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Sie unterhielten sich noch ein Weilchen, dann stand Brunetti auf und stellte den Stuhl an seinen angestammten Platz an der Wand zurück, wo er zwar nicht mehr die Tür blockierte, wohl aber Grif‌foni nicht mehr von rechts an ihren Schreibtisch gelangen ließ.

»Und wenn der Informant dir den Namen nennt?«, fragte Grif‌foni.

»Rede ich mit demjenigen.«

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte sie.

Eigentlich hatte er Vianello mitnehmen wollen, keine Frau. Grif‌foni war in der Rolle des guten Polizisten unschlagbar: Sie besaß die Gabe, Brunetti ohne ein Wort mit vorwurfsvollen Blicken zu widersprechen oder auch in einem Ton zu kontern, der einem mutmaßlichen Übeltäter das Gefühl gab, sie sei ganz auf dessen Seite; und nicht zuletzt konnte sie sich gegen Brunettis Schlussfolgerungen auf eine Weise verwahren, die dem Verdächtigen nahelegte, dass er sie vollkommen überzeugt hatte. Aber sie war eine Frau und der Drogenhändler voraussichtlich ein Mann. Ihn sollte sich ein Mann vornehmen.

»Danke für das Angebot, Claudia«, sagte er. »Es ist mir immer ein Vergnügen, mit einer Kollegin zu arbeiten, die so kaltblütig agieren kann wie du, aber in diesem Fall würde ich lieber allein gehen.«

Sie lächelte. »Kaltblütig zu sein ist ein Kompliment, das jede Frau sich gern gefallen lässt, Guido.«

Auf dem Weg in sein eigenes Büro wunderte er sich wieder einmal, dass Grif‌foni sich mit dieser Schuhschachtel von einem Büro begnügte, die Vice-Questore Patta ihr auf Tenente Scarpas Betreiben hin zugeteilt hatte. Zu Pattas Entlastung ging Brunetti einmal davon aus, dass der Vice-Questore Grif‌fonis Büro noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte und wohl auch einfach keinen Begriff von sechs Quadratmetern mit Schreibtisch und zwei Stühlen hatte. Brunetti ahnte, eines Tages würde Grif‌foni den Tenente dafür büßen lassen. Schließlich war sie Neapolitanerin. Es würde dauern, aber eines Tages wäre es so weit. Brunetti grinste bei dem Gedanken.

Er schloss die Tür, nahm sein telefonino und wählte aus dem Gedächtnis die Nummer – aufgeschrieben hatte er sie nie – seines Dealer-Freundes. Der meldete sich mit Namen.

»Guten Morgen, Manrico«, sagte Brunetti mit dem Wohlwollen, das er trotz allem für diesen Mann empfand, zumindest für Teile von ihm. Um seiner Schwäche nicht nachzugeben, kam er alsgleich in kühlem Ton unverblümt zur Sache: »Wie geht’s Bruno?«

»Ah, Dottore«, sagte Manrico, der Brunettis Stimme auch nach so langer Zeit sofort erkannt hatte, »in meiner Familie spielt sich ein Drama ab.« Pathetische Worte, aber fröhlich vorgetragen.

»Hoffentlich ein freudiges Drama«, sagte Brunetti.

»Freudiger geht’s nicht. Bruno heiratet demnächst. Im Juli.«

»Und der Vater der Braut ist Polizist?«, fragte Brunetti.

»Oh, noch viel schlimmer als das«, antwortete Manrico düster.

»Erzähl schon.«

»Sie ist Schottin.«

»Nein«, stöhnte Brunetti. »Und Protestantin?«

»Ach, wenn es das nur wäre, Commissario. Es kommt viel schlimmer.«

»Ach?«

»Sie ist Ärztin.«

»Ihr Sohn heiratet eine Akademikerin aus Schottland?« Brunetti brummte mitfühlend. »Ich kann Ihren Schmerz verstehen, Manrico.«

»Danke, Dottore, das dachte ich mir.« Doch dann war Schluss mit den Faxen, und er wurde plötzlich ernst. »Da Sie eben von Bruno angefangen haben, nehme ich an, Sie wollen mich daran erinnern, dass ich Ihnen einen Gefallen schulde.«

»Das habe ich noch nie getan, Manrico«, sagte Brunetti, als müsse er seinen guten Ruf verteidigen. »In den ganzen sechs Jahren nicht.«

»Sieben. Worum geht’s?«

»Ich möchte wissen, wer für das Albertini zuständig ist.«

»Sie meinen jetzt aber nicht die Rektorin.« Von Geplänkel war nichts mehr zu spüren.

»Nein, die meine ich nicht.«

Schweigen. Brunetti umklammerte sein Handy fester und zwang sich zur Ruhe. Er ging zum Fenster und sah zur Anlegestelle hinunter, wo Foa die Reling des Polizeiboots polierte.

»Rufen Sie mit Ihrem Diensttelefon an?«, fragte Manrico.

»Ja.«

»Dann werden Sie leider warten müssen, bis Sie heute Abend nach Hause kommen«, sagte der Dealer so barsch, dass Brunetti fürchtete, er werde ohne weitere Erklärung auf‌legen.

Doch Manrico schaltete gleich wieder auf seinen gewohnten aufgeräumten Tonfall um. »Noch etwas, Commissario.«

»Ja?«

»Die Hochzeit ist am fünfzehnten. Wenn ich Ihnen eine Einladung schicke … werden Sie kommen?« Sogar die Pause im Satz klang glücklich.

»Soll die hier stattfinden?«, fragte Brunetti in der Hoffnung, die Antwort wäre nein, weil er dann einen Grund hätte, die Einladung auszuschlagen.

»Nein. In der Kirche ihres Vaters.«

»Verstehe ich das richtig, Manrico? Steht es wirklich so schlecht?«

»Ja, Commissario, noch viel schlechter. Ihr Vater ist Bischof.«

Brunetti gratulierte noch einmal, wünschte Manrico viele Enkel und legte auf. Er konnte es kaum erwarten, Grif‌foni davon zu erzählen.

 

Vorher jedoch ging er zu Signorina Elettra. Sie stand gerade am Fenster. Nach Grif‌fonis winzigem Verschlag erschien ihm Signorina Elettras Büro geradezu riesig, zumal es in einer Wand drei Fenster hatte. Viel Raum nahm ihr Schreibtisch mit dem Computer ein; außerdem gab es einen Tisch, auf dem Brunetti noch nie etwas anderes gesehen hatte als einen riesigen Blumenstrauß und die aktuelle Ausgabe von Vogue, beides auch heute vorhanden.

Signorina Elettra drehte sich zu ihm um. Das bisschen Licht, das an diesem Tag von draußen kam, beleuchtete sie von hinten, so dass er ihre Miene nicht sehen konnte, aber ihre Haltung – ihre Aura, wie er manchmal dachte – wirkte müde und niedergeschlagen. »Bon dì«, sagte Brunetti. »Ich wollte fragen, ob Sie schon Zeit hatten, sich mit Gasparini zu beschäftigen.«

Signorina Elettra nickte knapp, setzte sich an den Schreibtisch und holte mit ein paar Klicks eine Seite auf den Bildschirm. »Viel gibt es nicht über ihn«, erklärte sie. »Er ist Buchhalter bei einem Chemieunternehmen; arbeitet in Verona. Wohnhaft in Santa Croce, in der Nähe von San Stae; er steht im Telefonbuch. Er ist im Veneto nicht aktenkundig; und in den sozialen Medien fehlt jede Spur von ihm.« Sie sah zu Brunetti und fügte hinzu: »Schon seltsam, dass jemand gar nicht zu existieren scheint, wenn er nicht in den sozialen Medien präsent ist, oder?«

Brunetti kam dort auch nicht vor, genau wie Paola. »Mag sein«, sagte er.

»Über seine Frau konnte ich nichts ermitteln«, gestand Signorina Elettra.

»Professoressa Crosera. Ihren Vornamen weiß ich nicht«, sagte Brunetti automatisch. »Sie lehrt Architektur an der Universität und ist Beraterin für urbanes Design – was auch immer das sein mag – in der Türkei und anderswo.«

Signorina Elettra sah ihn mit großen Augen an, als könne sie nicht glauben, dass er etwas herausbekommen hatte, was sie nicht gefunden hatte. »Wo haben Sie das her?«

»Ich habe sie gefragt«, antwortete Brunetti lakonisch und erkundigte sich lächelnd: »Ist das gemogelt?«

»Kaum anzunehmen«, gab Signorina Elettra ehrlicherweise zu. »Aber es ist doch eine recht altmodische Methode, an Informationen zu kommen.«

»Das sagt eine, die ›Gasparini‹ im Telefonbuch nachgeschlagen hat?«, konterte Brunetti.

»Ja«, räumte sie ein. »Aber online.«

Enttäuscht fragte er: »Mehr haben Sie nicht?«

»Nein«, erklärte Signorina Elettra. »Fürs Erste ist das alles.«

»Könnten Sie, wenn Sie Zeit haben, auch mal nach seiner Frau sehen?«, fragte er, als erwarte er sich davon brauchbare Neuigkeiten, und fügte hinzu: »Ich habe Vianello gebeten, die Zeitungen anzurufen; die sollen mögliche Zeugen auf‌fordern, sich bei uns zu melden. Vielleicht bringt das was.«

Ihre rechte Hand schwebte schon wieder über der Tastatur, dann aber zog sie sie noch einmal zurück und winkte ab. »Sie wissen doch, man will nichts mit uns zu tun haben.« Sie sah an ihm vorbei, als stünde hinter ihm etwas an die Wand geschrieben. »Nicht nur mit uns, überhaupt mit dem Staat.« Er dachte, sie sei fertig, aber sie sprach weiter, bedächtig, als müsse sie selbst erst einmal überlegen, ob sie verstand, was sie da sagen wollte. »Der Vertrag zwischen uns allen und dem Staat wurde gebrochen. Oder aufgelöst. Und niemand wagt das auszusprechen. Wir wissen, es gibt keinen Vertrag mehr, und die da oben wissen, dass wir es wissen. Denen ist egal, was wir wollen, die interessieren sich nicht mehr dafür, was aus uns wird.« Sie drehte sich achselzuckend zu ihm um und schloss lächelnd: »Und wir können nichts dagegen tun.«

Brunetti war erstaunt, aus ihrem Mund zu hören, was ihm schon so oft durch den Kopf gegangen war. Ohne nachzudenken, sagte er: »So schlimm kann es unmöglich sein.«

Signorina Elettra ging nicht darauf ein, sondern wandte sich wieder dem Bildschirm zu; entweder war sie anderer Meinung oder hielt es für zwecklos, darüber zu debattieren. Noch auf dem Weg in sein Büro beschäftigte Brunetti der Gedanke, dass sowohl er als auch Signorina Elettra für diesen gefühllosen, gleichgültigen Staat arbeiteten.

 

Brunetti war seit zwei Uhr morgens auf den Beinen – Grund genug, es sich mittags im Al Covo gutgehen zu lassen. Auf dem Rückweg dankte er dem Himmel, dass das Restaurant nur zehn Minuten von der Questura entfernt war. Wie jedes Mal fühlte er sich nach einem Essen dort wie neugeboren.

Leider erwarteten den Neugeborenen die alten Probleme. Er versuchte Professoressa Crosera auf ihrem Handy zu erreichen, doch es meldete sich nur die Mailbox. Er rief im Krankenhaus an, erhielt aber keine Neuigkeiten. Er versuchte es stündlich bei ihr zu Hause, aber da meldete sich niemand. Um fünf gab er auf und beschloss, Feierabend zu machen, wollte aber auf dem Heimweg noch einmal im Krankenhaus vorbeischauen und sagte Grif‌foni Bescheid.

Da hätte er gleich hingehen sollen: Professoressa Crosera war bei ihrem Mann, doch als der Commissario das Krankenzimmer betrat und guten Abend sagte, legte sie einen Finger an die Lippen und wies auf den Kranken, der mittlerweile in einem richtigen Bett lag. Brunetti zeigte auf die Tür, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. Brunetti wusste natürlich, dass ihr Gespräch den Mann unmöglich stören konnte, doch stand es ihm nicht zu, ihr das zu sagen.

Er trat leise an das Bett heran. Die helle Flüssigkeit rann nach wie vor durch die Nadel in Gasparinis Handrücken.

Brunetti nickte der Frau zu, machte kehrt und ging zur Anmeldung, wo er nach Dottor Stampini fragte, in der Hoffnung, etwas über die Ergebnisse des CT zu erfahren. Man sagte ihm, der Arzt sei bereits gegangen. Der Commissario beschloss, das zu glauben, und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.