12
Er betrat eine stille Wohnung, doch jahrelange Erfahrung verriet ihm, dass sie nicht leer war. Im Flur schwebte der Duft von Kiefernwäldern, also hatte Raffi wieder einmal Brunettis Shampoo benutzt, und im Wohnzimmer hing Chiaras roter Wollschal über der Sofalehne. Guido Brunetti, Superdetektiv, gratulierte er sich selbst, während er den Flur hinunter zu Paolas Arbeitszimmer ging.
Er steckte den Kopf zur Tür hinein und sah sie wie hingegossen auf dem Sofa liegen, ein Buch auf die Brust gestützt, Bleistift in der Hand.
»Schwer am Arbeiten, wie ich sehe«, sagte er, trat ein und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Genau wie du: so beschäftigt, dass du nicht mal anrufen und mir von dem Mann erzählen konntest, der da gefunden wurde«, schalt sie im Scherz.
Er setzte sich ans Ende des Sofas und nahm ihre Füße auf seinen Schoß. »Wie hast du davon erfahren?«
»Ich war neugierig, warum du so früh gehen musstest, also habe ich heute Nachmittag im Gazzettino online nachgesehen und diesen Artikel mit dem Zeugenaufruf gefunden.« Sie ließ das aufgeschlagene Buch auf ihre Brust sinken. »Das konnte nur eins bedeuten.« Und dann, leichthin: »Außerdem habe ich mich gefragt, ob du wohl Zeit zum Mittagessen gefunden hast und ob du warm genug angezogen warst – all die Gedanken, die einer Ehefrau so durch den Kopf gehen.«
Er nahm ihren linken Fuß und wackelte an den Zehen. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich weiß, das ist nicht einfach«, räumte sie mit einem Lächeln ein, klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch. »Was ist denn passiert?«
»Du erinnerst dich an die Frau, von der ich dir erzählt habe? Die mich vor einer Woche aufgesucht hat, weil sie Angst um ihren Sohn hat, der Drogen nimmt?« Wer das war, hatte er ihr nicht gesagt, nur dass sie offenbar nicht den Mut aufgebracht hatte, sich der Polizei anzuvertrauen, und dass sie, ohne ihm irgendwelche genaueren Informationen zu geben, wieder gegangen war.
Paola nickte.
»Das war eine Kollegin von dir: Professoressa Crosera. Der Mann im Krankenhaus ist ihr Ehemann. Wie es aussieht, wurde er überfallen.«
Paola befreite ihre Füße, zog die Beine an und setzte sich auf. »Elisas Mann? Kaum zu glauben. Der ist doch bloß ein kleiner Buchhalter.«
Sie unterbrach sich, als werde ihr plötzlich bewusst, was sie da gesagt hatte. »Ich meine, ein ganz gewöhnlicher Mann: Wer sollte dem etwas antun wollen?«
Ein Grund, einem anderen etwas anzutun, findet sich immer, dachte Brunetti. »Wie es aussieht, wurde er am Arm gepackt und gestoßen. Was schreibt der Gazzettino?«
»Nur, dass ein Mann bewusstlos auf der Straße gefunden wurde«, antwortete Paola. »Kein Wort von einem Überfall, nur die Bitte an die Leser, sich bei der Polizei zu melden, falls jemand in der Nähe von Ca’ Pesaro zufällig etwas bemerkt hat, das mit dem Vorfall zu tun haben könnte. Nicht einmal die Initialen des Mannes waren angegeben, wie sie es sonst tun, wenn sie keinen Namen nennen wollen.«
Brunetti kannte sich mit diesen Gepflogenheiten nicht aus und blieb daher stumm.
»Weiß Elisa Bescheid?«, fragte Paola.
»Ja. Ich habe ihn erkannt und sie heute früh angerufen. Sie ist immer noch bei ihm, nehme ich an.«
»Ach, die Arme«, sagte Paola. »Erst der Sohn, und jetzt das.«
»Hast du von dem Sohn gewusst?«, fragte Brunetti so beiläufig wie möglich.
Paola sah ihn scharf an. »Natürlich nicht. So etwas würde sie mir nie erzählen. Ich dachte nur, weil sie doch immerhin so besorgt war, dass sie mit dir darüber gesprochen hat. Und das heißt, sie weiß etwas.«
»Sie behauptet, sie weiß nichts«, sagte Brunetti.
»Natürlich streitet sie das ab. Vor der Polizei.« Paola hätte ebenso gut das Einmaleins aufsagen können, so sicher war sie ihrer Sache.
Brunetti ging darüber hinweg. »Sie sagte, sie wolle erst mit ihrem Mann reden, bevor sie mir irgendetwas erzählt.«
»Wann wird sie das können?«, fragte Paola.
Brunetti betrachtete ratlos seine Hände, dann wieder Paola. Wie sollte er es ihr beibringen? »Vielleicht niemals mehr«, meinte er schließlich. Und angesichts ihres Erschreckens fügte er noch abmildernd hinzu: »Das hat der Neurologe nach Auswertung der Röntgenbilder gesagt. Für eine endgültige Diagnose braucht er ein CT. Das wurde heute angefertigt.«
»Und das Ergebnis?«, fragte sie.
»Kenne ich noch nicht. Als ich vorhin noch einmal im Krankenhaus vorbeigegangen bin, war der Arzt schon weg. Ich kann ihn morgen anrufen.« Er ließ ihr Zeit, das zu verdauen, und fügte hinzu: »Er hat gesagt, es bestehe immer noch die Möglichkeit, dass er sich irrt.«
Paola nickte. Sie ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken, streckte die Beine aus und stupste ihn mit den Füßen. »Elisa tut mir leid«, sagte sie. Und dann: »Alle tun mir leid.«
Sie schloss die Augen, schlug sie auf, starrte an die Decke und machte sie wieder zu. Brunetti ließ seine rechte Hand still auf ihren Füßen ruhen, auch ihm fielen die Augen zu. Bald entglitt ihm die Wirklichkeit. Er blieb sitzen, war aber woanders, Leute gingen an ihm vorbei. In seiner Hand bewegte sich etwas, und er schreckte auf, plötzlich hellwach, aber unsicher, wo er sich befand.
»Was ist?«, fragte Paola.
»Nichts. Ich muss eingeschlafen sein. Das war ein langer Tag.« Er lehnte den Kopf zurück.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Paola.
Brunetti horchte auf. »Immer gefährlich.«
Und wie aus einem Mund vollendeten sie das Familienmantra: »… besonders bei Frauen.«
Dann fragte er: »Nachgedacht, worüber?«
»Die rechtlichen Aspekte. Aber damit hast du dich bestimmt auch schon beschäftigt.«
»Lass hören«, sagte Brunetti, der sich noch keinerlei Gedanken um die rechtliche Seite von Gasparinis Lage gemacht hatte.
»Wenn er nicht stirbt, sondern bis an sein Lebensende so daliegt: Was kann man dem Angreifer vor Gericht zur Last legen?« Sie kam seinem Einwand zuvor: »Ich weiß, ich weiß, erst einmal müsst ihr ihn finden. Aber wenn ihr ihn habt: Was genau für ein Verbrechen hat er begangen?«
Brunetti erwog, ob es sich um Körperverletzung handeln konnte. »Hängt davon ab, was sich auf der Brücke abgespielt hat.«
»Und wie soll das entschieden werden, wenn es keine Zeugen gibt?«, fragte sie skeptisch.
Brunetti nickte. »Du hast natürlich recht. Falls wir bei der DNA einen Treffer landen, kann der Verdächtige immer noch behaupten, dass Gasparini ihn angegriffen hat. Aber«, schloss er, »erst einmal müssen wir ihn finden.«
»Und dann müsste er erklären, warum er nicht zur Polizei gegangen ist«, ergänzte Paola. »Wenn er wusste, dass Gasparini verletzt war, hätte er das doch melden müssen?«
»Sicher, aber manche Leute tun das einfach nicht. Zumindest, solange es sich nicht um größere Verbrechen handelt. Selbst dann nicht, wenn sie selbst das Opfer sind. Was für eine absurde Vorstellung: Jemand schlägt einen anderen, und sei es in Notwehr, zusammen und kommt dann zu uns? Niemals.« Er ließ sich das durch den Kopf gehen und erklärte schließlich, als habe er eine große Entdeckung gemacht: »Niemand vertraut uns.«
»Dann bleiben also als einzige Hoffnung Il Gazzettino und La Nuova«, sagte Paola mit einem Anflug von Frömmigkeit in der Stimme.
Worauf Brunetti ernüchtert fragte: »Möchtest du ein Glas Wein?«
Zu dem Wein brachte er seine Ausgabe von Sophokles mit, entschied sich für Antigone und machte es sich zu Paolas Füßen bequem, um bis zum Abendessen zu lesen. Er begann mit der Einführung, geschrieben von einem Psychologieprofessor an der Universität von Cagliari, der das Stück nach der Jung’schen Methode interpretierte: Antigone als Archetyp der Mutter und Kreon als Trickster, der die Ordnung durcheinanderbringt. Die dunkle Seite des Menschen, der Schatten, erfuhr Brunetti, kann äußerlich oder innerlich sein, ein Feind von außen oder in einem selbst. Brunetti mogelte und sah nach, wie viele Seiten die Einführung noch hatte. Vierzehn. Er legte das Buch umgedreht auf den Couchtisch, trank erst einmal einen Schluck Wein – ein sehr guter Collavini Ribolla Gialla, den er sich für ein besonderes Buch aufgespart hatte – und seufzte bei dem Gedanken, was das Leben doch für angenehme Seiten haben konnte.
Gestärkt nahm er das Buch wieder zur Hand, überblätterte den Rest der Einführung und begann mit der Lektüre des Stücks. Die Anfangsszene hatte er noch in Erinnerung: Antigone erzählt ihrer Schwester Ismene von König Kreons Anordnung, ihr Bruder Polyneikes dürfe nicht bestattet werden, weil er Verrat an Theben begangen habe. Der Leichnam liegt verwesend außerhalb der Stadtmauer, ein Opfer der Geier und Schakale.
Antigone hat beschlossen, den Bruder dennoch zu begraben, und bittet ihre Schwester um Hilfe. Die arme, zaghafte Ismene will jedoch nicht mitmachen. »Das Gesetz ist mächtig. Wir müssen uns dem Gesetz unterwerfen, sowohl hier als auch in schlimmeren Lagen.«
»Das sehe ich anders«, sagte Brunetti.
Paola stupste ihn mit dem Fuß. »Was?«
»Im Vorwort erklärt ein Anhänger von C.G. Jung, der dunkle Schatten eines Menschen könne äußerlich oder innerlich sein, und jetzt behauptet Ismene auch noch, wir müssten uns blind dem Gesetz unterwerfen.«
»Es bestehen doch hoffentlich noch andere Möglichkeiten«, meinte Paola, ohne von ihrem Buch aufzublicken.
»Sollte man meinen. Ismene behauptet sogar: ›Wir sind nur Frauen und können nicht gegen Männer kämpfen.‹«
Jetzt ließ Paola ihr Buch sinken und sah ihn an. »Davon war ich schon immer überzeugt«, sagte sie lächelnd, nahm das Buch wieder hoch, fügte aber, das Buch vor Augen, noch hinzu: »Wenn ich mich recht erinnere, relativiert Ismene das immerhin etwas, als sie sagt: ›Ich habe nicht die Kraft, Gesetze zu brechen, die dem Gemeinwohl dienen sollen.‹«
Brunetti tätschelte ihren Knöchel. »So waren halt die alten Griechen, meine Liebe.«
Sie unterließ es wohlweislich, dies einer Antwort zu würdigen.
Brunetti las weiter, und bald stieß er auf Antigones fatalen Satz: »Ich tue nur, was ich tun muss.«
Das hätten auch Professoressa Croseras Worte sein können. Auch sie folgte nur ihrem inneren Gebot; nur dem eigenen Gesetz gehorchend, nahm sie sich das Recht heraus, alles zu tun, um ihre Kinder zu schützen. Ließ sich von der Polizei zusichern, dass ihr Sohn nicht verhaftet werden konnte, und zum Teufel mit den Kindern anderer Leute.
Und dann formulierte Antigone ihre eigene Richtschnur: »Doch ich werde ihn begraben. Und wenn ich dafür sterben muss.« Brunetti ließ die Hände mitsamt dem Buch in den Schoß sinken und grübelte: Wie mag das sein, wenn einem ein Ritual so wichtig ist, dass man bereit ist, mit dem Tod dafür zu bezahlen? Brunetti glaubte sofort, dass er sein Leben für andere Menschen hingeben würde: seine Kinder, seine Frau. Aber für eine Gepflogenheit?
Seine Gedanken kehrten zu Gasparini zurück, auch er ein Vater. Wie weit mochte jener gegangen sein, um seinen Sohn zu schützen? Brunetti dachte lange darüber nach. War es denkbar, dass Gasparini ganz im Gegenteil selbst der Angreifer auf der Brücke gewesen war? Brunetti schalt sich selbst: Erst jetzt erwog er diese Möglichkeit, als ob Gasparini wegen seiner Verletzungen einen Opferbonus verdient hatte oder Brunetti sich irgendwie schäbig vorkommen musste, wenn er Gasparini verdächtigte, jetzt, wo er seine Frau persönlich kannte.
»Ach, übrigens«, riss Paola ihn aus seinen Gedanken. »Du hast einen Brief bekommen.«
»Wo hast du ihn hingetan?«
»Auf die Anrichte. Ich dachte, du würdest ihn dort von alleine sehen.«
»Nein, hab ich nicht«, sagte Brunetti und ging in die Küche. An der Pfeffermühle lehnte ein Umschlag mit seinem Namen in Blockbuchstaben, aber ohne Briefmarke. Er schlitzte ihn mit dem Daumen auf. Darin stand, ebenfalls in Blockschrift:
»Gianluca Fornari, Castello 2712.«