlich, und so beschlossen sie, zur Haltestelle Vallaresso zu gehen, die Nummer Zwei nach San Marcuola zu nehmen und den Rest des Wegs zu Fuß zurückzulegen. Die Riva degli Schiavoni war sogar jetzt, Ende November, völlig überfüllt, und Brunetti dachte wehmütig daran, wie leer es hier noch vor wenigen Jahren gewesen war. Doch da er sich vorgenommen hatte, nicht über die schrecklichen Veränderungen zu klagen, die die Stadt durchmachte, erzählte er Claudia lieber etwas über die Vergangenheit der Orte, an denen sie vorbeikamen. Da gab es zum Beispiel jenes Vaporetto – an die Zahl der Ertrunkenen konnte er sich nicht mehr genau erinnern – das vor Jahren bei einem Sturm gekentert war. Und während sie sich San Marco näherten, erzählte er von den Sette Martiri, den sieben Männern, die von den Deutschen im Krieg erschossen worden waren – zur Vergeltung für einen vermissten deutschen Soldaten, der, wie sich später herausstellte, alkoholisiert ins Wasser gefallen und ertrunken war.

Sie zuckte die Achseln, wie nur jemand es tun konnte, dessen Großeltern den Krieg durchgemacht hatten. »Dasselbe ist einem Großonkel von mir passiert. Er war elf«, sagte sie. »Nur dass nach ihm nichts benannt wurde.«

Sie kamen die Brücke hinunter und machten auf dem Weg zum Vaporetto-Stopp den kleinen Umweg über die Piazza San Marco. Mitten auf dem Platz drehte Grif‌foni sich um und ließ die Fassade der Basilika in ihrer ganzen Pracht auf sich wirken. Brunetti blieb neben ihr stehen. »Als ich mit siebzehn oder achtzehn auf einem Schulausflug das erste Mal nach Venedig kam«, erzählte sie, »habe ich eine Stunde lang hier gestanden und mich immer wieder im Kreis gedreht, um all das in mich aufzunehmen. Immer und immer wieder: die Bibliothek, die Säulen, die Basilika, den Glockenturm. Und jetzt komme ich manchmal hier vorbei und sehe kaum noch hin.«

»Das geht uns allen so«, sagte Brunetti, wandte sich von der Basilika ab und ging auf die calle zu, die zur Vaporetto-Haltestelle führte.

»Meine Vermieterin ist Ende sechzig«, sagte Grif‌foni. »Sie hat ihr Leben lang kleine Kinder unterrichtet. Seit sie nicht mehr arbeiten muss, geht sie jeden Tag mit ihrem Mann auf Erkundungstour.«

»Sie ist Venezianerin?«, fragte er.

»Genau wie du.«

»Und sie geht auf Erkundungstour?«

»Ja. Sie sagt, sie entdeckt jeden Tag etwas Neues. Oder sie suchen Stellen auf, die sie an ihre Jugend erinnern.«

»Hat sie einen Kunstführer dabei?«

»Nein. Das habe ich sie auch gefragt. Sie sagt, sie gehe einfach drauf‌los. Und sieht meistens nach oben. Wenn zu viele Touristen unterwegs sind, geht sie nach Castello oder rüber nach Santa Marta, irgendwohin, wo weniger sind. Und jeden Tag entdeckt sie etwas Neues.«

»Und dann?«

»Dann geht sie nach Hause, macht Abendessen und setzt sich mit ihrem Mann vor den Fernseher.«

»Gelobt sei Gott, dass sie den ganzen Tag durch die Stadt spaziert.«

Grif‌foni blieb stehen und starrte ihn an. »›Gelobt sei Gott‹?«, fragte sie.

»Keine Panik, Claudia. Das ist nur eine Redensart meiner Mutter.«

»Ah«, meinte sie und ging weiter. Sie erreichten gerade noch die Nummer zwei. Es wehte eine scharfe Brise, also gingen sie hinein, bis ganz nach hinten durch und setzten sich. »Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Brunetti.

In den Anblick der vorbeiziehenden Gebäude versunken, meinte Grif‌foni schließlich: »Ich könnte als ihre Nichte auf‌treten, die mit dem neapolitanischen Akzent«, und schon wurde ihr normalerweise elegantes Italienisch zu dessen südlicher Variante mit immer fremderen Vokalen. Weiter aus dem Fenster schauend, entwarf sie ihre Nichtenrolle: »Ich komme zwei- oder dreimal im Jahr zu Besuch. Diesmal hat Zia Matilde mir diese Coupons überlassen; ich soll mir davon etwas kaufen, um mich schön zu machen.«

Brunetti lag schon die Bemerkung auf der Zunge, das habe sie nun wirklich nicht nötig, aber dann sagte er: »Ich gehe kurz nach dir rein und tue so, als ob ich etwas kaufen möchte. Ich wäre schon gern dabei, wenn du die Coupons einzulösen versuchst.«

Grif‌foni nickte. »Vielleicht sollte ich besser behaupten, es sei alles für meine Tante.« Mit breitem Lächeln fügte sie hinzu: »Schade, dass ich keine Einkaufsliste in zittriger Handschrift vorbereitet habe: Dann würde das Ganze noch echter wirken.«

»Du schaffst das schon«, sagte Brunetti, als das Vaporetto anlegte; außer ihnen stiegen noch drei Leute aus. Sie gingen hinten um die Kirche herum, hielten sich Richtung San Leonardo und bogen schließlich links ab. Ein Stück von der Apotheke entfernt wurde Brunetti langsamer, ließ Grif‌foni vorgehen und allein den Laden betreten. Vor dem Schaufenster nebenan machte er halt und bedachte die dort ausgestellten Masken mit demselben Blick, den er sonst für Touristen übrighatte: distanziert, uninteressiert und leicht gereizt.

Nach einigen Minuten folgte er Grif‌foni in die Apotheke und sah sie allein am Ladentisch mit einer Verkäuferin sprechen. Sie hatte schon fleißig eingekauft: Vor ihr lagen drei Schachteln Lippenstifte und ein paar kleinere Artikel, was genau, konnte er nicht erkennen. Jetzt reichte sie der Jüngeren einen Coupon.

Die Verkäuferin warf einen Blick darauf und sah Grif‌foni fragend an. »Sie sind nicht Signora Gasparini«, bemerkte sie sachlich.

»Nein, ich bin ihre Nichte«, erklärte Grif‌foni, den neapolitanischen Akzent so dick aufgetragen, wie sie nur konnte.

»Ach«, meinte die junge Frau und erkundigte sich freundlich: »Warten Sie bitte kurz? Ich hole Dottor Donato.«

»Gern«, antwortete Claudia. »Ich sehe mir solange die Gesichtscremes an.«

Brunetti beschäftigte sich unterdessen mit Zahnseide und Zahnbürsten, nahm sogar eine in die Hand und inspizierte die Borsten in der durchsichtigen Kunststoffverpackung.

Ein älterer Mann erschien, groß und kräftig gebaut, dunkles Haar und Schnurrbart. Brunetti bemerkte das Namensschildchen an seinem Revers: »Dott. Donato«.

Grif‌foni kam mit einer hellblauen Schachtel an den Ladentisch zurück. »Kann ich Ihnen behilf‌lich sein, Signora?«, fragte der Mann.

Brunetti legte die Zahnbürste an ihren Platz und nahm eine Flasche Mundwasser zur Hand.

»Ja, wenn Sie so freundlich sein könnten, Dottore«, sagte Grif‌foni. »Meine Tante hat mich gebeten, ihr ein paar Sachen zu besorgen. Bezahlen soll ich mit diesen Coupons hier.« In ihrer Stimme schwang die ganze Wärme und Herzlichkeit des Südens mit, und bestimmt lächelte sie dabei ebenso herzlich, dachte Brunetti, der sich weiter mit dem Mundwasser beschäftigte.

Er schielte kurz hin und sah den Coupon auf dem Ladentisch liegen. Grif‌foni hob ihn an und reichte ihn dem Apotheker, der ihn nickend entgegennahm und mit hochgezogenen Brauen zu studieren begann. Nichts in seinen Zügen ließ auf Argwohn schließen: Aus seinem runden rotwangigen Gesicht schaute er mit großen braunen Augen in eine Welt hinaus, der er freundliches Interesse entgegenbrachte. Lächelnd legte er den Zettel hin und fragte: »Und Sie sind Signora Gasparinis Nichte, sagen Sie?«

»Ja, allerdings«, antwortete Grif‌foni, als habe sie die letzten beiden Worte nicht gehört. »Ich besuche sie alle paar Monate.« Mit einer Prise Schuldbewusstsein in der Stimme fügte sie hinzu: »Ich weiß, ich komme nicht so oft, wie ich sollte.« Dann wieder munterer: »Aber sie ist meine Tante, und ich besuche sie immer wieder gern und versuche dann, ihr ein wenig unter die Arme zu greifen.«

Dottor Donato stützte beide Hände auf den Tisch, beugte sich vertraulich vor und sagte so leise, dass Brunetti gerade noch folgen konnte: »Ich kann gut verstehen, dass man ihr helfen möchte.« Er sprach voller Anteilnahme und Achtung. »Sie ist schon seit geraumer Zeit meine Kundin.« Brunetti, der wusste, wann Signora Gasparini ihr erstes Rezept hier eingereicht hatte, studierte weiter das Etikett auf der Flasche in seiner Hand.

Er ging ein Stück weiter weg von den beiden, und sah sich die Sunblocker an. Plötzlich stand ein junger Apotheker neben ihm und fragte: »Kann ich Ihnen helfen, Signore?«

»Ja«, sagte Brunetti. »Meine Frau und ich machen demnächst eine Kreuzfahrt, und ich soll Sonnencreme besorgen, weil sie irgendwo gelesen hat, wir sollten die auch im Winter benutzen, besonders auf See.« Lächelnd fügte er hinzu: »Wegen der Spiegelung, nehme ich an.«

»Sehr richtig«, sagte der Apotheker, auf dessen Namensschild ebenfalls »Dott. Donato« stand, und erkundigte sich nach dem Schutzfaktor, den Brunetti für seine Frau einkaufen sollte.

Das wisse er nicht, antwortete Brunetti verwirrt und fragte, was der Dottore empfehlen würde. Während der junge Mann ihm die Unterschiede zwischen den verschiedenen Cremes erklärte, linste er zu Grif‌foni und dem älteren Apotheker hinüber, die heftig miteinander diskutierten. Er bekam nur mit, wie der Apotheker »jeder in dieser Situation« sagte. Dann hörte er nur noch die Stimme des Jüngeren, der ihm eine gelbe Tube hinhielt und sagte: »… fünfzig. Das sollte auch bei intensivster Sonneneinstrahlung ausreichend Schutz bieten.«

Brunetti dankte lächelnd. »Meine Frau hat mich auch gebeten, ihr Aspirin mitzubringen.«

»Tabletten oder Brause?«

»Tabletten, bitte«, antwortete er und hoff‌te, die wären hinter dem Ladentisch oder im Nebenraum; tatsächlich verschwand der andere nach hinten, und so konnte Brunetti ungestört dem Gespräch zwischen Grif‌foni und dem Apotheker lauschen, der jetzt steifer und längst nicht mehr so entgegenkommend wirkte wie zuvor.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Signora«, hörte Brunetti, »behalte ich den Coupon, bis Ihre Tante das nächste Mal vorbeikommt.« Der Ton war freundlich und unbekümmert, seine Miene nicht. »Wenn Sie die Artikel bezahlen möchten, die Sie ausgesucht haben …«, begann er und ließ den Satz in der Luft hängen.

»Nein«, sagte Grif‌foni liebenswürdig, aber mit Nachdruck, »ich möchte das meiner Tante überlassen.«

»Dann behalte ich das hier, bis sie kommt, ja?«, sagte Dottor Donato und hatte die Schachteln auch schon eingesammelt.

Brunetti sah den anderen Apotheker aus dem Nebenraum kommen und ging zur Kasse, um zu bezahlen. Unterdessen waren zwei neue Kunden eingetreten und standen jetzt zwischen Brunetti und dem Inhaber, dessen volle Aufmerksamkeit immer noch Grif‌foni galt.

»Ich freue mich, Ihre Tante bald wieder begrüßen zu dürfen«, sagte der Apotheker, indem er eine Schublade aufzog und die Sachen darin verschwinden ließ. Grif‌foni dankte ihm und ging hinaus. Der Apotheker starrte ihr hinterher, mit einem eiskalten Blick, der in seltsamem Widerspruch zu seinen rosigen Wangen stand. Dann wandte er sich der nächsten Kundin zu, einer korpulenten Frau mit weißer Dauerwelle. »Ah«, sagte er, auf einmal wieder freundlich, »meine liebe Signora Marini, was kann ich für Sie tun?«

Brunetti wartete, bis Signora Marini zu sprechen begann, nahm sein Wechselgeld und verließ die Apotheke.

Grif‌foni stand ein paar Meter entfernt vor dem Schaufenster mit den Masken. Der chinesische Verkäufer saß hinten in seinem Laden. Als Brunetti neben sie trat, meinte sie: »Ich war letzte Woche beim Friseur, und das Mädchen, das der alten Dame neben mir die Haare wusch, fragte sie, ob sie eine ›Anti-Gelbstich-Behandlung‹ wünsche – die verhindere, dass die Gelben die Oberhand gewinnen.« Sie zeigte auf eine besonders scheußliche Maske und fuhr fort: »Ich schaltete mich ein und bemerkte, derlei sollte man in einer Stadt mit so vielen chinesischen Einwohnern nicht sagen.« Sie wandte sich von dem Schaufenster ab. »Mittlerweile denke ich, ich hätte mich nicht einmischen sollen.«

»Mir ist schon aufgefallen, wie viele Freunde du dir mit deinem Sinn für Humor machst, Claudia«, sagte Brunetti. »Was hat Dottor Donato gemeint?«

»Dass meine Tante ihm oft erzählt hat, sie habe nur einen Neffen; und da wollte er wissen, wie ich dann ihre Nichte sein kann. Ich habe ihm lachend erklärt, genau genommen sei ich die Tochter einer Kusine von ihr und das gelte in Neapel auch noch als Nichte.«

»Und weiter?«

»Er entschuldigte sich vielmals, blieb aber hart, weil auf dem Coupon ihr Name stehe und daher nur ihre Unterschrift gültig sei.« Sie nahm die Coupons aus ihrer Handtasche, reichte ihm einen und zeigte auf Signora Gasparinis oben aufgedruckten Namen. »Da ist kein Platz für eine Unterschrift.«

»Was hältst du davon?«, fragte Brunetti.

»Vielleicht ist er extrem gewissenhaft und macht da nicht mit, weil er es für falsch hält«, sagte sie und wurde dann nachdenklich.

Brunetti fragte ungeduldig: »Warum dann die Lüge, er brauche die Unterschrift?«

»Richtig«, stimmte sie zu. »Das war überflüssig. Er hätte sich einfach weigern können.«

Sie schlenderten in Richtung embarcadero. »Ich denke«, sagte Brunetti, »wir sollten noch einmal mit deiner Tante Matilde reden.«

»Finde ich auch«, sagte Grif‌foni, und schon drehten sie um und schlugen den Weg zur Haltestelle San Marcuola ein.

 

Vor der Carmini-Kirche meinte Brunetti: »Da ihr mittlerweile gute Freundinnen seid, solltest du vielleicht das Gespräch führen.«

»Aber du bist der Mann.«

Er wandte sich im Gehen zu ihr um und sah sie verwundert an.

»Sie ist über achtzig, Guido, da kann sie mich noch so unterhaltsam und gut für ein Schwätzchen finden, aber ausschlaggebend ist für sie immer noch der Mann.«

»Und das nimmst du einfach so hin?«

»Es ist eine Altersfrage«, sagte Grif‌foni. »Außerdem gibt sie nicht so viel Geld für Kosmetik aus, um sich für Frauen attraktiver zu machen.«

Sie hatten die Haustür erreicht. Brunetti klingelte und erklärte Beata, sie wünschten noch einmal die Signora zu sprechen. Das Hausmädchen ließ sie sofort ein.

Oben hieß die junge Frau sie lächelnd willkommen. »Die padrona hat sich sehr über Ihren Besuch gefreut, Signori. Sie spricht von nichts anderem. Wie schön, dass Sie wiedergekommen sind.« Sie ließ die beiden eintreten und führte sie den Flur hinunter. Vor dem Wohnzimmer blieb sie stehen. »Ich werde Sie anmelden.«

»Selbstverständlich«, sagte Brunetti, zu dem sie gesprochen hatte, ohne Grif‌foni zu beachten.

Aus dem Zimmer drangen Stimmen, dann öffnete Beata die Tür, ließ sie ein und machte die Tür hinter sich zu.

Signora Gasparini saß da, als habe sie sich seit gestern nicht von der Stelle gerührt. Sie trug dieselbe Drachenjacke, und die Streifen ihres Rocks reichten ihr immer noch bis zu den Füßen. Auch das Kopfzucken hatte sich nicht gelegt – eine winzige Bewegung, die ohne ihr flammend rotes Haar vielleicht kaum aufgefallen wäre.

»Wie nett, dass Sie mich noch einmal besuchen, Signore.« Sie strahlte Brunetti an und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Das tun wir sehr gern, Signora«, sagte Brunetti und trat zur Seite, damit sie Grif‌foni besser sehen konnte. »Es ist uns ein Vergnügen, an einem so beeindruckenden Ort zu Gast zu sein. Besonders wenn wir beide so herzlich empfangen werden.« Signora Gasparini sah zu Grif‌foni und bedachte sie mit jenem kühlen Nicken, das die Höf‌lichkeit Fremden gegenüber gebietet.

»Ja«, sagte Signora Gasparini und blickte umher, als sehe sie den Raum zum ersten Mal. »Reizend, nicht wahr? Früher war es das Arbeitszimmer meines Großvaters, ich empfange hier meine Besucher.« Sie wies lächelnd in die Runde. »Das vermittelt ihnen einen Eindruck davon, wer wir sind.«

Brunetti irritierte immer noch das Zucken.

»Wie recht Sie haben, Signora«, schwärmte Grif‌foni und tat, als könne sie sich gar nicht sattsehen. »Sehr schön haben Sie es hier.«

Signora Gasparini, die Grif‌foni offenbar immer noch nicht erkannte, konnte ihre Freude über die überschwenglichen Komplimente nicht verhehlen. Mit selbstzufriedenem Lächeln forderte sie die beiden auf, Platz zu nehmen. »Könnten Sie mir noch einmal sagen, weshalb Sie hier sind?«, fragte sie, um einen energischen Ton bemüht; doch ihre Verwirrung war ihr deutlich anzumerken. Brunetti überkam heftiges Mitleid. Grif‌foni hatte recht: Sie war hart im Nehmen und erwartete vom Leben kein Pardon.

»Wir kommen wegen Ihres Neffen«, erklärte Brunetti. »Tullio. Er wollte, dass wir das Kuddelmuddel mit der Apotheke klären. Leider verstehe ich immer noch nicht, was da passiert ist, und deshalb bitte ich um Aufklärung. Ich denke, dann bekommen wir das Geld zurück«, endete er auf dem Zauberwort, um ihr Interesse zu wecken.

»Aufklärung?«, fragte sie ratlos.

»Könnten Sie mir erklären, wie Sie an die Coupons gelangt sind, Signora? Solange ich den Hergang nicht kenne, kann ich Dottor Donato schlecht dazu bringen, Ihnen Ihr Geld zurückzuerstatten.«

Ihre Hände verkrampf‌ten sich.

»Das hat mit den Rezepten zu tun«, sagte sie.

»Was für Rezepte, Signora?«

»Die ich jeden Monat einreiche. Ich gehe zur Apotheke, gebe die Rezepte ab und bekomme meine Medikamente.«

»Ich verstehe, Signora. Und Sie müssen nicht den vollen Preis dafür bezahlen?«

»Natürlich nicht. Schließlich habe ich mein Leben lang Steuern bezahlt.« Ja, dachte Brunetti, warum sollten die Reichen keine Gegenleistung erhalten dafür, dass sie das Gesundheitswesen mitfinanzierten?

»Brava«, flüsterte Grif‌foni neben ihm.

Signora Gasparini horchte auf. Sie sah Grif‌foni an. »Ich sage Ihnen, meine Liebe: Bis Sie in meinem Alter sind, ist nichts mehr übrig. Bis dahin haben sie alles gestohlen, die Schweine.«

»Können Sie uns sagen, wie die Medikamente heißen, Signora?«, fiel Brunetti der alten Dame ins Wort, bevor sie nicht mehr zu bremsen war.

»Ach, fragen Sie mich nicht. Meine Ärztin verschreibt sie mir, und ich nehme sie.«

Brunetti konnte nachvollziehen, dass sie ihre Krankheiten nicht verraten wollte, auch wenn die sich mit jedem Zittern und Zucken und jeder Erinnerungslücke nur zu deutlich zeigten. »Verstehe, Signora. Und die Coupons?«

»Wenn ich sehr beschäftigt bin oder an zu vieles auf einmal denken muss, vergesse ich bisweilen die Rezepte zur Apotheke mitzunehmen.« Sie sprach, als seien ihre Tage mit Konferenzen und Vorstandssitzungen ausgefüllt, während sie in Wirklichkeit immer nur in diesem Zimmer saß, ohne Bücher, ohne Fernseher, ohne Gesellschaft.

»Und was geschieht dann, wenn ich fragen darf?«

»Oh, Dottor Donato weiß, wie wichtig die Medikamente für meine Gesundheit sind, aber ohne die Rezepte kann er nicht mit der Krankenkasse abrechnen.«

»Natürlich nicht«, bekräftigte Grif‌foni.

»Und wie hilft er Ihnen dann, Signora?«, erkundigte sich Brunetti.

»Er bittet mich, den vollen Preis zu bezahlen, anstatt der zwei Euro Gebühr, und er gibt mir für die Differenz einen Coupon.« Die beiden Polizisten lächelten ihr aufmunternd zu. Sie winkte sie mit ihren krummen Fingern näher heran und zeigte auf die Tür, zum Zeichen, dass Beata das nicht hören durf‌te. Leiser fuhr sie fort: »Dottor Donato hat mir gesagt, wenn wir es so machen, kann er den Wert der Coupons um zwanzig Prozent erhöhen.«

Wieder nickten die beiden. »Ach, das ist aber sehr anständig von ihm, Signora«, rief Grif‌foni begeistert, als wollte sie den Apotheker für einen Bürgerrechtspreis vorschlagen.

»Ich weiß, es ist reines Entgegenkommen. Er ist ein so guter Mensch«, sagte Signora Gasparini mit einem Lächeln, das ihre intakten Zähne sehen ließ. Sie richtete sich auf, das Lächeln war verflogen. »Und es tut ja auch keinem weh, nicht wahr?«

»Nicht im Geringsten«, versicherte Grif‌foni.

Offenbar hatten sie das Vertrauen der alten Dame gewonnen. »Dottor Donato«, fuhr Signora Gasparini fort, »macht dieses Angebot nur seinen treuesten Kunden, Leuten, denen er trauen kann.« Einen Moment geriet sie ins Stocken. »Er hat mich gebeten, mit niemand darüber zu sprechen, also sagen Sie es bitte nicht weiter.« Sie sah die beiden forschend an, als bemerke sie erst jetzt, dass sie da waren und ihr zuhörten. »Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.«

»Selbstverständlich können Sie das, Signora.« Grif‌foni traf genau den hier angebrachten, weihevollen Ton.

»Ich verstehe ihn nur zu gut«, erklärte Brunetti voller Bewunderung. »Wenn man bedenkt, was Medikamente heutzutage kosten, sind zwanzig Prozent …«

Grif‌foni unterbrach ihn. Als zaubere sie ein Kaninchen aus dem Hut, wies sie auf Signora Gasparini und meinte: »Ihr Teint ist der eindeutige Beweis dafür, dass eine Frau nur das Beste kaufen sollte.«

Signora Gasparini war nachdenklich geworden. »Er hat sich mehr als einmal bei mir entschuldigt, dass die Vorschriften der Krankenkassen so kompliziert sind. Er kann mir das Geld auf keinen Fall erstatten, weil die sonst dahinterkommen, dass er mir das Medikament ohne Rezept gegeben hat. Wenn das geschieht, sagt er, wird ihm die Zulassung entzogen. Und das möchte ich bei einem so guten Freund doch nicht riskieren.«

Die beiden nickten zustimmend, und Brunetti amüsierte sich insgeheim über das groteske Bild, wie sie da alle drei ihre nickenden Köpfe zusammensteckten. Er riss sich zusammen und fragte besorgt: »Erinnern Sie sich, wie oft Sie im Lauf der Jahre vergessen haben, Ihre Rezepte mitzunehmen?«

Er sah ihr mit freundlicher Besorgnis ins Gesicht: Sie schloss kurz die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick trüb, als habe statt ihrer jemand anders die Bühne betreten.

»Im Lauf der Jahre, das war … oh«, begann sie, und die Verwunderung war ihr deutlich anzuhören, »das weiß ich wirklich nicht mehr.« Sie sah verzweifelt von einem zum anderen, als sei den beiden die vergessene Zahl womöglich auf die Stirn geschrieben.

Normalerweise hätte Brunetti seine Frage wiederholt; da Signora Gasparini jedoch entschlossen schien, sich nicht zu erinnern, wechselte er das Thema und bemerkte mit Nachdruck: »Was für ein Glück, einen Apotheker gefunden zu haben, dem seine Kunden so sehr am Herzen liegen, dass er ein solch großes Risiko eingeht.«

Sie lächelte erleichtert, als er damit den plötzlichen Gedächtnisverlust als glaubhaft und unwesentlich abtat. Angesichts von Brunettis Diskretion Vertrauen fassend, beugte sie sich vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Genau das hat Signora Lamon auch gemeint. Ich stand einmal hinter ihr in der Apotheke und bekam daher alles mit. Sie hatte ihr Rezept vergessen, und Dottor Donato gab ihr auch so einen Coupon. Als ich sie neulich zufällig bei Tonolo traf – da kaufe ich immer die kleinen Éclairs, am liebsten die mit dunkler Schokolade –, erzählte ich ihr, dass er mir auch schon ausgeholfen hat.« Sie hielt inne, als rekapituliere sie, was sie schon erzählt hatte. Dann setzte sie hinzu: »Und da hat sie mir anvertraut, er habe auch schon zwei Freundinnen von ihr ausgeholfen.«

Sie faltete in einer altmodischen Geste die Hände vor ihrem Busen. »Was für ein netter Mann, dass er so für uns sorgt.«

Wie nebenbei, als erinnere ihn eine freundliche Person an die andere, ließ Brunetti einfließen: »Und was für eine glückliche Fügung, dass er so eng mit Dottoressa Ruberti zusammenarbeiten kann, die ja auch ein äußerst netter Mensch sein muss.« Damit Signora Gasparini gar nicht erst auf die Idee kam, ihn zu fragen, woher er den Namen ihrer Ärztin wusste, schob er schnell hinterher: »Meine Schwiegermutter geht schon seit Jahren zu ihr und schwärmt immer in den höchsten Tönen.«

Grif‌foni nickte lächelnd. Die alte Dame sah das Lächeln, doch an das Gesicht, auf dem es erschien, erinnerte sie sich offenbar nicht mehr.

»Ja, so ist es«, stimmte Signora Gasparini zu. »Und mutig ist sie, genau wie Dottor Donato, scheut kein Risiko, zum Wohl ihrer Patienten.«

»Oh«, sagte Grif‌foni mit der überschwenglichen Neugier einer Jüngeren. »Was hat sie denn für Sie getan, Signora?«

Signora Gasparini setzte zu einer Antwort an, stockte dann aber, als habe sie plötzlich Schwierigkeiten, sich zu erinnern.

Brunetti erkannte dieselbe Panik in ihrem Blick wie früher bei seiner Mutter, wenn diese im Frühstadium ihrer Erkrankung plötzlich nicht mehr weiterwusste. »Wie lange ist sie schon Ihre Hausärztin, Signora?«, half er ihr über Grif‌fonis Frage hinweg.

Dies war anscheinend weniger schwierig zu beantworten. »Seit zehn Jahren. Unser alter Hausarzt ging in den Ruhestand, und Dottoressa Ruberti übernahm die Praxis.« Die beiden Jüngeren nickten ihr aufmunternd zu, und sie fuhr fort: »Sie ist Venezianerin. Mein Vater ist mit ihrem Großvater zur Schule gegangen.« Sie lächelte, sichtlich zufrieden, weil sie das noch wusste. »Das haben wir entdeckt, nachdem ich schon einige Monate bei ihr in Behandlung war, und seitdem verbindet uns das.«

»Natürlich«, murmelte Brunetti. »So haben Sie die Sicherheit, dass sie ein persönliches Interesse an Ihrer Gesundheit hat.«

»Genau«, sagte Signora Gasparini. Stolz erzählte sie weiter: »Anfangs ging ich nicht oft zu ihr; nicht wie so viele alte Frauen. Erst seit einem Jahr, als … als ich mehrmals zu Untersuchungen ins Krankenhaus musste und Dottoressa Ruberti mir dann etwas verschrieben hat.« Sie verstummte. Brunetti fragte sich, ob sie bewusst ihre Krankheit verdrängte, das ewige Zucken ihres Kopfs. Er selbst konnte es jedenfalls nicht ignorieren.

Sie faltete die Hände und presste sie in den Schoß. »Ich ging zu meinem alten Apotheker, bei dem ich früher immer war, und der sagte mir, es gebe ein anderes Medikament, das genauso wirke wie jenes, das Dottoressa Ruberti mir verschrieben habe, ein sogenanntes … wie nennt man das noch mal?« Sie nahm die Hände auseinander und fasste sich an die Stirn. »Wie hieß das noch? Irgendwas mit ›G‹.«

Brunetti sah ihre Panik, ihre verzerrten Lippen. »Meinen Sie ›Generikum‹, Signora?«

»Ja. Ja. Richtig. Natürlich. Es lag mir auf der Zunge.« Sie lächelte, sichtlich erleichtert, und faltete wieder die Hände.

»Ich habe ihm gesagt, darüber müsse ich erst mit meiner Ärztin sprechen. Und die sagte mir, das sei nicht dasselbe; das Medikament, das sie mir verschrieben habe, sei teurer, weil es sich als wirksamer erwiesen habe.« Deprimiert von Alter und Machtlosigkeit, schloss sie die Augen. »So machen die das mit uns, überall wollen sie sparen, und wenn es uns umbringt.«

Brunetti brummte zustimmend.

»Am nächsten Tag ging ich wieder hin und sagte dem Apotheker, dass ich das Generikum nicht haben will«, erklärte sie, stolz, das Wort nicht vergessen zu haben. »Da er sich nicht überzeugen ließ, bin ich wieder zu Dottoressa Ruberti gegangen, und die sagte mir, sie habe mich vor dem Apotheker warnen wollen, aber die Standesethik verbiete ihr das. Zum guten Glück hätte ich es selbst herausgefunden. Sie könne mir stattdessen einen Apotheker empfehlen, der mir die richtige Medizin geben werde.«

»Gott sei Dank«, flüsterte Grif‌foni.

»Ja. Gott sei Dank. Das hat mir das Leben gerettet«, sagte die alte Dame, aber es klang nicht dankbar, sondern beklommen, als habe der Kampf sie erschöpft und zehre immer noch an ihr.

»Und so sind Sie Kundin von Dottor Donato geworden?«, fragte Brunetti mit kindlicher Unschuld, als könne er es nicht erwarten, das Ende eines Märchens zu hören.

»Ja, etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Jetzt habe ich eine wunderbare Ärztin und einen Apotheker, deren einziger Gedanke dem Wohlergehen ihrer Patienten gilt.«