20

Im Treppenhaus dachte Brunetti über Grif‌fonis Abschiedsworte nach. Nur Leute aus dem Süden konnten tiefes Mitgefühl mit einem so konventionellen Wunsch zum Ausdruck bringen. Der Wunsch half der Angehörigen, bot ihr Beistand an, nicht ihrem bewusstlosen Mann, der – so sehr er Beistand, erbetenen oder geleisteten, nötig haben mochte – die aufmunternden Worte weder hören noch verstehen konnte. Trotz seines instinktiven Argwohns gegenüber Süditalienern konnte Brunetti sie für ihre angeborene Warmherzigkeit nur bewundern.

In der calle blieb Brunetti kurz stehen, um das GPS zu Rate zu ziehen, das jeder Venezianer bei der Geburt mitbekam. Es dauerte nicht länger, als eine Kompassnadel braucht, sich auf Nord einzupendeln.

Schon war der Kurs bestimmt, und Brunetti marschierte los. Grif‌foni ging neben ihm her. Er führte sie zum Campo Santa Margherita und weiter daran entlang und darüber hinaus zur Carmini-Kirche, bis sie vor der Brücke standen. Das Haus, in dem Gasparinis Tante wohnte, fiel durch zwei zugemauerte Fenster im zweiten Stock auf. »Wieso wurde das gemacht?«, fragte Grif‌foni.

»Das hat wohl mit statischen Problemen zu tun. Palazzi, die so dicht an einem Kanal stehen, sind immer ein bisschen in Bewegung.«

»Du redest, als sei das nichts Besonderes.«

»Ist es auch nicht.«

»Aber warum wurden die Fenster zugemauert?«

»Wahrscheinlich, weil man zu spät gemerkt hat, dass die Fenster die Fassade instabil machen.«

»Hmmm«, brummte Grif‌foni und ging die Brücke hinauf. An der Haustür angekommen, suchte sie die Klingel für Gasparini. Erst als Brunetti neben ihr stand, drückte sie den Knopf.

Nach geraumer Weile fragte eine Frauenstimme aus der Gegensprechanlage: »Chi è?«

Brunetti tippte Grif‌foni auf die Schulter, und als sie ihn ansah, zeigte er auf ihr Gesicht: Eine Frauenstimme kam mit Sicherheit besser an als die eines Mannes.

»Professoressa Elisa hat uns gebeten, einmal bei Signora Gasparini vorbeizuschauen«, antwortete Grif‌foni mit freundlicher, warmer Stimme.

»Signor Tullios Frau?«

»Ja.«

»Kommen Sie vom Krankenhaus?«

»Nein«, sagte Grif‌foni. »Wir kommen von der Professoressa. Sie hat uns gebeten, uns nach dem Befinden der Tante von Signor Tullio zu erkundigen.«

»Geht es Signor Tullio gut?«, fragte die Frau.

Grif‌foni sah zu Brunetti, der nickte. »Ja. Gott sei Dank.«

»Da bin ich froh«, antwortete die Frau. »Ich bete jeden Tag für ihn.«

»Dürfen wir hineinkommen und kurz mit ihr sprechen?«, fragte Grif‌foni.

»Selbstverständlich, wenn Professoressa Elisa Sie geschickt hat.« Der Summer ertönte, und die Tür ging auf. Sie betraten ein geräumiges Atrium mit dem üblichen weißroten Schachbrettmuster. Hinten führten große Glastüren in einen Garten, der sich einen Häuserblock tief bis zu einer hohen Backsteinmauer im Hintergrund erstreckte. Obstbäume dösten verfroren vor sich hin und warteten auf den Frühling. Die Stufen in den ersten Stock hinauf waren breit und niedrig, in der Mitte ausgetreten von all den Füßen, die sie im Lauf der Jahrhunderte hinauf- und hinuntergegangen waren. Sowohl hier als auch auf den folgenden Treppenabsätzen gab es je zwei Wohnungstüren, im vierten Stock nur noch eine. Davor angekommen, fragte Grif‌foni: »Heißt das, die ganze Etage gehört ihr?«

»Vermutlich«, antwortete Brunetti und malte sich aus, wie riesig die Wohnung sein musste. Er drückte auf die Klingel.

Die Tür öffnete sich. Vor ihnen stand eine Frau in den Dreißigern, blond und mit wässrig blauen Augen. Mit einer einladenden Geste gab sie ihnen den Weg frei. Sie trug einen weißen Pullover, offenbar aus Kunstfaser, und einen dunklen, wadenlangen Rock. Das in der Mitte gescheitelte Haar hing ihr schnurgerade auf die Schultern. Sie hatte das rundliche Gesicht und die blasse Haut einer Osteuropäerin und lächelte nervös.

Brunetti bat um Erlaubnis, eintreten zu dürfen, und ließ dann Grif‌foni den Vortritt.

Sie gelangten in einen sehr langen, niedrigen Flur, den querlaufende dunkle Deckenbalken noch niedriger erscheinen ließen. Die Fenster am Ende des Flurs, die auf den Garten hinausgehen mussten, spendeten nur wenig Licht, von dem der dunkle Holzfußboden auch noch einiges verschluckte. »Die Signora ist in ihrem Zimmer«, sagte die Frau und führte sie nach hinten.

 

Links und rechts in dem Flur hingen Wandteppiche: Verblasste Menschengestalten mit Speeren jagten Wildschweine auf dem einen und dunkle Hirsche auf dem anderen; Brunetti war froh, dass in der Düsternis so wenig zu erkennen war. Es folgten Porträts: Frauen in kläglichem Zustand und entsprechend schlecht gelaunt blickten zu ebenso übelgelaunten, unrestaurierten Männern hinüber.

Die junge Frau blieb vor einer Tür zur Rechten stehen und sagte: »Die Signora ist hier. Sagen Sie bitte nichts, was sie aufregen könnte, ja?« In vertraulichem Ton fügte sie um Verständnis heischend hinzu: »Sie ist nicht mehr die Alte.«

Ihre Trauer darüber wirkte echt. »Wir werden uns alle Mühe geben, Signorina«, meinte Brunetti.

Sie rang sich ein Lächeln ab, vollführte einen Knicks, der beinahe so aussah, als ob sie niederkniete; dann öffnete sie die Tür und ging in ein Zimmer voraus, in dem es ebenso düster war wie auf dem Flur. »Hier sind Freunde von Signor Tullio, Signora«, verkündete sie mit gekünstelter Munterkeit. Und kaum waren Brunetti und Grif‌foni über die Schwelle getreten, schloss sie nach einem abermaligen Knicks die Tür hinter sich.

Sie standen vor einer winzigen Frau mit flammend rotem, kurz geschnittenem Haar, das einer sehr viel Jüngeren besser zu Gesicht gestanden hätte. Sie saß, die Füße auf einem mit Brokat bezogenen Schemel, in einem niedrigen Sessel vor den Fenstern, durch die wenig Licht einfiel. Ihre blaue Seidenjacke war mit ineinander verschlungenen roten Drachen gemustert; der seidig schimmernde, graugrün gestreif‌te Rock reichte ihr bis über die Knöchel. An den Füßen trug sie hochhackige Pantöffelchen mit Pompon auf dem Spann, wie Brunetti sie nur in der Oper oder auf manchen Porträts von Longhi gesehen hatte. Man hätte meinen können, sie gebe jeden Moment einen Empfang oder spiele in einem Theaterstück mit.

Ihre starre Miene mochte das Ergebnis einer missglückten Schönheitsoperation sein, konnte aber auch auf mangelndes Interesse an allem außerhalb dieses Zimmers hindeuten. Ihr Blick war trüb, nicht nur verhangen wie oft im hohen Alter, sondern umwölkt von Zweifeln an der Wirklichkeit dessen, was sie noch wahrnahm. Ihr Mund war so rot wie ihr Haar und ebenso dünn.

Einziges Lebenszeichen – Brunetti wand sich innerlich, als er das dachte – war das Zittern ihres Kopfs, der in unregelmäßigen Abständen nach links zuckte. Brunetti versuchte den Rhythmus zu erfassen, aber die Abstände waren unterschiedlich, drei Sekunden, fünf, oder auch nur eine Sekunde.

Signora Gasparini saß in dem Sessel, als sei das ihr Hauptberuf. Der Tisch neben ihr war leer: keine Tasse, kein Glas, kein Obst, keine Pralinen, kein Buch, keine Zeitschrift. Sie taxierte die beiden und wies mit majestätischer Geste auf eine Reihe von Sesseln ihr gegenüber wie bei einer Audienz. Brunetti und Grif‌foni setzten sich.

Rings umher standen große, dunkle, unförmige Möbelstücke. Die Sessel zu dick gepolstert, zu hoch oder zu niedrig; manche einfach nur hässlich. Ein windschiefer Schrank wirkte lebensmüde. Die Beine eines Tischs litten an Elephantiasis, der Spiegel an der Wand hatte Stockflecken. Die Möbel sahen aus wie Erbstücke einer Familie ohne Geschmack.

»Sie sind Freunde meines Neffen?«, fragte sie zur Begrüßung.

»Si, Signora«, erklärte Brunetti. Grif‌foni nickte lächelnd. Die Frau nahm kaum Notiz von ihr. Hin und wieder zuckte ihr Kopf nach links. Brunetti zwang sich, nicht hinzustarren.

»Warum besucht er mich nicht?« Es sollte verärgert klingen, klang aber nur jammernd.

»Er ist sehr beschäftigt, Signora. Sie wissen ja, er ist beruf‌lich viel unterwegs«, antwortete Brunetti, bemüht, nur ja nicht an den Mann im Krankenhausbett zu denken.

»Aber er kommt immer, bevor er abreist«, protestierte sie schwach und zum Ende des Satzes hin immer leiser, als erwarte sie von Brunetti eine Bestätigung.

»Diesmal musste er leider ganz plötzlich weg, und da hat er uns gebeten, vorbeizukommen und es Ihnen auszurichten«, behauptete Brunetti.

»Wann wird er …«, fing sie an, schien dann aber vergessen zu haben, was sie fragen wollte; vielleicht kam sie auch nur nicht mit dem Futur zurecht.

»Wir sollen Sie von ihm grüßen«, ging Brunetti über ihre abgebrochene Frage hinweg, »und Sie bitten, ihm etwas zu erklären.«

»Erklären? Was denn?«, fragte sie.

»Er wollte sich um die Coupons kümmern, die Sie ihm gegeben haben, und …« Brunetti ließ den Satz – halb Frage, halb Behauptung – in der Luft hängen, um zu sehen, wie sie reagieren würde.

Sie zuckte so zusammen, dass ein Pantoffel herunterfiel. Wie bei ihrem ständigen Kopfruckeln tat Brunetti auch jetzt so, als merke er es nicht. Auch Grif‌foni verzog keine Miene.

»Coupons?«, stammelte sie mit zitternder Stimme, als habe die Frage sie plötzlich um viele Jahre altern lassen.

»Ja, die von der Farmacia della Fontana. Offenbar ist der Apotheker jetzt bereit, sie einzutauschen gegen Geld.«

Die Aussicht auf Geld belebte sie. Die zittrige Alte verwandelte sich in ein aufgeregtes junges Mädchen. Brunetti fühlte sich an eine Bemerkung seiner Mutter erinnert, einen ihrer Versuche, ihm wie nebenbei die Welt zu erklären. Er hatte zu ihr gesagt – vierzehn oder fünfzehn musste er da gewesen sein –, es käme ihm so vor, als seien die Venezianer anders als andere Leute, er wisse nur nicht genau inwiefern.

Sie hatte sich die Hände an der Schürze abgewischt, die so untrennbar mit ihr verbunden war wie ihr Ehering. »Wir sind gierig, Guido. Das liegt uns im Blut.« Und damit hatte sie es bewenden lassen.

»Das hat er gesagt?«, fragte Signora Gasparini. »Gegen Geld?«

»Ja«, antwortete Brunetti, und Grif‌foni nickte.

Diesmal hob und senkte sich der Kopf der alten Dame willentlich, und sie sah gedankenverloren ins Leere. Schweigen machte sich breit. Brunetti wusste nicht mehr weiter.

»Wann kommt Tullio zurück?«, fragte sie.

»Oh, das weiß ich nicht, Signora. Er sagte, er sei mindestens bis Ende nächster Woche unterwegs. Deswegen sollten wir ja bei Ihnen vorbeischauen und uns erkundigen, wie es Ihnen geht und ob Sie etwas brauchen.«

Sie sah ihn lange an, Brunetti spürte förmlich, wie sie sein Inneres zu erforschen suchte. »Es ist nicht einfach für Elisa und die Kinder«, sagte er im Ton eines Freundes der Familie, »wenn er so lange fort ist.« Und dann fügte er, als sei ihm gerade erst wieder eingefallen, dass Grif‌foni neben ihm saß, noch hinzu: »Hat er dir erzählt, Claudia, wann er zurückkommt?«

»Nein. Aber sind wir nicht am zwanzigsten bei ihnen zum Essen eingeladen?«

Brunetti nickte und drehte sich wieder zu Signora Gasparini um. »Dann ist er also Ende nächster Woche zurück«, versicherte er mit einem freudigen Lächeln.

»Das ist noch lange hin«, sagte die alte Dame.

»Ach, die Zeit vergeht immer so schnell«, meinte Brunetti leichthin und machte Anstalten aufzustehen.

Die alte Dame hob eine Hand. »Sie haben sich mir noch nicht vorgestellt.«

»Ich bin Guido Brunetti, und das ist Claudia Grif‌foni.«

»Ist das Ihre Frau?«, fragte Signora Gasparini.

»So gut wie, Signora«, warf Grif‌foni mit einem verlegenen Lachen ein.

Falls Brunetti erwartet hatte, die alte Dame reagiere schockiert, täuschte er sich. Zum ersten Mal schenkte sie Grif‌foni ihre Aufmerksamkeit und sah sie lange an – Brunetti zählte bis neun –, ohne dass ihr Kopf sich bewegte. Erst als sie fragte: »Sie machen also alles zusammen?«, setzte das leichte Zucken wieder ein.

Nach Grif‌fonis Bemerkung war Brunetti sich nicht ganz sicher, wie das gemeint war.

Grif‌foni hingegen erfasste die Situation und erklärte: »Ja, Signora. Wir gehen zusammen einkaufen und teilen uns die Haushaltskosten. Nur wenn wir auswärts essen gehen, ist Guido noch der Kavalier.«

Die alte Dame wirkte sichtlich zufrieden. »Dann gehen Sie das Geld also zusammen abholen?«

»Natürlich«, versicherte Grif‌foni. »Wir sind ein eingespieltes Team.« Sie lächelte mehrdeutig. Und dann, als sei ihr gerade ein Detail eingefallen: »Aber wir müssen wissen, was wir dem Apotheker sagen sollen.«

Plötzlich alarmiert, fragte Signora Gasparini: »Sind Sie Venezianerin?« Es war eine Bitte um Auskunft, ohne jede Voreingenommenheit.

»Nein, Signora, aber ich lebe jetzt hier«, antwortete Grif‌foni mit einem Augenaufschlag Richtung Brunetti.

»Ah, das ist gut«, meinte die alte Dame und rieb sich die Hände – eine Gebärde, von der Brunetti bei Balzac gelesen hatte.

Er wandte sich an Grif‌foni und sagte, wie um ihr die Bühne zu überlassen: »Also, Claudia. Ich lasse dich jetzt mit Signora Gasparini allein und frage inzwischen die badante, ob wir sonst noch etwas tun können.«

Ganz Mann der Tat erhob er sich, schritt zur Tür und ging hinaus. Im Flur rief er: »Signorina? Signorina Beata?« Ein paar Meter weiter blieb er vor der Tür am Ende des Flurs stehen und rief noch einmal lauter: »Signorina Beata? Sind Sie da?«

Die Tür schwang auf, die junge Frau kam heraus und trocknete ihre Hände an einem Küchentuch. »Was kann ich für Sie tun, Signore?«, fragte sie. Ihr Italienisch war ausgezeichnet, nur hier und da verriet ein Vokal, dass es importiert war.

»Signor Tullio hat seiner Frau erzählt, seine Tante habe sich in den letzten Monaten stark verändert«, erklärte Brunetti in möglichst sorgenvollem Ton.

Ihr knappes Nicken konnte beides heißen: dass sie verstanden hatte oder dass sie Tullio Gasparini recht gab. Da sie nichts sagte, wurde Brunetti direkter: »Haben auch Sie Veränderungen an ihr bemerkt, Signorina?«

Wieder wischte sie sich die Hände ab, die schon längst trocken sein mussten. »Ihr Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher«, sagte sie schließlich und sah ihn fragend an. Brunetti nickte, und sie fuhr fort: »Die Zitterkrankheit ist nicht schuld. Als die anfing, war es noch gut.« Sie verscheuchte diesen Gedanken mit dem Geschirrtuch. »Da hat sie noch daran gedacht, ihre Pillen zu nehmen, und die halfen ein wenig gegen das Zittern.« Wieder nickte Brunetti.

»Dann bekam sie Schlafprobleme. Manchmal fand ich sie morgens schlafend auf dem Sofa, der Fernseher lief, und sie wusste nicht, wie sie dort hingekommen war.« Das schien die junge Frau mehr zu beunruhigen als die »Zitterkrankheit«.

»Dann hörte das auf, und sie schlief morgens immer länger. Bis ich sie einmal nicht wecken konnte und den Notruf alarmiert habe.« Sie faltete das Tuch zu einem Rechteck, schüttelte es aus und faltete es noch einmal.

»Wann war das, Signorina?«, fragte Brunetti, um Professoressa Croseras Aussage zu prüfen.

»Mitte Oktober«, sagte sie. »Ende Oktober ist sie nach Hause gekommen, nach zwei Wochen Krankenhaus.« Sie schloss kurz die Augen, vielleicht in Erinnerung an jenen Tag. »Es wird nicht besser mit ihr, also werde ich über Weihnachten nicht nach Hause können.«

»Und da haben Sie die Veränderung bei ihr bemerkt?«

»Mir war lange nichts aufgefallen, weil es so langsam vor sich ging. Aber als sie aus dem Krankenhaus kam, war sie sehr verändert. Vorher waren wir täglich draußen, gingen am Campo Santa Margherita einkaufen, oder zum Kaffeetrinken.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu, ob sie ihm noch mehr erzählen sollte. »Wir waren beinahe so etwas wie Freundinnen. An einem Tag bezahlte sie, am nächsten ließ sie mich bezahlen. Und während wir bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen, waren wir wirklich Freundinnen.«

Brunetti begann zu rechnen: fünfzehnmal im Monat, jeweils fünf, sechs Euro, machte zusammen fünfundsiebzig Euro. Er dachte an die Worte seiner Mutter über die Gier der Venezianer und fügte innerlich Verschlagenheit hinzu.

»Und am Ende eines Monats gab sie mir immer das Geld zurück und sagte, ich könne mir dafür ein Paar Schuhe kaufen oder etwas meiner Mutter schicken.«

Brunetti musste sein Bild zurechtrücken. »Was haben Sie sonst noch gemeinsam unternommen?«, fragte er.

»Manchmal gingen wir zusammen zum Rialto. Oder wir machten einen Schaufensterbummel. Ich begleitete sie zum Arzt oder zur Apotheke, und einmal zum Optiker.«

»Hat es Sie beunruhigt, als sie sich veränderte?«, fragte Brunetti.

Wieder faltete die junge Frau das Geschirrtuch zusammen, während sie darüber nachdachte. »Nicht sonderlich, weil es so langsam geschah. Nur manchmal, bei bestimmten Gelegenheiten.«

»Können Sie mir ein Beispiel nennen, Signorina?«

»Sie wollte nicht mehr, dass ich beim Arzt ins Sprechzimmer mitkam, und ich sollte sie nicht mehr zur Apotheke begleiten, obwohl die weit weg ist, in Cannaregio. Oder sie schickte mich aus dem Zimmer, wenn sie telefonieren wollte, und ich durf‌te sie nicht mehr daran erinnern, wann sie ihre Medizin nehmen musste.« Sie wartete vergeblich, dass Brunetti dazu etwas sagte. »Vielleicht schämte sie sich, weil das Zittern immer schlimmer wurde und sie ständig irgendwelche Dinge verwechselte. Ich tat zwar so, als ob ich es nicht merken würde, aber sie wusste, dass ich es mitbekam.« Beata warf ihm einen prüfenden Blick zu und zuckte mit den Schultern.

»Wir gingen immer noch zusammen Kaffee trinken, aber es war nicht mehr wie früher. Und immer bezahlte sie. Wenn ich zahlen wollte, sagte sie nein, und von da an machte es mir nicht mehr so viel Spaß, weil wir nicht mehr so etwas wie Freundinnen waren. Sie war jetzt immer die padrona, und das ist nicht schön, wenn man einmal befreundet war.« Sie ließ den Satz lange nachhallen und fügte dann traurig hinzu: »Ich denke, sie hat vergessen, dass wir mal Freundinnen waren.«

Brunetti fürchtete schon, sie werde in Tränen ausbrechen, und wechselte abrupt das Thema. »Wissen Sie etwas über diese Coupons?«

»Was für Coupons?«, fragte sie.

»Von der Apotheke. Für Kosmetik.«

Sichtlich überrascht spähte sie den Flur hinunter, als sei dort die Vergangenheit zu sehen.

»Da kommen die also her«, sagte sie.

»Die Coupons?«, fragte Brunetti.

»Nein. Die Sachen, die sie mir geschenkt hat. Diesen Sommer, kurz nach meinem Geburtstag, kam sie mit einer Tasche voll Lippenstifte und Cremes und einer Flasche Badeöl nach Hause und schenkte mir das alles«, erzählte sie, jetzt wieder lächelnd.

»Sie hatte mir schon etwas zum Geburtstag überreicht, ein goldenes Kettchen mit einem Kreuz. Das werde ich meiner Mutter geben, wenn ich sie im nächsten Sommer besuche.«

»Die Kosmetikartikel waren ein zusätzliches Geschenk?«

»Ja. Sie sagte, die gebe sie mir weiter.« Ihr Lächeln erstarb. »Ich will sie mit nach Hause nehmen. Hier brauche ich sie ja nicht.«

»Kann ich die mal sehen?«, fragte Brunetti.

»Was?«

»Würden Sie mir die Sachen zeigen?«

»Aber die sind in meinem Zimmer«, sagte sie, als habe Brunetti ihr ein unsittliches Angebot gemacht.

»Sie könnten sie doch holen, Beata. Ich würde die Sachen gern einmal sehen.« Ihre verwirrte Miene nötigte ihn zu der Behauptung: »Es könnte der Signora helfen.«

Beata nickte und verschwand in einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs.

Wenig später kam sie mit einer orangen Hermès-Einkaufstasche zurück, und Brunetti dachte schon, die Kosmetikartikel stammten von dort. Die Enttäuschung war ihm offenbar anzusehen, denn Beata erklärte rasch: »Nein, Signore. Die Signora hat sie in diese Tasche getan, weil sie wusste, dass die mir gefällt.«

Sie legte die Tasche auf eine der großen Kommoden im Flur und nahm den Inhalt Stück für Stück heraus. Vier Lippenstifte, eine Flasche Badeöl, noch eine, eine kleine Schachtel mit einem Tiegel Gesichtscreme, drei Tuben mit etwas, das »fondo tinto« hieß.

»Das alles hat sie Ihnen diesen Sommer geschenkt, und Sie haben noch nichts davon benutzt?«, fragte Brunetti.

»Nein, Signore. Ich will es nächsten Sommer meiner Mutter und meiner Schwester schenken. So gute Sachen haben sie noch nie gehabt.« Sie warf einen sehnsüchtigen, geradezu ehrfürchtigen Blick auf die Tuben und Schachteln, als verkörperten sie den ganzen Reichtum und Luxus des Westens.

»Danke, Signorina Beata«, sagte Brunetti. »Wissen Sie, ob die Signora noch mehr davon mitgebracht hat?«

»Ich glaube ja, aber schon früher in diesem Sommer. Danach dann nicht mehr.«

»War das, nachdem sie nicht mehr täglich mit Ihnen ausgehen wollte?«

»Woher wissen Sie das?«

»Reine Vermutung«, sagte Brunetti leichthin.

Grif‌foni trat auf den Flur, drehte sich noch einmal um, warf der Signora eine Kusshand zu, kam dann zu ihnen hinüber und sagte zu Beata: »Die Signora bittet Sie, ihr eine Tasse Tee zu bringen.«

Um ein Haar hätte die junge Frau erneut einen Knicks gemacht. »Selbstverständlich«, sagte sie und entschwand in die Küche.

»Wie machst du das nur?«, fragte Brunetti, ohne erst die Kusshand zu erwähnen.

»Ich höre zu. Und stelle Fragen. Und will dann noch mehr wissen.« Ihr Blick fiel auf die Kosmetikartikel, die auf der Kommode aufgereiht lagen wie die Gegenstände aus Gasparinis Schublade. Sie nahm die Schachtel, machte sie vorsichtig auf, um die Klappe nicht zu beschädigen, nahm den hellblauen Tiegel heraus und las die Aufschrift.

»Genau dieses Präparat habe ich mir vor zwei Wochen im Geschäft angesehen. Inhalt hundertfünfzig Gramm. Kostet siebenundneunzig Euro.« Sie stellte den Tiegel in die Schachtel zurück und schloss sie wieder. Dann schraubte sie alle Lippenstifte auf und zeigte Brunetti, dass sie unbenutzt waren.

»Ich sollte meinen Neffen in Neapel raten, aus dem Drogengeschäft auszusteigen und lieber dieses Zeug hier zu verkaufen«, sagte sie.

Brunetti ließ das unkommentiert. Grif‌foni sprach selten von ihrer Familie, er wollte nicht zudringlich erscheinen. Aber dass sie Geschäftssinn besaß, ließ sich nicht leugnen.

»Nun?«, fragte er.

»Sie hat mir von ihrer Jugend erzählt.« Sorgfältig stellte Grif‌foni die Tuben und Schachteln aufrecht in die Tasche zurück. Und während sie eine der Tuben hochhielt, meinte sie: »Ich habe sie nach ihrer Zauberformel gefragt, wie sie es macht, dass sie so jung aussieht.« Sie sah Brunetti herausfordernd an.

»Und was hat sie geantwortet?«

»Sich vor den Ärzten in Acht nehmen und nur die besten Kosmetika verwenden«, sagte Grif‌foni und schwenkte die Tube hin und her.

»Sie hat das also alles gekauft?«, fragte Brunetti.

»Ja. Sie wollte mir schon verraten, was sie für eine Möglichkeit entdeckt hatte, billig daran heranzukommen, da hielt sie plötzlich die Hand vor den Mund und meinte, das sei ein Geheimnis, sie dürfe keinem davon erzählen.«

»Wie hast du reagiert?«, fragte Brunetti.

Eine Tür schwang auf, und Beata erschien mit einem Tablett, auf dem eine Tasse Tee und ein Teller mit drei Keksen standen. Brunetti ging voraus, öffnete die Tür zum Zimmer der Signora und folgte ihr hinein.

Als die alte Dame zu ihm aufsah, sagte er: »Danke für Ihre Hilfe, Signora. Ich hoffe, wir sind Ihnen mit unseren Fragen nicht zur Last gefallen.«

»Aber nein«, sagte Signora Gasparini lächelnd. »Grüßen Sie bitte meinen Neffen, wenn Sie ihn sehen. Und könnten Sie ihn vielleicht bitten, mich anzurufen?« Sie nahm die Tasse, die Beata ihr hinhielt, und fügte noch freundlich hinzu: »Eine entzückende Frau haben Sie da.«

»Ja, allerdings«, sagte Brunetti, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

 

Grif‌foni wartete im Flur. Sie hatte alles wieder in die Tasche gepackt, die auf der Kommode thronte. Sie verließen die Wohnung, und Grif‌foni begann erst zu sprechen, als sie die Brücke vor dem Haus erreicht hatten. Oben angekommen, lehnte sie sich mit dem Rücken ans Geländer und stützte sich mit beiden Händen ab.

»Ich habe ihr gesagt«, begann sie ohne Umschweife, »dass ich sie bewundere, weil sie ein Geheimnis zu bewahren weiß. Und dass ich sie beneide, weil sie einen Weg gefunden hat, Geld zu sparen. Ich selbst hätte nämlich auch eine Schwäche für Kosmetika und wolle immer nur die besten verwenden. Und dann habe ich geklagt, bei meinem Gehalt sei es schwer, ich könne mir die nicht leisten.«

Gebannt wie eine Schlange vom Klang der Flöte des Beschwörers hörte Brunetti ihr zu.

»Dann machte ich ihr tapfer noch ein paar Komplimente, worauf sie mich lange ansah und schließlich fragte, ob ich irgendwelche Medikamente nehme. Ich verstand erst den Sinn der Frage nicht, sagte aber einfach mal ja und murmelte etwas von einem Frauenleiden. Auch Frauen«, trumpf‌te Grif‌foni auf, »fragen nur ungern nach, wenn man davon anfängt.«

Brunetti schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie sagte, vielleicht könne sie mir helfen, müsse aber erst darüber nachdenken.«

»Falls sie sich zu erinnern geruht«, entfuhr es Brunetti.

»Sei nicht so unfreundlich, Guido.«

»Entschuldige. Was hast du geantwortet?«

»Dass ich mich sehr darüber freuen würde. Und dann hat sie mich zum Tee eingeladen«, erzählte Grif‌foni strahlend. »Und vorgeschlagen, ich könnte ihr und Beata doch etwas Kuchen mitbringen.«

Ach, wie sehr seine Mutter jede der beiden bewundert hätte, dachte Brunetti. »Wann?«

»Nächsten Montag um drei.« Grif‌foni stieß sich vom Geländer ab und ging die Treppe hinunter.