19
Sowohl Brunetti als auch Griffoni wollten sich einfach nur die Beine vertreten, zum Plaudern war ihnen nicht zumute. Kurz nach drei kamen sie vor Gasparinis Haustür an. Brunetti läutete, und bald darauf saßen sie in dem Wohnzimmer, wo er – war das erst gestern gewesen? – mit Professoressa Crosera gesprochen hatte. Sie sah erschreckend blass aus. Ihr dunkelbraunes Haar glänzte nach wie vor, doch das ließ die Verwandlung, die sie über Nacht durchgemacht hatte, nur desto deutlicher hervortreten. Ihre Haut war bleich wie Pergament. Die Wangenknochen, gestern noch sanft geschwungen, traten spitz hervor.
»Professoressa Crosera«, sagte er, nachdem er einen pro forma angebotenen Kaffee dankend abgelehnt hatte. »Wir möchten mit Ihnen über Ihren Mann sprechen.«
Sie sah zwischen Brunetti und Griffoni hin und her, dann wieder zu Brunetti, als warte sie darauf, dass er ihr diesen Satz in eine Sprache übersetze, die sie verstand. »Was meinen Sie damit?«, brachte sie schließlich hervor. Sogar ihre Stimme war grau, grau vor Schlafmangel und unentwegter Angst.
»Ich habe den Mann gefunden, der die Drogen verkauft hat«, sagte Brunetti.
Ihr Blick schoss zu ihm hinüber. »War er es?«
Brunetti schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Ihm geht es sehr schlecht.«
»Ist er im Krankenhaus?«, platzte sie heraus, und Brunetti fragte sich schon, ob sie etwa zu ihm wollte, um sich zu rächen.
»Das war er. Zur Chemotherapie.« Um ihre Reaktion zu testen, fügte er hinzu: »Doch die wird kaum mehr etwas nützen.«
»Gut so«, sagte sie mit schneidender Kälte.
Brunetti ging darüber hinweg. »Er ist in sehr schlechter Verfassung, er kann Ihren Mann nicht überfallen haben. Auf keinen Fall.«
»Und?«
»Es muss jemand anderes gewesen sein.«
Professoressa Crosera wandte sich an Griffoni. »Finden Sie es anstößig, was ich da gesagt habe?«, fragte sie von Frau zu Frau.
»Überhaupt nicht«, antwortete Griffoni.
»Auch wenn ich ihm den Tod wünsche?«
»Wenn er Ihrem Sohn Drogen verkauft hat, ist das eine ganz natürliche Reaktion«, bemerkte Griffoni sibyllinisch.
»Würden Sie auch so reagieren?«
Griffoni legte die gefalteten Hände in den Schoß und senkte den Blick. »Ich habe keine Kinder und kann daher nicht empfinden, was Sie fühlen.« Sie ließ die andere nicht zu Wort kommen; weiter den Blick auf ihre Hände gerichtet, fuhr sie fort: »Aber ich nehme an, ich würde ähnlich reagieren.« Sie hob den Kopf und sah ihrem Gegenüber mit ausdrucksloser Miene in die Augen.
Professoressa Crosera nickte nur.
Brunetti kam wieder auf seine ursprüngliche Frage nach ihrem Mann zurück. Seit Fornari nicht mehr als Täter in Frage kam, stand der Commissario mit leeren Händen da. »Wir möchten von Ihnen wissen, ob Ihr Mann in den letzten Wochen irgendetwas Ungewöhnliches gesagt oder getan hat. Dinge, die Ihnen merkwürdig vorgekommen sind.«
»Gibt es zum Beispiel«, schaltete Griffoni sich ein, »auffällige Bemerkungen über Artikel in der Zeitung, Themen, über die er sich aufgeregt hat?«
Professoressa Crosera schloss die Augen und rieb sich die Stirn. »Tullio ist ein ausgeglichener Mensch und regt sich selten auf. Er ist geduldig, er schreit die Kinder nicht an. Arbeitet hart.«
»Worüber unterhalten Sie beide sich?«, wagte Griffoni sich vor.
Professoressa Crosera dachte lange nach. Ob der Mann im Krankenhausbett die Erinnerung an jenen anderen verstellte, den sie einst geheiratet hatte? »Arbeit, seine und meine. Die Kinder. Filme, die wir gesehen haben. Unsere Familien. Urlaubspläne.« Ihre Stimme erstarb, und sie machte eine hilflose Handbewegung. »Wir unterhalten uns über dasselbe wie alle anderen auch.«
Brunetti versuchte es noch einmal. »Hat er von Schwierigkeiten bei der Arbeit gesprochen?«
Wieder schoss ihr Blick zu ihm hinüber, erschrocken. Offenbar war sie noch nie auf den Gedanken gekommen, ihr Mann könne durch seine Arbeit in Gefahr sein.
Wie er sie so sah, wurde ihm klar, wie wenig plausibel das war. Gasparini arbeitete in Verona, um Himmels willen. Wie wahrscheinlich war es, dass irgendein neidischer Kollege oder unzufriedener Kunde nach Venedig kommen und in der Stadt herumlaufen würde, bis er auf einer Brücke zufällig sein argloses Opfer traf?
»Oder hat er sonst irgendwelche Feinde in der Stadt?«, fragte Griffoni.
Professoressa Crosera, die bei Brunettis Frage nach der Arbeit ihres Mannes zu Boden gesehen hatte, sah zu Griffoni hinüber. »Nein, niemand. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Gestern«, schaltete Brunetti sich ein, »hatte ich gefragt, ob ich mir seine Sachen ansehen darf.« Er wartete, bis sie nickte. »Dürfen wir das jetzt nachholen?« Ihre Miene verschloss sich, und eingedenk des Tons, in dem sie vorher »Gut so« gesagt hatte, fügte Brunetti eilig hinzu: »Vielleicht kommen wir dadurch dem Täter auf die Spur.«
»Glauben Sie wirklich?«, fragte Professoressa Crosera.
»Ich bin mir nicht sicher, Signora«, sagte er, überrascht von seiner eigenen Offenheit. »Eben deswegen möchte ich Commissario Griffoni dabeihaben. Vielleicht fällt ihr etwas auf, das ich nicht sehe.«
Wieder rieb sich Professoressa Crosera heftig an der Stirn. Schließlich meinte sie: »Dann tun Sie das. Zweite Tür links.«
Das Zimmer war aufgeräumt, das Bett gemacht, keine herumliegenden Kleidungsstücke. Brunetti ging zu einer Tür, die ins Bad führen musste, und sah hinein. Auch dort alles ordentlich, abgesehen von diversen Schminkutensilien über dem Waschbecken.
Der Kleiderschrank, ein modernes weißes Riesending, stand an der hinteren Wand. Brunetti zog die zwei Türen auf; eine knarrte schrecklich. Sie traten zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. In der rechten Hälfte standen zuunterst Herrenschuhe. Darüber sahen Hosenbünde unter den zugehörigen Jacketts hervor, rechts daneben hingen einzelne Sakkos und mindestens zwanzig weiße Hemden.
In der linken Hälfte hingen Kleider, Röcke, Hosen, Blusen und zwei lange Gewänder, alles wild durcheinander. Darunter lagen gut zwei Dutzend Paar Schuhe, nur wenige davon neben ihren Partnern. Griffoni trat mit verschränkten Armen zurück und versuchte aus den zwei so verschieden sich darbietenden Hälften des Schranks auf deren Benutzer zu schließen. Neben der Stange für die Bügel gab es drei Fächer, darunter je drei Schubladen.
Im obersten Fach Wintermützen und Herrenhandschuhe, in der Mitte dicke Pullover, ganz unten leichtere Pullover und Sweatshirts; in den entsprechenden Fächern auf der weiblichen Seite das Gleiche, nur nicht so ordentlich geschichtet.
»Ein ordnungsliebender Mann«, sagte Griffoni und wies mit dem Kinn auf die Stapel akkurat gefalteter Pullover.
»Sieht ganz so aus«, meinte Brunetti und stellte sich vor, wie langweilig die Arbeit eines Buchhalters sein musste. »Und seine Frau?«, fragte er.
Griffoni ging zur linken Seite des Schranks und strich prüfend über den Stoff eines Morgenmantels und zweier Kleider. »Sie weiß, was vorteilhaft für sie ist.«
»Was meinst du damit?«, sagte Brunetti.
Griffoni schob die zwei Kleider auseinander. »Sieh mal her«, sagte sie. »Genau das Richtige für sie: dieser Schnitt, dieser Stoff, perfekt für ihre Schultern.« Sie zog die Hände zurück, und die Kleider schmiegten sich wieder aneinander. »Sie weiß, was ihr steht.«
»Und die?«, fragte Brunetti und wies auf die durcheinanderliegenden Schuhe.
»In jedem einzelnen steckt ein Schuhspanner, Guido. Ist dir das aufgefallen?«
Nein. Er hatte nur bemerkt, dass sie nicht ordentlich in Paaren aufgestellt waren. »Und mindestens fünf Paar sind handgemacht«, fügte Griffoni hinzu.
»Und er?« Brunetti fragte sich, ob er sie nicht auch noch bitten sollte, ihm die Handschriften der beiden zu deuten.
»Ordnungsliebend, nimmt es manchmal vielleicht zu genau. Sehr konventionell, auf seine Ideen fixiert.«
»Das alles schließt du daraus, wie seine Anzüge aufgehängt sind?«, fragte Brunetti.
»Er hat drei graue Anzüge, Guido«, erklärte sie lächelnd und tastete in den Schubladen auf der rechten Seite herum: Unterwäsche, Socken und Taschentücher. Sie zog die unterste auf. Doch statt hineinzugreifen, verschränkte sie die Hände auf dem Rücken und sagte: »Sieh einfach nur hin.«
»Und?«, fragte Brunetti, der allmählich die Geduld verlor.
»Hier kehrt sich das Innerste dieses Mannes nach außen.«
»Ach, komm schon, Claudia«, entfuhr es ihm. »Das ist doch Unsinn.«
»Sieh doch«, sagte sie, zog die Schublade ganz auf und trat beiseite.
Brunetti ging in die Knie und hatte ein Sammelsurium von offenbar achtlos hineingeworfenen Gegenständen vor sich. Zerknüllte Banknoten voll arabischer Schriftzeichen und Männern mit orientalischer Kopfbedeckung. In einem Umschlag vier Monate alte Bordkarten eines Fluges Venedig–Dubai und zurück. Zwei Schlüsselringe mit lauter verschiedenen Schlüsseln. Ein kleines Nilpferd aus Malachit, eine Quittung über dreißig Euro für das Aufladen der iMOB-Netzkarte, zwei einzeln eingewickelte Hustenbonbons und ein zerschlissenes Lederportemonnaie. Brunetti klappte es auf und schob seinen Finger in jeden Schlitz; alle waren leer, auch das Fach für die Scheine.
Unter mehreren Zehn-Pfund-Noten lagen weitere Quittungen; zwei von Restaurants und eine für den Kauf von drei Druckerpatronen bei Testolini; eine der Patronen – schwarz – hatte sich in die Schublade verirrt. Brunetti blätterte ein paar Zettel durch, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden: keine Quittungen, sondern Coupons für Kosmetikartikel zu je hundertvierundfünfzig Euro, auf den Namen Gasparini. Vier AAA-Batterien, noch verpackt; eine defekte Taschenlampe; noch mehr Quittungen und drei weitere Coupons. Brunetti stand auf und schob die Lade mit der Schuhspitze zu.
»Nicht so hastig, Guido«, sagte Griffoni und zog die Lade wieder auf. »Hier ist keine Ordnung; die Sachen haben nichts miteinander zu tun, ganz anders als in den anderen Fächern.« Sie griff nach dem Umschlag und zog die Pappkärtchen heraus. »Warum bewahrt er nur diese zwei Bordkarten auf? Wo die beiden doch so viel auf Reisen sind? Hat seine Frau dir nicht erzählt, sie sei beruflich viel unterwegs?«
Brunetti nickte, konnte ihr aber immer noch nicht folgen.
Griffoni zog die Lade ganz heraus und stellte sie auf den Tisch zwischen den Fenstern. Dann räumte sie alles aus und legte die einzelnen Gegenstände in einer langen Reihe auf den Tisch.
Die Reihe begann mit den Bordkarten; es folgten die arabischen Banknoten, das Portemonnaie und das Nilpferd; dann kamen die AAA-Batterien und die Druckerpatrone, die Coupons, die Taschenlampe, die Hustenbonbons, die Schlüsselringe, die Quittungen und die britischen Geldscheine. Zum Schluss noch mehr Quittungen und ein paar andere Sachen, die vorher nicht zu sehen gewesen waren.
Als Erstes nahm Griffoni sich die Bordkarten vor. »Emirates soll ja die beste Fluggesellschaft sein«, sagte sie und steckte sie in den Umschlag zurück. Dann kam die Taschenlampe an die Reihe, die auch beim zweiten Anlauf nicht funktionierte. So untersuchte sie jedes einzelne Stück, um das Rätsel ihrer Anwesenheit zu ergründen.
Während sie eine Hotelrechnung aus Mailand studierte, griff Brunetti nach den zusammengehefteten Coupons. Er betrachtete den ersten näher, dann alle anderen. Schließlich fragte er: »Was macht ein Mann mit Coupons für Kosmetik im Wert von neunhundert Euro?«
Unwillkürlich musste er an die Jungen denken, die am Kiosk diese Klatschblätter gekauft hatten. Jungen lasen so etwas nicht. Und Männer brauchten keine Kosmetikartikel, jedenfalls nicht für neunhundert Euro.
»Das ergibt keinen Sinn, oder?« Brunetti hielt ihr die Coupons hin.
Griffoni studierte sie eingehend und gab sie ihm schließlich zurück. »Neunhundertvierundzwanzig, um genau zu sein.«
»Fragen wir sie danach«, sagte Brunetti. Er steckte die Coupons ein, alles andere legten sie in die Schublade zurück.
Im Wohnzimmer war Professoressa Crosera nicht mehr. Also gingen sie in der Küche nachsehen – und trafen dort zu ihrer Überraschung den Jungen an, der, ohne dass sie etwas gehört hätten, in die Wohnung gekommen sein musste. Er hatte ein riesiges Sandwich vor sich, seine Mutter eine Tasse Tee.
»Oh, Entschuldigung«, sagte Brunetti und blieb so abrupt auf der Schwelle stehen, dass Griffoni gegen ihn prallte.
Professoressa Crosera machte Anstalten aufzustehen, der Junge ebenfalls. Brunetti lächelte, und Sandro tat es ihm nach. Er hatte mehr Farbe im Gesicht und wirkte ruhiger als am Vortag. Nach einem höflichen »Buon giorno, signori« sah er unsicher zu seiner Mutter.
»Bitte. Lassen Sie sich nicht stören, Signora«, sagte Brunetti. »Wir haben nur noch ein paar Fragen. Wir warten im Wohnzimmer auf Sie.«
Bevor seine Mutter etwas sagen konnte, fragte der Junge: »Haben Sie den Mann gefunden, der meinen Vater verletzt hat?« Er gab sich alle Mühe, erwachsen zu klingen, aber aus seiner Stimme sprach Angst.
»Noch nicht«, antwortete Brunetti. »Deswegen möchten wir noch einmal mit deiner Mutter sprechen.«
»Worüber?«, fragte sie. Es klang eher neugierig als gereizt.
»Über Dinge, die wir gefunden haben, Signora. Wir warten im salotto«, wiederholte Brunetti ohne weitere Erklärung und ging mit Griffoni ins Wohnzimmer zurück, wo sie auf dem Sofa Platz nahmen.
Wenig später erschien Professoressa Crosera und schloss die Tür hinter sich. Brunetti stand auf. »Also, worum geht es?«, fragte sie von der Tür aus.
»Wir haben uns die Sachen Ihres Mannes angesehen und etwas gefunden, das uns Rätsel aufgibt«, sagte er und hielt ihr die Zettel hin.
Sie griff nicht danach, meinte nur verwirrt: »Was ist das?«
»Coupons für Kosmetik: Wir verstehen nicht, warum er so viele Gutscheine für Kosmetikartikel hat.« Dann fiel ihm noch ein Detail ein: »Sein Name steht darauf.« Er legte sie ihr in die Hand. Sie blätterte die Zettel flüchtig durch und gab sie ihm zurück.
Dann nahm sie auf dem zweiten Sofa Platz, und Brunetti setzte sich wieder neben Griffoni. Professoressa Crosera sah prüfend auf die Uhr, wie viel Zeit ihr für eine Erklärung blieb, und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Das ist seine Tante.« So wie sie das letzte Wort betonte, war Brunetti klar, dass sie über diese Tante noch sehr viel mehr zu sagen hatte.
Die beiden Polizisten schwiegen.
»Zia Matilde«, begann sie betont sachlich. »Matilde Gasparini. Sie ist die Gasparini auf den Coupons. Aus irgendeinem Grund hat mein Mann diese Coupons nach seinem letzten Besuch bei ihr mitgebracht; er wollte mit jemandem darüber sprechen. Sie ist fünfundachtzig. Weiß der Himmel, warum sie so viel Geld für Kosmetika ausgibt«, endete sie entrüstet.
Brunetti verkniff sich jede Bemerkung über die Torheit der Frauen. Oder den Wunsch nach ewiger Jugend. Nicht gegenüber einer Frau, deren Mann mit dem Tode rang, und schon gar nicht im Beisein von Griffoni. Er fragte daher nur: »Hat er sich Ihnen gegenüber zu diesen Coupons geäußert?«
Sie schien überrascht. »Nur, dass er ihre Erklärung, wie sie daran gekommen ist, nicht verstanden hat.« Und dann: »Er hat sie besucht, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und sie auf die Coupons angesprochen. Doch sie sagte, es sei nicht der Moment.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf angesichts der vermeintlichen Eitelkeit der Tante ihres Mannes.
»Das hiesige Krankenhaus?«, versuchte Brunetti das Gespräch in Gang zu halten; und als sie nickte, fragte er: »Warum war sie dort?«
»Ihre badante bekam sie eines Morgens nicht wach und rief den Notarzt. Wir waren nicht da, sie konnte uns tagelang nicht erreichen und war ganz aufgelöst.«
Brunetti warf Professoressa Crosera einen aufmunternden Blick zu, und sie erklärte: »Bei unserer Rückkehr sprach Tullio im Krankenhaus den behandelnden Arzt, und der meinte, seine Tante habe offenbar ihre Medikamente verwechselt und zu viele Schlaftabletten genommen. Das komme bei alten Leuten häufig vor.«
Die beiden nickten verständnisvoll. Griffoni machte zusätzlich »Mhm«, als könne sie ein Lied von alten Leuten singen.
»Tullio sagte dem Arzt, er sei ihr Neffe, nicht ihr Sohn. Von ihren gesundheitlichen Problemen wisse er nichts, jedenfalls habe sie sich nie beklagt. Er wisse nicht einmal den Namen ihres Hausarztes.
Der Arzt erklärte ihm, seine Tante sei nicht so gesund, wie er zu glauben scheine; aus ihrer Krankenakte gehe hervor, dass bei ihr Parkinson diagnostiziert worden sei und sie Medikamente dagegen einnehme. Außerdem sei ihr etwas gegen Alzheimer im Frühstadium verschrieben worden.«
Professoressa Crosera zog die Brauen hoch, schloss kurz die Augen und fuhr fort: »Als Tullio seine Tante schließlich sah, war er schockiert, wie sehr sie sich verändert hatte: plötzlich stark gealtert und sehr verwirrt. Sie sagte immer wieder, er solle zu ihr nach Hause gehen und diese Coupons holen, weil sie fürchtete, dass Beata, ihre badante, sie stehlen könne. Sie gab erst Ruhe, als er versprach, das noch am selben Tag zu erledigen.«
»Und hat er es getan?«, fragte Brunetti.
Sie nickte. »Er musste ihr sein Wort darauf geben, also blieb ihm nichts anderes übrig.«
Professoressa Crosera schüttelte den Kopf. »Beata ist seit zehn Jahren bei ihr; und liebevoll wie eine Tochter. Eine absurde Vorstellung, dass sie ihr etwas stehlen könnte. Außerdem hätte sie dafür zehn Jahre Zeit gehabt.« Je länger sie von der Tante sprach, desto stärker geriet sie in Wallung.
»Zia Matilde kam am nächsten Tag aus dem Krankenhaus – das war vor ungefähr zwei Wochen –, er hat sie dann zu Hause besucht. Zweimal. Wieder hat sie nach den Coupons gefragt und ihm das Versprechen abgenommen, sie gut zu verwahren.«
»Und Sie selbst, haben Sie die Tante seitdem gesehen?«
Professoressa Crosera schüttelte den Kopf. »Noch nicht, seit sie wieder zu Hause ist. Nur mein Mann geht sie besuchen. Ging.«
»Weiß sie, was Ihrem Mann zugestoßen ist?«
Wieder heftiges Kopfschütteln. »Ich habe Beata angerufen und es ihr erzählt. Sie wusste von nichts. Ich habe sie gebeten, seiner Tante die traurige Nachricht zu ersparen; Beata meinte, das sei kein Problem, weil niemand sie mehr besuche.«
»Wie kommt das?«, fragte Griffoni.
»Alle, die sie kannte, sind entweder tot oder im Pflegeheim«, antwortete Professoressa Crosera schroff.
Griffoni hauchte ein »Ah« und sah Brunetti fragend an, wie es jetzt weitergehen solle.
Er nahm sein Notizbuch. »Könnten Sie uns die Adresse dieser Tante geben, Signora?«
»Sie wollen doch nicht etwa mit ihr reden?«
Brunetti hatte schon früh gelernt, dass Zeugen auf Sarkasmus allergisch reagierten, also verkniff er sich den Hinweis, dass die Tante ihres Mannes ihnen eher weiterhelfen könnte als das Nilpferd in der Schublade. »Die Coupons«, erklärte er lächelnd, »sind unser einziger Anhaltspunkt, Signora, deshalb möchte ich Genaueres darüber erfahren. Wenn auch nur, um eine Möglichkeit auszuschließen.« Er ließ das wirken und fragte dann: »Gestatten Sie, dass ich die Coupons mitnehme?«
»Aber machen Sie ihr keinen Kummer, ja?«
»Nein. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort«, schaltete Griffoni sich ein.
Professoressa Crosera sah kurz zu ihr hin, nickte dann. »Und wenn Sie nichts in Erfahrung bringen?«, fragte sie.
»Dann versuchen wir es anderswo«, sagte Brunetti, der sich wünschte, er habe ihr etwas Besseres zu bieten.
»Sie wohnt gegenüber der Carmini-Kirche«, sagte Professoressa Crosera, »in dem Haus direkt gegenüber der Brücke. Die Nummer weiß ich leider nicht. Wenn Sie über die Brücke gehen, haben Sie es genau vor sich. Vierter Stock. Ihr Name steht an der Klingel.«
Brunetti stand auf, die Frauen ebenfalls.
Professoressa Crosera begleitete die beiden zur Tür. Erst da fiel Brunetti ein, dass er sich nicht nach ihrem Mann erkundigt hatte, aber da meldete sich Griffoni zu Wort: »Ich wünsche Ihnen Kraft in dieser schweren Zeit, Signora«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Brunetti folgte ihr schweigend.