18
Auf dem Rückweg rekapitulierte Brunetti sein Gespräch mit Patta. Zum Glück hatte er dem Vice-Questore gegenüber nur die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Gasparini und dem Dealer erwähnt. Der hustende Schatten, mit dem er soeben gesprochen hatte, konnte Gasparini nicht überfallen haben, und auch seiner Frau traute er die nötige Kaltblütigkeit nicht zu. Fornari hatte nicht mehr die Kraft, ein Telefonat zu führen: Er konnte den Angriff auf Gasparini schwerlich organisiert haben.
Das war’s dann also: Die einzige naheliegende Verbindung zwischen Opfer und Verdächtigem hatte sich in Husten aufgelöst. Er musste noch mal von vorne anfangen und nach Dingen suchen, die er, von den Drogen abgelenkt, womöglich außer Acht gelassen hatte.
Er rief Griffoni von seinem Handy an und sagte ihr, er sei in zehn Minuten wieder in der Questura.
Griffoni saß an ihrem Schreibtisch, der neuerdings gegen die Wand zeigte, so dass sie nun Risse und abblätternde Farbe vor sich hatte; ein Besucher hingegen genoss den Luxus, nicht länger in der offenen Tür zu sitzen. Man brauchte sich nur um ihren Stuhl zu schlängeln, nahm auf dem zweiten Stuhl Platz und konnte bei geschlossener Tür mit ihr reden. Wollten jedoch beide den winzigen Raum verlassen, musste zuvor ausgehandelt werden, wer sich als Erster in Bewegung setzte.
Brunetti blieb auf der Schwelle stehen und spähte neugierig in den Verschlag hinein. »Der Tisch an dieser Stelle verleiht dem Raum etwas Majestätisches«, verkündete er und glitt an ihr vorbei auf den Besucherstuhl.
Lächelnd schloss sie die Tür und drehte sich zu ihm um. »Was gibt’s?«, fragte sie, und als er zögerte: »Du hast dich nicht gut angehört eben am Telefon.«
Er wollte nicht lange um den heißen Brei herumreden. »Ich war bei Fornari. Er haust in einem Loch am Rand von Castello und hat Lungenkrebs im Endstadium; er ist vollkommen außerstande, irgendwen anzugreifen. So wenig wie er auf Engelsflügeln für eine Chemotherapie zum Krankenhaus fliegen kann.«
»Und was bedeutet das für uns?«
»Dass Gasparini überfallen wurde und wir keinen Verdächtigen haben.«
»Ein Gelegenheitsverbrechen ist auf jeden Fall auszuschließen?«, fragte sie.
»Mit Sicherheit«, sagte er und verkniff sich auch ihr gegenüber die Bemerkung, dass sie hier schließlich in Venedig waren.
Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, als wollte sie aufstehen, ließ es dann aber und drehte sich nur ganz zu ihm herum. Diesmal hatte sie ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Wolljacke an. Die einreihige Perlenkette, die sie dazu trug, wirkte echt; das Blond ihrer Haare war es, das wusste er.
»Gut«, sagte sie. »Dass du ihn nicht für ein Zufallsopfer hältst.«
»Warum?«
»Weil es dann ein Motiv gibt. Und wo ein Motiv ist, gibt es eine Spur, die dorthin führt.«
»Fragt sich nur, welche«, meinte Brunetti, auch wenn an dem, was sie sagte, etwas Wahres dran war.
Sie nahm ihr Notizbuch und einen Stift. »Erzähl mir alles, was du weißt.«
Er berichtete noch einmal von vorne: Was Professoressa Crosera ihm erzählt hatte, ausführlicher diesmal; ihre Weigerung, ihn mit ihrem Sohn sprechen zu lassen, und dann das zufällige Zusammentreffen und das aggressive Verhalten des Jungen. Er schloss mit seinem Besuch bei den Fornaris und dem Elend, in dem sie lebten, auch wenn die Wohnung selbst, wie ihm erst jetzt bewusst wurde, sauber und ordentlich gewesen war. Alles reinlich und aufgeräumt, sogar Fornaris Schlafanzug war frisch gebügelt gewesen. Nur der Husten, gestand Brunetti sich ein, hatte die Wohnung so heruntergekommen erscheinen lassen.
Griffoni klappte das Notizbuch zu und legte es beiseite. »Das alles«, sagte sie und wies auf die Notizen, »führt zu nichts. Außer vielleicht«, sie überlegte, »zurück zu Professoressa Crosera. Ich finde, wir beide sollten noch einmal zu ihr gehen.«
Brunetti war das nur zu recht: Griffoni in der Rolle der guten Polizistin war die ideale Begleitung bei der Befragung einer weiblichen Zeugin. »Einverstanden. Ich versuche einen Termin mit ihr zu machen. Vielleicht könnten wir …«
Griffoni unterbrach ihn: »Aber nicht im Krankenhaus. Das wäre zu viel für sie.«
Brunetti zückte sein telefonino. Griffoni nickte, und er gab die Nummer ein.
Es klingelte neunmal, zehnmal, erst beim elften Mal meldete sie sich.
»Signora, hier spricht Commissario Brunetti. Wie geht es Ihrem Mann?«
»Unverändert. Er befindet sich im selben Zustand, in dem Sie ihn das letzte Mal gesehen haben.«
Brunetti seufzte. »Das tut mir sehr leid, Signora. Aber ich fürchte, ich muss Sie noch einmal belästigen.«
»Haben Sie den Täter gefunden?«, fragte sie zu Brunettis Erstaunen geradezu apathisch. Aber dann dachte er: Selbst wenn wir ihn hätten, was änderte das schon für sie?
»Nein. Haben wir nicht. Deswegen würde ich gern noch einmal mit Ihnen reden.«
»Hier?«, fragte sie erschrocken.
»Nein. Bei Ihnen zu Hause. Wenn es Ihnen recht ist.«
»Was soll dabei Gutes herauskommen?«
In der Tat würde die Verhaftung des Schuldigen niemandem etwas nützen und nichts besser machen. Im Gegenteil. Den Täter und seine Familie würde es zugrunde richten. Die Familie des Opfers war womöglich versucht, Rache zu üben, und Brunetti hatte schon oft erlebt, wie Rache jeden verdarb, der danach dürstete.
»Es ist nicht meine Aufgabe, Gutes zu tun, Signora«, sagte er. »Ich muss einzig und allein den Schuldigen suchen und dafür sorgen, dass er vor Gericht gestellt wird.«
»Was ändert das?«, fragte sie kaum hörbar. Die Hintergrundgeräusche wurden lauter. »Wann möchten Sie kommen?«, fragte Professoressa Crosera unvermittelt.
»Vielleicht am frühen Nachmittag? Um drei, wenn es Ihnen recht ist?«
»Ja«, sagte sie und brach die Verbindung ab.
»Ich habe sie überzeugen können«, sagte er zu Griffoni.
»Gut. Ich denke, bei ihr zu Hause ist es besser.«
»Besser, weil sie dort entspannter ist?«, fragte Brunetti.
»Ja«, antwortete Griffoni und erhob sich. »Und weil wir uns dort umsehen können.«
Doch vorher gingen Brunetti und Griffoni erst noch zusammen etwas essen. Brunetti hatte Paola angerufen und gesagt, er sei unterwegs zu einer Zeugenbefragung. Sie hatte das ruhig hingenommen und erklärt, die Kinder würden sich mit dem begnügen, was sie ihnen vorsetze, den beiden komme es nur auf die Menge an. Und sie selbst könne so schneller an ihre Arbeit zurück.
»Arbeit?«, fragte er in der Annahme, sie habe einen Vortrag vorzubereiten oder Examensklausuren zu korrigieren.
»Lesen«, sagte sie ohne weiteren Kommentar.
Beim Lunch sprachen sie über einen Fall, der gerade in der Lokalpresse Schlagzeilen machte. Es ging um einen Arzt aus Ägypten, dem vorgeworfen wurde, er habe seine sechzehn Jahre alte Tochter getötet, nachdem er auf ihrem Facebook-Konto vermeintliche Liebesbotschaften eines italienischen Klassenkameraden entdeckt hatte. Was den Mann zum Mord getrieben hatte, waren Sätze wie »Deine Antwort heute in Geschichte war sehr gut«, oder »Hast du nach der Schule Zeit für einen Kaffee?«. Da der Vater mit Facebook nicht vertraut war und nicht schlau daraus wurde, wer was geschrieben hatte, bekam er nicht mit, dass seine Tochter auf die erste Bemerkung gar nicht reagiert und die zweite mit einem »Nein« quittiert hatte.
Der Vater hatte seine Tochter im Schlaf erstochen und später der Polizei erklärt, wenn sie wach gewesen wäre, hätte er es nicht über sich gebracht: Er liebe sie zu sehr.
War eine solche Tat nicht zum Verzweifeln? Dummheit und Vorurteile der Menschen waren offenbar nicht kleinzukriegen. »Er tötet sie, weil ein Junge sie fragt, ob sie mit ihm Kaffee trinken will. Herrgott noch mal, sie war sechzehn«, sagte Griffoni. »Wenn ich daran denke, was ich mit sechzehn alles angestellt habe …« Sie verstummte und hielt sich eine Hand vor die Augen.
»Du bist keine Ägypterin«, sagte Brunetti.
»Und die Kleine?«, versetzte Griffoni. »Sie ist als Dreijährige hergekommen. Sie ist nicht in einem Zelt in der Wüste aufgewachsen.«
»Der Vater sagt, er will nicht mehr leben, fordert die Todesstrafe für sich.«
»Hör sofort damit auf, Guido«, flehte Griffoni, mit Zorn in der Stimme.
»Was meinst du?«, fragte er, von ihrer Heftigkeit überrascht.
Als der Kellner mit dem ersten Gang herbeigelaufen kam, schwiegen sie beide.
Kaum war er wieder gegangen, wiederholte Brunetti seine Frage: »Sag mir, was du meinst.«
Griffoni streute Käse über ihre Pasta, spießte eine Erbse nach der andern auf und dann noch ein Stück gelbe Peperoni, bevor sie die Tagliolini um die Gabel wickelte. Die volle Gabel auf halbem Weg zum Mund, sah sie ihn an. »Das ist doch alles Quatsch. Er will nicht sterben. Er will sich nur bei uns einschmeicheln, uns glauben machen, er sei untröstlich, dass er seine Tochter ermordet hat.«
Sie legte die Gabel ab und stützte ihr Kinn in beide Hände. »Nicht genug damit, dass er sie ermordet hat: Jetzt will er auch noch unser Mitleid und stellt sich als Opfer des Lebens zwischen zwei Kulturen hin.« Sie nahm die Gabel wieder auf. »Ich könnte laut schreien. Das ist doch alles nur Show und vorgetäuscht.«
»Meinst du wirklich? Du glaubst ihm nicht?«
Sie ließ die Gabel fallen. »Nein, ich glaube ihm nicht. Genauso wenig wie jenen alten Männern, die behaupten, sie hätten ihre arme, leidende Frau erlösen müssen, weil sie es nicht ertragen konnten, wie die geliebte Gattin durch Alzheimer zu einer Fremden wurde.« Sie ballte eine Hand auf dem Tisch zur Faust. »Hast du jemals von einer Frau gehört, die mit derselben Begründung den Mord an ihrem Mann zu rechtfertigen versucht hätte?«
Brunetti bemerkte, dass die Leute an den Nachbartischen sich nervös nach ihnen umdrehten; sie fürchteten offenbar einen Ehekrach.
»Und die Mutter des Mädchens? Ihr glaubst du doch wohl?«
»Du meinst, weil sie eine Frau ist?«, fragte Griffoni mit sanftem Sarkasmus. »Nein, ganz und gar nicht. Sie dürfte ihm vielmehr das Messer gereicht haben.«
Nun war es an Brunetti, die Gabel sinken zu lassen. Er starrte seine Kollegin an und fragte sich, wie lange dieser Zorn schon unter der Oberfläche gebrodelt haben mochte.
»Gehst du nicht ein bisschen zu weit, Claudia?«, fragte er, um einen beiläufigen Ton bemüht.
»Du liest doch die Zeitungen, oder? Angeblich wollte sie ihre Tochter für die Schule wecken, und als sie das Blut sah, ist sie schreiend aus dem Haus gelaufen. Sagt sie. Sie habe neben ihrem Mann geschlafen, und als sie aufwachte, lag ihre Tochter tot im Bett.«
Brunetti nickte. So stand es in allen Zeitungen.
»Glaubst du wirklich, Guido, er kommt auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer zurück, schlüpft unter die Bettdecke und schläft seelenruhig wieder ein, nachdem er soeben sein einziges Kind mit sieben Messerstichen getötet hat? Und seine Frau wacht nicht einmal davon auf, dass er sich neben sie legt?«
Brunetti starrte schweigend auf seine Pasta, ihm war der Appetit vergangen.
»Sein ganzer Schlafanzug war voller Blut, Guido. Wir haben es dort gefunden. Und in ihrem Ehebett. Und auf dem Griff des Messers waren Fingerabdrücke der Frau.«
»Sie sagt, es lag auf dem Boden, sie habe es ohne nachzudenken aufgehoben.«
»Und das Blut abgewaschen und das Messer in die Schublade zurückgelegt? Wie ist es in die Schublade gekommen, Guido? Und wo ist das Blut geblieben?«
Der Kellner näherte sich, doch Griffoni winkte ab. Sie machte den Mund auf und wieder zu und holte mehrmals sehr tief Luft.
Dann langte sie über den Tisch und legte Brunetti eine Hand auf den Arm. »Entschuldige, Guido, aber ich werde wahnsinnig, wenn ich so etwas höre.«
»Was genau?«
»Wenn Männer ihre Gewalt gegen Frauen rechtfertigen und wir ihnen auch noch glauben sollen, sie hätten keine andere Wahl gehabt. Ich habe das so satt, und ich habe die Leute satt, die darauf hereinfallen. Er hat sie ermordet, weil er die Kontrolle über sie verloren hat. Das ist die ganze Wahrheit. Mord bleibt Mord. Alles andere ist Augenwischerei. Und es ist nichts als Lüge, Lüge, Lüge.«
Sie sah ihm mit einem unergründlichen Ausdruck in die Augen. »Und wenn ich das noch hinzufügen darf: Nur Männer sind naiv genug, ihnen das abzunehmen. Warum? Weil sie alle das Bedürfnis haben, Frauen zu kontrollieren, und – ich muss das mal loswerden – heimlich Sympathie dafür hegen.«
Sie winkte den Kellner heran und sagte, er könne die Teller abräumen und den Kaffee bringen. Beide saßen sehr still da, bis er gegangen war.