Kapitel 5 Grüße aus Los Angeles
Von meiner Ankunft 1968 in Los Angeles gibt es ein Foto. Ich bin einundzwanzig Jahre alt, trage eine zerknitterte braune Hose, klobige Schuhe und ein billiges Hemd. Ich habe eine abgewetzte Plastiktüte mit ein paar Sachen in der Hand und warte an der Gepäckausgabe auf meine Sporttasche, in der sich mein restlicher Besitz befindet. Ich sehe aus wie ein Flüchtling, ich kann nur ein paar Sätze Englisch und habe kein Geld – aber auf meinem Gesicht liegt ein breites Grinsen.
Ein Fotograf und ein Reporter dokumentierten meine Ankunft für die Zeitschrift Muscle & Fitness. Joe Weider hatte ihnen aufgetragen, mich abzuholen, mir die Stadt zu zeigen und meine Reaktion und die Geschichten, die ich ihnen erzähle, in einem Artikel zu schildern. Er wollte mich als aufstrebenden jungen Star präsentieren. Er hatte mir angeboten, ein Jahr lang in Amerika mit den Champions zu trainieren. Er bezahlte mir Kost und Logis. Ich musste nur mit einem Übersetzer zusammenarbeiten und für seine Zeitschriften Artikel über meine Trainingsmethoden schreiben, ansonsten konnte ich mich voll auf mein Training und meinen Traum konzentrieren.
Das schöne neue Leben, das ich mir erträumte, wäre eine Woche später fast schon wieder vorbei gewesen. Einer meiner neuen Bodybuilder-Freunde, ein australischer Kraftsportler und Krokodilringer, hatte mir sein Auto geliehen. Einen Pontiac GTO mit über 350 PS. Ich hatte noch nie einen so unglaublichen Wagen gefahren. Schon nach wenigen Minuten brauste ich im Autobahntempo über den Ventura Boulevard. Es war ein kühler und nebliger Oktobermorgen, doch ich musste erst noch lernen, dass die Straßen in Kalifornien bei Nieselwetter sehr glatt sein können.
Ich wollte gerade vor einer Kurve runterschalten, und Schalten war für mich eigentlich kein Problem, weil in Europa fast alle Fahrzeuge eine Gangschaltung hatten, einschließlich der Lastwagen beim Bundesheer und meines zerbeulten alten Autos in München. Doch durch das Schalten wurden die Hinterräder des GTO abrupt langsamer und verloren auf der Straße den Halt.
Der Wagen schleuderte wild und drehte sich zwei- oder dreimal um die eigene Achse. Ich verlor völlig die Kontrolle, und obwohl ich wahrscheinlich nur noch knapp 50 Stundenkilometer schnell war, geriet ich auf die Gegenfahrbahn, wo im morgendlichen Berufsverkehr zahlreiche Fahrzeuge unterwegs waren. Ein VW-Käfer rammte mich auf der Beifahrerseite, kurz darauf traf mich ein zweiter Wagen. Weitere vier oder fünf Fahrzeuge folgten und vervollständigten die Massenkarambolage.
Der GTO und ich landeten dreißig Meter von meinem eigentlichen Zielort entfernt, Vince’s Gym, wo ich trainieren wollte. Die Tür auf meiner Seite funktionierte noch, also kletterte ich aus dem Wagen. Mein rechtes Bein brannte furchtbar. Durch den Aufprall war die Konsole zwischen den beiden Sitzen zertrümmert worden, und als ich auf mein Bein schaute, ragte da ein großer Plastiksplitter aus dem Oberschenkel. Ich zog ihn raus, aber daraufhin lief mir sofort das Blut am Bein hinunter.
Ich war total durcheinander. Mir fiel nur noch ein, dass ich im Fitnessstudio um Hilfe bitten könnte. Also hinkte ich ins Studio und sagte: »Ich hatte gerade einen dicken Unfall.« Einige Bodybuilder erkannten mich, aber derjenige, der sich um mich kümmerte, wusste nicht, wer ich war. Zufällig war er Rechtsanwalt. »Sie gehen besser zurück zu Ihrem Wagen«, sagte er. »Sie dürfen den Unfallort nicht einfach verlassen. Das nennt man hier ›hit-and-run‹, verstehen Sie? Hit-and-run. Das kann schlimme Konsequenzen haben. Also gehen Sie zurück zu Ihrem Auto und warten Sie auf die Polizei.«
Er begriff, dass ich erst seit kurzem in den USA war und nicht besonders gut Englisch sprach.
»Aber ich bin hier!«, sagte ich. »Und ich kann rüberschauen.« Ich meinte, dass ich sehen würde, wenn die Polizei kam, und dann hingehen könnte.
»Glauben Sie mir! Gehen Sie einfach zurück zum Wagen.«
Dann zeigte ich ihm mein Bein. »Kennen Sie einen Arzt, der mir helfen kann?«
Er sah das Blut und murmelte: »O mein Gott.« Dann überlegte er kurz. »Ich werde ein paar Freunde anrufen. Sie sind wahrscheinlich nicht krankenversichert?« Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, wir kamen aber schließlich überein, dass ich keinerlei Versicherung hatte. Jemand gab mir ein Handtuch, um die Blutung zu stillen.
Ich ging zurück zum Wagen. Die Leute waren vom Unfall geschockt und schimpften, weil sie zu spät zur Arbeit kamen, ihre Autos demoliert waren und sie sich jetzt um den ganzen Versicherungskram kümmern mussten. Aber niemand beschimpfte oder beschuldigte mich. Sobald sich der inzwischen eingetroffene Polizist vergewissert hatte, dass der Fahrerin des Käfers nichts passiert war, ließ er mich ohne Vorladung ziehen und sagte nur: »Sie bluten. Sie sollten damit zum Arzt.« Ein befreundeter Bodybuilder namens Bill Drake brachte mich zum Arzt und bezahlte freundlicherweise die Rechnung, während ich wieder zusammengeflickt wurde.
Ich hatte durch mein idiotisches Verhalten einen schweren Unfall verursacht. Heute wünschte ich, ich hätte die Namen der Beteiligten, damit ich ihnen schreiben und mich bei ihnen entschuldigen könnte.
Ich wusste, dass ich großes Glück gehabt hatte: In Europa war die Polizei bei solchen Vorfällen viel strenger. Ich hätte verhaftet werden können, als Ausländer wäre ich womöglich im Gefängnis gelandet oder abgeschoben worden. Auf jeden Fall hätte ich eine saftige Geldstrafe zahlen müssen. Doch die Polizisten in Los Angeles vertraten die Ansicht, dass die Straße glatt war und es daher einfach ein Unfall gewesen war. Da es keine schweren Verletzungen gab, zählte nun in erster Linie, dass der Verkehr wieder fließen konnte. Der Polizist, der mit mir sprach, war sehr höflich. Er betrachtete meinen internationalen Führerschein und fragte: »Brauchen Sie einen Krankenwagen, oder geht es so?« Zwei Jungs vom Fitnessstudio sagten ihm, dass ich erst seit ein paar Tagen in den USA war. Dass ich kein Englisch konnte, war ziemlich offenkundig, sosehr ich mich auch bemühte.
Als ich mich am Abend schlafen legte, sah ich meine Situation durchaus optimistisch. Ich musste zwar noch mit dem Krokodilringer klären, dass ich sein Auto zu Schrott gefahren hatte, aber Amerika war ein tolles Land.
Dabei war mein erster Eindruck von Los Angeles ein Schock. Für mich bedeutete Amerika vor allem: Größe. Riesige Wolkenkratzer, gigantische Brücken, spektakuläre Neonreklamen, breite Highways, dicke Autos. New York und Miami hatten meine Erwartungen voll und ganz erfüllt, und irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass Los Angeles genauso beeindruckend sein würde. Aber dann gab es nur ein paar Hochhäuser im Zentrum, und alles wirkte ziemlich schäbig. Der Strand war groß, aber wo waren die hohen Wellen und die Surfer?
Auch vom Gold’s Gym, dem Mekka des amerikanischen Bodybuilding, war ich zunächst enttäuscht. Jahrelang hatte ich Weiders Bodybuilding-Magazine verschlungen, ohne zu erkennen, dass dort alles viel größer präsentiert wurde, als es tatsächlich war. Ich sah mir die Fotos berühmter Bodybuilder an, die im Gold’s trainierten, und stellte mir einen riesigen Sportklub mit Basketballplätzen und Schwimmbädern vor, mit Räumen für Fitness, Gewichtheben, Kraftdreikampf und Kampfsport. Ähnlich wie die riesigen Klubs von heute. Aber dann war alles sehr einfach und primitiv, ein einziger Raum mit Zementfußboden und zwei Etagen, etwa halb so groß wie ein Basketballfeld, mit unverputzten Wänden aus Betonblöcken und Oberlichtern an der Decke. Die Ausstattung war allerdings sehr interessant, außerdem sah ich großartige Kraftdreikämpfer und Bodybuilder bei der Arbeit mit beeindruckenden Gewichten. Die Atmosphäre stimmte also. Außerdem lag das Studio nur zwei Straßen vom Strand entfernt.
Die Umgebung des Gold’s Gym in Venice war deutlich weniger beeindruckend als das Fitnessstudio. Die Häuser an den Straßen und Gassen sahen aus wie die Baracken aus meiner Militärzeit. Warum baute jemand an so einem schönen Ort billige Holzbaracken? Manche Häuser waren heruntergekommen und standen leer. Die Gehwege waren rissig und sandig, einige Abschnitte waren nicht einmal geteert, und zwischen den Häusern wucherte das Unkraut. »Das ist Amerika!«, dachte ich. »Warum wird das nicht geteert? Warum werden die verlassenen Häuser nicht abgerissen und an ihrer Stelle schöne Gebäude errichtet?« Eins wusste ich sicher: In Graz würde man nirgends einen Gehweg finden, der nicht geteert war. Außerdem waren die Gehwege überall sauber gefegt und makellos. Es war unbegreiflich.
Für mich war es eine große Herausforderung, in ein Land zu ziehen, wo alles anders aussah und mir die Sprache ebenso fremd war wie die Kultur. Die Leute dachten anders und arbeiteten anders. Die Unterschiede waren enorm. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Neuankömmlingen hatte ich einen großen Vorteil: Wenn man eine internationale Sportart betreibt, ist man nie völlig allein.
Unter Bodybuildern besteht eine unglaubliche Gastfreundschaft. Egal wo man hinkommt, man muss niemanden kennen und wird doch stets herzlich empfangen. Einheimische Bodybuilder holen den Fremden am Flughafen ab und laden ihn zu sich nach Hause ein. Sie geben ihm zu essen und führen ihn herum. Amerika bot in dieser Hinsicht noch eine Steigerung.
Ein Bodybuilder in Los Angeles hatte ein Zimmer, wo ich für die ersten Tage unterkommen konnte. Als ich zum ersten Training ins Studio kam, begrüßten mich alle, umarmten mich und gaben mir zu verstehen, wie sehr sie sich freuten, dass ich jetzt einer von ihnen war. Sie fanden eine kleine Wohnung für mich, und das war erst der Anfang ihrer enormen Hilfsbereitschaft. Die Bodybuilder organisierten eine Sammelaktion und standen eines Morgens mit Kartons und Kisten bepackt vor meiner Tür. Man muss sich das einmal vorstellen: große, muskulöse Kerle, riesige Bären, denen man nie etwas Zerbrechliches anvertrauen würde und die im Studio jeden Tag sagten: »Schau dir den Brustkorb an, Mann!«, oder: »Heute schaffe ich 500 Pfund, verdammt noch mal.« Und plötzlich tragen sie Pappkartons und Schachteln, und einer sagt: »Schau mal, was wir dir mitgebracht haben«, öffnet eine kleine Schachtel und holt Besteck heraus. »Du brauchst Besteck, damit du hier etwas essen kannst.« Ein anderer wickelt ein Päckchen aus und meint: »Meine Frau hat mir gesagt, dass ich die Teller nehmen kann, sie sind alt. Jetzt hast du fünf Teller.« Sie nannten mir die englischen Namen der Sachen und erklärten mir alles Mögliche. Einer brachte mir einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, half beim Aufstellen und zeigte mir, wie man die Antenne ausrichtete. Auch an Essen hatten sie gedacht, das wir uns jetzt in der Runde schmecken ließen.
Ich dachte mir: »So etwas habe ich in Deutschland oder Österreich nie erlebt. Daran hätte niemand gedacht.« Von mir wusste ich mit Sicherheit, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, einem neuen Nachbarn derart behiflich zu sein. Ich fühlte mich wie ein Idiot. Ihre Großzügigkeit war eine wichtige Erfahrung für mich.
Die Jungs nahmen mich mit nach Hollywood. Ich wollte dort ein paar Bilder von mir machen und meinen Eltern einen Gruß schicken, nach dem Motto: »Jetzt bin ich in Hollywood. Als Nächstes kommen die Filme.« Wir fuhren also ein Stück, bis einer sagte: »Okay, das ist der Sunset Boulevard.«
»Und wann kommen wir nach Hollywood?«, fragte ich.
»Das ist Hollywood.«
In meiner Fantasie musste ich wohl Hollywood mit Las Vegas verwechselt haben, denn ich hatte mir riesige Schilder und Neonreklamen vorgestellt. Ich hatte auch Filmkameras und abgesperrte Straßen erwartet, wo gerade eine Stuntszene für einen Film gedreht wurde. Aber davon keine Spur. »Was ist mit den Lichtern und den ganzen Sachen passiert?«, fragte ich.
Sie sahen sich ratlos an. »Ich glaube, er ist enttäuscht«, meinte einer. »Vielleicht sollten wir noch einmal abends mit ihm herfahren.«
»Ja genau, das ist eine gute Idee«, erklärten die anderen. »Tagsüber sieht man wirklich nicht viel.«
Ein paar Tage später fuhren wir abends noch einmal nach Hollywood. Es gab ein paar Neonreklamen, aber ansonsten war es einfach langweilig. Daran musste ich mich wohl gewöhnen und mich nach anderen Orten umsehen, wo man sich amüsieren konnte.
Ich verbrachte viel Zeit damit, mich zurechtzufinden und meine neue Heimat zu erkunden. Abends war ich oft bei Artie Zeller zusammen, dem Fotografen, der mich am Flughafen abgeholt hatte. Artie faszinierte mich. Er war sehr intelligent, hatte aber absolut keinen Ehrgeiz. Er mochte weder Stress noch Risiko. Er arbeitete hauptberuflich am Schalter eines kleinen Postamts. Ursprünglich stammte er aus Brooklyn, wo sein Vater Kantor der jüdischen Gemeinde war, ein sehr gelehrter Mann. Artie ging seinen eigenen Weg und kam auf Coney Island mit dem Bodybuilding in Kontakt. Als freier Mitarbeiter bei Weider avancierte er schnell zum besten Fotografen der Bodybuilding-Szene. Ich war beeindruckt, weil er Autodidakt war, unendlich viel las und einfach alles in sich aufnahm. Er war ein Naturtalent für Sprachen, ein wandelndes Lexikon und ein hervorragender Schachspieler. Außerdem war er ein überzeugter Demokrat, Liberaler und Atheist. Religion lehnte er ab, das sei alles Humbug. Es gebe keinen Gott, Punktum.
Arties Frau Josie war Schweizerin, und obwohl ich versuchte, ausschließlich Englisch zu sprechen, war es gelegentlich doch ganz hilfreich, Leute zu kennen, die Deutsch konnten. Vor allem, wenn wir fernsahen. Als ich 1968 nach Amerika kam, war die Präsidentschaftswahl gerade in vollem Gang. Bis zur Wahl waren es noch drei oder vier Wochen. Man brauchte nur den Fernseher einzuschalten, schon wurde über den Wahlkampf berichtet. Artie und Josie übersetzten für mich die Reden von Richard Nixon und Hubert Humphrey. Humphrey sprach immer über den Sozialstaat und staatliche Programme, was mir viel zu österreichisch erschien. Nixons Reden über Chancen und Unternehmergeist klangen dagegen richtig amerikanisch für mich. »Wie heißt seine Partei noch gleich?«, fragte ich Artie.
»Das sind die Republikaner.«
»Dann bin ich Republikaner«, verkündete ich. Artie schnaubte, was er oft tat, weil er Probleme mit den Nasennebenhöhlen hatte und weil es vieles im Leben gab, das seiner Meinung nach ein verächtliches Schnauben verdiente.
Wie versprochen, besorgte mir Joe Weider ein Auto – einen gebrauchten VW-Käfer, der mir ein Gefühl von Heimat gab. Um die Gegend besser kennenzulernen, fuhr ich zu verschiedenen Fitnessstudios. Ich freundete mich mit dem Leiter eines Studios in Downtown Los Angeles an, im damaligen Occidental Building. Ich fuhr ins Landesinnere und hinunter nach San Diego und sah mir dort die Studios an. Manchmal wurde ich auch auf Ausflüge mitgenommen und kam so nach Tijuana in Mexiko und nach Santa Barbara. Einmal fuhr ich zusammen mit vier anderen Bodybuildern im VW-Bus nach Las Vegas. Mit so viel Muskelmasse an Bord schaffte der Wagen nicht einmal 100 Stundenkilometer. Im Gegensatz zu Los Angeles entsprach Las Vegas mit seinen riesigen Casinos, den Neonlichtern und endlosen Reihen von Spielautomaten sofort meinen Erwartungen.
Viele Champions im Bodybuilding trainierten im Vince’s im San Fernando Valley ganz in der Nähe meiner ersten Wohnung – beispielweise Larry Scott, der den Spitznamen »The Legend« trug und 1965 und 1966 den Titel des Mister Olympia gewonnen hatte. Im Vince’s gab es Teppichboden und viele schöne Geräte, aber das Studio war nicht fürs Krafttraining gedacht – Übungen wie Kniebeugen mit Langhantel, Bankdrücken und Schrägbankdrücken galten als altmodisch, weil sie angeblich aus der Zeit der Schwerathleten stammten und ungeeignet waren, den Körper zu modellieren.
Im Gold’s gab es eine ganz andere Szene. Es ging rau zu, hier trainierten die Monster – Olympiasieger im Kugelstoßen, Profiwrestler, Bodybuilding-Champions und Kraftakrobaten, die auf der Straße auftraten. Fast niemand trug Sportkleidung. Die meisten trainierten in Jeans und Karohemden, Trägershirts, Unterhemden oder Sweatshirts. Der Fußboden im Studio war nackter Estrich, dafür gab es Plattformen fürs Gewichtheben, wo man problemlos 500 Kilo fallen lassen konnte, ohne dass sich jemand beschwerte. Gold’s Gym ähnelte mehr den Studios, wie ich sie kannte.
Joe Gold war der gute Geist des Studios. Seit seiner Teenagerzeit in den dreißiger Jahren gehörte er zum ursprünglichen Muscle Beach von Santa Barbara. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als Maschinist bei der Handelsmarine im Einsatz war, kehrte er nach Kalifornien zurück und begann mit dem Bau von Trainingsgeräten. Fast jedes Gerät im Studio war von Joe entworfen worfen.
Hier war nichts filigran. Alles, was Joe baute, war groß und schwer und funktionierte. Beispielsweise konnte man an seinem Rudergerät mit Seilzug die Fußrasten so einstellen, dass man den unteren Teil des Latissimus trainieren konnte, ohne das Gefühl zu haben, gleich vom Sitz geschleudert zu werden. Wenn Joe ein Gerät entwarf, arbeitete er nicht im stillen Kämmerlein, sondern bezog andere mit ein. Das bedeutete, dass der Griffwinkel perfekt war und sich nichts verkantete. Außerdem war er jeden Tag da, die Geräte wurden also ständig gewartet.
Manchmal erfand Joe auch ganz neue Geräte, zum Beispiel eins für Donkey Raises – Wadenheben im Stehen. Diese Übung war für mich sehr wichtig, weil meine Waden im Vergleich zum übrigen Körper von Natur aus dünn waren und nur schlecht Muskelmasse bildeten. Für Donkey Raises stellte man sich normalerweise mit den Fußballen auf eine Stange oder ein Brett und hielt Mittelfuß und Ferse in der Schwebe. Dann beugte man die Hüften um neunzig Grad nach vorn und stützte die Arme auf einer Stange auf. Nun bekam man wie ein Maultier ein oder zwei Trainingspartner auf den Rücken gesetzt und bewegte mit dieser Last die Waden auf und ab. Mit Joes Gerät brauchte man keine Reiter mehr. Man packte das gewünschte Gewicht drauf, beugte den Oberkörper wie üblich im rechten Winkel und löste die Sperre. Mit den 300 Kilo oder einem anderen Gewicht über sich konnte man dann die Waden trainieren.
Das Gold’s wurde schnell mein zweites Zuhause, dort fühlte ich mich richtig wohl. Es gab immer ein paar Bodybuilder, die sich am Eingangstresen die Zeit vertrieben. Alle Stammkunden hatten Spitznamen, etwa Fat Arm Charlie oder Brownie oder Snail. Zabo Koszewski trainierte dort jahrelang, er war gut mit Joe Gold befreundet. Die anderen nannten ihn den Chief. Er hatte die besten Bauchmuskeln. Beim Bauchmuskeltraining machte er jeden Tag tausend Wiederholungen und hatte einen entsprechenden Waschbrettbauch. Meine Bauchmuskeln waren nicht so gut definiert, und Zabo sagte mir schon bei unserer ersten Begegnung, dass ich Diät halten müsste. »Verstehst du? Du bist pummelig.« Joe Gold verpasste mir daraufhin den Spitznamen »Balloon Belly«, und fortan hieß ich entweder »Balloon Belly« (Ballonbauch) oder »Chubby« (Pummel).
Zabo hatte eine beträchtliche Sammlung Haschpfeifen. Wir gingen oft zum Kiffen zu ihm. Er war ein begeisterter Leser von Science-Fiction-Romanen. Bei ihm hieß es immer »Hey, man, wow« und »groovy« und »echt abgefahren«. Aber in Venice redeten viele so, und auch Joints waren so normal wie Bier. Egal wen man besuchte, irgendwann wurde ein Joint angezündet, und es hieß: »Nimm einen Zug.« Oder eine Haschpfeife, je nachdem, wie mondän man sich gab.
Ich lernte schnell, was die Leute meinten, wenn sie »groovy« oder »cool« sagten. Ich stellte auch fest, dass Horoskope eine wichtige Rolle spielten, wenn man eine Frau anbaggern wollte. Einmal sprach ich ein hübsches Mädchen an und sagte: »Du und ich, wir passen doch gut zusammen, wir sollten mal zusammen essen gehen.«
Aber sie sagte: »Immer hübsch langsam. Welches Sternzeichen bist du?«
»Löwe.«
»Löwe passt nicht zu mir. Löwe passt absolut nicht zu mir. Nein danke.«
Und weg war sie. Am nächsten Tag ging ich ins Studio und sagte: »Jungs, ich habe ein Problem. Ihr wisst ja, ich lerne noch.« Ich erzählte ihnen die Geschichte.
Zabo wusste Rat: »Mann, du musst sagen: ›Ich bin das beste Sternzeichen.‹ Versuch’s mal damit.«
Schon nach wenigen Wochen ergab sich die Gelegenheit. Ich unterhielt mich mit einem Mädchen beim Mittagessen und sie fragte: »Welches Sternzeichen bist du?«
Ich fragte zurück: »Was glaubst du?«
»Na, welches denn?«
»Das beste!«
Sie überlegte: »Du meinst … Steinbock?«
»Richtig!«, rief ich. »Woher wusstest du das?«
»Also, das ist wirklich irre, Steinbock passt so gut zu mir, und wir verstehen uns ohnehin so gut, also das ist … wow!« Sie war ganz aufgeregt. Ich machte mich daher schlau über Sternzeichen, lernte die Eigenschaften, die man mit dem jeweiligen Sternzeichen in Verbindung bringt, und wer zu wem passt.
Das Gold’s Gym war der ideale Ort, um Freundschaften zu schließen. Hier kamen Sportler aus aller Welt zusammen – Australier, Afrikaner, Europäer. Wenn ich morgens trainierte, sagte ich irgendwann zu den anderen: »Hey, kommt ihr mit mittagessen?« Dann erzählten sie mir ihre Lebensgeschichte, und ich erzählte ihnen meine, und wir wurden Freunde. Abends war ich wieder zum Trainieren im Studio und traf andere Typen, mit denen ich dann abendessen ging.
Ich staunte, wie schnell mich die Leute zu sich nach Hause einluden und wie gern die Amerikaner feierten. Ich hatte in meiner Kindheit nie Geburtstag gefeiert, ich kannte nicht einmal einen Geburtstagskuchen mit Kerzen. Doch ein Mädchen lud mich zu ihrem Geburtstag ein, und als ich im Sommer darauf Geburtstag hatte, empfingen mich die Jungs im Fitnessstudio mit einem Kuchen und Kerzen. Manchmal sagte jemand so etwas wie: »Ich muss heute früher nach Hause, meine Schwester hat ihren ersten Schultag, da wird gefeiert.« Oder: »Meine Eltern feiern heute ihren Hochzeitstag.« Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern ihren Hochzeitstag auch nur erwähnt hätten.
Für Thanksgiving hatte ich natürlich nichts geplant, weil ich den Feiertag nicht kannte. Doch Bill Drake nahm mich ganz selbstverständlich mit zu sich nach Hause. Ich lernte seine Mutter kennen, die ein phänomenales Essen auftischte, und seinen Vater, einen professionellen Komiker, der auch privat unglaublich witzig war. Ich wollte der Mutter ein Kompliment machen, weil sie so fantastisch gekocht hatte, und sagen, dass ich sie »zum Fressen gern« hätte, doch wegen meiner Übersetzungsschwierigkeiten klang der Satz wohl ziemlich anstößig. Die ganze Familie konnte sich kaum halten vor Lachen.
Noch überraschter war ich, als das Mädchen, mit dem ich gerade ging, mich zu Weihnachten ins Haus ihrer Eltern einlud. Ich dachte mir: »Mein Gott, ich will die Familie doch nicht am Feiertag stören.« Doch ich wurde aufgenommen wie ein Sohn und bekam sogar von jedem Familienmitglied ein Geschenk.
Diese Gastfreundschaft war neu für mich und natürlich höchst willkommen, allerdings machte ich mir Gedanken, weil ich nicht wusste, wie ich mich dafür revanchieren sollte. Beispielsweise hatte ich noch nie etwas von einer Dankeskarte gehört, und die Amerikaner schienen ständig solche Karten zu verschicken. »Wie merkwürdig«, dachte ich. »Warum kann man nicht einfach anrufen oder einem Freund aus dem Fitnessstudio sagen: ›Vielen Dank für das Besteck‹ oder ›Vielen Dank, das war ein wunderbarer Abend‹?« So machten wir das in Europa. Aber wenn Joe Weider mich und meine Freundin zum Abendessen einlud, sagte meine Freundin danach: »Du musst mir seine Adresse geben, ich möchte ihm eine Dankeskarte schicken.«
Ich sagte dann: »Ach komm, wir haben uns doch bedankt, als wir uns verabschiedet haben.«
»O nein, kommt nicht infrage, ich weiß, was sich gehört.«
Ich begriff, dass ich mich am besten anpasste und die amerikanischen Benimmregeln lernte. Vielleicht galten sie ja auch in Europa, ohne dass ich es wusste? Ich fragte meine Freunde in Europa, doch mir war nichts entgangen. In den USA wurde das einfach anders gehandhabt.
Um das Land möglichst schnell kennenzulernen, hatte ich es mir zur Regel gemacht, nur mit Amerikanerinnen auszugehen. Ich wollte nicht mit Mädchen zusammen sein, die Deutsch konnten. Außerdem meldete ich mich bald nach meiner Ankunft zu einem Englischkurs am Santa Monica Community College an. Ich wollte so schnell wie möglich in der Lage sein, Zeitungen und vor allem Lehrbücher zu lesen, damit ich auch Kurse in anderen Studienfächern belegen konnte. Mein Ziel war es, wie ein Amerikaner zu denken, zu lesen und zu schreiben, ich wollte nicht warten, bis ich die Sprache einfach so aufgeschnappt hatte.
An einem Wochenende nahmen mich ein paar Mädchen mit nach San Francisco, wo wir einfach im Golden Gate Park übernachteten. Ich dachte: »Unglaublich, wie frei die Leute in Amerika sind. Schau dir das an! Wir schlafen nachts im Park, und alle sind nett.« Erst viel später wurde mir klar, dass ich bei meiner Ankunft in den USA einen ganz besonderen Zeitpunkt erwischt hatte. Es war die Zeit der Hippies, die Zeit der freien Liebe. Es fand gerade ein unglaublicher Wandel in der Gesellschaft statt. Der Vietnamkrieg war in seiner heißesten Phase. Richard Nixon sollte bald zum Präsidenten gewählt werden. Die Amerikaner hatten damals das Gefühl, dass die Welt kopfstand. Ich wusste nicht, dass das nicht schon immer so gewesen war. »Das ist also Amerika«, dachte ich, »das ist wirklich ein völlig anderes Land als Österreich.«
Ich bekam nicht viele Diskussionen über Vietnam mit. Mir persönlich sagte die Vorstellung sehr zu, dass Amerika den Kommunismus in Fernost zurückdrängte. Wenn mich also jemand gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass ich für den Krieg sei. Wahrscheinlich hätte ich es eher so formuliert: »Verdammte Kommunisten, ich hasse sie.« In Österreich hatten die meisten Menschen so gedacht. Wir lebten dort nun einmal in ständiger Angst vor dem Kommunismus. Würden die Sowjets in Österreich einmarschieren wie 1956 in Ungarn? Oder würden wir bei einem Atomkrieg zwischen die Fronten geraten? Die Gefahr war so nah. Außerdem sahen wir die Auswirkungen des Kommunismus auf die Tschechen, Polen, Ungarn, Bulgaren, Jugoslawen und Ostdeutschen. Österreich war praktisch umgeben von kommunistischen Ländern. Ich weiß noch, wie ich anlässlich einer Bodybuilding-Messe nach Westberlin reiste. Ich schaute dort über die Mauer und sah, wie trist das Leben jenseits der Grenze war. Das waren praktisch zwei unterschiedliche Wetterlagen. Ich hatte das Gefühl, ich würde in der Sonne stehen und auf der anderen Seite der Mauer würde es regnen. Es war furchtbar. Daher fand ich die Wahl Nixons zum Präsidenten gut. Ich befürwortete, dass er zurückschlug und es den Kommunisten so richtig zeigte. Er hasste Kommunisten? Sehr gut.
Die Mädchen, mit denen ich ausging, schminkten sich nicht, trugen keinen Lippenstift und keinen Nagellack. Ich dachte mir nichts dabei und hielt behaarte Beine und Unterarme für normal, weil sich die Frauen in Europa auch nicht rasierten oder die Härchen mit Wachs entfernten. Ich war sogar überrascht, als mich eines Morgens im Sommer eine Freundin beim Duschen fragte – wir hatten uns am Abend zuvor auf meinem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher die Mondlandung angesehen: »Übrigens, hast du einen Rasierer?«
»Wozu brauchst du einen Rasierer?«
»Ich hasse die Stoppeln an meinen Beinen.« Ich kannte das englische Wort für Stoppeln nicht – nubs –, und sie musste es mir erklären.
»Was?«, rief ich. »Du rasierst dich?«
»Ja, ich rasiere mir die Beine. Haare sind eklig.« Das Wort für eklig kannte ich auch nicht – gross. Trotzdem gab ich ihr meinen Rasierer und sah zu, wie sie sich die Schienbeine und Waden einseifte und rasierte, als wenn es das Normalste der Welt wäre. Später erzählte ich den Jungs im Fitnessstudio: »Heute hat sich ein Mädchen in meiner Dusche rasiert. Habt ihr sowas schon mal gesehen?«
Sie schauten sich an und nickten mit ernster Miene: »Allerdings.« Dann brachen sie in lautes Gelächter aus. Ich versuchte es ihnen zu erklären: »Also, in Europa bevorzugen die Mädchen den bayerischen Stil, ihr wisst schon, überall Haare.« Daraufhin lachten sie nur noch lauter.
Irgendwie reimte ich es mir schließlich zusammen: Die meisten Mädchen, mit denen ich ausging, rasierten sich nicht. Damit protestierten sie gegen das Establishment. Ihrer Meinung nach symbolisierte die Kosmetikindustrie die Unterdrückung der Frau, daher lehnten sie sie ab und pflegten einen natürlicheren Lebensstil. Das gehörte einfach zur Hippiezeit. Die bunten Kleider, die langen Haare, das gesunde Essen. Und alle trugen Perlen. Viele Perlen. Sie brachten Räucherstäbchen mit in meine Wohnung, bis alles völlig verräuchert war. Das war natürlich nicht so toll, aber ich fand ihre Einstellung gut, zu der auch gehörte, dass man mal einen Joint rauchte und dass Nacktheit etwas Natürliches war. Das war großartig. Ich kannte das ein bisschen aus meiner Jugend, aus der ungehemmten Zeit am Thalersee.
Diese entspannte Haltung gefiel mir gut, aber meine Ziele in Amerika waren andere, und die waren klar definiert: Ich musste wie verrückt trainieren, streng Diät halten, das Richtige essen und im Herbst mehrere wichtige Titel gewinnen. Weider hatte mir ein Jahr Zeit gegeben, und ich wusste, wenn ich es schaffen würde, war mir der Erfolg gewiss.
Nur weil ich in London zweimal den Titel des Mister Universum gewonnen hatte, war ich noch lange nicht der beste Bodybuilder der Welt. Mittlerweile gab es zu viele Titel und Wettkämpfe, die sich überschnitten, und nicht jeder Bodybuilder nahm an allen teil. Wenn ich der Beste sein wollte, musste ich wirklich besser sein als die Champions, deren Poster ich aufgehängt hatte: Reg Park, Dave Draper, Frank Zane, Bill Pearl, Larry Scott, Chuck Sipes, Serge Nubret … Sie waren meine großen Vorbilder, und ich sagte mir: »Diese Leute muss ich am Ende schlagen.« Dank meiner Siege spielte ich nun in der gleichen Liga, aber ich stand immer noch am Anfang und musste mich erst noch behaupten.
Ganz oben auf dem Siegerpodest – dort, wo ich mich in ferner Zukunft sah – stand Sergio Oliva, ein siebenundzwanzigjähriger kubanischer Emigrant, der 104 Kilo auf die Waage brachte. Die Bodybuilding-Zeitschriften nannten ihn mittlerweile nur noch den »Mythos«. Seinen letzten Wettkampf im Herbst hatte er ohne Gegenkandidaten bestritten. Die vier anderen Bodybuilder, die zur Ausscheidung um den Titel des Mister Olympia eingeladen worden waren, waren gar nicht erst angetreten.
Seine Lebensgeschichte war wirklich ungewöhnlich. Sergios Vater hatte auf Kuba in der Zeit vor Castro auf den Zuckerrohrfeldern gearbeitet. Als die Revolution ausbrach, meldete sich Sergio zusammen mit seinem Vater zu Batistas Armee. Nach Castros Sieg konzentrierte sich Sergio auf den Sport. Er war Gewichtheber, ein ganz anderes Kaliber als ich, und führte die kubanische Mannschaft bei den Zentralamerika- und Karibikspielen 1962 in Kingston an. Er hätte auch 1964 an den Olympischen Spielen teilgenommen, wenn er nicht aufgrund seiner Abneigung gegen Castro in die USA geflohen wäre. Ein Großteil seiner Mannschaftskameraden tat es ihm nach. Er war außerdem ein fantastischer Baseballspieler, was ihm zu seiner schmalen Taille verhalf. Den Schläger zu schwingen war das perfekte Training für die Hüften.
Ich hatte Sergio in Miami beim Mister-Universum-Wettbewerb kennengelernt, wo seine Posing-Kür das Publikum zu Begeisterungsstürmen veranlasste. Eine Bodybuilding-Zeitschrift schrieb hinterher, seine Posen hätten Beton zum Bersten gebracht. Ohne Frage war Sergio mir immer noch weit überlegen. Er war viel besser definiert und hatte Pfund für Pfund mehr Muskelmasse und -intensität. Außerdem besaß er die bei Bodybuildern seltene Fähigkeit, fantastisch auszusehen, auch wenn er nur entspannt dastand. Er hatte die beste Silhouette, die ich je gesehen hatte: eine perfekte V-Form mit sehr breiten Schultern und einer von Natur aus schlanken, runden Taille und schmalen Hüften. An Sergios Markenzeichen, die »Victory-Pose«, wagten sich viele Bodybuilder im Wettkampf gar nicht heran. Er stand dabei einfach mit geschlossenen Beinen vor den Zuschauern und streckte die Arme V-förmig nach oben. Dabei war der Körper völlig exponiert: die vom Gewichtheben mächtigen Oberschenkel, die schmale Taille, die fast perfekten Bauchmuskeln, der Trizeps und der Serratusmuskel, auch Boxermuskel genannt.
Ich war entschlossen, diesen Mann irgendwann zu besiegen, aber ich war noch weit von dem Körper entfernt, den ich dafür benötigte. Als ich nach Amerika kam, war ich wie ein Rohdiamant mit hundert Karat. Alle staunten und sahen mich bewundernd an. Aber ich war noch ungeschliffen und für eine Ausstellung noch nicht bereit, zumindest nicht gemessen an amerikanischen Maßstäben. Einen Körper aufzubauen, der absolute Weltklasse hat, dauert normalerweise mindestens zehn Jahre, und ich trainierte erst seit sechs Jahren. Aber ich machte schnell Fortschritte und war stark, daher sagten die Leute: »Schau dir den Jungen an. Wie massig er ist. Ist das nicht unglaublich? Also, für mich hat er das größte Potenzial.« Meine Siege in Europa hatte ich daher nicht nur aufgrund meiner körperlichen Vorzüge gewonnen, sondern auch, weil ich vielversprechend wirkte und den Mut hatte, früh bei einem Wettkampf anzutreten. Doch auf mich wartete noch viel Arbeit.
Das Ideal im Bodybuilding ist die optische Perfektion. Der Körper soll wie eine lebendig gewordene antike griechische Statue wirken. Man modelliert seinen Körper ähnlich, wie ein Bildhauer eine Statue mit dem Meißel bearbeitet. Nehmen wir an, man will mehr Masse und Definition für den hinteren Deltamuskel. Dafür stehen verschiedene Übungen zur Verfügung. Das Gewicht, die Bank oder das Gerät sind in dem Fall der Meißel, und das Modellieren kann ein ganzes Jahr in Anspruch nehmen.
Voraussetzung ist, dass man seinen Körper und dessen Schwachstellen ehrlich analysiert. Die Richter bei den großen Wettkämpfen achten auf jedes Detail: die Größe der Muskeln, ihre Definition, die Proportionen und Symmetrie. Sie sehen sich sogar die Venen an, da deren gute Sichtbarkeit auf einen geringen Körperfettanteil hinweist.
Im Spiegel erkannte ich jede Menge Stärken und Schwächen. Ich hatte erfolgreich eine Grundlage an Kraft und Masse geschaffen. Durch die Kombination von Gewichtheben, Kraftdreikampf und Bodybuilding hatte ich einen breiten, muskelbepackten Rücken bekommen, der nahezu perfekt war. Meine Bizepsmuskeln waren außergewöhnlich groß und hoch und hatten einen beachtlichen Umfang. Ich hatte gut definierte Brustmuskeln und zeigte die beste seitliche Brustpose aller Bodybuilder. Mit meinen breiten Schultern und den schmalen Hüften hatte ich den geeigneten Körperbau, um die ideale V-Form zu erreichen.
Aber im Verhältnis zu meinem Torso waren meine Gliedmaßen zu lang. Ich musste ständig am Muskelaufbau meiner Arme und Beine arbeiten, damit die Proportionen stimmten. Selbst mit einem massiven Oberschenkelumfang von vierundsiebzig Zentimetern wirkten meine Beine immer noch schlank. Und meine Waden sahen im Vergleich zu den Oberschenkeln noch dünner aus. Mein Trizeps konnte es nicht mit meinem Bizeps aufnehmen.
An all diesen Schwachstellen musste ich arbeiten. Der Mensch neigt von Natur aus dazu, die Dinge zu tun, die er ohnehin gut kann. Wenn man dicke Bizeps hat, will man zahllose Curls machen, weil es so befriedigend ist, zuzusehen, wie sich der ohnehin schon mächtige Bizeps anspannt. Aber stattdessen muss man brutal ehrlich zu sich selbst sein und sich auf seine Schwachstellen konzentrieren. Man braucht dazu ein gutes Auge, die Fähigkeit zur Selbstkritik und auch die Fähigkeit, auf andere zu hören. Bodybuilder, die blind für ihre Schwächen und taub für die Ratschläge anderer sind, bleiben normalerweise hinter den anderen zurück und verlieren im Wettkampf.
Eine noch größere Herausforderung besteht darin, dass sich manche Körperteile schneller entwickeln als andere. Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Wenn man mit dem Training anfängt, merkt man nach zwei Jahren vielleicht: »Hey, interessant, dass meine Unterarme nie so viel Muskelmasse aufbauen wie meine Oberarme«, oder: »Irgendwie werden meine Waden einfach nicht muskulöser.« Mein Schwachpunkt waren eben die Waden. Ich begann beim Wadentraining mit zehn Sets dreimal die Woche wie bei den anderen Körperpartien auch, aber meine Waden sprachen auf das Training nicht so an wie die anderen Muskelgruppen, die sich viel schneller entwickelten.
In dieser Hinsicht öffnete mir Reg Park wirklich die Augen. Er hatte perfekte Waden mit mehr als dreiundfünfzig Zentimeter Umfang, deren Muskeln so vollentwickelt waren, dass sie sich unter der Haut in Form eines umgekehrten Herzens abzeichneten. Als ich mit ihm in Südafrika trainierte, hatte ich allerdings auch gesehen, wie er dafür schuftete. Ich sagte mir, dass ich auch so hart an meinen Waden arbeiten müsse. Ich musste meine Wadenmuskeln völlig anders trainieren, bis ihnen gar nichts anderes mehr übrigblieb, als sich kräftig zu entwickeln. Zurück in Kalifornien, schnitt ich sämtliche langen Trainingshosen auf Kniehöhe ab. Meine Pluspunkte wie Bizeps, Brust, Rücken und Oberschenkel hielt ich bedeckt, achtete aber darauf, dass meine Waden immer zu sehen waren. Ich war gnadenlos und machte beim Wadenheben jeden Tag fünfzehn Sets, manchmal auch zwanzig.
Ich wusste genau, auf welche Muskeln ich mich konzentrieren und wie ich sie systematisch trainieren musste. Allgemein hatte ich bessere Muskeln für Zugbewegungen (Bizeps, Latissimus, Rückenmuskeln) als für Druckbewegungen (die vorderen Deltamuskeln, Trizeps). So waren nun einmal meine Erbanlagen, was bedeutete, dass ich bei diesen Muskeln härter trainieren und mehr Sets absolvieren musste. Ich hatte einen starken Rücken aufgebaut, aber jetzt musste ich mir überlegen, wie ich den Latissimus, die Brustmuskeln und den Serratus, also die Muskelgruppe an der Seite des Brustkorbs, ideal definieren und voneinander abgrenzen konnte. Ich musste Übungen für den Serratus machen, also mehr enge Klimmzüge. Der Latissimus sollte ein bisschen tiefer ansetzen, was Seitheben am Kabel und einarmiges Seitheben erforderte. Den hinteren Deltamuskel trainierte ich mit beidseitigem Seitheben im Stehen.
Ich hatte eine lange Liste mit Muskeln, die ich mir vorknöpfen musste. Zum Beispiel den hinteren Deltamuskel, den tieferen Latissimus, die Interkostalmuskulatur, die Bauchmuskeln, die Wadenmuskeln und so weiter und so weiter. Alle mussten aufgebaut, modelliert und definiert werden und dann auch noch die richtigen Proportionen im Verhältnis zu den anderen Muskeln haben. Jeden Morgen frühstückte ich mit einem oder zwei Trainingspartnern, normalerweise in einem Lokal namens Zucky’s an der Ecke 5th Street und Wilshire Boulevard. Dort gab es Thunfisch, Eier, Lachs. Lauter Sachen, die ich mochte. Oder wir gingen in ein Familienrestaurant wie Denny’s und frühstückten dort.
Wenn ich keinen Englischunterricht hatte, ging ich danach direkt zum Gold’s Gym und trainierte. Später trafen wir uns vielleicht am Strand, wo wir an der frischen Luft weitertrainierten, ein bisschen schwammen oder joggten oder in der Sonne lagen, um schön braun zu werden. Oder ich ging zum Verlagsgebäude von Joe Weider und arbeitete mit den Redakteuren an einem Artikel für die verschiedenen Zeitschriften.
Ich unterteilte mein tägliches Training immer in zwei Einheiten. Am Montag-, Mittwoch- und Freitagmorgen konzentrierte ich mich beispielsweise auf Brust und Rücken. Abends ging ich dann noch einmal ins Studio und kümmerte mich um die Beine, also um die Oberschenkel und Waden, übte noch ein paar Posen und machte andere Übungen. Dienstags, donnerstags und samstags waren dann die Schultern, Arme und Unterarme an der Reihe. Waden und Bauchmuskeln trainierte ich natürlich jeden Tag.
Zum Mittag- oder Abendessen ging wir oft in ein Büffet-Restaurant. In meiner Jugend in Europa hatte ich noch nie etwas von einem Büffet gehört. Dass man in einem Restaurant so viel essen konnte, wie man wollte, wäre uns einfach unbegreiflich gewesen. Wir Bodybuilder nahmen uns für den Anfang fünf, sechs oder sieben Eier. Dann gingen wir zur nächsten Station und aßen Tomaten und das ganze Gemüse. Danach ging es weiter mit Steak, dann kam der Fisch. In den Muskelmagazinen jener Zeit wurde immer erklärt, dass man ausreichend Aminosäuren brauche und dass hochwertige Proteine nicht in allen Lebensmitteln ausreichend vorhanden seien. Aber wir sagten uns: »Warum lange darüber nachdenken? Wir essen einfach alle Proteinquellen – Eier, Fisch, Rindfleisch, Pute, Käse!« Man hätte meinen können, die Büffet-Restaurants hätten uns zumindest eine höhere Rechnung gestellt. Aber wir wurden dort behandelt wie alle anderen Gäste auch. Für uns war das so, als ob Gott eigens ein Restaurant für Bodybuilder erschaffen hätte.
Während meiner ersten Monate in Los Angeles lief alles unglaublich gut. Mein Autounfall hatte, abgesehen von einer klaffenden Wunde am Oberschenkel, überraschend wenig Konsequenzen. Der Krokodilringer, dem der GTO gehörte, zuckte angesichts des Schadens nicht einmal mit der Wimper. Er arbeitete bei einem Autohändler und hatte bei den Gebrauchtwagen freie Auswahl, daher sagte er nur: »Mach dir keine Gedanken.« Tatsächlich stellte er mich sogar ein. Der Autohändler hatte sich auf den Export von Gebrauchtwagen spezialisiert, und ich verdiente mir ein bisschen Taschengeld damit, dass ich Autos nach Long Beach und auf einen Frachter fuhr, der sie nach Australien transportierte.
Einige Versicherungen riefen wegen der Schäden an den anderen Autos im Fitnessstudio an, aber ich verstand so wenig, dass ich den Hörer an einen meiner Trainingspartner weiterreichte. Er erklärte dann, dass ich erst seit kurzem in Amerika sei und kein Geld hätte, woraufhin die Versicherungen aufgaben. Im Grunde hatte der Unfall nur zur Folge, dass ich mich eilig um eine Krankenversicherung kümmerte. In Europa war jeder ganz selbstverständlich versichert, für Studenten und Auszubildende gab es Sondertarife, Kinder waren über ihre Eltern versichert; wenn man Arbeit hatte, bezahlte der Arbeitgeber einen Teil der Versicherung, und selbst Obdachlose waren versichert. Es machte mir Angst, dass ich hier nicht versichert war. Ständig dachte ich: »Was ist, wenn ich krank werde?« Ich wusste nicht, dass man in die Notaufnahme gehen konnte und kostenlos behandelt wurde. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte, ich wollte keine Almosen. Ich brauchte zwar sechs Monate dafür, aber natürlich zahlte ich Bill Drake die Kosten für meine Arztbehandlung zurück.
Zufällig war Larry Scott, ein ehemaliger Mister Olympia, der sich aus dem aktiven Bodybuilding zurückgezogen hatte, aber trotzdem noch jeden Tag bei uns trainierte, mittlerweile Verkaufsleiter bei einem großen Versicherungsunternehmen.
»Ich habe gehört, dass du dich versichern lassen willst«, sagte er zu mir. »Ich kann dir helfen.«
Er schlug mir eine Versicherung für 23,60 Dollar im Monat vor, dazu kamen weitere 5 Dollar für eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung, was für mich teuer klang, weil ich bei Weider nur 65 Dollar die Woche verdiente. Aber ich schloss die Versicherung trotzdem ab und war damit wahrscheinlich einer der wenigen neu Eingewanderten in Los Angeles mit einer Krankenversicherung.
Um Thanksgiving herum erhielt ich eine Einladung zu einem Bodybuilding-Wettkampf und einer Vorführung im Dezember in Hawaii. Der Krokodilringer plante, über die Weihnachtsfeiertage heim nach Australien zu fliegen, und schlug vor: »Hawaii ist super. Eigentlich könnte ich mit dir kommen, dort ein paar Tage Urlaub machen und dich trainieren und dann nach Australien weiterfliegen, was meinst du?« Abgesehen von den schönen Stränden und den Mädchen bot Hawaii auch die Gelegenheit, Gewichtheberlegenden wie Tommy Kono und Timothy Leon zu treffen, und Harold »Oddjob« Sakata, den ich bereits aus München kannte. Also ging ich zu Weider und fragte, ob er die Veranstalter kannte und was er davon halten würde, wenn ich dort antreten würde. Er war Feuer und Flamme. Seiner Meinung nach konnte ich wertvolle Erfahrungen sammeln, außerdem würde ich für einen anstehenden Wettkampf härter trainieren. Damit war die Sache entschieden.