5
Nach dem Mittagessen bat Brunetti Vianello zu sich ins Büro. Er konnte es kaum erwarten, ihm von seinem Gespräch mit Professoressa Crosera zu berichten.
Als er fertig war, fragte Vianello: »Die Kinder gehen aufs Albertini?«
»Macht das irgendeinen Unterschied?«
Der Ispettore schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. »Vor fünf Jahren hätte es vielleicht noch einen Unterschied gemacht, aber heutzutage sind Drogen überall zu haben.« Er stellte die Füße wieder nebeneinander. Wie grau er geworden ist, wie schmal im Gesicht, dachte Brunetti. »Früher waren Drogen an Privatschulen nicht so verbreitet; aber das hat sich geändert. Jedenfalls habe ich das gehört.«
»Von wem?«, fragte Brunetti und erkannte seinen Fehler zu spät. Alle in der Questura behielten die Namen ihrer Informanten für sich.
Vianello ließ sich nichts anmerken: »Von einem, der sich auskennt. Er sagt, mittlerweile haben praktisch alle Schulen dieses Problem.«
Das wusste Brunetti natürlich selbst, so, wie er wusste, dass im Winter die Luft in der Stadt weit über die Grenzwerte hinaus, die irgendeine europäische Wissenschaftlerkommission zum Schutz der Gesundheit ausgegeben hatte, mit Schadstoffen belastet war. Aber solange er es nicht roch, es ihm nicht in der Lunge stach, verdrängte er den Gedanken daran; um der Luft zu entgehen, müsste er die Stadt verlassen, und das kam nicht in Frage. Mit Drogen war es nicht viel anders. Solange nicht die eigenen Kinder betroffen waren …
»Gott sei Dank sind wir ein paar Jahrzehnte früher geboren«, sagte er. Vianello sah ihn verblüfft an.
»Wie meinst du das?«
»In unserer Jugend waren nicht so viele Drogen im Umlauf. Jedenfalls schienen sie nicht so … normal zu sein wie heute. Manche meiner Freunde haben sie ausprobiert, aber ich kann mich an keinen erinnern, bei dem sie zur Sucht geworden wären.« Vianello nickte zustimmend, und Brunetti fuhr fort: »Außerdem hatten wir gar nicht das Geld dafür.«
»Ich habe einmal Haschisch ausprobiert«, bekannte Vianello mit gesenktem Blick.
»Das hast du mir nie erzählt.«
Brunettis Tonfall brachte Vianello zum Lachen. »Sollen wir denn gar keine Geheimnisse mehr voreinander haben?«
»Erzähl doch mal.«
»Ich war bei einem Freund auf einer Party, da hat man mir Kräutertee eingeschenkt«, erklärte Vianello.
Die unpersönliche Formulierung ließ Brunetti aufhorchen. »Du hast es nicht geraucht?«
»Nein. Wenn das zu Hause mein Vater gerochen hätte …«
»Dann?«, hakte Brunetti nach. Vianello sprach so selten von seinem Vater.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte er mir eine ordentliche Tracht Prügel angedroht.«
»Nur angedroht?«, fragte Brunetti.
»Ja«, antwortete Vianello, ohne zu zögern, und wechselte abrupt das Thema. »Was hat Professoressa Crosera mit ihrem Besuch bezweckt?«
Auch wenn Brunetti lieber den Rest von Vianellos Geschichte gehört hätte, antwortete er schließlich: »Sie macht sich Hoffnung, dass wir das Problem beseitigen. Wir sollen einfach die Leute verhaften, die ihrem Sohn Drogen verkaufen.«
Vianello hob die Brauen.
»Konkrete Informationen hat sie mir keine geliefert«, stellte Brunetti klar. »Nicht einmal den Namen des Jungen, der den Verdacht geäußert hat.« Hörbar gereizt fügte er hinzu: »Wofür hält sie uns eigentlich?«
»Das ist wie dieses griechische Ding, das du mal erwähnt hast«, bemerkte Vianello zu Brunettis Verblüffung. »Das mit dem lateinischen Namen.«
»Du meinst Deus ex machina?«, grinste Brunetti, als ihm ein Licht aufging. »Das wäre in der Tat hilfreich: Ein Gott steigt herab, schnappt sich das Problem und entschwebt damit.«
Er ließ dem Gott ein wenig Zeit, zum Fenster hinaus zu entschwinden, und kam auf den Boden der Tatsachen zurück. »Solange sie uns nicht hilft und mit ihrem Sohn redet, können wir nicht viel tun.«
»Will heißen?«, fragte Vianello.
Da Brunetti schwieg, stand Vianello auf. »Lass uns einen Kaffee trinken.«
Erwähnenswert war im Lauf dieses Tages nur noch ein Anruf von einem Informanten Brunettis, der ihm riet, er solle sich am nächsten Morgen mal auf dem Fischmarkt umsehen – nicht dem am Rialto, sondern dem Großmarkt auf Tronchetto. Brunetti dankte für den Tipp und versicherte, er werde ihn an die zuständigen Kollegen und die Spezialeinheit der Carabinieri für Lebensmittelkontrollen weiterleiten.
»Sagen Sie denen, die sollen sich die Muscheln ansehen. Und auch den Thunfisch. Der hat keine Papiere«, riet ihm der Anrufer, ließ ein gutgelauntes »tststs« ertönen und legte auf.
Brunetti kannte diesen Mann nur telefonisch. Vor sechs oder sieben Jahren hatte er Brunetti einmal angerufen und ihm Informationen angeboten. Brunettis Frage, wie der andere an seine Nummer gekommen sei, blieb unbeantwortet, doch führte der Anruf zur Verhaftung von zwei Männern, die drei Tage zuvor ein Juweliergeschäft ausgeraubt hatten. Einige Monate später erhielt Brunetti wieder einen Tipp. Als er durch die Blume fragte, wie er sich revanchieren könne, erntete er nur Gelächter. »Ich will nur meinen Spaß«, lautete die Antwort.
Von da an betrachtete Brunetti die Informationen als das, was sie waren: ein Geschenk. Der Mann rief drei- oder viermal im Jahr an, stets mit sachdienlichen Hinweisen, jedes Mal zu einer anderen Art von Verbrechen. Gefälschter Parmaschinken aus Ungarn; zwei Tonnen Schmuggelzigaretten, angeliefert am Strand von Grado; Diebstahl eines Röntgengeräts aus einer Zahnarztpraxis in Mirano; zwei rumänische Trickbetrüger, die alte Frauen mit gefälschten Stromrechnungen hereingelegt hatten. Offenbar war der Anrufer früher selbst an Straftaten wie denen, die er meldete, beteiligt gewesen und hatte sich aus Gründen, über die Brunetti nur spekulieren konnte, mit seinen früheren Kollegen überworfen. Nur so ließen sich sein Insiderwissen und sein ungerührter Ton erklären. Vielleicht befand sich der Mann auf einem Rachefeldzug – Streit unter Ganoven –, oder aber er wollte sich als Krimineller die Konkurrenz vom Hals schaffen. Jedenfalls war der Tippgeber dank all dieser Anrufe Brunetti regelrecht ans Herz gewachsen; der Commissario konnte nur hoffen, dass der Mann sich über die Risiken seines Tuns im Klaren war.
Brunetti leitete den Hinweis zum Fischmarkt weiter und fand, dass er damit genug für heute getan hatte. Ohne irgendwem Bescheid zu sagen, verließ er die Questura, hielt sich rechts, ging hinter der ersten Brücke links, immer der Nase nach, immer weiter vom Stadtzentrum weg. Am bacino angelangt, bog er links ab, drang ins Gassengewirr von Castello ein und wusste immer noch nicht, wohin er eigentlich wollte.
Als er die Via Garibaldi erreichte, staunte er über die Menschenmassen. War der November über Nacht zum Touristenmonat geworden? Nach hundert Metern stellte er beruhigt fest, dass fast alle Passanten Venezianer waren. Nicht nur wegen ihres Dialekts: Ihre Kleidung verriet sie und die lässige Ungezwungenheit, mit der sie sich bewegten – keiner fahndete angestrengt nach Fotomotiven oder Boutiquen mit echtem venezianischen Kunsthandwerk. Er verlangsamte seine Schritte, betrat eine Bar, wollte eigentlich nur einen Kaffee, doch als er auf dem Tresen eine Schale mit Brezeln entdeckte, entschied er sich lieber für ein Glas Wein. Nebenbei überflog er die Schlagzeilen des Gazzettino und wunderte sich, wie vertraut ihm das alles vorkam, bis er aufs Datum schaute und merkte, dass es die Ausgabe vom Vortag war. Er faltete die Zeitung zusammen und fragte sich, wie es möglich war, dass Tag für Tag mindestens acht Seiten lang reißerisch über tiefe Zerwürfnisse in der Parteienlandschaft und neue Koalitionen berichtet wurde, die die Verhältnisse angeblich auf den Kopf stellten, während sich in Wirklichkeit aber auch gar nichts von der Stelle rührte.
Brunetti fischte einen Euro aus der Tasche und legte ihn auf den Tresen. »Wie kann es sein, dass wir seit über fünf Jahren keine gewählte Regierung haben?«, murmelte er. Nicht dass er die Frage ernst meinte, er versuchte nur, seine Ratlosigkeit in Worte zu fassen.
Der Barmann warf die Münze in die Kasse und bongte den Betrag. Er schob die Quittung neben das leere Glas und sagte: »Solange es im Fernsehen Fußball gibt, kümmert es keinen, ob wir die Regierung wählen oder ob irgendein Greis von Politiker eine ernennt.«
Brunetti, der keine Antwort erwartet hatte, dachte darüber nach. »Ciò«, meinte er schließlich; Veneziano schien ihm die beste, wenn nicht einzige Sprache, in der er seine Zustimmung ausdrücken konnte. Er trat aus der Bar auf die Via Garibaldi hinaus und verschwand im Labyrinth der calli.
Bis nach San Pietro in Castello trugen ihn seine Füße, wo er eine Kerze für das Seelenheil seiner Mutter anzündete, was seiner eigenen Seele mindestens ebenso guttat wie das Glas Wein in der Bar.
Erst nach sieben kam er nach Hause und ging geradewegs in die Küche, um zu erkunden, was der Gewürznelkenduft, der ihn empfangen hatte, bedeutete. Spezzatino di manzo mit exotischen Gewürzen, nahm er an. Und dazu Cavolini di bruxelles alla besciamella?
»Wenn ich verspreche, meinen Teller leer zu essen, brennst du dann mit mir für eine Woche nach Tahiti durch?«, fragte er, nahm Paola in die Arme und knabberte an ihrem Nacken.
»Aber nur unter der Bedingung, dass du dich das nächste Mal rasierst, bevor du meinen Nacken küsst«, sagte sie, wand sich los und betastete die Stelle. »Obwohl das Risiko, dass du etwas übriglässt, ohnedies gleich null ist«, ergänzte sie mit einem Lächeln, das ihren Worten die Spitze nahm.
Gestern hatte er die Orestie beendet, die er seit langem nicht mehr gelesen hatte; jetzt ging er in Paolas Arbeitszimmer und durchsuchte die Regale mit seinen Büchern nach neuer Lektüre. Er beschloss, beim Drama zu bleiben, und ließ seinen Blick über die Buchrücken schweifen. Während er Professoressa Croseras heillose Angst um ihren Sohn immer mehr nachempfand, fiel ihm auf, wie sehr schon die alten Griechen um ihre Kinder gebangt hatten; die meisten Schauspiele schienen sich um das Unheil zu drehen, das Kinder über ihre Eltern brachten. Beziehungsweise, musste er sich eingestehen, Eltern über ihre Kinder.
Die Stücke von Euripides erinnerten ihn an eine Aufführung von Medea, die er in London gesehen hatte; Paola hatte ihn dort hingeschleppt, vor über zwanzig Jahren. Sein Blick ruhte auf den Buchrücken, seine Gedanken jedoch waren bei der Schlussszene: Medea auf einem Podest, ihre Kinder an sich gedrückt. Statt nun die beiden hinter die Kulissen zu tragen, um dort ihr schreckliches Werk zu vollenden, zückte Medea ein Messer und erstach sie vor aller Augen. Brunetti schauderte es immer noch, als habe sie ihm selbst das Messer in den Bauch gerammt.
Als Polizist war Brunetti einmal Zeuge eines kaltblütigen Mordes geworden. Weitere Menschen waren in seiner Gegenwart zu Tode gekommen. Die Griechen hatten recht. Derlei sollte man nicht auf der Bühne zeigen; es entsetzte nur und diente nicht der Erbauung. Nein, nicht Medea. Stattdessen nahm er die Dramen von Sophokles aus dem Regal.
Wie er so mit seinen Kindern bei Tisch saß, war Brunetti heilfroh, dass er sich gegen Medea entschieden hatte. So froh, dass er Raffi unwillkürlich eine Hand auf den Arm legte. Als sein Sohn überrascht aufblickte, betastete Brunetti eilig den Ärmel von Raffis Pullover: »Den kenne ich noch gar nicht.«
»Mamma hat ihn mir letzten Winter aus Rom mitgebracht. Gefällt er dir?«
Brunetti nutzte die Gelegenheit, die Hand wieder wegzuziehen. Er lehnte sich zurück und musterte den Pullover: »Sehr schön.« Und zu Paola: »Eine gute Wahl.« Dann bat er um einen Nachschlag.
Ich werde sie nicht nach Drogen fragen. Ich werde sie nicht nach Drogen fragen. Mit diesem Mantra im Kopf aß Brunetti sein Rinderragout und nahm einen Nachschlag. Chiara fragte Raffi, ob er einen Blick auf ihre Aufgaben in Physik werfen könne. »Ich verstehe nicht, warum ich mich damit beschäftigen soll«, sagte sie. »Sobald ich das Schuljahr hinter mir habe, werde ich das nie mehr brauchen.«
»Soll das Studium der Naturgesetze nicht das logische Denken fördern?«, fragte Brunetti.
»Hattest du Physik in der Schule?«, fragte Chiara.
»Selbstverständlich.«
»Und hast du …«, fing sie an, stellte die Frage dann aber anders: »Erinnerst du dich noch an irgendetwas?«
Paola verschaffte ihrem Mann einen kurzen Aufschub, indem sie ihm eilig zwei Röschen Rosenkohl auf den Teller löffelte.
Brunetti entschied sich für die Wahrheit: »Ich erinnere mich an einiges, vor allem aber daran, wie viel Spaß es mir gemacht hat, Phänomene, die ich nie verstanden hatte, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ich sah die Welt mit neuen Augen und fand es irgendwie tröstlich, dass alles Geschehen im Universum, selbst im größten Maßstab, einer Ordnung unterworfen ist und Regeln folgt.«
»Wenn es stimmt, was unser Lehrer erzählt, dann gilt inzwischen nicht mehr viel von dem, was du damals gelernt hast, und ich bekomme also neue, ganz andere Naturgesetze beigebracht. Wer garantiert mir, dass man meinen Kindern nicht einmal dasselbe sagt und sie wieder was anderes lernen müssen?«
»Es gibt fundamentale Regeln«, schaltete Raffi sich ein, »die ändern sich nicht. Das Universum ist kein wildes Durcheinander, das tut, was es will, und unergründlich ist.«
»Naturgesetze sind auch der beste Beweis, dass die Götter nicht beliebig dazwischenfunken können«, nutzte Paola die Gelegenheit, Religion in jeder Form eins auszuwischen.
»Aber es geht um ein ganzes Jahr meines Lebens!«, jammerte Chiara, als liege sie gefesselt am Boden und drohe ausgepeitscht zu werden.
»Möchtest du lieber stricken und Socken stopfen lernen, so wie ich früher?«, fragte ihre Mutter.
Vor Brunettis innerem Auge erschien ein Bild: Paola beim Sockenstopfen. Unwillkürlich prustete er los. Er hielt die Hand vor den Mund, aber das half nichts; ja der Anblick ihrer verblüfften Miene reizte ihn nur noch mehr zum Lachen; also hielt er sich den Mund noch fester zu und kniff die Augen zusammen, bis ihm die Tränen kamen und er zur Serviette greifen musste.
Niemand sprach ein Wort; die Kinder sahen auf ihre Teller, während Paola das gesenkte Haupt ihres Mannes musterte. Brunetti tupfte sich die Tränen ab, legte die Serviette in den Schoß und blickte auf.
»Ich hätte nicht übel Lust, dich ohne Nachtisch auf dein Zimmer zu schicken, Guido«, sagte Paola liebenswürdig. »Zwar habe ich tatsächlich nie gelernt, Socken zu stopfen, aber nur, weil ich gar nicht erst am Handarbeitsunterricht teilgenommen habe.« Und damit sie vor den Kindern nicht als Lügnerin dastand, erklärte sie: »Die Socken dienen nur als Symbol, stellvertretend für alles, womit ich mich in der Schulzeit beschäftigen musste und was mir als reine Zeitverschwendung erschien. Ich hoffe, ihr erkennt den Kunstgriff als das, was er ist.« Sie beendete ihre Erklärung mit einer huldvollen Handbewegung in Richtung der Kinder. Beide nickten. Paola lächelte, und die Welt war wieder im Lot.